Vierter Abschnitt

Vinzenz und Sylvester hatten sich eingefunden. Lothar hielt ihnen eine lange Rede, worin er auf höchst ergötzliche Weise sehr weitläuftig die Pflichten eines würdigen Serapionsbruders entwickelte: »Und nun«, schloß er, »versprecht mir, teure würdige Novizen, mittelst feierlichen Handschlags, der Regel des heiligen Serapion treu zu sein, d.h. euer ganzes Bestreben dahin zu richten, bei den Versammlungen des schönen Bundes euch so geistreich, lebendig, gemütlich, anregbar und witzig zu zeigen, als es nur in euern Kräften steht.«

»Ich,« nahm Vinzenz das Wort, »ich für mein Teil verspreche das mit voller Seele. Ich will meine ganze Habe an Geist und Gemüt zur Bundeskasse tragen, aus der ihr mich dann ernähren, ja ordentlicherweise mästen könnt. Ich will jedesmal, wenn ich bei euch einzutreten gedenke, wie man im Sprichwort sagt, vorher meinem Affen reichlichen Zucker darbieten, damit er Lust bekomme zu allerlei zierlichen Kapriolen. Und da euer Schutzpatron allen Ruhm, alle Ehre erworben durch geziemlichen Wahnsinn, will ich mich vorzüglich bemühn, ihm nachzueifern, so daß es dem Bunde nie an lobenswerter Tollheit fehlen soll. Ich kann, verlangst du es, mein würdiger Lothar, wünscht ihr es, meine geschätztesten Serapionsbrüder, mit den saubersten fixen Ideen wechseln. Ich kann mir wie der Professor Titel einbilden, römischer Kaiser oder wie der Pater Sgambari, Kardinal zu sein. Ich kann wie jene Frau des Trallianus glauben, das Weltall ruhe auf meinem [503] linken Daumen oder meine Nase sei von Glas und leuchte in den schönsten Farben prismatisch hinauf an Wand und Decke, oder mich wie der kleine Schotte Donald Monro für einen Spiegel halten und alle Blicke, Grimassen, Posituren dessen nachmachen, der mir ins Gesicht schaut. Ja, ich kann überzeugt sein, meine anima sensitiva habe mir, wie dem Chevalier D'Epernay, den Kopf kahl geschoren und ich flöße euch nur Respekt ein durch die wenigen Haare, die ich noch auf den Zähnen behalten. – Ihr werdet als würdige Serapionsbrüder all diesen Wahnsinn zu ehren wissen! – Tut das, Leute! und verfallt nicht etwa darauf mich kurieren und gar Mittel anwenden zu wollen nach der Methode des Börhave, des Merkurialis, des Antius von Amyda, des Friedrich Kraft, des Herrn Richter, welche sämtlich sattsames Prügeln anraten und sanftes Maulschellieren. Und doch wirken Prügel wohltätig auf Verstand und Herz und beleben den Körper zu den wichtigsten Funktionen. – Was wäre aus uns geworden, hätten wir eine einzige Vokabel in den Kopf gebracht in Quinta ohne nützliches Prügeln? – Ja! ich gedenke noch, daß, wie ich in meinem zwölften Jahre ›Werthers Leiden‹ gelesen hatte, ich mich stracks in ein dreißigjähriges Fräulein verliebte und mich totschießen wollte. Mein Vater heilte glücklich die zu große Reizbarkeit meines Herzens nach Rhases und Valuscus de Taranta, welche eine gute Tracht Schläge auf den H- als ein kräftiges Mittel wider die Liebe empfehlen. Zu gleicher Zeit weinte der Alte heiße Vatertränen vor Freude über die Entdeckung, daß sein Söhnlein wirklich kein Esel sei, denn dieses Tier wird nach bekannter Erfahrung desto verliebter, je mehr und besser man es prügelt! – Und was den Körper anlangt und dessen Funktionen! – O, ruft euch doch nur jenen Venusinischen Prinzen ins Gedächtnis, dessen Campanella erwähnt! – Der gute Fürst konnte nicht anders zu Stuhle gehn, als wenn er vorher von einem dazu ausdrücklich besoldeten Mann erklecklich abgeprügelt worden!«

[504] »O aller Fabulanten ergötzlichster Fabulant,« rief Theodor, »du ganzes Geschwornengericht des skurrilen Spaßes, wie lustig verführst du deine Kapriolen und Kurbetten! Aber tue das immerhin – Blitze hinein, sollte es manchmal zu still und dunkel unter uns werden mit den absonderlichsten Redensarten und belebe vorzüglich unsern Sylvester, der nach seiner gewöhnlichen Art und Weise bis jetzt noch kein einziges Wort gesprochen.«

»Überhaupt«, sprach Ottmar, »habe ich mich kaum überzeugen können, daß es wirklich Sylvester ist, der dort auf dem Stuhle sitzt und uns so freundlich anlächelt. Denn ganz unmöglich scheint es mir, daß er so bald seinen ländlichen Aufenthalt verlassen konnte, dessen Vorzüge vor unserer Stadt er so hoch pries, und ich denke immer, am Ende ist es nur ein hübscher Spuk, und Sylvester verschwindet uns plötzlich vor unsern sehenden Augen in den zierlichen Dampfwolken, die er aus dem Zigarro bläst!« –

