Arno Holz / Oskar Jerschke
Traumulus
Tragische Komödie

Personen

[5] Personen.

    • Professor Dr. Niemeyer, Direktor des Königlichen Gymnasiums.

    • Jadwiga, seine zweite Frau.

    • Fritz, sein Sohn aus erster Ehe.

    • von Kannewurf, Landrat.

    • Mollwein, Assessor.

    • Brunner, Sanitätsrat.

    • Kleinstüber, Major a.D.

    • Goldbaum, Fabrikant.

    • Falk, Rechtsanwalt.

    • Tamaschke, Polizeisekretär.

    • Hoppe, Polizeiinspektor.

    • Potzkowski, Schutzmann.

    • Lydia Link, Mitglied des Stadttheaters.

    • Schimke, Pedell.

    • Olga, Stubenmädchen bei Niemeyer.

    • Schladebach, Bäckermeister.

    • [5] Kurt von Zedlitz, Brutus.

    • Pöhlmann, (Catilina).

    • Klausing, (Spartacus).

    • Cassius,
    • Widukind,
    • Vercingetorix,
    • Sempronius Grachus,
    • Mucius Scävola,
    • Harmodios,
    • Aristogeiton,
    • Karl Wilhelm Frommelt, (Möros), , Mitglieder der »ehrenfesten und freien Blutsverbindung Antityrannia« Gymnasiasten.

    • Ein Piccolo.

    • Ein Kasinomitglied.

    • Ein Bäckergeselle.

    • Ein Schutzmann.

    • Zwei Wachtposten der Antityrannia.

    • Polizisten.
    • [6]

1. Akt

Erster Akt

[7] [9]Civilkasino
behaglicher Klubraum. Im Hintergrunde links, durch eine torbogenartige Innendekoration abgetrennt, eine Billardnische mit buntem Fenster. In der vorspringenden Hinterwand rechts großes einscheibiges Rundbogenfenster, durch das man in sonnigem Winterlicht die verschneite Stadt sieht. Rechts und links je eine Tür. Zeitungsregal, patriotische Bilder und Büsten, Trinkhörner und Humpen. Vorn, am runden Stammtisch, Major a.D. Kleinstüber, Sanitätsrat Brunner, Fabrikant Goldbaum und Assessor Mollwein. In der Billardnische Rechtsanwalt Falk mit einem andern Herrn bei einer Partie Karambolage. Ab und zu ersetzt ein der Würde des Kasinos angepaßter Piccolo ehrfurchtsvoll die Getränke. Es werden nur Flaschenweine getrunken.

MOLLWEIN
der eben aus einem Manuskript vorgelesen, schnarrend.

Nachdem also nun die ... Krieger sich zu beiden Seiten der Bühne malerisch um die Büste Seiner Majestät jruppiert haben, werden die bengalischen Lichter entflammt, im unsichtbaren Orchester ertönt ein leises Trommeltremolo, der Jenius der Freude in festlicher Tunika betritt das Podium und es erfolgt ein wahrhaft berauschendes Finale, mit welchem der Dichter unsres Festspiels zum schönen Schluß eilt. Darf ich Ihnen das noch vorlesen, oder sind die Herren doch schon n bischen zu abjespannt?

SANITÄTSRAT.
Gott ... e ...
[9]
MAJOR.
Wenn Sie's nicht zu sehr anstrengt, Herr Assessor?
GOLDBAUM
trinkt.
Nu, wir könnens schon noch vertragen.
MOLLWEIN.

Also! Der Jenius, wie jesagt, steht auf dem Podium, der Hauptkrieger hebt vor ihm die Fahne und alles singt a capella das Bannerlied. Melodie: Deutschland, Deutschland über alles!Draußen beginnen die Kirchenglocken zu läuten; nach seiner Uhr sehend. Was? Jottesdienst schon aus? Um also kurz zu sein: Folgen einige köstliche Strophen, der allejorische Vorhang im Hinterjrund mit den Wappen aller deutsche Stämme teilt sich – Siejesjöttin, Jewehrfeuer, Nationalhymne, Schluß!

MAJOR.
Bravo!
SANITÄTSRAT.
Hm.
GOLDBAUM.
Wundrvoll!
MOLLWEIN.

Bessres hat Felix Dahn ooch nich jedichtet. Bin felsenfest überzeugt, noch keine Stadt, so weit die deutsche Zunge klingt, hat bei Enthüllung eines Denkmals Kaiser Wilhelms des Jroßen, als ehrfurchtsvollsten Dank für Jnadenjeschenk allerhöchst eijnen Besuches Seiner Majestät, mit solcher Jlanzleistung aufjewartet!

[10]
MAJOR
glas hoch.
Herr Assessor?
MOLLWEIN
ebenso.

Herr Major? Herr Sanitätsrat? Herr Goldbaum! Alles trinkt. Schätze mich wirklich jlücklich, daß die Dichtung trotz meines selbstverständlich ... nu ja, leider Gottes sehr dilettantenhaften Vortrags ...

MAJOR.
Oho!
SANITÄTSRAT.
Bitte sehr!
GOLDBAUM.
Herr Assessor!
MOLLWEIN.

Na ja ... Möchte die Herren Vorstandsmitjlieder also nun dringend bitten, dafür zu sorgen, daß das Civilkasino in der morjijen Plenarsitzung der vereinigten Empfangsausschüsse wie ein Mann für die Aufführung dieses in unsrer leider sonst so jleichjültjen Zeit von wahrhaft erquicklichem Patriotismus durchwehten Festspiels unsres allverehrten Vizepräsidenten Herrn Gymnasialdirektor Professor Doktor Niemeyer eintritt. Er verdient es!

MAJOR.
Aber ganz unbedingt!
SANITÄTSRAT.
Blos ... zu lang, Herr Assessor. Zu lang! Wo sollen wir die Zeit hernehmen?
[11]
GOLDBAUM.
Schade.
MOLLWEIN.
Wie beliebt?
SANITÄTSRAT.

Nach Ihrem Referat schätze ich die Aufführungsdauer auf ... mindestens anderthalb Stunden. Vom Hofmarschallamt sind uns für den ganzen Zimmt fünfundzwanzig bis höchstens, aber auch allerhöchstens dreißig Minuten bewilligt.

MAJOR.
Ja, zum Donnerwetter, was machen wir denn da?
MOLLWEIN.
Muß er sein Stück eben bischen zusammenstreichen!
SANITÄTSRAT.
Da kennen Sie Niemeyer! Lieber nem Krokodil n Zahn ausziehn! Major und Goldbaum amüsirt.
MOLLWEIN.

Kenne Herrn Direktor Niemeyer ja allerdings erst die paar Monate, die ich den Verzug habe am hiesijen Landjericht tätig zu sein, aber.. e.. muß jestehn, Herr Direktor hat immer tadellosesten Eindruck auf mich jemacht! Konziliantes Wesen, humane Ansichten, überhaupt entjejenkommendste Liebenswürdigkeit!

GOLDBAUM.
N fainer Mann und n guter Mann. Meine Söhne sind sehr zufrieden.
[12]
SANITÄTSRAT
lachend.

Meine beeden Neffen auch, lieber Herr Goldbaum! Wenns blos auf die Herren Primaner ankäme – die haben gegen Konzilianz und humanes Wesen natürlich nischt einzuwenden. Aber die Regierung, die hohe Regierung! Unser gestrenger Herr Landrat!

MOLLWEIN.
Ja, habe leider schon wiederholt bemerkt: scheinen da so jewisse kleine Spannungen zu existieren.
SANITÄTSRAT.
Spannungen? Sie sind für vorsichtige Ausdrucksweise.
MOLLWEIN.
Ja nu, mit krummen Säbeln habe ich die Herren noch nicht auf einander loshacken sehn.
SANITÄTSRAT.

Wir auch nich! Gott sei Dank noch nicht! Aber mit Aktenbündeln! Mit fnffzig Seiten langen Dupliken etc.! Bin n alter Kirchhofslieferant und kann was vertragen. Aber der arme Herr Ministerialreferent möcht ich nicht sein, der die gegenseitige Beschwerdekanonade dieser beiden Prinzipienreiter nun schon fast fünfviertel Jahr über sich ergehn lassen muß!

MAJOR.
Brrr!
MOLLWEIN.

Das ist doch aber höchst bedauerlich! Mann mit so ner reizenden Frau sollte doch keenen Jegner haben.

[13]
SANITÄTSRAT
ulkend.

Grade! Alter Borusse wie unser Landrat hat n verfluchten Schönheitssinn. Den bekümmert das vielleicht, daß so n bemoster Homerpauker noch so ne kleene, flotte Antilope gefangen hat.

MOLLWEIN.
Einfach Raceweib!
MAJOR
sich den Schnurrbart streichend; Schnalzlaut.
SANITÄTSRAT
zu Mollwein, mit dem Finger drohend.

Sie? Wollen doch sehr stark hoffen, daß Ihre plötzliche Kunstbegeisterung vorhin durchaus objektiv war. Oder, oder, oder ... aber, aber, aber ... ei, ei, ei!

MOLLWEIN.

Aber parole d'honneur, Herr Sanitätsrat! Versichre Sie, habe mit Frau Direktor nur ein einzijes Mal das Vergnüjen jehabt! Und zwar in diesen ernsten Räumen. Beim letzten Sedanball unsres Kriegervereins. Sonst noch nie!

MAJOR
ihm auf die Schulter klopfend.
Aber liebstes Assessorchen!
MOLLWEIN.
Na ja ... möchte doch wirklich bitten.
SANITÄTSRAT
lachend.
War ja nur Scherz!
[14]
GOLDBAUM.
Nu, ich könnts verstehn, wenn der Herr Assessor der Frau Direktor den Hof macht. Ne scheene Frau l
LANDRAT
in Pelz und Cylinder durch die Tür rechts.
Moin, meine Herren!
MOLLWEIN.
Moin, Herr Landrat!
MAJOR.
Moin!
GOLDBAUM.
Guten Morgen!
SANITÄTSRAT.
Mahlzeit!
LANDRAT.

Hundekälte! Wolfsfrost! Aber famos, famos! Legt ab. Wenn das sich hält, Sich die Hände reibend. kriegen wir ne brüllend schöne Treibjagd! Zum Piccolo. Jrock! Vierfünftel Jamaika Wasser überhaupt nich. Kurz und jut, wie immer Dann ne Rauentaler Abtreten! Während er sich setzt. Herr Major! Ihm mit dem Finger drohend. Wieder mal Jottesdienst geschwänzt! Zu Mollwein. Sie ooch, Sie oller Kotillonheide! Werde Sie melden! Regierungsbank wieder halb leer gewesen! Sollen doch n juten Bleistift jeben!

GOLDBAUM.
Immer humorvoll der Herr Landrat, immer humorvoll.
[15]
MOLLWEIN
hüstelnd.
Ja, letzte Tage bischen auf der Brust jehabt. Diese ungeheizten Kirchen ...
LANDRAT
lachend.

Haaseken? Na aber Spaß bei Seite. Die Herren haben wirklich mal wieder nischt versäumt. Unser guter alter Superndent läßt eklich nach. Der sitzt immer blos noch an den Bächen Babylons und weent. Jona, Micha, Habakuk, Zephanja ... weiter weeß er nischt. Wie der uns bei der Enthüllungsfeier die Festpredigt schmettern will ... ich habe da wirklich meine ehrlichen Bedenken. Majestät ist n verteufelt scharfer Kritiker. Wenn der Zauber blos erst glücklich vorüber wär!

MAJOR.
Haben ne verdammt große Last jetzt, Herr Landrat.
LANDRAT.

