Sie waren von der Welt verkannt

»Er ruft Elias!« O Freund, o Freund, da stehn
Sie ums Kreuz in dunkler Hülle! verstehen's nicht!
Horchen in dunkler Hüll' und spotten
In ihrem Dunkel: »Er ruft Elias!«
O Freund, o Freund! sie verstehn uns nicht
In ihrer Hülle! da stehn sie, horchen
Und schreien, als ob wir, Thoren, Elias hofften,
Und Gott hab' uns verlassen!
Er hat uns nicht verlassen! verkannt,
In Spott verstorben, am Kreuz verstorben!
Und käm' auch keine bessere Nachwelt,
Er versteht uns.
Und säh's auch bessere Nachwelt nie!
Er ist's, der uns mit Preis der Engel krönt,
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Daß wir am Tage der Noth Gebet und Flehn
Und stark Geschrei und Thräne geopfert.
Er weiß, es war nicht Menschenangst,
Nicht Tod des Leibes! der arme Tod!
Da wir vorm Schicksalskelche zagten,
Uns einsam fühlten in der Welt,
Und Menschenruhe störten, war nicht Menschenhaß.
Da wir sie schwach Geschöpf erkannten! 's war
Menschliche, freundliche Thräne,
Da wir aus Träumen, ach! einsam kamen
Und suchten und fanden Menschen und weinten;
Sie verstanden uns nicht! das hohe Graun der Nacht
Mit ihren Schöpfungs-Mitternachtsgedanken,
Sie verstanden's nicht und wandten sich:
»Mitternacht ist zur Ruhe geschaffen!« und schliefen neu!
Wir gingen einsam fürder; es kam
Ein Tröstungs-, kam ein Labungsengel,
Unserer Seele geschaffenes Bild kam,
Und wollte trösten! Freundverlassene! Weltverkannt!
Da kam der falsche Freundeskuß mit Heer
Und Fackel und Spieß und Unschuldsfessel! das tröstete!
Die Unschuldsfessel und falscher Freundekuß
Den Welt- und Freundverlassenen! ward Labung ihm,
Die Galle ward ihm Labung! »Ich bin's!« Ihm ward
Die Fessel Triumphkranz! »Sucht Ihr mich? nichts mehr?«
Und führten den prangenden König,
Voll hohen Unschuldsgefühls. »Ihr greift mich in der Nacht.
Ich hab' am Tage gelehrt, Ihr griffet mich nicht!
Ich bin's, und dies ist Eure Stunde,
Im Dunkeln!«
Und führten den Siegprangenden:
»Ich bin ein König!« und geißelten, spotteten sein:
»Seht, welch ein Mensch!« in Dornenkrone
Mit der Miene der Thronesunschuld.
»In den Wolken komm' ich!« »Er lästert Gott!«
Zerrissen die Kleider, huben ihn empor aufs Kreuz!
»Heut soll mein Paradies Dir sein!«
Und gaben ihm Galle! er trank der Labung
[310]
Triumphstrank. »'s ist, ist vollbracht!«
Und starb verkannt! – War nicht verkannt!
Die Thrän' und Blut, am Berge zu Staub geweint,
Ward Perl' der Krone! Gott kannt' ihn!
Er lebt, und alle Welten beseliget
Sein Nam', überwindet die Hölle, giebt sanften Tod!
Von der Welt verkannt, wir sehn ihn einst
In Wolken wiederkommen!
Verkennt, die ihn verkannten! erkennt,
Die ihn noch wiederfinden! O Freund, wie er,
Rufe Dein Eli! ach, und hör nicht
Das Geschrei der Dunkeln in öder Hülle!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Sie waren von der Welt verkannt. Sie waren von der Welt verkannt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5D04-F