[198] Zur Weinlese

1.

Wir sah'n die Reben blühen
Im milden Frühlingshauch,
Und sah'n für uns're Mühen
Erblüh'n die Hoffnung auch.
Die Trauben sind gediehen,
Sind würzig süß und klar.
Laßt uns zur Lese ziehen!
Was wir gehofft, ward wahr.
Der Sommer that das Seine,
Der Herbst hat es vollbracht,
Mit warmem Sonnenscheine
Und kühlem Thau der Nacht.
Die Trauben sind gediehen,
Sind würzig, süß und klar.
Laßt uns zur Lese ziehen!
Was wir gehofft, ward wahr.
O Blick voll Wohlbehagen!
Wenn Beer' an Beere glänzt,
Wenn wir zur Kelter tragen,
Was Freuden uns kredenzt.
Die Trauben sind gediehen,
Sind würzig, süß und klar.
Laßt uns zur Lese ziehen!
Was wir gehofft, ward wahr.

[199] 2.

Heute Jubel! heute Lust!
Juchheidi! juchheida!
Sang und Klang aus voller Brust!
Juchheidi! heida!
Freud' und Leben dort und hier!
Heute, heute herbsten wir!
Juchheidi, heidi, heida!
Unsre Reben rings umher
Juchheidi! juchheida!
Sind von reifen Trauben schwer.
Juchheidi! heida!
Heuer giebt es guten Wein,
Heuer kann man fröhlich sein.
Juchheidi, heidi, heida!
Jung und Alt, nun frisch heran!
Juchheidi! juchheida!
Heute fängt das Lesen an.
Juchheidi! heida!
In den Bergen hier und dort
Hall' es fort und immer fort:
Juchheidi, heidi, heida!

3.

Knaben.

Wie fröhlich wir sind,
Juchheißa juchhei!
Die Lese beginnt,
Wir sind mit dabei.
[200] Mädchen.

Wir sollten lesen wie Winzerinnen,
Doch ehe wir kaum zu lesen beginnen,
Wird über dem Essen
Das Lesen vergessen.
Der Traube duftige Süßigkeit
Verlockt uns zum Kosten allezeit.
Knaben.

Wir machen es besser: wir lausen umher
Und suchen uns Trauben nach unserm Begehr.
Einer.

Habt Ihr an Schwärmer wohl gedacht
Und auch Raketen mitgebracht?
Ein Anderer.

Raketen und Schwärmer nachher,
Wann der Abend beginnt!
Erst holet die Dornen her!
Geschwind, geschwind!
Wir wollen ein Feuer machen,
Das soll leuchten, dampfen und krachen!
Alle.

Dann springen wir Alle zusammen,
Dann springen wir über die Flammen!
Juchhe!
Einige Knaben.

Wir wollen uns redlich plagen und müh'n!
Wenn die Schwärmer goldene Funken sprüh'n,
Die Raketenkugeln farbig erglüh'n,
Dann gehen wir erst nach Haus.
[201]
Doch ist das Vergnügen nicht aus:
Es wartet unser ein Schmaus,
Kastanien und junger Most,
O herrliche Winzerkost!
Mädchen.

Dann wollen wir einen Tanz beginnen,
Wir wollen dann auch fröhlich sein.
Ihr aber dürft Euch nicht lange besinnen,
Sonst sehet zu, wie wir tanzen allein.
Knaben.

Wir tanzen mit Euch und springen,
Wir spielen mit Euch und singen,
Bis der Vater gebeut:
Genug für heut!

4.

Der Wein, der ist gerathen heuer,
Nun ist die Freude gar nicht theuer.
Leicht freut sich jetzo Jung und Alt,
Und jubelt, daß es wiederhallt.
O duftigsüßes Rebenblut,
Wie schmeckst du schon so wundergut!
Was wirst du uns dereinst doch sein,
Wenn du geworden bist zu Wein!
Wohl hat's der Herbst gar gut gemacht,
Drum sei ihm tausend Dank gebracht.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich. Zur Weinlese. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7152-A