Ach, das spielt keine Rolle. Man tut seine Pflicht. Dazu is man da. Aber wenn einem in diesen Tagen, wo man, ich möchte sagen, mit der konzentriertest Konzentration von früh bis spät nachts an nischt weiter denkt, als – wird die Geschichte klappen, wird alles jut jehn, Majestät kommt zum ersten Mal her, wird nischt passieren ... wenn da einem noch solche gottverfluchten Schweinereien dazwischenkommen: ich kann Ihnen versichern, teuerster Herr Major, da wünschte man sich wirklich manchmal transatlantische Kabel statt Nerven. Dieser unselige Niemeyer! Der Deibel solln holen!

[16]
MAJOR.
Unsern Festdichter?
LANDRAT.
Festdichter? Was fürn Festdichter?
MOLLWEIN.

Herr Landrat wissen doch, daß im vorbereitenden Ausschusse beschlossen wurde, Seiner Majestät ein kleines vaterländisches Huldijungsspiel darzubringen.

LANDRAT.
Na ja, selbstverständlich! Wann krieg ichs endlich?
MOLLWEIN
das Manuskript dem Landrat überreichend.

Verzeihn, Herr Landrat. Habe mal erst in intimstem Zirkel provisorisch den unjefähren Eindruck feststellen wollen.

MAJOR.
Sehr nette Sache.
SANITÄTSRAT.

Bischen pathetisch, bischen viel Leonidas und die Thermopylen ... aber ... mit Amputationen ... warum nich?

GOLDBAUM.
D'r Herr Autor wirds schon machen.
LANDRAT
der jetzt den Namen auf dem Titel gesehen das Manuskript ärgerlich auf den Tisch werfend.

Was? Von Niemeyer? [17] Niemeyer?? Nee!! Und wenn er Schiller, Joethe und Wildenbruch in Eens wär! Lieber jarnischt! Unser Herr Gymnasialdirektor ist seit heute früh für mich n toter Mann!

SANITÄTSRAT.
Mein Gott, was ist denn wieder los?
MAJOR.
Explodieren ja wie'n Pulverfaß!
GOLDBAUM
entsetzt.
Herr Landrat!
MOLLWEIN.
Das wäre ja furchtbar.
LANDRAT.

Na, bis in diese geheiligten Räume scheint ja die Schose also noch nich gedrungen zu sein! Ingrimmig. Halbe Stadt amüsiert sich schon drüber! Skandal!!

FALK
am Billard, auf den Stammtisch sehr aufmerksam geworden; das Spiel wird bald beendet.
SANITÄTSRAT.
Nu packen Sie doch mal aus!
LANDRAT.

Sitze beim Kaffe, lese in aller Gemütsruhe den Bericht unsres Herrn Oberförsters, wieviel Meter Guirlanden wir noch brauchen, kommt mein Sekretär Krimmel – übrijens n janz solider Mann sonst – und bringt mir die liebliche Mär, daß heute Nacht [18] so jejen halber Eins der junge Zedlitz. Niemeyers feinste Nummer, wo jesessen hat? Sage, schreie und brülle, im jrünen Zimmer vom joldnen Pfau! Na! ... Aber nich etwa alleene, als Coeur Solo ... i kein Bein! Mit Lydia Link vom Stadttheater! Pulle Sekt!! Krimmel hat sogar noch de Marke lesen können! Moët Chandon!! Junge hat wenigstens nich jeknackt. Mein alter Freund Zedlitz wird ne Freude haben!

MAJOR.
Donnerwetter!
LANDRAT.

Und das ausgerechnet n paar Tage, bevor Seine Majestät herkommt! Bei diesen Pressezuständen! Lese ordentlich schon die Leitartikel in unserm famosen Volksboten: »Sittliche Zustände im Reiche Kannewurfs!« »Königliches Gymnasium und städtische Weiblichkeit!« »Neuestes aus unserm Musterkreis! Kann nett werden!

MAJOR.

Verflucht und zujenäht! Da kann ich Ihnen nachfühlen! Bei uns hat mal n zufällig abjeplatzter Jefreitenknopp n Jeneral umjeschmissen!

MOLLWEIN.

Ja, aber offen jestanden, Herr Landrat, verzeihn Sie ... daß da son junger Dachs mit m kleenen Meechen ... kann da wirklich so Halsbrechendes nich finden.

LANDRAT.

Lieber Assessor! Das tragen Se mal dem Kultusminister [19] vor, der mir den Mann hierher strafversetzt hat. Wegen einer ganz lachhaften Paukbodenholzerei! Soll mich freuen, wenn Se dann dafür n roten Adlerorden erwischen. Und wenns blos de vierte Jüte is. Daß n Jüngling Gefühle kricht, kann ja mal vorkommen. Is mir piepe! Und das Weibsbild dito! Mögen sich amüsieren, so viel se Lust haben! Aber doch nich in meinem Bezirk! Sollens bei meinem Nachbar mimen. Und vor allem soll er sich erst die Matura holen! Unterm vernünftigen Direktor kommt so was nicht vor. Kann so was garnicht vorkommen! Und kommts vor, dann kriegt man ihn nich allein an de Hammelbeene! Ich hab nich die mindeste Lust, auf meinem Buckel fremdes Holz spalten zu lassen.

SANITÄTSRAT
wie noch immer zweifelnd.
Im goldnen Pfau?
LANDRAT.
Im goldnen Pfau!
SANITÄTSRAT.
Das kann dem armen Niemeyer allerdings bös zu knacken geben!
GOLDBAUM.

Ja, s ist nicht leicht, heute die Jugend zu erziehen. Lose Zeiten, lose Sitten! Blos nich Gymnasiumsdirektor! Ich mach lieber Zellulose.

LANDRAT.

Is auch manchmal verdienstlicher! Zu den übrigen. Ersten Oktober ists n Jahr gewesen, daß man uns den Onkel hergeschickt hat. Wer in Lauban nicht zu [20] brauchen ist, taugt auch hier nischt! Vom ersten Tag hab ich ihn mir aufs Korn genommen. Der Mensch hat von der schweren Verantwortlichkeit seines Amts ja keine Ahnung! Wenn Se ihn fragen, mit wem die Persephone verwandt is, oder von wem die olle Hekuba die Tante war, das weeß er. Das weeß er ganz genau. Aber wenn die Bengels mit seinem haarsträubenden Idealistendusel das schandbarste Schindluder treiben, das merkt er nich. Dann läßt er sich von seinem dümmsten Untertertianer einwickeln. Als ob er erst gestern auf die Welt gekommen wär!

GOLDBAUM.
Is er vielleicht n bischen zu gutmütig.
LANDRAT.

Gutmütig! Mit Gutmütigkeit, bester Herr Goldbaum, hätten Sie Ihre letzten siebzehn Prozent Dividende nich rausgeholt!

GOLDBAUM.
Nu, Se haben doch auch e Papierchen?
LANDRAT.
Deswegen sag ichs ja! Bei Niemeyer hätt ich nischt angelegt.
GOLDBAUM.
Se hätten Recht getan.
LANDRAT.

Na also! Ich verlange ja garnich, daß er als moderner Mensch junge Leute, die uns später mal ersetzen [21] sollen, mit dem Kantschu erzieht. Aber er soll wenigstens mit seinen Beenen auf dem Erdboden bleiben. Traumulus! Jungens haben ganz recht: Romulus konnten se ihn nich nennen, haben se ihn Traumulus getauft!

SANITÄTSRAT.

Paganini, der den Leierkasten drehen muß. Das ist sein ganzes Malheur. Was könnte der als freier Universitätslehrer leisten!

LANDRAT.

Seine Sache. Hätte verständiger Weise vor fünfundzwanzig Jahren ne orntliche Professorstochter heiraten sollen. Nischt Faulres im Leben, als den Anschluß verpaßt haben! ... Und wenn er dann wenigstens nicht noch auf diese Numro Zwei reingefallen wär! Auf dies Püppchen Jadwiga!

MOLLWEIN.
Mit einer solchen Perle im Heim ist ein Mann doch nicht zu bewehklagen!
LANDRAT.

Na, denn wünscht ich Ihnen blos mal so alleen der ihren Toilettenetat! Pfiffartiger Laut. Uebrigens – Kategorie Feldwebelstochter! Die verewigten Herren Schwiegereltern nicht satisfaktionsfähig gewesen! Die war der eigentliche Grund, daß man ihn hier zu uns abgeschoben hat. Mit dem Madonnenkult sind Se ringeschliddert!

MOLLWEIN.
Das s allerdings unanjenehm!
[22]
LANDRAT
kurzes, verächtliches Auflachen.

Hä! Das 's ja aber noch jarnischt! Dieser unglaubliche Herr Sohn! Hinterlassenschaft der ersten! Daß den seine Couleur nicht schon gewimmelt hat, is mir n Rätsel. Jedenfalls so viel weeß ich: wir in unserm Korps hätten son Früchtchen nicht einen Augenblick geduldet! Nur natürlich der Herr Papa! Der merkt nischt! Pädagoge!

SANITÄTSRAT.
Jaja, der arme Kerl könnte einem wirklich manchmal leid tun.
LANDRAT.

Leid tun! Leid tun! Mit Leidtun is hier nischt jemacht. Hier muß durchgegriffen werden. Und zwar ganz energisch. Mit Eisenklauen! Seit Monaten habe ich seine Herren Pensionäre unausgesetzt bewachen lassen. Kletterseile, Nachschlüssel, überstiegne Mauern, mitternächtliche Mondscheinpromenaden, umfangreichster Postrestanteverkehr mit den Dämchen der höheren Töchterschule ... noch das Harmloseste. Geht ja auf keine Kuhhaut, wie sie ihn düpieren. Mann ist ja total blind!

FALK
vorm Billard stehend; sich grade eine Cigarette anzündend.

Gestatten Sie, Herr Landrat. Und von dem Ergebnis Ihrer polizeilichen Recherchen haben Sie Herrn Direktor Niemeyer während der gangen fünfzehn Monate keinerlei warnende Mitteilungen zugehen lassen?

[23]
LANDRAT
sich auf seinem Stuhl nach ihm umwendend.
Ah, Herr Rechtsanwalt! Sie ja noch garnicht bemerkt!
FALK.
Ich habe Sie vorhin gegrüßt.
LANDRAT.
O Pardon! Muß das ganz übersehen haben.
FALK.

Die Position des Herr Direktors – übrigens mein hochverehrter alter Lehrer – ist in dieser Stadt eine so schwierige, daß ich der Ansicht bin, die Behörde sollte wenigstens ihm nicht direkt entgegenarbeiten.

LANDRAT.

Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Rechtsanwalt. Ob ne königlich preußische Behörde ihre Maßnahmen so oder so trifft, jeht Sie – na wollen mal nich jrob sein – jarnischt an! Falk sich ironisch verbeugend. Aber da Sie sich nun mal so liebenswürdig an unsrer Unterhaltung hier beteiligt haben ... Handbewegung. Wollen Sie nicht vielleicht Platz nehmen?

FALK
stehn bleibend.
Danke.
LANDRAT.

Ihre Anfrage, deren edle Motive ich zu schätzen weiß, ist zwar ebenso orts- wie zeitgemäß, indessen warum sollte ich mich schließlich hinter sieben Schleier verkrümeln? Ich habe Ihrem hochverehrten Herrn [24] Lehrer von meinen polizeilichen Recherchen, damit Sie's also ja wissen, kei nerlei Mitteilung gemacht. Selbstver ständlich nicht!

FALK.
Hätte Herrn Direktor aber doch sicher lebhaft interessiert
LANDRAT.

Verehrtester Herr Rechtsanwalt ... wärs nicht vorzuziehn, Sie sparten sich, was Sie in dieser Angelegenheit vielleicht sonst noch auf dem Herzen hätten, für eventuell Späteres auf? Herr Direktor Niemeyer, von dem man sich aus parallelen Motiven ja schon anderwärts mal getrennt hat, dürfte nach diesem neusten Nachweis über sein Erziehertum um ein Disziplinarverfahren kaum herumkommen. Und da würd ich ihm sogar selber raten, sich n tüchtigen Anwalt zu nehmen!