»Gott behüte und bewahre,« rief Sylvester lachend, »glaubst du denn, daß ich friedlicher ruhiger Mann mich umgesetzt habe in einen Hexenkerl, der ehrliche Leute neckt mit seiner werten Person? Glaubst du, daß ich die mindeste Anlage habe zu einem Philadelphia oder Svedenborg? – Beklagst du dich, Theodor, über meine Wortkargheit, so wisse, daß ich gerade heute mit Bedacht den Atem spare, weil ich nichts Geringeres im Sinn trage, als euch eine ziemlich lange Erzählung vorzulesen, zu der mich ein sehr hübsches Bild unsers wackern Karl Kolbe entzündete und die ich während meines ländlichen Aufenthalts niederschrieb. – Wunderst du dich darüber, Ottmar, daß ich, unerachtet ich die Muße des Landlebens so hoch stelle, doch wieder hieherkam, so bedenke, daß, ist auch das ewige rastlose Gewühl, die leere Geschäftigkeit der großen Stadt meinem ganzen innern Wesen zuwider, ich doch auch dagegen, will ich als Dichter und Schriftsteller bestehen, mancher Anregung bedarf, die ich nur hier finde.

[505] Jene Erzählung, die ich für gut halte, wäre nimmermehr entstanden, hätte ich nicht Kolbes Bild auf der Kunstausstellung geschaut, und hätte ich nachher mich nicht der Muße des Landlebens hingegeben.«

»Sylvester hat recht,« nahm Lothar das Wort, »wenn er als Schauspiel-, als Romandichter die Anregungen in dem bunten Gewühl der großen Stadt sucht und dann dem Geist ruhige Muße gönnt, das zu schaffen, wozu er angeregt worden. Jenes Bild konnte Sylvester auch auf dem Lande schauen, aber nicht die lebendigen Personen, die sich darum herbewegten und in die hinein jene gemalten Personen des Bildes traten. Dichter jener Art dürfen sich nicht zurückziehen in die Einsamkeit, sie müssen in der Welt leben, in der buntesten Welt, um schauen und auffassen zu können ihre unendlich mannigfachen Erscheinungen!« –

»Ha!« rief Vinzenz, »wie jauchzt der Herr von Jaques im Shakespeare, als er den Monsieur Probstein im Walde gefunden? – ›Ein Narr, ein Narr! – Ich traf 'nen Narrn im Walde, 'nen scheckigen Narrn – o jämmerliche Welt.‹ So jauchze ich: ›Ein Poet! – ein Poet! – ich traf einen Poeten!‹ – Der taumelte zu hoher Mittagszeit aus dem dritten Weinhause, schaute hinauf mit den trunkfeuchten Augen zur Sonne, rief begeistert: ›O süßes mildes Mondenlicht, wie fallen deine Strahlen in mein Innres hinein und erleuchten sattsam die ganze Welt, die ich darin hege und pflege! – Wandle vor mir her, wackres Gestirn, damit ich nach dem Ort hinsteure, wo mir Lebenserfahrung, Menschenkenntnis zuströmt in Fülle zum nützlichen Gebrauch – Charakter! – lebendige Zeichnung ohne Studien nicht möglich – Herrliches Getränk, vortrefflicher Eilfer, der die Herzen erschließt und die Phantasie entzündet! – Ja, er lebt in mir, der dort in jenem Zimmer Salami genießt. Es ist ein großer hagrer Mann, trägt einen blauen Frack mit gelben Knöpfen, englische Stiefel, schnupft Tabak aus einer schwarzlackierten Dose, spricht geläufig [506] deutsch und ist daher, unerachtet jener Stiefel und der italienischen Wurst, ein deutscher herrlicher, lebensvoller Charakter für meinen neuesten Roman! – Aber – mehr Menschenkenntnis – mehr Charaktere!‹ – Und damit lief mein Poet mit günstigem Winde ein in die Bucht des vierten Weinhauses!« –

»Schweige,« rief Lothar, »schweige, du Olivarius Textdreher! – So nenne ich dich, weil du mir in der Tat meinen ganzen Text verdrehst! – Ich weiß recht gut, was du mit deinem trunknen Poeten, der Lebenserfahrung in den Weinhäusern sammelt und mit seinem Mann im blauen Frack meinst, und mag über dieses Thema gar nichts mehr sagen. Aber ganz andere Leute glauben ebenfalls, daß sie, haben sie die Persönlichkeit dieses, jenes unbedeutenden Subjekts, das ihnen in den Weg kam, genau abgeschrieben, ins Leben greifende Charaktere aufstellten. Mit dem besonderen Zopf, den dieser, jener alte Mann trägt, mit der Farbe, in die sich dieses, jenes Mädchen kleidet, ist es noch gar nicht getan. Es gehört ein eigner Sinn, ein durchdringender Blick dazu, die Gestalten des Lebens in ihrer tieferen Eigentümlichkeit zu erschauen, und auch mit diesem Erschauen ist es noch nicht getan. All die aufgefaßten Bilder, wie sie im ewigen bunten Wechsel sich ihm zeigten, bringt der Geist, der in dem wahren Dichter wohnt, erst auf die Kapelle, und wie aus dem Niederschlag des chemischen Prozesses gehen als Substrat die Gestalten hervor, die der Welt, dem Leben in seiner ganzen Extension angehören. Das sind die wunderbaren Personen, die ohne Rücksicht auf Ort, auf Zeit ein jeder kennt, mit denen ein jeder befreundet ist, die fort und fort unter uns lebendig wandeln! – Darf ich wohl des herrlichen Sancho Pansa, des Falstaff erwähnen? – Und weil du, Vinzenz, gerade vom blauen Frack sprachst, es ist wohl ein eigen Ding, daß die Gestalt, die der wahre Dichter auf jene Weise schuf, sich von selbst ganz artig und ihrem Charakter gemäß kleidet.« – »Ei,« sprach Ottmar, [507] »das ist im Leben auch nicht anders. Gewiß haben wir alle bei irgendeiner besondern Erscheinung, die uns in den Weg trat, sehr lebhaft gefühlt, daß der Mann vermöge seines ganzen Wesens nun ganz unmöglich eine andere Mütze, einen andern Hut, einen andern Rock tragen dürfe als wie er ihn eben trägt. Daß dies geschieht ist eben nicht so wunderbar als daß wir es erkennen.«

