Die gelbe Rose

Spätsommertag. Berlin in klarer Bläue.
Ihr Gleise sauste die Elektrische.
Der Schaffner zog. Gleich kam die Haltestelle.
Ein zartes Fräulein, ganz in Weiß, stand auf,
So fein und lieblich wie die gelbe Rose,
Die locker in dem Schloß des Gürtels hing.
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Ein Bremsenruck. Die junge Dame schwankte
Ein wenig hin und her, als sie den Wagen
Eilig verließ. Von der Erschütterung
Glitt unbemerkt der duftige Schmuck zu Boden.
Blieb liegen ... Wer denn achtete darauf?
Das Fräulein winkte mit dem Sonnenschirm
Der Freundin, Gruß und leichtes Händeschütteln –
Und weiter sauste die Elektrische.
Der Kondukteur, ein junger Mensch, dem hart
Des Kampfes Furchen schon die Stirn zerschnitten,
Durchschritt sein Reich und hob die Rose rasch
Vom Fußbrett, kehrte zum Perron zurück,
Sog einen Augenblick den süßen Hauch
Und hielt so freudeheimlich in der Hand
Den lichtdurchschimmert seidenweichen Kelch ...
Nur ein Moment. Dann steckt er sie behutsam
Am Rückengitter seines Platzes fest,
Wo seltsam sie die Nüchternheit des Raumes
Verklärte, nahm die Rolle, zog dem neuen
Fahrgast das folgende Billett heraus,
Beugt sich zurück: »Gestatten Sie«, hängt schnell
Die Oberleitung um – und sausend ging's
In andre Gegend, andre Menschenwelten.

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TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Lebens. Die gelbe Rose. Die gelbe Rose. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5091-6