[126] Die Bäume

Wohl alle Werke meines Herrn
Sind ganz vollkommen schön,
Doch mag ich fast vor allen gern
Die lieben Bäume sehn.
Sie lehren mich manch heilsam Stück
Für meinen Pilgerlauf,
Und ziehn wohl oftmals meinen Blick
Zum Himmel hoch hinauf.
Die alte, hohe Eiche spricht:
»Sei stark, o Menschenherz!
Im Glauben steh' und wanke nicht
Und streck' dich himmelwärts.«
Die Linde sagt: »Sei mild gesinnt,
Sei friedlich, sonder Harm,
Und breite jedem Müden lind
Den schattenreichen Arm.«
[127]
Mir winkt der Apfelbäume Frucht:
»Dein Glaube sei nicht Schein,
Und wenn der Gärtner Früchte sucht,
So ernt' er reichlich ein.«
Die Tanne rauscht: »Sei ernst, sei treu,
O Seel', in Freud' und Weh:
Dasselbe Kleid im linden Mai,
Dasselb' in Sturm und Schnee.«
Doch Birke, du mein liebster Baum,
In bräutlich schönster Zier,
Erblick' ich dich im weiten Raum,
So lacht das Herz in mir.
Im weißen Kleid, in grüner Kron',
O Bäumlein, stehst du hier; –
O ständ' ich, Herr! an Deinem Thron
Dereinst in solcher Zier! –
Ihr lieben Bäume, mahnet noch
Recht oft mein irdisch Herz
Und wendet meine Seele doch
In Sehnsucht himmelwärts!

Auf der Reise, 1821.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Gedichte. Lieder (Ausgabe von 1879). [Lieder]. Die Bäume. Die Bäume. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-55EB-5