»Liegt,« unterbrach Cyprian den Freund, »liegt es denn aber nicht bloß in unserer Erkenntnis, daß es geschieht?« – »O Spitzfindigkeit ohnegleichen«, rief Vinzenz. »Und,« sprach Sylvester mit lebhafterem Ton, als es sonst seine Art war, »und alles, was Lothar behauptet, ist doch so wahr, so recht aus meiner Seele genommen. – Vergeßt aber nicht, daß nächst unseren erquicklichen Zusammensein ich auch auf dem Lande einen Genuß entbehre, der mein ganzes Wesen, es ganz und gar durchdringend, hoch erhebt. Ich meine nichts anders als die mannigfachen musikalischen Produktionen, die Aufführungen der herrlichsten Meisterwerke des Gesanges. Erst heute hat mich Beethovens Messe, die, wie ihr wißt, in der katholischen Kirche aufgeführt wurde, wahrlich im höchsten Sinn des Worts ergriffen.«

»Und das«, sprach Cyprian mürrisch, »verwundert mich nur deshalb nicht, weil dir, Sylvester, die Entbehrung dergleichen Dinge im bessern Licht erscheinen läßt. Dem Hungrigen schmeckt die geringere Kost. Denn aufrichtig gesagt, Beethoven hat in seinem Hochamt eine gar hübsche, auch wohl geniale Musik geliefert, aber nur durchaus kein Hochamt. – Wo ist der strenge Kirchenstil geblieben!« –

»Ich weiß es schon,« nahm Theodor das Wort, »du, Cyprian, statuierst nur die alten Tonsetzer, erschrickst in der Kirchenpartitur vor allen schwarzen Noten und treibst die Strenge gegen alles Neuere bis zur Ungerechtigkeit.«

»Wahr ist es indessen,« sprach Lothar, »daß in Beethovens [508] Messe mir vieles zu jubilierend, zu irdisch jauchzend klingt. Überhaupt möcht' ich wissen, worin die völlige miteinander kontrastierende Verschiedenheit des Geistes liegt, in dem die Meister die einzelnen Sätze des Hochamts komponiert haben?«

»Ei,« rief Sylvester, »das ist es auch, was mir so oft als unerklärlich aufgefallen ist. Man sollte meinen, daß z.B. die Worte: ›Benedictus qui venit in nomine domini‹ nur auf gleiche fromme ruhige Weise gesetzt werden könnten, und doch weiß ich nicht allein, daß diese Worte von den größten Meistern in ganz verschiedenem Charakter komponiert worden sind, sondern auch, daß, von den verschiedensten Empfindungen durchdrungen, ich niemals die Komposition dieses, jenes großen Mannes, als verfehlt zu verwerfen vermochte. – Theodor könnte uns hierüber aufklären.«

»Das wollte ich wohl,« sprach Theodor, »so gut ich's vermag, aber ich müßte euch eine kleine Abhandlung vortragen, die mit ihrem Ernst sonderbar abstechen würde gegen die lustige Weise, in der heute unsere Versammlung begann.«

»Ist es,« erwiderte Ottmar, »ist es denn nicht eben recht serapionsmäßig, daß Ernst und Scherz wechsele? Sprich dich daher nur getrost aus, Theodor, über einen Gegenstand, der uns alle, nehme ich etwa unsern Vinzenz aus, der nichts von der Musik versteht, höchlich interessiert. – Ich bitte auch den neuen Serapionsbruder Vinzenz, daß er den skurrilen Spaß, der ihm eben auf den Lippen schwebt, verschlucke und unsern Redner nicht unterbreche!« –

»O Serapion!« seufzte Vinzenz mit aufwärts gerichtetem Blick; Theodor begann aber ohne weiteres in folgender Art:

[Alte und neue Kirchenmusik]

