[103] 15.

Mein Herz, du hast doch wunderlich gependelt,
Nach beiden Seiten wichst du maßlos aus,
Unausgeglichen hast du bald getändelt,
Bald riß dich Leidenschaft in jähem Saus
Hinab – du hattest gestern angebändelt,
Und heute lag vergiftet schon die Maus
Mit ihrer zuckersüßen Lieb' im Leibe,
Der Schicksalskatze bloß zum Zeitvertreibe.
Ich möchte, Poesie wär' ganz Gewissen
Und jeder Reim aufrichtiger Herzensschlag,
Und keine Saite fehlte, die zerrissen,
Wenn ich elendiglich zu Boden lag.
Was mich gewurmt, gemartert und gebissen,
Aus finsterm Schachte käm's gerollt zu Tag
Auf meinen Versgeleisen ganz getreulich,
Wirkt Offenheit auch manchmal nicht erfreulich.
Wir Dichter schmuggeln gar zu gerne Farben
Versteckter Selbstverherrlichung hinein,
Wir zeigen stolz auf unsrer Torheit Narben
Und spielen Eisenfresser selbst der Pein.
Des Schicksals Hälmchen häufen wir zu Garben,
Das Tröpfchen Glück wird gleich zum Oxhoft Wein –
Wir sind, berauscht vom Klang der innern Chöre,
Trotz aller Wahrheit leicht ein Stück Poseure.
[104]
Wie jeder Mensch, der sich befühlt, im Grunde.
Du mußt dich oft erinnern: Gib nur acht!
Der Selbstgenuß steht mit der Kunst im Bunde,
Wenn man den Herold seines Herzens macht.
Wir lassen doppelt bluten jede Wunde,
Der Schmerz gefällt sich in der Dichtertracht,
Wir kosten gründlich Weinen oder Lachen,
Der Kopf steckt gern in der Empfindung Rachen.
Die Wollust selbstverhätschelnder Gefühle
Ist sündvererbt beim lyrischen Geschlecht.
Des süßen Spiels drum überdrüssig spüle
Vom Leibe dir die Lust, du Sündenknecht!
Schütt nicht von neuem Korn auf diese Mühle,
Sei baß im Karpfenteich der kritische Hecht,
Der mit den scharfen Zähnen fährt dazwischen
Und den Prozeß macht allzu fetten Fischen!
Zum mindesten des Selbstlobs bin ich müde,
Naiv war ich ein flotter Renommist,
Als junger Racker war ich gar nicht prüde,
Trug meinen Kehlkopf wie ein Tenorist.
Das hat sich ausgegackert. Attitüde
Hat keinen Wert, die sich nicht selbst vergißt ...
's kam vor, da sah ich mich im Spiegel schlimmer
Als außer sich ein nacktes Frauenzimmer.
[105]
Befriedigt sind die kleinen Eitelkeiten,
Und was noch drin steckt, lebt sich eben aus.
Nur nichts erzwingen! Das muß von mir gleiten
Wie so ein abgetragner Sammetflaus.
Es hat doch schließlich alles seine Zeiten,
Was frommt denn mir das Sittlichkeitsgezaus?
Wär' ich zum Schulfuchs der Moral geboren,
Schlüg' ich das Heft mir um die Heuchlerohren.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Lebens. Neues Leben. 15. [Mein Herz, du hast doch wunderlich gependelt]. 15. [Mein Herz, du hast doch wunderlich gependelt]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-50C8-A