FALK.

Sehr verbunden. In jedem Falle halte ich es für meine Pflicht, mich Herrn Direktor Niemeyer zur Verfügung zu stellen. Und es würde mich aufrichtig freuen, wenn seine Wahl dann auf mich fiele.

LANDRAT.
Gleichfalls!
FALK.

Ich hätte dann vielleicht Gelegenheit, ihm für das, was er an mir und noch so manchem meiner alten Mitschüler getan, wenigstens einen Teil unsrer Dankesschuld abzutragen. Zu den übrigen. Meine Herren? Ich wünsche allerseits einen vergnügten Sonntag.

[25]
LANDRAT
von seinem Stuhl aus, sich verabschiedend.

Herr Rechtsanwalt? Die übrigen: »Guten Morgen!« Falk mit seinem Partner, der sich ebenfalls empfohlen, durch die Tür links ab.

MAJOR
nach einer kleinen Pause.
Landrätchen? Nichts für ungut, aber ... vollkommen ist Ihr Sieg über den nicht gewesen.
LANDRAT.
Ach, lassen Se mich in Ruh!
MOLLWEIN.
Diese alten Burschenschafter ... unanjenehme Patrone!
GOLDBAUM
seinen Château-Margot in der Hand.
Nu ... aufs Wohl von der ganzen Gesellschaft!
LANDRAT.
Kohlen Se nich! ... Prost!
GOLDBAUM.
Wenn Se das trehstet: ich hab nischt gesehn und ich hab nischt gehört.
MAJOR.
Prost, Herr Goldbaum.
LANDRAT.
Sinh ja n juter Kerl. Wenn Se man blos Ihre alttestamentarischen Angewohnheiten zu Hause ließen!
[26]
GOLDBAUM
aufs Höchlichste selbst belustigt, ein abrahamitisches Gutturalgeknurr von sich gebend.
Nuuu ...
SANITÄTSRAT.
Mollwein! Schneiden Se nich son saures Gesicht!
GOLDBAUM.
Durch Adam sind wir alle verwandt.
LANDRAT
der grade trinkt.
Pfui Deibel!
GOLDBAUM.
Haben Se ne Muck im Glas? Allgemeines Gelächter und Gläserklingen.
NIEMEYER
Pelz, Stock, Cylinder durch die Tür rechts.
Guten Morgen meine Herren! Stummes Zusammenspiel der um den Tisch herum. Landrat Achselzucken.
MOLLWEIN
das Manuskript, dick geknifft, in seine Rocktasche verschwinden lassend.
Diener, Herr Direktor.
MAJOR.
Moin.
GOLDBAUM.
Mahlzeit, Herr Professor.
SANITÄTSRAT.
Noch so spät?
[27]
NIEMEYER
mit Hilfe des Piccolo ablegend.
Ich werde doch mein geliebtes Sonntagströpfchen nicht verabsäumen? Das wäre ja sündhaft!
GOLDBAUM.
Kommen Se neben mich, Herr Direktor. Helfen Se mer. Se fetzen mer zu.
MOLLWEIN.
Wenn Se hier Rassen-, Klassen- und Massenhaß entfesseln?
SANITÄTSRAT
nochmals sein Glas hoch.
Urfehde, meine Herren, Urfehde! Pax vobiscum! Hoch der deutsche Männergesang!
MAJOR.
Prosit! Alle vier haben wieder mit einander angestoßen.
NIEMEYER.

Sie celebrieren ja ordentlich schon eine kleine Vorfeier! Es duftet fast wie nach Sekt! Rosen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!

SANITÄTSRAT
aus der Corona her.
Eine kurze Spanne Zeit ward uns zugemessen.
NIEMEYER
seine beschlagene goldne Brille putzend.
Heute hüpft im Frühlingstanz noch der frohe Knabe ...
MOLLWEIN
krähend.
Morjen weht der Totenkranz schon auf seinem Jrabe!
[28]
NIEMEYER.

Das ist aber reizend, daß hier noch alles feuchtfröhlich beisammen sitzt! Zum Piccolo. Eine kleine Zetinger, mein Kind. Hat die Brille aufgesetzt uns bemerkt nun näher tretend den Landrat; etwas veränderter Tonfall. Ich habe die Ehre, Herr Landrat.

LANDRAT
halb vom Stuhl auf.
Moin.
NIEMEYER
der sich gesetzt hat.

Rauhreif im Sonnenschein ... herrlich! Sich die Hände reibend. Sie müssen schon meine kleine Verspätung entschuldigen.

GOLDBAUM.
Ja, die Natur.
NIEMEYER.

Gewiß, Herr Goldbaum. Wer sich für sie sein Herz empfänglich bewahrt hat, den entschädigt sie für manches. Der Piccolo hat den Wein gebracht. Meine Blume! »Prost!« »Prost!« alle mit Ausnahme des Landrats trinken. Niemeyer zu Mollwein, aus dessen Tasche verräterisch das Manuskript ragt. Herr Assessor? Se schleppen doch nicht gar am heiligen Sonntag Morgen Akten mit sich herum?

MOLLWEIN.
Akten? Wieso? Nee.
NIEMEYER.

Das Zipfelchen dort kommt mir bekannt vor Mollwein den Rock erschreckt zuknöpfend. Sie werden die Herren doch nicht mit dem unwürdigen Erzeugnis meiner Muse belästigt haben?

[29]
MOLLWEIN.
Als Obmann unsres litterarischen Komitees habe ich mir ... allerdings erlaubt ...
GOLDBAUM.

Der Herr Assessor hat sich uns zu vielem Dank verpflichtet. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Direktor, Ihre Dichtung hat n großartigen Eindruck auf mich gemacht.

SANITÄTSRAT.
Sehr fleißige Arbeit.
MAJOR.
Hochpatriotisch!
MOLLWEIN.
Ja, jefallen hats den Herrschaften. Zweifellos!
NIEMEYER.

Das freut mich. Dann darf ich die Herren wohl auf nächsten Donnerstag Abend sechs Uhr in meine Aula bitten?

GOLDBAUM.
In Ihre Aula?
NIEMEYER
an alle gewandt.

Ja ... sehn Sie ... ich habe mir Folgendes gedacht. Eine Aufführung von Berufsschauspielern – ohne daß ich damit unsrer ja sehr tüchtigen städtischen Truppe auch nur im Geringsten zu nahe treten möchte – hat doch bei einer solchen Gelegenheit immer etwas, ich möchte sagen handwerklich Weiheloses. Ich habe daher ganz insgeheim den [30] Versuch gewagt, die Phantasiegestalten meiner Dichtung durch unsre lernende Jugend Fleisch und Blut gewinnen zu lassen. Nur die einzige Weibliche Rolle habe ich einer talentvollen Anfängerin unsrer hiesigen Bühne anvertraut: Die übrigen sehen sich an. da es mir denn doch widerstrebte, gewisse Grundprinzipien modern-realistischer Darstellungsweise ohne Not zu verletzen. Und ich darf den Herren vielleicht zu ihrer eigenen großen Freude verraten, daß dieser Versuch mir wahrhaft überraschend gelungen ist. Die jungen Enthusiasten haben sich ihrer Aufgabe mit einer Liebe unterzogen, mit einem Feuer, daß ich mich ordentlich selbst wieder jung fühlte. Wie warm erst, meine ich, müßte eine solche Darstellung auch auf Seine Majestät Wirken, zu dem unsre Jugend mit Recht begeistert als zu ihrem Hort und Führer emporblickt. Es wäre doch erfreulich, wenn unsre Stadt ein solches Werk, und sei es auch noch so bescheiden, zu Wege brächte. Da alles schweigt, zum Landrat. Mit Rücksicht auf Ihre gerade jetzt so außerordentlich knapp bemessene Zeit, Herr Landrat, habe ich angenommen, daß solch eine Art kleiner Generalprobe Sie am besten und mühelosesten mit Form und Inhalt der Dichtung bekannt machen würde. Ich darf daher wohl hoffen, am Donnerstag auch Sie bei mir begrüßen zu dürfen?

LANDRAT
scharf.
Ich bin am Donnerstag bei Seiner Exzellenz!
NIEMEYER.
Oh, das macht mir aber n Strich durch die Rechnung. Wäre Ihnen dann vielleicht ... Sonnabend genehm?
[31]
LANDRAT.
Auch am Sonnabend werde ich nicht Zeit haben.
NIEMEYER
stutzt.
Ja aber Majestät trifft bereits Mittwoch in acht Tagen hier ein.
LANDRAT.
Zwei Uhr zwanzig und fährt elf Uhr wieder ab. Allerdings.
NIEMEYER
nach einer kleinen Pause verändert.

Daß Sie ein persönlicher Gegner von mir sind, Herr Landrat, ist mir bekannt. Das habe ich schon in der ersten Stunde gefühlt, wo ich hier wieder ganz von Neuem anfangen mußte. Daß Sie nun aber Sachliches von Persönlichem nicht mehr trennen können ...

LANDRAT.
Ich muß doch bitten!
NIEMEYER.
Oder haben Sie gegen mein Stück selbst etwas einzuwenden?
LANDRAT.
Ich kenne es noch garnicht. Und wills auch nicht kennen lernen!
NIEMEYER
empört aufgestanden.
Herr von Kannewurf!
GOLDBAUM
sich halb erhebend, zu den übrigen.
Es is doch vielleicht ...
[32]
NIEMEYER.

Ich bitte die Herren dringend, zu bleiben. Ich wünsche mit dem Herrn Landrat nicht mehr unter vier Augen zu sprechen. Oder hätten Sie mir vielleicht ... Geheimnisse anzuvertrauen?

LANDRAT.

Geheimnisse? Was die Spatzen schon von allen Dächern pfeifen? Zu den übrigen, die ebenfalls alle aufgestanden sind. Bleiben Sie nur. Mich geniert Ihre Zeugenschaft nicht.

MOLLWEIN.
Vielleicht doch besser, Herr Direktor ...
GOLDBAUM.
Ich meine auch.
MAJOR.
Doch nur peinlich.
SANITÄTSRAT.
Aber sehr.
NIEMEYER.

Nein, nein! Ich ersuche Sie darum! Sie leisten mir einen Dienst, wenn Sie bleiben! Zum Landrat. Was pfeifen schon die Spatzen von allen Dächern?

LANDRAT.

Daß Ihr Internatsschüler, der Primaner Kurt von Zedlitz sich heute Nacht mit einer stadtbekannten Curtisane in einem öffentlichen Vergnügungslokal anrüchichster Sorte herumgetrieben hat!

[33]
NIEMEYER
der zuerst gestutzt hat.
Zedlitz? Das ist nicht möglich Das muß ein Irrtum sein!
LANDRAT.
Irrtum?
NIEMEYER.

Ja! Ih habe gestern Punkt Zehn, wie jeden Abend, das Internat revidiert und alle meine Zöglinge auf ihren Zimmern gefunden. Der junge von Zedlitz hatte mit noch Zweien seiner Mitschüler, den Primanern Pöhlmann und Klausing, Theaterurlaub und alle drei sind mir heute früh, meiner strengen Instruktion entsprechend, von meinem Pedell als ordnungsgemäß zurückgekehrt gemeldet worden.

LANDRAT.

Wird der Jüngling eben, nachdem er dem ollen braven Schimke Gute Nacht gewünscht hat, den üblichen Weg wieder zurück über die Mauer genommen haben!

NIEMEYER.

Sein Zimmer liegt im dritten Stock. Und zu diesem hat außer mir nur der Pedell einen Schlüssel. Nachdem die drei Primaner zurück waren, ist der Korridor verschlossen worden!

LANDRAT.

Mag sein. Aber in Ihrem Internat existiert eine Strickleiter! Ein Institut, das bei Ihren Herren Zöglingen je nach Bedarf Reih um geht!

[34]
NIEMEYER
nachdem er diese Eröffnung verwunden hat.
Woher wissen Sie das?
LANDRAT.
Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig.
NIEMEYER.

