Die Verhängnisse

Ein Chorgesang.


Die Verhängnisse weben und weben
Unermüdet der Sterblichen Schicksal.
Aus reichem Rocken zieht
Wählend Klotho den vielgefärbeten Faden,
Dem Einen dunkel, dem Andern hell,
Rastlos immer. Lachesis weitet und hebt
Jetzt hoch empor, jetzt senkt sie tief ihn nieder,
Bis, weggewandt den Blick,
Unerbittlich Atropos schneidet.
In der Menschen langen Gedanken
Schwebt der Faden und ziehet sie vorwärts;
Tief aus der Wünsche Quell
Steigdt jugendlich auf ein Traumgebilde des Lebens,
Dem Einen Irre, dem Andern Wink
Hilfreicher Götter! Günstige Winde jetzt,
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Jetzt Meeressturm, jetzt Meeresstille bringen
Zuletzt das matte Schiff
In den längst ersehneten Hafen.
Mir nicht Töchter der Nacht! Töchter des Lichts,
Du mit dem Königsstabe gerüstet,
Sternenglänzende Zuversicht,
Und Du, rosenbekränzte Mutter der Liebe,
Und, die Palm' in der Hand, unsterbliche Hoffnung, Du!
Steigt herab aus jenen seligen Gärten
In Euer Heiligthum, des Redlichen Brust!
Günstig webend aus Eurem Knäul
Den nie zu hoch erhobnen, festen,
Im Gewirr sich glänzend neu aufschwingenden,
Die Zukunft weitenden Faden.

Notes
Erstdruck in: Adrastea, 1802.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Die Verhängnisse. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5729-B