»Das Gebet, die Andacht, regt gewiß das Gemüt, nach seiner eigentümlich in ihm herrschenden oder auch augenblicklichen Stimmung, wie sie von physischem oder psychischem Wohlsein oder von ebensolchem Leiden erzeugt [509] wird, auf. Bald ist daher die Andacht innere Zerknirschung bis zur Selbstverachtung und Schmach, Hinsinken in den Staub vor dem vernichtenden Blitzstrahl des dem Sünder zürnenden Herrn der Welten, bald kräftige Erhebung zu dem Unendlichen, kindliches Vertrauen auf die göttliche Gnade, Vorgefühl der verheißenen Seligkeit. Die Worte des Hochamts geben in einem Zyklus nur den Anlaß, höchstens den Leitfaden der Erbauung, und in jeder Stimmung werden sie den richtigen Anklang in der Seele erwecken. Im Kyrie wird die Barmherzigkeit Gottes angerufen; das Gloria preiset seine Allmacht und Herrlichkeit, das Credo spricht den Glauben aus, auf den die fromme Seele fest bauet, und nachdem im Sanctus und Benedictus die Heiligkeit Gottes erhoben und Segen denen verheißen worden, die voll Vertraun sich ihm nahen, wird im Agnus und im Dona noch zum Mittler gefleht, daß er Beruhigung und seinen Frieden schenke der frommen glaubenden, hoffenden Seele. Schon dieser Allgemeinheit wegen, die der tieferen Beziehung, der inneren Bedeutung, welche ein jeder nach seiner individuellen Gemütsstimmung hineinlegt, nicht vorgreift, schmiegt sich der Text der mannigfaltigsten musikalischen Behandlung an, und eben deshalb gibt es so ganz in Charakter und Haltung voneinander abweichende Kyrie, Gloria u.s.w. Man vergleiche nur z.B. die beiden Kyrie in den Messen aus Cdur und Dmoll von Joseph Haydn und ebenso seine Benedictus. – Schon hieraus folgt, daß der Komponist, der, wie es stets sein sollte, von wahrer Andacht begeistert, zur Komposition eines Hochamts schreitet, die individuelle religiöse Stimmung seines Gemüts, der sich jedes Wort willig schmiegt, vorherrschen und sich durch das Miserere, Gloria, Qui tollis u.s.w. nicht zum bunten Gemisch des herzzerschneidendsten Jammers der zerknirschten Seele mit jubilierendem Geklingel verleiten lassen wird. Alle Arbeiten dieser letzten Art, wie sie in neuerer Zeit auf höchst frivole Weise gemacht wurden, sind Mißgeburten, von einem unreinen Gemüt [510] erzeugt, die ich ebenso lebhaft verwerfe als Cyprian. Aber hohe Bewundrung zolle ich den herrlichen Kirchenkompositionen Michael und Joseph Haydns, Hasses, Naumanns u.a., ohne der alten Werke der frommen italienischen Meister (Leo, Durante, Benevoli, Perti u.a.) zu vergessen, deren hohe würdige Einfachheit, deren wunderbare Kunst, ohne bunte Ausweichungen eingreifend ins Innerste zu modulieren, in neuerer und neuester Zeit ganz verloren gegangen zu sein scheint. Daß, ohne an dem ursprünglichen reinen Kirchenstil schon deshalb festhalten zu wollen, weil das Heilige den bunten Schmuck irdischer Spitzfindigkeiten verschmäht, auch schon jene einfache Musik in der Kirche musikalisch mehr wirkt, ist nicht zu bezweifeln, da die Töne, je schneller sie aufeinander folgen desto mehr im hohen Gewölbe verhallen und das Ganze undeutlich und unverständlich machen. Daher zum Teil die große Wirkung des Chorals in der Kirche. Mit dir, Cyprian, räume ich auch den erhabenen Kirchengesängen aus der älteren Zeit, schon ihres wahrhaft heiligen, immer festgehaltenen Stils halber, den Vorzug vor der neueren Kirchenmusik unbedingt ein, indessen bin ich doch der Meinung, daß man mit dem Reichtum, den die Musik, was hauptsächlich die Anwendung der Instrumente betrifft, in neuerer Zeit erworben, in der Kirche zwar nicht prunkenden Staat treiben dürfe, ihn doch aber auf edle, würdige Weise anwenden könne. Das gewagte Gleichnis, daß die ältere Kirchenmusik der Italiener sich zu der neueren deutschen verhalte wie die Peterskirche zum Straßburger Münster, möchte ziemlich treffend sein. Die grandiosen Verhältnisse jenes Baues erheben das Gemüt, indem sie kommensurabel bleiben; aber mit einer seltsamen inneren Beunruhigung staunt der Beschauer den Münster an, der sich in den kühnsten Windungen, in den sonderbarsten Verschlingungen bunter phantastischer Figuren und Zieraten hoch in die Lüfte erhebt. Allein selbst diese Unruhe regt ein das Unbekannte, das Wunderbare ahnendes [511] Gefühl auf, und der Geist überläßt sich willig dem Traume, in dem er das Überirdische, das Unendliche zu erkennen glaubt. Nun! und eben dies ist ja der Eindruck des Rein-Romantischen, wie es in Mozarts, in Haydns Kompositionen lebt und webt. – Daß es jetzt einem Komponisten nicht so leicht gelingen wird, in jenem hohen einfachen Stil der alten Italiener einen Kirchengesang zu setzen, ist leicht zu erklären. Nicht daran denken will ich, daß der wahrhafte fromme Glaube, der jenen Meistern die Kraft gab, das Heiligste in hohen würdigen Tönen zu verkünden, wohl selten in dem Gemüt des Künstlers aus der neuesten Zeit wohnen dürfte, ich will nur des Unvermögens, das der Mangel des wahren Genies herbeiführt, und dann ebenso des Mangels an Selbstverleugnung erwähnen. Regt nicht in der höchsten Einfachheit der tiefe Genius seine kräftigsten Schwingen? Wer aber läßt auch nicht gern den Reichtum, der ihm zu Gebote steht, vor aller Augen glänzen und ist zufrieden mit dem Beifall des einzelnen Kenners, dem auch ohne Prunk das Gediegene das Liebste oder vielmehr das einzig Liebe ist? Dadurch daß man anfing, sich überall derselben Mittel des Ausdrucks zu bedienen, ist es nun beinahe dahin gekommen, daß es gar keinen Stil mehr gibt. In der komischen Oper hört man oft feierliche, gravitätisch daherschreitende Sätze, in der ernsten Oper tändelnde Liedchen und in der Kirche Oratorien und Ämter nach Opernzuschnitt. Aber es gehört auch eine seltene Tiefe des Geistes, ein hoher Genius dazu, selbst bei der Anwendung des figuriertesten Gesanges, des ganzen Reichtums der Instrumente ernst und würdevoll, kurz, kirchenmäßig zu bleiben. Mozart, so galant er in seinen beiden bekannteren Messen aus Cdur ist, hat im ›Requiem‹ jene Aufgabe herrlich gelöst: es ist dies in Wahrheit eine romantisch heilige Musik, aus dem Innersten des Meisters hervorgegangen. Wie vortrefflich auch Haydn in manchem seiner Ämter von dem Heiligsten und Erhabensten in herrlichen Tönen redet, darf ich [512] wohl nicht erst sagen, obgleich man ihm mit Recht hier und da manche Spielerei vorwerfen mag. – Sowie ich nur vernahm, Beethoven habe ein Amt gesetzt, ehe ich eine Note davon gehört oder gelesen hatte, vermutete ich gleich, daß, was Stil und Haltung betrifft, der Meister sich den alten Joseph zum Vorbilde nehmen würde. Und doch fand ich mich getäuscht in Ansehung dessen, wie Beethoven die Worte des Hochamts aufgefaßt hat. Beethovens Genius bewegt sonst gern die Hebel des Schauers, des Entsetzens. So, dachte ich, würde auch die Anschauung des Überirdischen sein Gemüt mit innerem Schauer erfüllen und er dies Gefühl in Tönen aussprechen. Im Gegenteil hat aber das ganze Amt den Ausdruck eines kindlich heitern Gemüts, das, auf seine Reinheit bauend, gläubig der Gnade Gottes vertraut und zu ihm fleht wie zu dem Vater, der das Beste seiner Kinder will und ihre Bitten erhört. Nächst diesem allgemeinen Charakter der Komposition ist die innere Struktur sowie die verständige Instrumentierung, wenn man nur einmal von der Tendenz, wie ich sie erst hinsichts des in der Kirche anzuwendenden musikalischen Reichtums aufstellte, ausgeht, ganz des genialen Meisters würdig.«