Sie scheinen die Verfügung nicht zu kennen, wonach die landespolizeilichen Organe verpflichtet sind, die Schulbehörden in der Aufrechterhaltung der Disziplin in jeder Weise zu unterstützen. Sie hätten mir also von Ihrer Kenntnis sofort Mitteilung machen müssen.

LANDRAT.

Daß ich dies, und zwar mit vollster Absicht, nicht getan, werde ich geeigneten Orts und an maßgebender Stelle zu vertreten wissen.

NIEMEYER.
Auf diese Vertretung, Herr Landrat, bin ich gespannt.
LANDRAT.

Das dürfen Sie. In keinem Fall wird es Ihnen gelingen, über das pädagogische Musterstückchen hinwegzukommen, das sich heute Nacht Ihr Lieblingsschüler im Goldnen Pfau geleistet hat!

NIEMEYER.
Ich kenne den Goldnen Pfau nicht.
LANDRAT.

Daß Sie in der Topographie der Ilias besser Bescheid wissen, als in dem letzten Winkelgewirr hinter [35] unsrer Fischerbrücke, daran zweifle ich nicht, Herr Direktor. Daran zweifle ich nicht im Geringsten!

NIEMEYER
bebend.
Herr Landrat!
LANDRAT.

Das ists ja grade! Sie müßten darüber orientiert sein, wo eine nicht genügend behütete Jugend ihre besten Kräfte läßt!

NIEMEYER
nach einer kleinen Pause.

Es kostet mir viel Ueberwindung, Ihnen überhaupt noch zuzuhören. Aber ich habe in diesem Augenblick hier nicht mich zu verteidigen, was mir vollständig überflüssig schiene, sondern meinen Schüler, den Primus meiner Prima. Eine junge Edelnatur, auf die ich stolz bin! Der junge Mann kann um jene Zeit an einem so häßlichen Ort nicht gesehn worden sein.

LANDRAT.
Mein Gewährsmann hat ihn gesehn!
NIEMEYER.
Man kann sich täuschen.
LANDRAT.

Diese »Täuschung« ist mir heute früh auf dem kurzen Weg bis zur Kirche noch von zwei andern Zeugen, und zwar mit größtem Behagen, bestätigt worden: Herrn Oberleutnant von Reitzenstein und Herrn Kriegsgerichtsrat Becker.

[36]
NIEMEYER.
Wie können solche Herren in einem so zweifelhaften Lokal verkehren?
LANDRAT.
Das ist Sache der Herren.
NIEMEYER.

Und selbst wenn der beklagenswerte junge Mann in einer solch ..... verruchten Spelunke gesessen hat, noch dazu mit einem so bejammernswürdigen Geschöpf – wie können Sie sofort das Schlimmste annehmen?

LANDRAT.
Junge Schauspielerin, Pulle Sekt, zwanzig Mark, das jenügt!
NIEMEYER.
Sie sagen jetzt Schauspielerin. Sie sagten vorhin anders.
LANDRAT.
Ich sagte vorhin genau dasselbe.
NIEMEYER.
Sie sagten stadtbekannte Curtisane.
LANDRAT.
Nun ja: Fräulein Lydia Link!
NIEMEYER
zurückgezuckt.

Diese Künstlerin ist eine durchaus achtbare Dame! Ich bürge für sie! Sanitätsrat und Goldbaum stummes Spiel.

[37]
LANDRAT.

Sie macht sich ganz gut auf der Bühne. So als Puck im Sommernachtstraum hat sie schon Manchem gefallen!

NIEMEYER.

Sie beleidigen in diesem Mädchen, das mir nicht blos von der Bühne her bekannt ist, einen ganzen ehrenwerten Stand!

LANDRAT.

Na, wenn Sie glauben, daß die beiden bei ihrer Moët Chandon mit einander den Rosenkranz gebetet haben ...

NIEMEYER.
Die Dame ist verlobt!
LANDRAT.
Gratuliere! Scheint im übrigen ziemliche Vorliebe für grünes Gemüse zu haben.
NIEMEYER
nach kurzer Pause; nur noch mit Mühe sich beherrschend.

Ich hätte nicht geglaubt ... bei einem Manne aus Ihrer Gesellschaftsklasse ... auf eine solche ... Gesinnung zu stoßen! Ich kann es mir jetzt kaum verzeihen ... daß ich mich überhaupt mit Ihnen ... in eine Diskussion eingelassen habe! Sie wagen es, mir meine Jungens anzugreifen? Auf ein infames Geschwätz hin verdächtigen Sie den einzigen Sohn eines alten Geschlechts, dessen Ehre bis auf den heutigen Tag auch nicht den kleinsten Flecken aufweist?

LANDRAT.
Lächerlich!
[38]
NIEMEYER.

Eine solche Denkweise, die überall nur Schmutz sieht, die nur die niedrigsten Instinkte kennt, der alles Ideale nur Einbildung eines überspannten Querkopfs ist, eine so traurige Denkweise bedaure ich! Zu den übrigen. Es tut mir aufrichtig leid, meine Herren, Sie zu Zeugen einer solchen gebeten zu haben. Ich möchte lieber auf der Stelle aus Amt und Würden gejagt werden, als je den Glauben an das Gute in unsrer Jugend verlieren! Es ist selbstverständlich, daß ich sofort die strengste Untersuchung einleite. Ist erregt zu seinen Sachen gegangen, die er über den Arm nimmt. Sie werden es mir nicht verübeln, meine Herren, wenn ich Sie jetzt verlasse. Sanitätsrat: »Herr Direktor?« Goldbaum: »Herr Professor?« Niemeyer rechts ab.

MOLLWEIN
alle haben sich wieder gesetzt.
Und unser Festspiel?
LANDRAT.

Ach was! Führen Se den jeschundnen Raubritter auf, oder die Jungfrau von Orleans! Mit dem Versuch, die peinliche Spannung der Zurückgebliebenen zu lösen. Ich kann nu mal solche Wolkenkuksheimer nich verknusen! Wütend auf die Klingel drückend. Piccolo!!!

PICCOLO
entsetzt mit wehender Serviette.
LANDRAT.
Noch ne Pulle! ... Prosit!

Vorhang.

2. Akt

[39] [41]Zweiter Akt

[41] [43]Wohnzimmer beim Direktor.
der übliche Schmückedeinheimstil mit Niemeyerschen Accenten. Im Hintergrund, sowie links und rechts eine Tür.

OLGA
die dem Buffet rechts soeben eine Tischdecke, Messer, Gabeln, Löffel und eine Suppenkelle entnommen, zu Pöhlmann, der sie hart bedrängt, mit halber Stimme.

Nicht doch! Die Frau Direktor! Au! Ich muß ja Tisch decken! Lassen Sie doch! Immerzu! Meine Schürze geht ja auf! Nicht n Augenblick hat man Ruhe! Seid Ihr aber ne Bande!

PÖHLMANN
mit zusammengebissenen Zähnen.
Ja, oder nein?
OLGA.
Sie sind zu grob! Herr Klausing ist viel netter.
PÖHLMANN
noch immer mit ihr ringend.
Klausing?
KLAUSING
wie der Geist Bankos in der hinteren Tür gedämpft.
Pöööhlmann! Hat die Tür lautlos hinter sich zugedrückt.
PÖHLMANN
Olga loslassend, laut.
Ach, Du ... Riesenroß! Ab durch die Tür rechts.
[43]
KLAUSING
auf Spitzzehen, mit winkendem Finger; flüsternd.
Ollichen?
OLGA
die mit ihrem Tischgerät bereits links ab will; strahlend; ihr Ohr hin.
Na, Du elendes Kannibalchen?
KLAUSING
wie in der Angst, daß der olle blinde Gipshomer über dem bunten Bücherrepositor etwas davon anfangen könnte.
Heute Abend! Um Sieben!
OLGA
ebenso.
Wo denn?
KLAUSING
mit verdoppeltem Respekt auch vor der über dem Klavier leidenden Laokoongruppe.
Aufm Obstboden!
OLGA
ihm als stumme Zusage einen Zehntelsekundenkuß zuhauchend.
KLAUSING
sich scheu dabei umsehend.
Vorher haben wir noch Kneipe. In der Mehlkiste! Beim Bäcker Schladebach! Stiftungsfest!!
OLGA
noch immer gedämpft.
Bis Ihr mal beklappt werdt!
KLAUSING
entsetzt; Finger vorm Mund.
Pssst!
OLGA
noch einen Kuß, dann links ab.
KLAUSING
auf Katerpfoten durch die Tür hinten wieder verschwindend.
[44]
JADWIGA
in kokettem Winterkostüm durch die Tür rechts.
Sie wirft ihre Sachen auf den Tisch. Olga!Vor dem Spiegel ihr Haar ordnend. Olga!
OLGA
durch die Tür links.
Gnädige Frau?
JADWIGA.
Sie haben mich doch klingeln hören. Warum kommen Sie nicht?
OLGA
räumt die Sachen vom Tisch.
Der Schlächtermeister Huber hat wieder geschickt.
JADWIGA.
Sind Sie mit dem Tisch fertig?
OLGA.

Nur das Obst und die Servietten fehlen noch. Auch Fräulein Wetterhahn war da! Wegen der Sommerrechnung.

JADWIGA.

Langweilen Sie mich nicht ... Die Leute tun ja, als ob sie noch nie bezahlt wären. Daß Sie Niemand vorlassen, wenn der Herr Direktor da ist!

FRITZ
durch die Tür im Hintergrund; Cigarette.
Mahlzeit! Zu Olga. Na, kleene Maus?
OLGA
durch die Tür links mit den Sachen ab.
[45]
FRITZ.
Donnerwetter, hab ich n chices Mamachen!
JADWIGA.

Ich habe Dich doch schon wiederholt gebeten. Diese ewigen Corpskneipenallüren zu den Dienstboten! Das Mädchen ist doch schließlich keine Kellnerin! Du befindest Dich im Hause Deines Katers!

FRITZ
erstaunt.
Bist Du eifersüchtig?
JADWIGA.
Bitte, habe mal Respekt vor mir l
FRITZ
sich in einen Sessel regelnd.

Zum Auswachsen! Gott sei Dank, daß diese vier Wochen Ferien bald rum sind! Dies stupide Philisternest, dies Jünglingskloster hier, dieser väterliche Abt mit den homerischen Tee-Abenden ... Karrikierend. Gestatten Sie: Frau Oberlehrer Piepenbrink, Herr Oberlehrer Knollenbock, Frau Oberlehrer Schlammelschlag, Herr Oberlehrer Möbelweich ... wir dulden schon Beide was! Können uns wirklich die Hand reichen.

JADWIGA.
Ja, hast Du Dir das hier anders vorgestellt?
FRITZ.

Da wars ja in Lauban noch gradezu Gold dagegen! ... Aber das kommt davon, wenn man zum Erzeuger son ...

[46]
JADWIGA.
Drück Dich anständig aus!
FRITZ.
Hurrgott, nu soll man nich mal mehr deutsch reden!
JADWIGA.
Du hast Deinen Vater nicht zu kritisieren!
FRITZ.

Na nu? Seid wann denn nich? Das wär ja noch schöner! Ich hätte die Jungens unter meiner Fuchtel haben sollen! Mir hätten se nich so auf der Nase rumgetanzt! Andre Väter kommen vorwärts im Leben, unsrer fällt de Treppe nach rückwärts! ... Uebrigens wenn er mal hinter Deine Unterbilanz hier kommt, möcht ich ooch nich meine Schwiegermutter sein!

JADWIGA.
Du wirst frech!
FRITZ.
Ach Gott, ja. Nu mach doch Theater!
JADWIGA.
Wenn ich mich Deinetwegen in Schulden gestürzt habe ...
FRITZ.
Deinetwegen is jut. Kannst Du nur hundert Mark pumpen?
JADWIGA.

