Klagen einer Nonne

Der Flora junge Rosenhand
Bestreuet jetzt die Flur
Mit Kränzen, und ein bunt Gewand
Umhüllet die Natur.
Nur nicht für mich! Mir wallt vom Thal
Kein Wohlgeruch empor.
Mir tönt das Lied der Nachtigall
Nur Klagen in mein Ohr.
Mit Fittigen der Mitternacht
Irrt die Melancholey
Um mich herum. Kein Lenztag macht
Mich von dem Kummer frey.
Selbst an des heilgen Altars Fuß,
Werf ich oft einen Blick
In jene Zeit, da Damons Kuß
Mir Himmel war, zurück.
Beym Paternoster seufze ich
Die Worte himmelan,
Erhöre, heilge Jungfrau, mich,
Und schenk mir ihn zum Mann.
Um meine Augenlieder schleicht
Der süße Schlaf nicht gern;
Oft sieht, wenn schon die Nacht entweicht,
Mein Leid der Morgenstern.
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Stets schwebt mir meines Damons Bild
Vor Augen, der die Luft
Mit lauten Trauertönen füllt,
Und meinen Namen ruft.
Vergebens ruft! Nie werd ich ihn,
Den treuen, wiedersehn,
Nie mit ihm, wenn die Bäume blühn,
Durch Schattenhayne gehn.
Nein, trauern werd ich, bis der Arm
Des Grabes mich umfaßt,
Wenn du o Schwermuth, und du Harm
Mich aufgezehret hast.
[21]

Notes
Entstanden 1769. Erstdruck in: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Wilhelm Michel, Bd. 1, Weimar 1914.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hölty, Ludwig Christoph Heinrich. Klagen einer Nonne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7E3F-1