Die letzte Freundesliebe

Als Jesus nun zum letzten Kampf
Ging in Gethsemane,
Auf seiner Stirne brach schon Angst,
Im Herzen Ach und Weh!
Zum Vater wallt' er sehnend hin,
Zu beten und zu flehn;
»Ihr Brüder,« sprach er, »harret hie,
Dort will ich beten gehn.«
[466]
Drei liebe Freunde nahm er hin.
»Ihr,« sprach er, »wachet hier!
Mein Herz ist traurig in den Tod;
Ihr Brüder, wacht mit mir!«
Ging hin ein Wenig fürder, fiel
Dahin aufs Angesicht
Und betete und zitterte;
Die Brüder wachten nicht.
»Mein Vater,« sprach er, »kann es sein,
So geh' der Kelch von mir!
Nicht ich, wie Du willst! wie Du willst,
Mein Wille folget Dir!«
Er kam; sie schliefen. »Traget Ihr
Mein Kreuz mir also nach?
Ach, wacht und betet! Willig ist
Der Geist, das Fleisch ist schwach!«
Ging hin zum andern Male, fiel
Dahin aufs Angesicht
Und zagte tiefer, zitterte;
Die Brüder wachten nicht.
»Kann nicht, o Vater, kann er nicht,
Der Kelch, vorübergehn?
Ich soll ihn trinken; nun wolan,
Dein Wille soll geschehn!«
Er kam; sie schliefen; riß sich hin
Und fleht' zum dritten Mal;
Der Angstschweiß troff von seiner Stirn
In Tropfen ohne Zahl.
Ein Engel kam, zu stärken ihn;
Er betet' ängster, rang
Schon mit dem Tode, daß sein Blut
Durch alle Adern drang.
Stand auf und suchte seine Drei,
Fand alle schlummern sie.
»Ach, wollt Ihr schlafen nun und ruhn?
Die Stund, die Stund ist hie,
Da 's Menschen Sohn in Sünderhand
Zum Tode von Euch geht;
Wacht auf! steht auf! er ist schon da,
Ist da, der mich verräth.«
[467]
Sie nahmen ihn; der Jünger Hauf'
Zerstob von ihm im Nu.
Wo warst Du nun, Du liebes Drei?
In Ferne schwindest Du!
Der nimmer ihn verlassen wollt'
Vor aller Jünger Zahl,
Der heute mit ihm sterben wollt',
Verleugnet' ihn dreimal.
O Jüngertreu! o Menschenwort!
O Freundsvermessenheit!
Wenn Stunde der Versuchung kommt,
Wo sind wir weit und breit!
Wenn Stunde der Versuchung kommt,
Ich wachen soll für Dich!
Der Geist, er will, das Fleisch ist schwach;
Freund, bete Du für mich!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Die letzte Freundesliebe. Die letzte Freundesliebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5C27-9