»Aber eben diese Tendenz«, nahm Cyprian das Wort, »ist nach meiner Überzeugung ganz verkehrt und kann zur ruchlosen Entheiligung des Höchsten führen. – Laß mich es sagen, wie ich über Kirchenmusik denke, und du wirst finden, daß ich wenigstens mit mir selbst darüber ganz im reinen bin. – Keine Kunst, glaube ich, geht so ganz und gar aus der inneren Vergeistigung des Menschen hervor, keine Kunst bedarf nur einzig rein geistiger ätherischer Mittel, als die Musik. Die Ahnung des Höchsten und Heiligsten, der geistigen Macht, die den Lebensfunken in der ganzen Natur entzündet, spricht sich hörbar aus im Ton, und so wird Musik, Gesang, der Ausdruck der höchsten Fülle des Daseins – Schöpferlob! – Ihrem innern eigentümlichen Wesen nach ist daher die Musik [513] religiöser Kultus und ihr Ursprung einzig und allein in der Religion, in der Kirche zu suchen und zu finden. Immer reicher und mächtiger ins Leben tretend, schüttete sie ihre unerschöpflichen Schätze aus über den Menschen, und auch das Profane durfte sich dann, wie mit kindischer Lust, in dem Glanz putzen, mit dem sie nun das Leben selbst in all seinen kleinen und kleinlichen irdischen Beziehungen durchstrahlte. Aber selbst das Profane erschien in diesem Schmuck, wie sich sehnend nach dem göttlichen höheren Reich und strebend, einzutreten in seine Erscheinungen. – Eben dieses ihres eigentümlichen Wesens halber konnte die Musik nicht das Eigentum der antiken Welt sein, wo alles auf sinnliche Verleiblichung ausging, sondern mußte dem modernen Zeitalter angehören. Die beiden einander entgegengesetzten Pole des Heidentums und des Christentums sind in der Kunst die Plastik und die Musik. Das Christentum vernichtete jene und schuf diese sowie die ihr zunächst stehende Malerei. In der Malerei kannten die Alten weder Perspektive noch Kolorit, in der Musik weder Melodie noch Harmonie. Melodie nehme ich im höhern Sinn als Ausdruck des inneren Affekts, ohne Rücksicht auf Worte und ihren rhythmischen Verhalt. Aber es ist nicht diese Mangelhaftigkeit, die etwa nur die geringere Stufe, auf der damals Musik und Malerei standen, bezeichnet, sondern, wie in unfruchtbarem Boden ruhend, nicht entfalten konnte sich der Keim dieser Künste, der im Christentum herrlich auf ging und Blüten und Früchte trug in üppiger Fülle. Beide Künste, Musik und Malerei, behaupteten in der antiken Welt nur scheinbar ihren Platz: sie wurden von der Gewalt der Plastik erdrückt, oder vielmehr in den gewaltigen Massen der Plastik konnten sie keine Gestalt gewinnen; beide Künste waren nicht im mindesten das, was wir jetzt Malerei und Musik nennen, sowie die Plastik durch die jeder Verleiblichung entgegenstrebende Tendenz der christlichen Welt, gleichsam zum Geistigen verflüchtigt, aus dem körperlichen [514] Leben entwich. Aber selbst der erste Keim der heutigen Musik, in dem das heilige, nur der christlichen Welt auflösbare Geheimnis verschlossen, konnte schon der antiken Welt nur nach seiner eigentümlichsten Bestimmung, d.h. zum religiösen Kultus dienen. Denn nichts anders als dieser waren ja selbst in der frühsten Zeit ihre Dramen, welche Festdarstellungen der Leiden und Freuden eines Gottes enthielten. Die Deklamation wurde von Instrumentisten unterstützt, und schon dieses beweiset, daß die Musik der Alten rein rhythmisch war, wenn sich nicht auch anderweitig dartun ließe, daß, wie ich schon vorhin sagte, Melodie und Harmonie, die beiden Angeln, in denen sich unsere Musik bewegt, der antiken Welt unbekannt blieben. Mag es daher sein, daß Ambrosius und später Gregor um das Jahr fünfhundertundeinundneunzig antike Hymnen den christlichen Hymnen zum Grunde legten und daß wir die Spuren jenes bloß rhythmischen Gesanges noch in dem sogenannten Canto Fermo, in den Antiphonien antreffen, so heißt das doch nichts anders, als daß sie den Keim, der ihnen überkommen, benutzten, und es bleibt gewiß, daß das tiefere Beachten jener antiken Musik nur für den forschenden Antiquar Interesse haben kann, dem ausübenden praktischen Komponisten ging aber die heiligste Tiefe seiner herrlichen, echt christlichen Kunst erst da auf, als in Italien das Christentum in seiner höchsten Glorie strahlte und die hohen Meister in der Weihe göttlicher Begeisterung das heiligste Geheimnis der Religion in herrlichen, nie gehörten Tönen verkündeten. – Merkwürdig ist es, daß bald nachher, als Guido von Arezzo tiefer in die Geheimnisse der Tonkunst eingedrungen, diese den Unverständigen ein Gegenstand mathematischer Spekulationen und so ihr eigentümliches inneres Wesen, als es kaum begonnen, sich zu entfalten, verkannt wurde. Die wunderbaren Laute der Geistersprache waren erwacht und hallten hin über die Erde; schon war es gelungen, sie festzubannen, die Hieroglyphe des Tons in seiner melodischen [515] und harmonischen Verkettung war gefunden. Ich meine die Musikschrift der Noten. Aber nun galt die Bezeichnung für das Bezeichnete selbst; die Meister vertieften sich in harmonische Künsteleien, und auf diese Weise hätte die Musik, zur spekulativen Wissenschaft entstellt, aufhören müssen Musik zu sein. Der Kultus wurde, als endlich jene Künsteleien aufs höchste gestiegen waren, durch das, was sie ihm als Musik aufdrang, entweiht, und doch war dem von der heiligen Kunst durchdrungenen Gemüt nur die Musik wahrer Kultus. So konnte es also nur ein kurzer Kampf sein, der mit dem glorreichen Siege der ewigen Wahrheit über das Unwahre endete. Ausgesöhnt mit der Kunst wurde der Papst Marcellus der Zweite, der im Begriff stand, alle Musik aus den Kirchen zu verbannen, so aber dem Kultus den herrlichsten Glanz zu rauben, als der hohe Meister Palestrina ihm die heiligen Wunder der Tonkunst in ihrem eigentümlichsten Wesen erschloß. Auf immer wurde nun die Musik der eigentlichste Kultus der katholischen Kirche, und so war damals die tiefste Erkenntnis jenes innern Wesens der Tonkunst in dem frommen Gemüt der Meister aufgegangen, und in wahrhaftiger heiliger Begeisterung strömten aus ihrem Innern ihre unsterblichen unnachahmlichen Gesänge. Du weißt, Theodor, daß die sechsstimmige Messe, die Palestrina damals (es war ja wohl im Jahr 1555?) komponierte, um dem erzürnten Papst wahre Musik hören zu lassen, unter dem Namen ›Missa Papae Marcelli‹ sehr bekannt geworden ist. Mit Palestrina hob unstreitig die herrlichste Periode der Kirchenmusik, mithin der Musik überhaupt, an, die sich beinahe zweihundert Jahre bei immer zunehmendem Reichtum in ihrer frommen Würde und Kraft erhielt, wiewohl nicht zu leugnen ist, daß schon in dem ersten Jahrhundert nach Palestrina jene hohe unnachahmliche Einfachheit und Würde sich in eine gewisse Eleganz verlor, um die sich die Komponisten bemühten. Welch ein Meister ist Palestrina! – Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung [516] folgen in seinen Werken meistens vollkommen konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird. – Die Liebe, der Einklang alles Geistigen in der Natur, wie er dem Christen verheißen, spricht sich aus im Akkord, der daher auch erst im Christentum zum Leben erwachte, und so wird der Akkord, die Harmonie, Bild und Ausdruck der Geistergemeinschaft, der Vereinigung mit dem Ewigen, dem Idealen, das über uns thront und doch uns einschließt. Am reinsten, heiligsten, kirchlichsten muß daher die Musik sein, welche nur als Ausdruck jener Liebe aus dem Innern aufgeht, alles Weltliche nicht beachtend und verschmähend. So sind aber Palestrinas einfache, würdevolle Werke, die, in der höchsten Kraft der Frömmigkeit und Liebe empfangen, das Göttliche verkünden mit Macht und Herrlichkeit. Auf seine Musik paßt eigentlich das, womit die Italiener das Werk manches, gegen ihn seichten, ärmlichen Komponisten bezeichneten; es ist wahrhafte Musik aus der andern Welt – Musica del' altro mondo.

