Morgengesang

1772.


Erwach, erwach am neuen Morgen
Mit allem neuen frühen Morgenchor,
Du meine Harf', und tön' ins frohe Weltgetümmel
Mit voller Sait' hinein!
Denn in das frohe Weltgetümmel
Gehörst auch, schwachbesaitet, Du, ins Chor
Der schönen Morgenstern' und früher Lerchenstimmen
Und alles Sphärenklangs.
[303]
Sie wandeln dort, die Sängerinnen,
Die Morgenstern', und singen ihn heran,
Der sie mit Vaterblicken segnet, todte Welten
Vom Schlummer lächelt auf.
Du auch ein Morgenstern, o Harfe,
Empfang ihn, der ein Jüngling kommen wird
Und güldne Strahlen Dir auf Deine Saiten klingen
Und wecken Deine Welt.
Der Erde Töchter wird er wecken,
Die Blumen, mit der süßen Liebe Pfeil,
Daß sie sich wundern ihres neuen schönen Schmuckes
Und weinen Freudenthau.
Des Himmels Chöre wird er wecken,
Die singenden Gefieder, daß sie hoch
Auf Lüften schweben und den Flug mit Tönen steuern
Und füllen Wald und Thal.
Und Alle sollst Du sie beleben,
Der Stimmen Erstgeborne, Tochter Du
Des Ewigen! Sieh, wie dort schon die Himmelsschwinge,
Die Lerche, Dir entsteigt!
Und jene Gipfel, wie sie rauschen
Dem Kommenden! Entzückungsschauer fließt
Durch alle Wesen, und in schwarzen, schweren Wellen
Erhebt die Nacht sich fort.
O herrsch umher, Du Harfe Gottes,
So weit der schöne Rosenjüngling strahlt;
Er herrscht am weiten Himmel, und die Dich beseelet,
Ist Erdekönigin.
Wohin er güldne Strahlen sendet,
Wie weit sein Zelt der blaue Himmel zieht,
Ist Dein Gebiet, o Seele; jene schöne Hütte
Ist hoch für Dich gewölbt.
All Deines Blickes hohes Ende,
All Deines Ganges End' ist Himmel nur;
Und Du, die in mir denkt, bist Sonne; was Du denkest,
Ist mehr als Lichtesstrahl.
[304]
Wer bist Du, neuerwachte Seele,
Die in sich selbst als eine Sonne blickt
Und gießt in einem zarten strahlenden Gedanken
Der Farben ganzes Meer?
Wer bist Du, die auf Welten blicket
Und aus sich selber neue Welten schafft
Und, wie die Sonne dort, die Wesen rings beglänzet
Mit Licht und Seligkeit,
Daß Thränen, wie der holden Blume,
Der Dankbarkeit entfließen, daß sich Schmerz
Und Kummer selbst in Freudenthränen wandeln
Und werden Himmel uns?
O Tagewerk voll Götterwonne!
Schon wandelt dort der Jüngling seine Bahn.
Schweig, Harfe, daß auch ich die meine wandl' und ende
Mit schönem Abendroth!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Morgengesang. Morgengesang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5667-7