[363] Adler und Wurm

1.

Mit allen seinen Kräften schwang
Der Adler sich zur Sonne, drang
Schon durch die Wolken, reichte
Zum höchsten Felsen, keuchte
Und sprach: »Da bin ich doch
Der Erste meines Reichs. Wer fleugt
Mir nach auf diesen unbetretnen Fels? Ist noch,
Wo ich bin, wer?« »Ich etwa noch!«
Zischt's neben ihm. Er sieht zu seinen Füßen nieder:
Ein Erdwurm kreucht.
»Und wir sind Brüder?
Wo kommst Du her?« »Vom Schlamm.«
»Und wie denn her?« »Ei doch!
Verzeihen Sie, ich kroch.«
Minister, Weiser, General
Und Canzellar und Cardinal,
Auf Eurer rühmlichen, mit edler Müh und Qual
Erflognen Höh,
Ihr großen Männer allzumal,
Seht nicht, wer bei Euch steh':
Durch Kriechen kommt man hoch.

2.

»Elender!« sprach der Adler, »krochst, und doch –
Doch wagst Du Dich so hoch?«
»Verzeih, o kühne Majestät,«
Krümmt sich der art'ge Wurm und bläht
Sich klüger, »ach, dermalen kreucht
Man sichrer, als man fleugt.«

3.

Der Donnervogel zürnte: »Meinst Du gar,
Du Kriecher, mich den Weg zur Höh zu lehren?«
Und greift, ihn zu zerreißen. »Nein, fürwahr,
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Fürwahr, wer wollte das begehren?
Allein, ich dachte nur, ein hoher Adler fleugt,
Allein – ein armer Wurm – was soll er thun? – er kreucht.«
Der Adler flog großmüthig fort
Und ließ dem Wurm den Ort.

4.

»Hab' ich das lange nicht gedacht,«
So höhnet nun der Erdwurm, »Zeit vertreibe
Die kurze Herrlichkeit? Nun muß er fort,
Ich aber bleibe!«
Und lacht und lacht.
Der Adler hörte nicht ein Wort
Und flog in seinen Himmel fort.
Und, Edler, Dich, wenn Du die kleine-große Welt
Nun lässest, Deines kahlen Gipfels Feld
Dem Wurme willig lässest und zeuchst fort
In Deine Königshöhle:
Dich kränkt in Deiner Seele
Des Wurmes Wort?

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Adler und Wurm. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5802-A