Aber Fritz! Ich habe Dir doch erst Dienstag dreißig [47] gegeben! Ist das schon wieder alle? Ich kann das nicht schaffen.

FRITZ.
Ach was! Dafür biste de Hausmutter.
JADWIGA.
Und vor vierzehn Tagen ... jener Wechsel? An den denkst Du wohl garnicht mehr?
FRITZ.

Offen gestanden, teuerste Klytämnestra – nicht im Geringsten! Du warst ja so liebenswürdig, ihn einzulösen und dann so vorsichtig, ihn in jenem Ofen verbrennen. Sanft ruhe seine Asche!

JADWIGA.
Du hast also wieder gejeut.
FRITZ.
Gejeut oder nich gejeut – ich brauch den Lappen. Und zwar bis morgen früh. Also?
JADWIGA.
Wenn Du doch auch für Dein Referendarexamen so viel Energie entwickeltest!
FRITZ.
Bitte hier keine Privatangelegenheiten! Ich kümmre mich nicht um Deine, kümmre Du Dich ...
JADWIGA
scharf.
Was soll das heißen?
[48]
FRITZ.

Das soll heißen, daß ich ein mißratener Sohn wäre, wenn mir die Blindheit meines Alten nicht denn doch bereits einiges ... Gruseln erregte.

JADWIGA.
Ich verstehe Dich nicht.
FRITZ.

Um so besser. Scheinbar leicht hin. Ich kann mich ja auch geirrt haben. Die Dame hatte vielleicht blos son Hut auf ... Jedenfalls wenigstens in dem Punkt soll sich mein Vater nicht in mir geirrt haben! Da is nu schon mal Verlaß auf mich.

JADWIGA.

Heut ist Sonntag. Hätte es nicht wenigstens bis morgen Mittag Zeit? An der Tür im Hintergrunde klopfts; geht hin und öffnet. Herr von Zedlitz?

ZEDLITZ.
Verzeihn, gnädige Frau. Könnte ich vielleicht Herrn Fritz sprechen?
FRITZ
pathetisch.
Wenns keine unsittlichen Dinge betrifft ...?
JADWIGA.
Fritz! Zu Zedlitz. Die Herren sind hier ganz ungestört.
ZEDLITZ.
Danke sehr, gnädige Frau.
[49]
FRITZ
zu Jadwiga.
Also die Sache hat natürlich Zeit bis morgen Mittag.
JADWIGA.
Es giebt heut Ihr Lieblingsgericht, Herr von Zedlitz: Schlesisches Himmelreich.
ZEDLITZ.
Sie verwöhnen uns.
JADWIGA.
Und Sie verdienens garnicht!
FRITZ.
Oho! Als Hauptkrieger unsres Festspiels? Al glorreicher Partner der schönen Lydia?
JADWIGA
kokett.

Da werde ich aber als Dichtersgattin stolz sein! Mit huldvollstem Lächeln zu Zedlitz ab durch die Tür links.

FRITZ.
Nun, Sie alter Sünder? Was haben Se wieder ausgefressen?
ZEDLITZ
hastig.
Ich habe Sie schon den ganzen Vormittag gesucht.
FRITZ.
Wären Se nachm grünen Frosch gekommen. Zur dicken Paula. Höchst einfach!
ZEDLITZ
gequält.
Ich bin ja in der furchtbarste Klemme!
[50]
FRITZ
einen Schritt zurück.
Liebster Zedlitz – pumpen tu ich prinzipiell nischt.
ZEDLITZ.
Ach! Is ja viel schlimmer!
FRITZ.
Mann!
ZEDLITZ.

Ich hab ne unglaubliche Dummheit gemacht! Ich bin mit Fräulein Lydia gestern Abend nach dem Theater im goldnen Pfau gewesen!

FRITZ.
Weiter nischt?
ZEDLITZ.
Wir haben Champagner getrunken.
FRITZ.
Verrrrrworfener!
ZEDLITZ.
Kriegsgerichtsrat Becker hat uns gesehn.
FRITZ.

Menschenskind! ... Also nicht in einem der kleinen Hinterstübchen heimlich, sondern gegen freies Entree vor geladnem Publikum? Wie kann man blos! In diesem Spießereldorado! Das muß ja dem Alten gesteckt werden! Da hilft Ihnen jarnischt! Da sausen Se rin! ... Wann sind Sie nach Haus gekommen?

[51]
ZEDLITZ.
Heute morgen.
FRITZ
zurückgeprallt.
Alle Achtung! Sie sind nicht talentlos .... Na, haben Sie sich wenigstens amüsiert? War se nett?
ZEDLITZ
schweigt.
FRITZ.

Also moralischen! Beruhigen sich. Bei ihrer zarten Jugend Normalzustand ... Und als Sie nun so heimwärts knickten, Eindringlich. Kurtchen? Kurt?? Da hat Sie Kriegsgerichtsrat Becker doch hoffentlich nicht auch wieder gesehn?

ZEDLITZ
mit gesenktem Kopf.
Blos Schimke weiß es.
FRITZ.
Schimke verrät nischt.
ZEDLITZ.

Er hat dem Herrn Direktor schon gesagt, ich hätte mich gleich nach dem Theater mit den andern bei ihm gemeldet.

FRITZ.
Nu also! Was wollen Sie denn noch? Sei Se doch vergnügt. Lassen Se die Sache an sich rankommen!
[52]
ZEDLITZ.
Ich möchte Ihrem Herrn Vater.. doch lieber die Wahrheit sagen.
FRITZ
empört.

... Sind Se überjeschnappt? Und mit solchem Blödsinn kommen Se zu mir? Wollen Sie auf der Stelle gejchasst werden?

ZEDLITZ.
Wenn ich es verdient habe?
FRITZ.

Blech! beabsichtigen Sie, Ihrem Vater als rausgeschmissener Pennäler zurückzukommen? Und Ihre ... Frau Mutter? Wegen soner Lausesache?

ZEDLITZ.
Das würde ich nie tun. Das könnte ich nicht. Eher ...
FRITZ.

Uebrigens ... Einen Schritt zurück und Zedlitz von unten nach oben musternd. sind Sie des Deibels? Sich mit der Faust vor die Stirn tippend. Ich Ochse! Das ist ja die Hauptsache! – Sie dür fen diese einfach garnicht auswärts gewesen sein! Muß Ihnen das wirklich noch erst auseinanderklamüsern? Daß mein Alter rettungslos hopps geht, wenn das rauskommt? Weil seine unerhörte Taprigkeit Sie ja gradezu zusammengekuppelt hat? Weil er Ihr ... Gelegenheitsmacher war?

ZEDLITZ
dem diese Perspektive jetzt ebenfalls aufgeht.

Daran ... Hatte [53] ich ... wirklich garnicht gedacht ... Wenn das... Das könnte ich ja durch garnichts mehr wieder gut machen! Nach einer solchen Schurkerei ...

FRITZ.

Also nu nehmen Se mal Vernunft an. Mit Melodramatik reparieren Se nischt. Mein Vater is n guter Kerl. Zwar sträflicher Optimist und fahrlässiger Familienversorger, aber schließlich, wir haben ooch unsre Fehler. Außen Würdebär, inwendig beißt er nich. Die Schose mit dem Pfau jestehn Se ihm. Glatt Weg! Die erfährt er. Um die kommen wir nich rum. Da is jarnich dran zu tippen. Aber ich massakriere Sie, ich morde Sie pfundweis, wenn Sie sich von dem übrigen Kitt auch nur das Allergeringste rausquetschen lassen. Verstehn Sie? Auch nicht das Geringste! Sonst sind wir geliefert. Alle, wie wir gebacken sind. Und mit dem Fuchs bei den Rhenanen isses denn nischt! Laufen Sie Ihr Lebtag ohne Band rum!

ZEDLITZ.
Wär ich doch blos gleich nach Hause gegangen!
FRITZ.

Der Alte kann jeden Augenblick kommen. Möglich, sogar sehr Wahrscheinlich, daß man ihm schon was zugeflüstert hat. Diese sonntäglichen Frühschoppen ... Geste. Schimke instruiere ich. Wenn er sich den dann vornimmt: der wird sich schon rauswurschteln! Der schlägt de Wimmerharfe. Mein alter Herr kann kein Blut sehn. Und Einjeweide erst recht nich. Es klingelt [54] dreimal rasch; Zedlitz zusammengefahren. Zittern Se los! Er darf nich Lunte riechen.

ZEDLITZ
ihm die Hand reichend.
Ich danke Ihnen.
FRITZ.

Dafür fechten Se später bei uns ordentlich!Zedlitz ab. Fritz der seine Cigarette weggeworfen hat, nach der Tür rechts, diese öffnend. Na, Papachen?

NIEMEYER
eintretend.
Tag!
JADWIGA
durch die Tür links, nachdem Niemeyer einmal erregt auf und ab gegangen ist die Liebenswürdigkeit selbst.
Gut, daß Du da bist, Gotthold. Wir können sofort essen.
NIEMEYER
stehn geblieben zu Fritz, kurz.
Hol Zedlitz!
FRITZ.
Könnten wir nicht erst ... zu Tisch, Papa?
NIEMEYER
streng.
Ich habe Dir gesagt. Du sollst Zedlitz holen. Hast Du mich nicht verstanden?
FRITZ.
Verzeih, Papa.
NIEMEYER
sofort etwas weicher.

Also, bitte, hol ihn. Fritz, der mit Jadwiga einen Blick gewechselt hat, durch die Tür im Hintergrund [55] ab. Es kann heute mit dem Mittag etwas spät werden.

JADWIGA.
Immer diese Jungens! Nicht einen Augenblick hast Du für Dich!
NIEMEYER.

Ich kann Dir diesen kleinen Zwischenfall leider nicht ersparen. Du weißt, daß ich in die Peinlichkeit Deiner Hausordnung nur dann eingreife, wenn es dringend nötig ist.

JADWIGA.

Aber nun plag Dich doch nicht noch damit! Das tut ja nichts. Ich werde der Köchin sofort Anordnung geben. Du nimmst alles viel zu tragisch.

NIEMEYER.

Du verkehrst mit Fräulein Link. Durch Dich habe ich sie kennen gelernt. Ist Dir nie etwas an ihr aufgefallen? Spricht man über sie?

JADWIGA
wie auf das Höchste überrascht.

Mir ist nichts zu Ohren gekommen. Sie ist mir, als sie zum Herbst herkam, von bester Seite empfohlen worden, ich habe mich ihr daraufhin gesellschaftlich nicht ganz entziehen können, gegen ihre Umgangsformen fand ich nichts einzuwenden, weiter weiß ich nichts.

NIEMEYER.
Fräulein Link ist doch verlobt?
[56]
JADWIGA.
Ich habe Dir doch selbst die Karte gezeigt.
NIEMEYER
erregt.

Grade. Weil sie sich wegen ihrer Achtbarkeit so zurückgesetzt fühlte, habe ich mich ja zu diesem Versuch hergegeben, ihr bei ihrem Bestreben, sich hier künstlerisch eine Position zu schaffen, behülflich zu sein! Auf Deine wiederholte Bitte!

JADWIGA.
Ja, aber ich weiß ja garnichts! Was ist denn nur?
NIEMEYER.

Du hast mir doch versichert, Du hast jede Erkundigung eingezogen!.. Ich hätte ja sonst nie gewagt, sie mit einer solchen Aufgabe zu betrauen! Wie zu sich. Nein, nein! Das kann garnicht sein! Das ist ja ganz ausgeschlossen!

JADWIGA
verstehend; schnell.
Zedlitz?
NIEMEYER.

Auch schon aus diesem Grunde nicht! Es ist einfach nicht möglich! Alle! Meinetwegen alle! Nur Kurt nicht!

JADWIGA.
Jedenfalls wieder ein so albernes Gerede. Du wirst das doch nicht gleich ernst nehmen?
NIEMEYER
heftig.

