[88] Russisches Armband

Eine Ballvision


O kleine goldene Schlange mit den grünen
Juwelenaugen! Seliges Reptil,
Den rosigen Knöchel mit dem Zünglein küssend,
Das lüstern nach dem zarten Fleische leckt!
Jetzt streift die rechte Hand dich leicht hinauf,
Geschmeidig schmiegst du dich der weichen Fülle
Des schönsten Armes, den Natur gebildet,
Und zitterst lustberauscht vom Kopf zum Schwänzchen,
Zärtlich und fest geringelt um Josepha.
Josephas Busen atmet Walzertakt,
Durch Tüll und Spitzen bricht die Schönheit nackt.
Kein Joseph brennte durch vor dieser Eva.
Der Kavaliere Nüstern blähen sich,
Begierde zuckt und zittert, kaum gezäumt,
Der Hopser schweigt, Blick und Champagner schäumt.
Erdbeere und Vanille küssen sich
In den kristallnen Bettchen, um zu sterben
Den Tod der Liebe in Josephas Mund.
Es flammt der Saal, durch offne Fenster fächeln
Vorhänge Maienhauch den Gästen zu,
Und Kühlung saugen durstige Atlasschuh.
[89]
O kleine goldene Schlange! Schillre, schillre
Nur immer her zu mir in meine Nische,
Wo von dem Schwindel ich Erholung schlürfe!
Willst du vielleicht ein Märchen mir erzählen,
Ein Märchen von – Angstschauer schüttelt mich –
Ein Märchen von – ich beuge mich hinaus,
Mein Stöhnen an das Herz der Nacht zu pressen –
Ein Märchen von den Stätten deiner Wiege,
Den fernen goldnen Minen Jeniseisks?
Ich starre in das Dunkel. Plötzlich schwimmt
Der helle Ballsaal vor den Augen mir
Mit tausend Lampen. In die Finsternis
Verlischt er jäh. Vergitterte Kasernen
Auftauchen düstermassig. Posten stehn
An den verriegelten Portalen schnapsend.
Da springt vor meinem tiefer starrenden Blick
Die Türe auf ... In Kisten Mann an Mann
Und über'nander aufgeschichtet liegen
Die Minengräber. Dunst erwürgt den Odem,
Und Wanzenhorden wallen, krabbeln, fallen
Wie Timurlenks Armeen und saufen Blut.
In Lumpendecken eingewickelt nächt'gen
Die Unglückseligen. Ihr heisrer Atem
Röhrt katarrhalisch, wie die Schwindsucht pfeift.
Hektische Hitze sprüht Minutenrosen
Auf ihrer Wangen totenbleich Gefild.
[90]
Ein Trog mit schwachen Resten Hirsegrütze
Steht da vom letzten Mitternachtsdiner,
Und in den Ecken quillt aus schmutzigen Eimern
Der Ambraduft, der brennende Gestank.
Die Kerle dürfen nicht heraus zum Loch,
Sie könnten Gold verstecken, die Hallunken!
Drum in die Eimer ...
Schillre, Schlange, schillre! ...
Champagnerkühler schleppt der Kellner her.
»Fräulein Josepha, ist der Kotillon
Noch frei?« Ihr tiefverlockend Leibchen haucht
Empor die wonnefeuchte Tanzeswärme.
»Jawohl.« – »Wie reizend sich Ihr Armband macht!
Die kleine Schlange – ach, ich wollt', ich wäre ...!«
– »Gefällt es Ihnen? Onkel hat es mir
Zum Christkind mit aus Petersburg gebracht,
Als Brosche noch die goldne Weizenähre.«
(Er macht in Korn und russischem Papier.)

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Kampfes. Russisches Armband. Russisches Armband. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4E6B-F