Wiegenlieder

1.

Die liebe Sonne sinket nieder,
Schon säuselt's kühl durch Wald und Feld,
Der Abendstern verkündet wieder
Den süßen Schlaf der müden Welt.
An Halmen, Blättern, Sommerlatten
Wird's still und stiller allgemach,
Und Jedes sucht im Dämmerschatten
Ein grünumwölbtes Wetterdach.
[182]
Im Blumenkelche will die Biene,
Der Laubfrosch auf dem Blatte ruhn,
Der Falter an der Balsamine,
Am Rosenzweig das Gotteshuhn.
Du darfst um deine Lagerstätte,
Mein Kind, noch nicht bekümmert sein!
Wenn ich auch keine Wiege hätte,
Auf meinen Armen schliefst du ein.

2.

Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Schließ deine Aeugelein!
Sei ruhig nun und schließ sie zu,
Dann hat dein liebes Herz auch Ruh.
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Bald kommt der Sonnenschein,
Der wecket auf die Blumen all
Und Schmetterling und Nachtigall.
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
O schöner Sonnenschein,
So komm doch her, komm her geschwind
Und weck' auch auf mein liebes Kind!
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Er blickt durchs Fensterlein,
Als wollt' er sagen: seht doch, seht,
Wie Alles schön im Garten steht!
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
[183]
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!
Schließ deine Aeugelein!
Sei ruhig nun und schließ sie zu,
Dann hat dein liebes Herz auch Ruh.
Schlaf', mein Kind, schlaf' ein!

3.

Die Aehren nur noch nicken,
Das Haupt ist ihnen schwer,
Die müden Blumen blicken
Nur schüchtern noch umher.
Da kommen Abendwinde
Still wie die Engelein,
Und wiegen sanft und linde
Die Halm' und Blumen ein.
Und wie die Blumen blicken,
So schüchtern blickst du nun,
Und wie die Aehren nicken,
Will auch dein Häuptlein ruhn.
Und Abendklänge schwingen
Still wie die Engelein
Sich um die Wieg' und singen
Mein Kind in Schlummer ein.

4.

So schlaf' in Ruh!
Die Zeitlos' und die Tulpe nickt,
Auf daß der Schlaf sie auch erquickt.
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du!
Nun schlaf' in Ruh!
[184]
So schlaf' in Ruh!
Die Lämmlein sind jetzt müd' und satt,
Sie suchen ihre Lagerstatt.
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du,
Nun schlaf' in Ruh!
So schlaf' in Ruh!
Der Vogel fliegt zum Dornenstrauch:
»Jetzt ist es Nacht, drum schlaf' ich auch.«
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du,
Nun schlaf' in Ruh!
So schlaf' in Ruh!
Die Sterne leuchten hell und klar,
Es kommt von dort der Engel Schaar,
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du,
Nun schlaf' in Ruh!
So schlaf' in Ruh!
Es kommt auch einer her und wacht,
Mein Kind, bei dir die ganze Nacht.
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du,
Nun schlaf' in Ruh!
So schlaf' in Ruh!
Er breitet seine Flügel aus,
Und singt: Gott segne dieses Haus!
Die Aeugelein zu!
Mein Kindlein du,
Nun schlaf' in Ruh!

[185] 5.

Schlaf' ein, mein liebes Kindlein!
Schlaf' ein, mein süßes Herz!
Dich täuscht noch keine Hoffnung,
Dich quälet noch kein Schmerz.
Wie wenig ist hienieden,
Wonach dein Sinn verlangt!
Du gleichst dem Schmetterlinge,
Der an der Blume hangt.
Du greifst nach Sonn' und Wolken,
Und in das Abendroth;
Du kennst noch keine Trennung,
Du ahnst noch keinen Tod.
Ein Traum ist dir die Zukunft
Und die Vergangenheit;
Ein Traum ist dir das Leben,
Ein Traum dir Freud' und Leid.
Die Liebe kommt und singet
Dich ein in süße Ruh,
Die Liebe wacht und deckt dich
Mit ihrem Fittig zu.

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TextGrid Repository (2012). Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich. Wiegenlieder [1]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7222-1