Ich wäre ein Narr, wenn ich die Beschuldigung, [57] um die es sich hier handelt, auf die leichte Achsel nähme!

JADWIGA.
Wenn Du so erregt bist ... vielleicht wäre es doch besser ...
NIEMEYER.

Nein! Sofort! Auf der Stelle! Ich darf nich zulassen, daß diese Verleumdung ihn auch nur eine Augenblick noch beschmutzt! Sich zwingend. Ich bin vollständig ruhig. Es klopft. Zu Jadwiga, Handbewegung. Bitte.

JADWIGA.
Dies elende Klatschnest! Links ab.
NIEMEYER.
Herein!
ZEDLITZ
stumm durch die Tür im Hintergrund.
Pause.
NIEMEYER.
Wo waren Sie gestern nach dem Theater?
ZEDLITZ
nach kurzem Kampf.
Herr Direktor ... ich bitte Sie herzlich um Verzeihung.
NIEMEYER
nachdem er sich wieder gefaßt hat.
Also doch! ... Zedlitz! Sie wissen garnicht, was Sie mir damit angetan haben.
[58]
ZEDLITZ.
Herr Direktor ...
NIEMEYER.
Sie sind mir mein liebster Schüler gewesen!
ZEDLITZ
sich die Tränen verbeißend.
NIEMEYER.

Ich habe Sie von der Tertia an unter meinen Augen gehabt. Ihr Herr Vater war der Einzige, der vollstes Vertrauen zu mir behielt. Der mir seinen Sohn hierher folgen ließ. Der ihn mir gelassen hat, obwohl man hier gegen mich weiß Gott genug gewühlt und gehetzt hat. Ich war stolz auf Sie! Ich hoffte, Sie Ostern nach ehrenreinem Sexennium zur Universität zu entlassen. Und jetzt ... haben Sie mir durch diesen einen leichtsinnigen Streich ... alles verdorben! Alles!

ZEDLITZ
dem die Augen voll Tränen stehn.
Ich habe nicht gedacht ...
NIEMEYER.
Was haben Sie nicht gedacht?
ZEDLITZ.
Daß ich Ihnen damit so viel Kummer bereiten würde.
NIEMEYER.

Sie haben mein Gebot übertreten! Sie wissen, daß den Schülern strengstens untersagt ist, ein öffentliches Lokal zu besuchen. Nur Donnerstag haben die Angehörigen [59] der Obersekunda und beiden Primen die Erlaubnis, abends von Sechs bis Sieben in den vorderen Räumen des Gasthofs »Zum deutschen Kaiser ein Glas Bier zu trinken. Ich habe diese Anordnung nicht getroffen, um Sie in Ihrer Freiheit zu beschränken ... o nein, die Jugend soll Freiheit haben ... sondern um Sie vor Gefahren zu behüten, von deren Vorhandensein Sie noch gar keine Ahnung haben! Erregt auf und ab; dann wieder vor Zedlitz stehn bleibend. Wußten Sie, was der Goldne Pfau ist? Daß in ihm zumeist nur Leute verkehren, deren sittliche Anschauungen sich mit den Grundsätzen nicht decken, an deren Einprägung in Ihre jungen, empfänglichen Seelen wir Lehrer tagein, tagaus unablässig und mit unermüdlichem Pflichtbewußtsein bemüht sind?

ZEDLITZ.
Ich war gestern zum ersten Mal dort.
NIEMEYER.
Ja, wie kamen Sie nur in dieses ... Nachtlokal?
ZEDLITZ
schweigt.
NIEMEYER.
Wo trafen Sie Fräulein Link?
ZEDLITZ.
Vor dem Theater.
NIEMEYER.
War sie allein?
[60]
ZEDLITZ.
Nein. Es war noch Herr Regisseur Paulsen bei ihr, Fräulein Hiller ...
NIEMEYER.
Die jugendliche Liebhaberin?
ZEDLITZ.
Ja. Und der Herr Leutnant von Bibra.
NIEMEYER.
In Uniform?
ZEDLITZ.

Nein. In Civil. Herr von Bibra machte den Vorschlag, wir sollten alle Drei mitkommen. Klausing wollte nicht, Pöhlmann war zu müde, und ... da bin ich denn allein mitgegangen.

NIEMEYER.
Sie haben dann Sekt getrunken.
ZEDLITZ.

Zuerst tranken wir Pilsner. Dann ging erst Herr Paulsen weg und vielleicht eine Viertelstunde später Herr von Bibra und Fräulein Hiller.

NIEMEYER.
Und Sie blieben allein zurück?
ZEDLITZ.

Ja. Wir hatten von unsrer Aufführung gesprochen und Fräulein Link wollte durchaus, daß ich mit ihr auf einen großen Erfolg anstoßen sollte.

[61]
NIEMEYER.
Und dazu brauchten Sie Moët Chandon? Wer hat die Rechnung beglichen?
ZEDLITZ.
Ich hatte noch grade.. mein Weihnachtsgeld.
NIEMEYER.
Ihr ... Weihnachtsgeld! ... Fräulein Link wohl ... begleitet.
ZEDLITZ.
Ja. Im Kampf mit der kommenden Lüge. Bis an ihre Haustür.
NIEMEYER
wie befreit.
Und dann sind Sie nach Hause gegangen.
ZEDLITZ
schwer.
Ja!
NIEMEYER
eindringlich.
Kurt! Sagen Sie mir auch die Wahrheit? Die volle Wahrheit? Sie dürfen sie mir sagen.
ZEDLITZ
nach letztem Kampf.
Ich habe Ihnen alles ... was ich zu sagen habe ... gesagt!
NIEMEYER.

Ich glaube Ihnen. Bewegt. Aber Kurt ... also die Sache auch nicht so schlimm gewesen ist, wie ich in meinem ersten Schmerz fast befürchtet hatte – [62] haben Sie sich denn in Ihrem unverantwortlichen Leichtsinn garnicht überlegt, welche Deutung diese an sich ja gottseidank nicht allzu schwere Ausschreitung erfahren konnte? Ja, sie hat sie sogar schon erfahren! Sie wissen garnicht, wie sich mir das Herz zusammenkrampfte, als mir vor noch nicht einer halben Stunde in Gegenwart angesehener Bürger die nichtswürdigste Verleumdung über Sie entgegengeschleudert wurde. Lieber Kurt! Was ich Ihnen allen schon so manchmal in der Klasse gesagt habe: Wir müssen unsre Handlungen so einrichten, daß sie nicht nur vor uns selbst bestehn können, sondern auch, daß ihre Andersdeutung durch die Welt überhaupt garnicht möglich ist! Ich will Sie nicht verletzen. Aber wenn Sie nun einer ... Dirne in die Hände gefallen wären? Einem verworfenen Geschöpf, das Ihre blühende Jugend in den Kot gezerrt hätte! Sittliche Reinheit ist noch immer das Fundament einer gesunden Entwicklung. Für den Einzelnen, wie für die Gesamtheit. Sie wissen garnicht, vor welchem Abgrund Sie gestanden haben!

ZEDLITZ
mühsam.
Ich will an diesen Augenblick ... mein ganzes Leben denken.
NIEMEYER.

Sie werden wohl selbst fühlen, daß Sie eine Strafe verdient haben. Ich werde den Fall dem Lehrerkollegium unterbreiten und dieses mag entscheiden. Ob Sie mit einer bloßen Karzerftrafe davonkommen. Sie sind mein Pensionär und ich will daher nicht [63] Ihr Richter sein. Bis auf weiteres haben Sie Zimmerarrest. Sie werden auch nicht an unserm gemeinschaftlichen Tisch teil nehmen. Ich werde sehn, daß wir Ihrem Herrn Vater eine besondere Mitteilung ersparen.

OLGA
durch die Tür rechts.
NIEMEYER
scharf.
Klopfen Sie vorher an!
OLGA.
Ich bitte um Entschuldigung. Herr Schimke ist draußen.
NIEMEYER.
Er soll reinkommen. Olga ab. Zu Zedlitz. Gehn Sie jetzt auf Ihre Stube.
ZEDLITZ
im Kampf mit sich, trotz allem die Wahrheit zu sagen.
Herr Direktor ... ich ... ich ...
NIEMEYER.
Gehn Sie! Zedlitz durch die Tür im Hintergrund ab.
SCHIMKE.
Fräulein Link is zu Haufe jewesen. Sie wird jleich kommen.
NIEMEYER.

Schimke! Warum haben Sie mir eine falsche Meldung gemacht? Wissen Sie, daß ich Sie sofort entlassen sollte?

[64]
SCHIMKE.
Och, Herr Direktor.
NIEMEYER.
Sie sind ein ganz unzuverlässiger Beamter.
SCHIMKE
kläglich.
Ich bin doch nu schon zwanzig Jahre hier ...
NIEMEYER.

Um so trauriger, daß Sie dann auf Ihre alten Tage noch Ihren Direktor belügen! ... Wann ist Zedlitz gestern nach Hause gekommen?

SCHIMKE.
Nu, is wird wohl schon so fast nach Zwölwe gewesen sein.
NIEMEYER.
Ich kann Ihnen ja von jetzt ab kein Wort mehr glauben!
SCHIMKE.
Och, Herr Direktor ...
NIEMEYER.

Wenn ich nicht sofort die schwersten Konsequenzen ziehe, so danken Sie dies lediglich der Rücksicht auf Ihre unschuldige Familie.

SCHIMKE.
Der junge Herr hat mir so leid getan.
NIEMEYER.
Sie haben in erster Linie Ihre Pflicht zu erfüllen!
[65]
SCHIMKE.

Ich wers ja auch nie mehr wiedertun. Aber wenn Se den armen Menschen jesehn hätten ... er hat so furchtbar jebettelt.

NIEMEYER.

Alter Kriegsveteran hat sein Herz zusammenzurucken! Wenn wir alle so handeln wollten – wo bliebe die Disziplin? ... Schimke! Dessen Augen immer nur den Boden gesucht halten. Sehn Sie mich mal an! ... In diesem Hause befindet sich eine Strickleiter.

SCHIMKE.
Och, Herr Direktor.
NIEMEYER.
Warum haben Sie mir das nie gemeldet?
SCHIMKE.
Dann müßt ich ihr doch schon jesehn haben.
NIEMEYER.
Sie hätten sie eben sehn müssen!
SCHIMKE.
Wenn doch keene da is!
NIEMEYER.

Es ist eine da!.. Sie versehn Ihr Amt nicht! Die Schüler betrügen Sie! Männer, auf die kein Verlaß ist, kann der Staat nicht brauchen. Haben Sie mich verstanden? ... Also bessern Sie sich! Es klopft rechts. Herein?

[66]
OLGA.
Fräulein Link.
NIEMEYER.
Ich lasse bitten. Die Tür ist aufgeblieben, die Angemeldete ist eingetreten, Olga ab.
LYDIA.
Liebster Herr Direktor?
NIEMEYER
reserviert stumme Verbeugung.
Zu Schimke. Sie können abtreten, Schimke.
SCHIMKE.
Ich dank ooch schön, Herr Direktor. Ab.
LYDIA.

Darf ich gratulieren? Hat unser Festspiel vor den schönen Augen unsres gestrengen Herrn Landrats Gnade gefunden? Ihm eine wundervolle Rose überreichend. Die dankbare Darstellerin dem gefeierten Dichter.

NIEMEYER
die Rose auf den Tisch legend.
Fräulein Link ich ... habe Sie in einer etwas peinlichen Angelegenheit bitten lassen.
LYDIA.
Mein Gott, Sie wollen mir doch nicht meine Rolle nehmen?
NIEMEYER.
Von dem Stück ist jetzt nicht die Rede.
[67]
LYDIA.
Sie erschrecken mich.
NIEMEYER.

Sie sind gestern Abend in vorgerückter Stunde mit einem meiner Zöglinge in ... einem nicht ganz einwandfreien Lokal gesehn worden.

