Lied des Lebens

Flüchtiger als Wind und Welle
Flieht die Zeit; was hält sie auf?
Sie genießen auf der Stelle,
Sie ergreifen schnell im Lauf,
Das, Ihr Brüder, hält ihr Schweben,
Hält die Flucht der Tage ein.
Schneller Gang ist unser Leben;
Laßt uns Rosen auf ihn streun!
Rosen, denn die Tage sinken
In des Winters Nebelmeer;
Rosen, denn sie blühn und blinken
Links und rechts noch um uns her.
Rosen stehn auf jedem Zweige
Jeder schönen Jugendthat.
Wohl ihm, der bis auf die Neige
Rein gelebt sein Leben hat!
Tage, werdet uns zum Kranze,
Der des Greises Schläf' umzieht
[38]
Und um sie in frischem Glanze
Wie ein Traum der Jugend blüht.
Auch die dunkeln Blumen kühlen
Uns mit Ruhe, doppelt süß;
Und die lauen Lüfte spielen
Freundlich uns ins Paradies.

Notes
Erstdruck in: Die dritte Sammlung der zerstreuten Blätter 1787.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Lied des Lebens. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-578C-F