[495] An Theodor Storm

Zum 14. September 1887


Heut von meinem Sommerhaus
Trägt mich über Tal und Hügel
In dein Holstenhaus hinaus
Phantasie auf raschem Flügel.
In dein Zimmer führt sie mich,
Wo vor kurzen Jahr' und Tagen
Wir am Fenster abendlich
Trauter Wechselrede pflagen.
Vor uns Feld und Waldesaun,
Drauf des Herbstes Schimmer ruhte,
Daß uns Alternden im Schaun
Eichendorffisch ward zumute:
Gleich als hätten ausgespannt
Unsre Seelen weit die Schwingen,
Übers abendstille Land
Friedlich uns »nach Haus« zu bringen.
Da auf einmal hört' ich dich
Halb wie zu dir selber sprechen:
Herbst ist da. Es melden sich
Schon die fröstelnden Gebrechen.
Frühreif fiel mir auf das Haupt,
Wenig blieb mir noch des Holden;
Doch, solang man liebt und glaubt,
Soll man sich den Tag vergolden. –
Sieh, da war dein junges Kind
Uns verstohlen nachgegangen,
Hielt mit schlanken Ärmchen lind
Ihres Vaters Hals umfangen.
Und ich sprach: Wem frisch und rot
Solche Sommerfrüchte reifen,
Dem wird noch des Winters Not
Nicht so bald ans Herze greifen,
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Und er läßt die Siebzig nahn,
Nicht gebückt auf die Postille:
Aufrecht, wie wir stets ihn sahn,
Wandelt er in Lebensfülle.
Wie ein Fruchtbaum herbstbereift
Grünt er auf des Lebens Gipfel,
Und der Ernten manche reift
Sonnig noch in seinem Wipfel. –
Wohl prophetenäugig sah
Damals ich in Lebensweiten.
Sieh, nun sind die Siebzig da,
Und du stehst noch wie vorzeiten.
Deiner Tage Kampf und Schmerz
Hast du mild verklärt im Singen,
Denn ein rechtes Menschenherz,
Weißt du, ist nicht umzubringen.
Schenkst dem Volke Jahr um Jahr
Goldner Früchte reichen Segen,
Dem nun schon die Enkelschar
Gleich den Vätern harrt entgegen.
Und so woll'n wir's, alter Freund,
Noch ein Weilchen weitertreiben,
Wenn der Herbst das Laub auch bräunt,
Eingedenk des Sommers bleiben.
Während auf Parnasseshöhn
Aberwitz'ge Knaben lärmen:
»Schön ist häßlich, Häßlich schön!«
Und im Hexensabbat schwärmen,
Wird der Drang dir nie gestillt,
Deines schönen Amts zu walten,
Dieser Welt verworrnes Bild
Leise deutend zu gestalten.
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Noch ist keine Ruhezeit
Dir im Abendrot erglommen –
Aber still! Noch mancher heut,
Dünkt mich, will zu Worte kommen.
In dem schieferdunklen Haus
Schwärmt es ja von Frohgesichtern,
Und in all dem Saus und Braus
Mangelt's wohl auch nicht an Dichtern.
Ich, anstatt in deine Hand
Einen Blumenstrauß zu drücken,
Kann zum Fest nur weit ins Land
Ein beschriebnes Blatt dir schicken.
Laß dir's lesen von Dodo,
Und dir duftet ins Gemüte,
Rosen gleich von Jericho,
Alter Freundschaft frische Blühte.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. An Theodor Storm. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-65BC-3