LYDIA.

Nun begreife ich Sie aber wirklich nicht, teuerster Herr Direktor. Davon weiß ich ja garnichts! Ich war mit einer kleinen Gesellschaft, der sich allerdings auf unsre Einladung auch Herr von Zedlitz angeschlossen hatte, in einem sehr freundlich ausgestatteten Restaurant gewesen, wo es mir äußerst gefallen hat, und wo, wie ich gesehn habe, nur das allerbeste Publikum verkehrt. Es waren mehrere Offiziere da ...

NIEMEYER.
Doch wohl nur in Zivil.
LYDIA.

Nun ja, du mein Gott, was ist denn da dabei? Das ist doch kein Verbrechen? Die Herren sind doch auch mal gern fröhlich!

NIEMEYER.
In keinem Fall gehörte ein Schüler von mir in dies Lokal.
LYDIA.

Aber verehrtester Herr Direktor! Sie werden doch Herrn von Zedlitz keinen Vorwurf daraus gemacht [68] haben? Ein so liebenswürdiger junger Mann! Das würde ich mir aber nie verzeihen können!

NIEMEYER.
Die Einladung war also von Ihnen ausgegangen?
LYDIA.

Ich mache gar kein Hehl daraus! Ich wüßte garnicht, wie ich dazu kommen sollte! Er ist mein Partner seit vierzehn Tagen in unsern Festspielproben und es war mir ein herzliches Vergnügen, mal ein Stündchen mit ihm verplaudern zu können. Ich muß sagen, wirklich ein ganz charmanter junger Mann, der seinem Erzieher nur alle Ehre macht!

NIEMEYER.

Der junge Mensch hat jedenfalls durch den unerlaubten Besuch dieses Lokals aufs Schwerste gegen die Disziplin gefehlt und ist dadurch in eine Lage geraten, die für ihn vielleicht nicht ohne recht bedenkliche Folgen bleiben kann.

LYDIA.

O, das wäre ja aber schändlich! Das dürfen Sie ganz unmöglich zulassen, Herr Direktor! Wir haben in harmlosester Fröhlichkeit den Erfolg Ihrer entzückenden Festdichtung im Voraus gefeiert, es mag n bischen spät geworden sein und da war Herr von Zedlitz selbstverständlich so ritterlich, mich die paar Schritte bis nach Hause zu begleiten. Oder hätte er so ungalant sein sollen, dieses auch nicht zu tun? Um mich am Ende gar den zudringlichen Rohheiten nächtlicher Passanten auszusetzen?

[69]
NIEMEYER.

Es wäre mir im Interesse meines Schülers aufrichtig lieber gewesen, Sie hätten sich bereits vor dem Lokal verabschiedet.

LYDIA.

Herr Direktor, nun muß ich aber lachen! Soll ich Ihnen jetzt auch noch das Fürchterlich ste verraten? Ihr kleiner Knabe Wunderhold hat mir sogar das Schladebachsche Haustor aufgeschlossen! Ist das nicht schrecklich? Aber mein Hausschlüssel dreht sich manchmal wirklich zu schwer um.

NIEMEYER.

Liebes Fräulein, Ihre Heiterkeit ist mir der beste Beweis, daß ich mich über Sie nicht getäuscht habe. Aber sagen Sie selbst. wenn das nun Jemand gesehn hätte? Sie glauben ja garnicht: es ist wirklich manchmal, als ob die Menschen nicht mehr fähig wären, auch etwas harmlos zu deuten. Mindestens den einen Vorwurf der Unvorsichtigkeit darf ich Ihnen also nicht ersparen.

LYDIA.

Gott ja, son ganz kleines Rüffelchen mag ich ja vielleicht verdient haben. Aber Sie werden doch nicht einen erwachsenen jungen Menschen wie einen kleinen Quartaner abstrafen? Kann ich ihm denn garnicht helfen?

NIEMEYER.

Nun, wenn es Sie beruhigt, liebes Fräulein: so weit Sie unserm jungen Freunde überhaupt helfen [70] können, haben Sie ihm bereits geholfen. Und zwar dadurch, daß Sie mir sein Geständnis, ohne es zu wissen, bestätigt haben.

LYDIA.
Mein Gott, das klingt ja wie eine Untersuchung!
NIEMEYER
der die Rose vom Tisch genommen hat und nun an ihr riecht.
Mein Fräulein – es war auch eine.
LYDIA
lachend.
Gottseidank daß sie vorüber ist! Sie verstehn ja ordentlich, einem gruslich zu machen ...
JADWIGA
durch die Tür links.
Störe ich?
LYDIA.
Gnädigste Frau Direktor?
JADWIGA
zu Lydia.

Sie entschuldigen. Zu Niemeyer. Kurt möchte Dich nochmal sprechen.Lydia gespannt aufmerksam. Er ist ganz sonderbar. So aufgeregt! Zu Lydia. Ich muß für unsre Herren Jungens immer betteln, Mit einem Blick. wenn sie etwas Mit besonderer Betonung. auszubaden haben. Mein Mann ist wirklich mitunter zu streng.

LYDIA.
Bei einer solchen Fürsprecherin, gnädige Frau ...
[71]
JADWIGA.
Auch bei einer solchen Fürsprecherin manchmal. Zu Niemeyer. Darf ich ihn Dir also runterholen?
NIEMEYER.
Zedlitz hat Zimmerarrest. Aber wenn Du meinst ... ich will nicht zu hart sein.
JADWIGA.
Liebes Fräulein?
LYDIA.
Gnädigste Frau?
JADWIGA
ab durch die Tür links.
NIEMEYER
zu Lydia, sie verabschieden wollend.
Es war sehr liebenswürdig, daß Sie gekommen sind. Ich danke Ihnen.
LYDIA
nach einigem Zögern.
Sollte ich Herrn von Zedlitz nicht am Ende doch noch einen Dienst erweisen können?
NIEMEYER.

Ich wollte Sie eigentlich nicht länger aufhalten. Aber vielleicht beruhigt es ihn in der Tat völlig, wenn er auch noch von Ihnen erfährt, daß er seinen Fehltritt, wie es scheint, schwerer nimmt, als schließlich unbedingt nötig ist.

LYDIA.
Wie kann die dumme Geschichte ihn blos so quälen!
[72]
NIEMEYER.

Das spricht nur für ihn. Er ist eben eine sehr feinfühlige Natur. Kleine Pause. Was hat eigentlich der Landrat gegen Sie?

LYDIA.
Herr von Kannewurf? Nichts, das ich wüßte.
NIEMEYER.
Hm. Er hat sich über Sie ... Bemerkungen erlaubt, die mich geradezu empört haben.
LYDIA.
Herr Direktor!
NIEMEYER.
Aber ich bitte Sie! Regen Sie sich doch nicht auf l
LYDIA.
Sie schulden mir auf der Stelle zu sagen, was Herr von Kannewurf sich über mich erlaubt hat!
NIEMEYER.
Aber liebstes Fräulein!
LYDIA.
Was hat Herr von Kannewurf über mich gesagt?
NIEMEYER.
Fräulein Link!
LYDIA.
Ich verklage den Herrn und verlange Sie als Zeugen. Dann müssen Sie's sagen!
[73]
NIEMEYER.
Um Gottes Willen! Nur nicht noch Gerichtssachen!
LYDIA.
Ich will es wissen! Ich muß es wissen!
NIEMEYER.
Versprechen Sie mir auch, daß Sie sich über diese Beleidigung hinwegsetzen?
LYDIA.
Ich verspreche es Ihnen.
NIEMEYER.
Er hat es gewagt ... Ihren guten Ruf anzutasten.
LYDIA.

Und Sowas soll ich auf mir sitzen lassen? Wo ich verlobt bin? Wo es sich um mein Lebensglück handelt? Das will ich nicht! Das kann ich nicht! Da verlangen Sie denn doch zu viel von mir, Herr Direktor!

NIEMEYER.
Beherrschen Sie sich doch! Der junge Mensch muß gleich eintreten!
LYDIA.

Lassen Sie ihn eintreten! Er soll eintreten. Ich verlange, daß er eintritt! Er muß mir sofort bestätigen, daß wir nichts miteinander gehabt haben! Aber auch nicht das geringste!

[74]
NIEMEYER.
Wer behauptet denn das? Das hat ja niemand gesagt!
LYDIA.

Doch! Doch! Sie behaupten es! Sie haben es gesagt! Das dulde ich nicht! Das lasse ich mir nicht gefallen! Stürzt auf die Thür links zu.

NIEMEYER
Wo wollen Sie denn hin?
Es klopft an der Tür im Hintergrund.
Herein.
LYDIA
auf Zedlitz zu, der eintritt.

Herr von Zedlitz, Sie werden mir bezeugen, daß wir nichts, gar nichts mit einander haben! Herr von Kannewurf ist ein elender Verleumder! Warum nehmen Sie mich nicht in Schutz? Warum helfen Sie mir nicht? Man läßt doch nicht eine Dame beleidigen? So reden Sie doch!

ZEDLITZ
vollständig ratlos.
LYDIA.

Ich habe Sie getroffen, wir sind in anständigster Gesellschaft gewesen, Sie haben mich bis vor mein Haus begleitet und dort haben Sie mir Adieu gesagt! Nicht wahr? So wars? So wars doch?

ZEDLITZ.
Ja ..... Die Lüge runter würgend. So wars.
LYDIA
ihm krampfhaft die Hand drückend.
Ich wußt es ja: Sie [75] sind ein lieber Kerl! Es tut mir so unendlich leid, daß Sie jetzt durch mich ...
NIEMEYER.

Ich bitte Sie. Die Sache ist ja erledigt. Sein Sie unbesorgt: es geschieht ihm schon nichts. Natürlich, ohne jede Sühne kann ich seine Schuld nicht lassen.

LYDIA.
Können Sie nicht ganz Gnade für Recht ergehn lassen?
NIEMEYER.
Nein.
LYDIA.
Auch wenn ich Sie sehr, sehr schön bitte?
NIEMEYER.
Auch dann nicht.
LYDIA.

Na, aber bis zur Ausführung wird unser Verbrecher doch seinen Kerker hoffentlich schon verbüßt haben?

NIEMEYER.
Die Aufführung wird nicht stattfinden.
LYDIA
wie aus allen Himmeln.
... Ja, warum denn nicht?
NIEMEYER.
Nach dem Vorgefallenen ist das wohl selbstverständlich.
[76]
LYDIA.

Schade ... Das tut mir aber schrecklich leid.Zu Zedlitz, der sie, erstaunt, groß angesehn hat. Wir sind wirklich beide ... die reinen Kinder gewesen! Wieder zu Niemeyer. Ich werde also Herrn von Kannewurf die Bestrafung erlassen. Es genügt mir, daß ich ihn verachte! Sich verabschiedend. Lieber Herr Direktor? Herr von Zedlitz?

NIEMEYER
der sie bis zur Tür begleitet hat.

Ich bedaure, Ihnen eine so aufgeregte Auseinandersetzung bereitet zu haben. Lydia ab. Kleine Pause. Nun, mein lieber Zedlitz? Was drückt sie noch?

ZEDLITZ.

Ich ... hätte nicht nochmal kommen sollen. Ich.. weiß garnicht, was ich machen soll ... Ich bin ein schlechter Mensch! Nach einem letzten Zögern. Ich wollte ... Sie nur nochmals ... um Verzeihung bitten.

NIEMEYER.

Aber liebster Kurt! Jetzt komme ich mir ja beinah vor, wie der Sünder. War ich zu hart vorhin? Habe ich Sie verletzt?

ZEDLITZ.
O nein, nein! Ich möchte Sie sogar um eine recht strenge Strafe bitten!
NIEMEYER.
Sie machen es mir wirklich schwer, Sie überhaupt noch zu bestrafen.
[77]
ZEDLITZ
kaum noch Herr seiner selbst.
Ich ver diene Ihre Güte nicht!
NIEMEYER
ihm die Hand auf die Schulter legend; ihn beruhigend; gütig.
Zedlitz!