Die Folge konsonierender, vollkommener Dreiklänge ist uns jetzt in unserer Verweichlichung so fremd geworden, daß mancher, dessen Gemüt dem Heiligen ganz verschlossen, darin nur die Unbehilflichkeit der technischen Struktur erblickt. Indessen auch selbst von jeder höheren Ansicht abgesehen, nur das beachtend, was man im Kreise des Gemeinen Wirkung zu nennen pflegt, liegt es am Tage, daß, wie du schon erst bemerktest, Theodor, in der Kirche, in dem großen weithallenden Gebäude, gerade alles Verschmelzen durch Übergänge, durch kleine Zwischennoten die Kraft des Gesanges bricht. In Palestrinas Musik trifft jeder Akkord den Zuhörer mit der ganzen Gewalt, und die künstlichsten Modulationen werden nie so, wie eben jene kühnen, gewaltigen, wie blendende Strahlen hereinbrechenden Akkorde, auf das Gemüt zu wirken vermögen. Palestrina ist einfach, wahrhaft, kindlich fromm, stark und [517] mächtig, echt christlich in seinen Werken wie in der Malerei Pietro von Cortona und unser Albrecht Dürer. Sein Komponieren war Religionsübung. Doch will ich auch nicht der hohen Meister, Caldara, Bernabei, Scarlatti, Marcello, Lotti, Porpora, Bernardo, Leo, Valotti u.a. vergessen, die alle sich einfach würdig und kräftig erhielten. – Lebhaft geht in diesem Augenblick die Erinnerung an die siebenstimmige alla Capella gesetzte Messe des Alessandro Scarlatti in mir auf, die du einmal, Theodor, unter deiner Leitung von deinen guten Schülern und Schülerinnen singen ließest. Dies Hochamt ist ein Muster des wahren mächtigen Kirchenstils, unerachtet es schon den melodischen Schwung, den die Musik zu der Zeit (1705) gewonnen, in sich hat.«

