10.

Betracht' ich unser schwankes Menschenlos,
Geringe Lust, von Unlust überwogen,
Die Angst vorm Wechsel in des Glückes Schoß,
Der Jugend Hoffnungen, so schwer betrogen,
Des Alters bittre Weisheit: »Alles nichtig!« –
Der Liebe Götterrausch, so bald verflogen:
Dann preis' ich dich, mein Kind, daß nur so flüchtig
Dein kleiner Fuß des Lebens Bahn berührt,
Und gern auf dich zu deinem Heil verzicht' ich.
Wie treu ich dich an meiner Hand geführt,
Nicht hätt' ich eine dir erspart der Plagen,
Die je ein Herz beklemmend eingeschnürt.
Dein Mäppchen hättst zur Schule du getragen,
Zitternd in Furcht und Scham, wenn dir einmal
Die Antwort stockte auf des Lehrers Fragen.
Dann Ehrgeiz, Reue, stumme Liebesqual,
Freundschaft an Stolz und Wankelmut verschwendet,
Und was die Jugend lockt und irrt zumal.
Und hätte sich das Herz dir zugewendet
Des Einen, dem im Leben wie im Tod
Du deine Pflicht und Treue gern verpfändet,
O dann nach kurzem Glück die lange Not
Der Mutterschaft, erst Kinder ihm gebären
Und dann sie aufziehn, tausendfach bedroht;
Die Fiebernächte, wo mit bangen Zähren
Am kleinen Bett du hättest wach gesessen,
Den Feind des Lebens kämpfend abzuwehren.
O armes Frauenleben! Denk' ich dessen,
So ist mir fast, es sei ein Hochgewinn,
Daß wir dich nur so kurze Frist besessen.
Dein Auge sah so ernsthaft vor sich hin,
Als hättest du, das Schwere leicht zu nehmen,
Schwermut zu viel, zu wenig leichten Sinn;
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Zu starken Willen, weich dich zu bequemen,
Zu treuen Sinn, um lachend zu verzichten,
Zu reines Herz, der Schuld dich nicht zu schämen.
Und Solche wissen schwer sich einzurichten
In dieser argen Welt, wo man sich drehn
Und winden muß im Zwiespalt enger Pflichten. –
Und doch, mein Kind: warst du auch ausersehn,
Zu bluten aus den tiefsten Lebenswunden,
Doch hätt' ich dir's gegönnt, im Kampf zu stehn.
Der Kräfte frohes Spiel hättst du empfunden,
Des Ringens Stolz, des Sieges hohe Lust,
Die herbe Tage aufwiegt durch Sekunden.
Du hättst an deine kleine Menschenbrust
Die Welt gedrückt und staunend zu den Sternen
Emporgesehn, des Ew'gen dir bewußt;
Hättst um die Stachelschalen nicht den Kernen
Der Wahrheit abgesagt, es nicht verschmäht,
Im Schweiß des Angesichts die Pflicht zu lernen.
Wohl weiß ich es: in weisen Büchern steht,
Daß Nichtsein köstlicher als Sein, das Leben
Ein Irrtum nur, den Gott erkannt zu spät.
Doch ward nicht Liebe zum Ersatz gegeben?
Ist nicht der Schmerz, den wir um dich erlitten,
Ein teurer Schatz, wohl wert, ihn aufzuheben?
So lebst du fort in unsres Lebens Mitten;
Und wie verewigt werden Stein und Erz,
In die ein edles Bild ward eingeschnitten,
Sind wir geadelt auch durch unsern Schmerz.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Meinen Toten. Marianne. 10. [Betracht' ich unser schwankes Menschenlos]. 10. [Betracht' ich unser schwankes Menschenlos]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-65F7-C