Nächstenliebe

Nach Sapo di Sorrento wollt' ich heut.
Die Straße geht bergan, dazu die Glut
Des frühen Sommers. Langsam schritt ich fort
Und trocknet' häufig an der Stirn den Schweiß.
Wer jetzt ein Wäglein hätt'!
Da, hinter mir,
Wie durch ein Zauberwort herangelockt,
Trapp! trapp! ein Hufgeklapper, ein Geräusch
Von Rädern, atemlos in toller Fahrt.
Denn ohne Pause ließ vom Kutschenbock
Der Wagenlenker auf sein armes Roß
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Die Peitsche niedersausen. Presto! Ho!
Carogna!
Nur ein magrer Klepper war's,
Dem man die Rippen zählen konnt' im Fell,
Krummbeinig, Geifer um das offne Maul,
Und keuchend schwer den steilen Berg hinan.
Im Wagen aber saß zurückgelehnt
Ein dicker Priester – nein, ein Pfaffe nur,
Und blinzelt' mit den muntren Äuglein sehr
Vergnügt umher ob seiner raschen Fahrt.
Mir schwoll das Herz vor Grimm. Ich stand und rief
Dem Burschen zu: Wahnsinniger! Siehst du nicht,
Daß deinem Gaul die Zunge lechzend schon
Zum Hals heraushängt, und du schlägst ihn noch?
Erbarmt dich nicht der stummen Kreatur?
Doch er, die Zähne fletschend mir zum Hohn:
Was wollt Ihr, Herr? 's ist ein Bestie nur.
Non ha un' anima, non è cristiano!
Bestie du selbst! – Und zu dem Priester – nein,
Dem Pfaffen, hilfeflehend blickt' ich hin.
Der aber zuckte nur die Achseln, schob
Die Unterlippe vor und wiegte lachend
Den Kopf, als wollt' er sagen: Nehmt es nicht
So tragisch! Denn fürwahr, der Bursch hat recht.
Avanti, Beppo!
Und vorüber fliegt
Das edle Paar. Ich stehe tief empört
Und kummervoll. Wie? Keine Seele hätt's?
Jawohl, so niedrig keine, wie du selbst!
Und wär' kein Christ? So einer nicht, wie Ihr,
Hochwürd'ger Herr! Doch wenn am jüngsten Tag
Die Wiederbringung aller Ding erfolgt
Und dieses arme Pferdchen neben Euch
Vor unser aller Richter steht, mich dünkt,
Der milde Jesus wird mit düstrer Stirn
Zu Euch sich wenden: Hier im Himmel ist
Kein Platz für die, so kalt und heuchlerisch
Sich meines heiligen Namens angemaßt.
Lehrt' ich Euch nicht, daß der Gerechte sich
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Auch seines Viehs erbarmt? Und sollt Ihr nicht
Die Wesen alle, die mein Vater schuf,
Als Eure Nächsten lieben? Heb dich weg!
Du aber, Rößlein, ob du auch kein Christ,
Du bleibst in meinem Himmel, sollst fortan
Aus goldner Krippe speisen saft'ges Heu
Und Weizenfrucht. Und daß im Müßiggang
Du nicht zu fett wirst, sollst auf grüner Flur
Die Engelsbübchen auf dir reiten lassen,
Wie's ihre höchste Lust auf Erden war,
Und war's auch damals nur auf Steckenpferdchen.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Sorrent. Nächstenliebe. Nächstenliebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-66EC-D