»Und«, sprach Theodor, »des mächtigen Händel, des unnachahmlichen Hasse, des tiefsinnigen Sebastian Bach gedenkst du gar nicht?«

»Ei«, erwiderte Cyprian, »diese rechne ich eben noch ganz zu der heiligen Schar, deren Inneres die Kraft des Glaubens stärkte und der Liebe. Eben diese Kraft schuf die Begeisterung, in der sie in Gemeinschaft traten mit dem Höheren und entflammt wurden zu den Werken, die nicht weltlicher Absicht dienen, sondern nur Lob und Preis der Religion, des höchsten Wesens sein sollten. Daher tragen jene Werke das Gepräge der Wahrhaftigkeit, und kein ängstliches Streben nach sogenannter Wirkung, keine gesuchte Spielerei und Nachäffung entweiht das rein vom Himmel Empfangene, daher kommt nichts vor von den sogenannten frappierenden Modulationen, von den bunten Figuren, von den weichlichen Melodien, von dem kraftlosen verwirrenden Geräusch der Instrumente, das den Zuhörer betäuben soll, damit er die innere Leere nicht bemerke, und daher wird nur von den Werken dieser Meister und der wenigen, die noch in neuerer Zeit treue Diener der von der Erde verschwundenen Kirche blieben, das fromme Gemüt wahrhaft erhoben und erbaut.

[518] Ich will auch hier des herrlichen Meisters Fasch gedenken, der der alten frommen Zeit angehört und dessen tiefsinnige Werke nach seinem Tode von der leichtsinnigen Menge so wenig beachtet wurden, daß die Herausgabe seiner sechzehnstimmigen Messe aus Mangel an Unterstützung nicht einmal zustande kam. –

Sehr unrecht tust du mir, Theodor, wenn du glaubst, daß mein Sinn verschlossen ist für die neuere Musik. Haydn, Mozart, Beethoven entfalteten in der Tat eine neue Kunst, deren Keim sich wohl eben erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zeigte. Daß der Leichtsinn, der Unverstand mit dem erworbenen Reichtum übel haushaltete, daß endlich Falschmünzer ihrem Rauschgolde das Ansehen der Gediegenheit geben wollten, war nicht die Schuld jener Meister, in denen sich der Geist herrlich offenbarte. Wahr ist es, daß beinahe in eben dem Grade, als die Instrumentalmusik stieg, der Gesang vernachlässigt wurde und daß mit dieser Vernachlässigung jenes völlige Ausgehn der guten Chöre, das von mancher kirchlichen Einrichtung (Aufhebung der Klöster u.s.w.) herrührte, gleichen Schritt hielt; daß es unmöglich ist, jetzt zu Palestrinas Einfachheit und Größe zurückzukehren, bleibt ausgemacht, inwiefern aber der neu erworbene Reichtum ohne Ostentation in die Kirche getragen werden darf, das fragt sich noch. – Nun! – immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder; aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge, nur nicht vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in [519] Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphsschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt!« –

Cyprian sprach die letzten Worte mit einer Salbung, die deutlich erkennen ließ, daß alles wahrhaft aus seinem Innern strömte. Von seiner Rede tief ergriffen, schwiegen die Freunde einige Augenblicke, dann begann Sylvester: »In der Tat, ohne Musiker zu sein wie ihr, Theodor und Cyprian, es seid, habe ich doch alles, was ihr über Beethovens Messe und über Kirchenmusik überhaupt gesagt, sehr gut verstanden. So wie du, Cyprian, aber klagst, daß es beinahe gar keinen eigentlichen Kirchenkomponisten mehr gibt, so möcht' ich behaupten, daß jetzt schwer ein Dichter zu finden sein möchte, der einen würdigen Kirchentext schreibt.«

»Sehr wahr,« nahm Theodor das Wort, »und eben der deutsche Text, den man der Beethovenschen Messe untergelegt hat, beweiset dieses nur zu sehr. Die drei Hauptteile des Hochamts sind bekanntlich das Kyrie, das Credo und das Sanctus. Zwischen dem ersten und zweiten tritt das Graduale (meistens eine Kirchensymphonie), zwischen dem zweiten und dritten das Offertorium (gewöhnlich als Kirchenarie behandelt) ein.

So ist, wahrscheinlich, um der herrlichen Musik auch in protestantischen Kirchen, ja wohl sogar in Konzertsälen Eingang zu verschaffen, auch in der deutschen Bearbeitung das Ganze in drei Hymnen geteilt. Was aber die Worte betrifft, so mußten sie, um den Sinn, die Bedeutung des Ganzen nicht zu verletzen, so einfach als möglich und zwar am besten und kräftigsten rein biblisch sein. Händel ließ bekanntlich dem Bischof, der sich erbot ihm den Text zum ›Messias‹ zu dichten, sagen, ob die Eminenz denn sich getraue, bessere Worte zu ersinnen als er, Händel, sie in der Bibel finde. Richtiger wurde nie die [520] wahre Tendenz der Kirchentexte ausgesprochen. Was ist in der Beethovenschen Messe aus dem einfachen Kyrie eleison, Christe eleison geworden? – da heißt es:


›Tief im Staub anbeten wir
Dich, den ew'gen Weltenherrscher,
Dich den Allgewaltigen.
Wer kann dich nennen, wer dich fassen?
Unendlicher! – Ach, unermessen,
Unnennbar ist deine Macht!
Wir stammeln nur mit Kindeslallen
Den Namen Gott! – ‹«

»Das ist«, rief Sylvester, »modern, gesucht preziös und weitschweifig zu gleicher Zeit. Überhaupt muß ich bekennen, daß mir das innere Wesen der alten lateinischen Hymnen ganz unerreichbar scheint und daß mir selbst die Übersetzungen, die vortreffliche Dichter versucht haben, keinesweges gnügen. Die treuste Übersetzung klingt oft wenigstens wunderlich, wie z.B. Ave, maris stella: Meerstern, ich dich grüße!« –

»Ebendaher«, sprach Theodor, »würd' ich mich nie entschließen können, hab' ich es im Sinn, Kirchenmusik zu setzen, von jenen alten Hymnen abzulassen.«

»Aber nun,« rief Vinzenz, indem er vom Stuhle aufsprang, »nun verbanne ich, ein zweiter ergrimmter Papst Marcellus, alles fernere Gespräch über Musik aus der Kapelle des heiligen Serapion! – Ihr habt beide sehr schön gesprochen, du sowohl, Theodor, als du, Cyprian; aber dabei laßt es bewenden; kehren wir zur alten Ordnung zurück, auf die eben ich als Neuling ganz erstaunlich halte!« –

»Vinzenz«, nahm Lothar das Wort, »hat recht. Für musikalische Laien waren eure Abhandlungen eben nicht ganz genießbar, und daher ist es gut, daß wir sie abbrechen. Sylvester soll uns nun die Erzählung vorlesen, die er uns mitgebracht hat.«

[521] Die Freunde stimmten ein in Lothars Begehren, und Sylvester begann ohne weiteres in folgender Art:

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TextGrid Repository (2012). Hoffmann, E. T. A.. Erzählungen, Märchen und Schriften. Die Serapionsbrüder. Zweiter Band. Vierter Abschnitt. [Alte und neue Kirchenmusik]. [Alte und neue Kirchenmusik]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6A8A-9