Vorhang.

3. Akt

[78] Dritter Akt

[79] [81]Die »Mehlkiste«
alter Bäckerkeller; duster und grauslich. Oben im Mauerwerk rechts vergitterte Fensterlöcher in Staub und Spinnweben. Aus der Ecke links eine steile Steintreppe. Im Hintergrund ein weiterer Kellerraum, der von dem vorderen durch einen betroffenen Bruchsteinbogen getrennt ist. In diesem hinteren Keller führt rechts eine zweite Treppe zu einer verräucherten Bohlentür; links aufgestapeltes Scheitholz; in der Mitte die Tür zum Backofen, in dem schon Feuer brennt. Im Vordergrund links, neben der Treppe, eine mächtige außer Dienst gesetzte Mehlkiste. Von der Decke auf Hängebrettern, wie auch sonst, allerhand Backgerät: Säcke, Mulden, Mehlschaufeln, Teigschüsseln u.s.w. Ueber der Mehlkiste ein Büffeltrinkhorn, unter den Kellerfenstern rechts, über zwei gekreuzten Schlägern, ein schwarzrotgoldnes Wappenschild; alles leicht abnehmbar. In der Mitte der Bühne, auf breitem Kreuzgestell ein massiger Knettisch mit Holzschemeln. Die ganze unterirdische Romantik wird beleuchtet durch die Backofenglut aus dem Hintergrund und zwei dicke Talglichter auf den beiden Schmalseiten des Tisches. Um den Tisch, in
roten Mützen mit schwarzrotgoldnen Bändern, die »Aktiven« der »ehrenfesten und freien Blutsverbindung Antityrannia. Klausing an der rechten Schmalseite, ihm gegenüber Pöhlmann. Beide mit Schlägern. Das Getränk ist »schäumender Met« in Holzkrügen. Sämtliches Gebein dampft aus langen Befreiungspfeifen Revolutionsknaster. Während der Vorhang sich hebt, verklingt grade die schon vorher hörbar gewesene letzte Strophe des Ergo bibamus: »Es glänzen die Wolken, es teilt sich der Flor, da scheint uns ein Bildchen, ein göttliches, vor; wir klingen und singen: »Bibamus!«.

KLAUSING.

Ein Schmollis den Sängern! Alles: »Fiduzit!« Stimmengewirr; [81] allgemeines Zutrinken: »Vercingetorix, Heil!« »Heil Dir, Mucius Scävola!« »Sempronius Grachus! In tyrannos!« »In tyrannos, o Catilina!« »Spartacus! Die Freiheit!« »Die Freiheit, Widukind!« »Harmodios, die – Liebe!« »Die Liabe, Aristogeiton! Die Liabe!«.

SPARTACUS-KLAUSING mit dem Schläger dreimal auf den Tisch dröhnend. Silentium! ... Catilina, sind die Wachen in Ordnung?

PÖHLMANN-CATILINA. Erhabener Spartacus, sie sind es!

SPARTACUS
abermals drei Schläge.

Silentium!Eherne Stille. Brüder! Ein Freudentag ist es für unsre ehrenfeste und freie Blutsverbindung Antityrannia! Fern von dem verhaßten Druck unsres brillenbewaffneten Diktators feiern wir heute in sonniger Freiheit unser erhabenes zweites Stiftungsfest. Leider fehlt unsrer Festesfreude die funkelndste Perle: Brutus, unser großer Brutus, hat schnöden Zimmerarrest! Traumulus, der Tückische, hat ihn verhängt! Weil Brutus was wandelte? Die rosenbekränzten Pfade der Freiheit! Ha, ihr Brüder!Alles, wie ein Mann, mit erhobener Faust: »Ha!!!« Rache! Alles wieder ebenso: »Rache!!!« Beim nächsten Extemporale wird gemogelt, wie noch nie! Pereat Traumulus! Alles unisono: »Pereat!!!« Und noch eine Trauerkunde: Schimke, unser Couleurfax, dem wir den fürstlichen Sold von monatlich fünf Reichs-Emm inklusive Stoff und Stinkadores in den sklavisch aufgesperrten Pedellrachen geschüttet haben, Schimke der Elende, Schimke der Feigling, Schimke der Schurke – streikt! Alles: [82] »Nieder mit Schimke!!!« »Nieder!!!« Traumulus hat ihm die Leviten gelesen!»Jetzt hat er de Hosen voll!« »Jammerlappen!« »Angstfahne!« »Zitterrochen!« »Schlotterknochen!!« Requiescat! ... Aber auch Wonne spenden uns die Götter in diesen heiligen Hallen! Vercingetorix und Mucius Scävola, ich fordre euch auf, nunmehr den nach Freiheit dürstenden Neuling in diesen gefesteten Kreis einzuführen. Die Sassenschaft erhebt sich! Sie tut es; Vercingetorix und Mucius Scävola ergreifen zwei Hellebarden, begeben sich nach der Tür im Hintergrund und geleiten durch diese den Obersekundaner Karl Wilhelm Frommelt, dessen beide Hände von einer klirrenden Kette gefesselt sind, vor die Mitte des Tisches. Karl Wilhelm Frommelt, unschuldiger Sohn Deines fluchbelasteten Vaters, hiesigen Professors und Oberlehrers Doktor Albert Eduard Frommelt, Prorektors und Ordinarius der Unterprima, unsres verhaßten Subtyrannen, Herausgebers der griechischen Syntax für Quarta, eines Mannes baar jeder menschlichen Gefühle: einstimmig haben wir beschlossen, Dich einzureihen in die geheime Phalanx unsrer geliebten Antityrannia. Catilina, eröffne das Schwurbuch! Harmodios und Aristogeiton, waltet Eures Amtes!

CATILINA
einen wuchtigen Schweinslederfolianten aufklappend, während Harmodios und Aristogeiton mit den beiden Talglichtern rechts und links neben ihn treten.

Auf Befehl des Meisters! Karl Wilhelm Frommelt, willst Du schwören, zu Wasser und zu Lande, in Feuer und Luft, über und unter der Erde, unserm Bunde, seinen Satzungen und seiner Obrigkeit treu zu sein? Die zu lieben, die ihn lieben, die zu hassen, die ihn hassen, und [83] Dich nicht beirren zu lassen von Traumulus, dem tückischen Dämon unsrer Freiheit? Dann rufe: Ich schwöre!

FROMMELT.

Ich schwöre. Gleichzeitig haben Vercingetorix und Mucius Scävola dreimal mit ihren Hellebarden aufgestoßen.

SPARTACUS
zu Frommelt.

Niedrige Knechtschaft hielt Dich bisher gefesselt. Jedes Glied dieser ehernen Kette hatte seinen verruchten Brandnamen. Die Kettenglieder klirren lassend. Dieses hieß Virgil, der Lederne, dieses Thukydides, der Kniffliche, dieses Sallust, der Freche, dieses bedeutete die infernalischen Mächte der Integralgewalten und des binomischen Lehrsatzes ... erlasse mir die Gräul der übrigen. Das alles soll jetzt von Dir fallen. Widukind! Entfessle ihn! Geschieht. Sempronius Grachus, ritze ihm die Ader! Geschieht. Cassiusl Sammle sein Blut in die Bundesurne! Geschieht. Karl Wilhelm Frommelt hießest Du, Möros seist Du von nun an genannt. Hier die Zeichen Deiner Würde: Den Dolch im Gewande, die Freiheitspfeife und den Revolutionsknaster! In Ermanglung eines Tyrannenschädels, berausche Dich aus diesem Prunkpokal! Als Erzieher wird Dir Catilina gesetzt. Heil Möros!


Alle, ihm zutrinkend: »Heil Möros!«
MÖROS.
Heil, Ihr Brüder! Berauscht sich aus sei nem Prunkpokal. Alle: »Heil!« Nimmt Platz.
SPARTACUS.

Und nun den Päan der Freude! Das Traumuluslied. [84] Dreimal mit dem Schläger aufrasselnd, was Catilina wiederholt. Vorsänger sei der zu den besten Hoffnungen berechtigende Dichter desselben, unser unsterblicher Catilina! Der erste Vers steigt!

CATILINA
das erste »o Traumulus« allein singend, alles übrige im Chor.
O Traumulus! O Traumulus!
Von Gold gleißt Deine Brille!
Du glupst durch sie in den Homer,
den deutschen Jüngling schmerzt das sehr!
O Traumulus, o Traumulus!
Jadwiga heißt Dein Wille!
SPARTACUS.
Der zweite Vers! Ich bitte, gebührender Traumulus zu betonen!
CATILINA
wie vorhin.
O Traumulus! O Traumulus!
Längst schwanden Dir die Locken!
Die Olga giebt Dir keinen Kuß,
Du schmeckst zu sehr nach Aeschylus!
O Traumulus! O Traumulus!
Du bist ihr viel zu trocken!
SPARTACUS.
Der dritte, letzte und schönste Vers!
CATILINA
wieder ebenso.
O Traumulus! O Traumulus!
Total bist Du verwittert!
[85] Du vorsindflu – tlich altes Haus,
Dein Ahnherr war Herr Menelaus!
O Traumulus! O Traumulus!
Ein Schuft, wer vor Dir zittert!
SPARTACUS.

Ein Schuft, wer vor ihm zittert! Cantus er! Ein Schmollis den Sängern! Alles: »Fiduzit!« Kolloquium! Wieder Stimmengewirr und allgemeines Zutrinken: »Heil, Möros!« »In tyrannos!« »Olga soll leben!« »Hoch Jadwiga!« »Nieder mit Sophokles!« »Hoch Sudermann!« Das Fäßchen Bier in der Ecke, von einem der Blutsbrüder fleißig gemolken, kluckert bereits bedenklich, der Qualm aus den Freiheitspfeifen wölkt sich immer dichter.

WACHE
mit hochgeklapptem Kragen und beschneiter Pelzmütze oben auf der Treppe links.

Hannibal ante portas! Traumulus!! Stimmengewirr: »Traumulus!« »Verrat!« »Licht aus!« »Tür zu!« »Zuriegeln!« »Los!« »Durch die Ankergase!« Ein Teil der Blutsbrüderschaft will sich durch die Hintertür retten, andre werfen ihre Bänder und Mützen in die Mehlkiste, während einer die Embleme abhakt, Catilina und Spartacus blasen die Lichter aus. Is ja gar nischt! Dableiben! Setzen! ... Er is blos drüben in den Goldnen Pfau gegangen!

SPARTACUS
wieder Mut in der Männerbrust, Schlägeraufschlagen.

Ad loca, Ihr Memmen!Stimmen: »Ad loca!« »Ad loca!« Silentium! Licht an! Beide Tagelichter erstrahlen wieder. Trotzdem ist der Staat in Gefahr! Wenn der blinde Greis jetzt auch nur nach der Pulle Sekt sucht, die unser Brutus gestern mit seiner Circe Lydia geleert – sein Spionenschritt schleicht fast über unsere Köpfen!Zu der Wache oben. Wo ist Maccabäus?

[86]
WACHE.
Maccabäus lauert an der Treppe! Wenn Wir pfeifen – gleich hinten raus! Ab.
SPARTACUS.
Heben wir die Sitzung auf, oder bleiben wir noch? Ich eröffne darüber die Debatte.
CATILINA
Hand hoch.
Ich bitte ums Wort.
SPARTACUS.
Unser Fuchsmajor Catilina hat das Wort!
CATILINA.

Herrschaften, es wäre doch verflucht faul, wenn wir abgefaßt würden. Stimmen: »Um Gottes Willen!« »Mein Alter reißt mir den Kopp ab!« »Dann schieß ich mich dodt!« Zedlitz hat uns nich verraten; das is natürlich klar wie Klosbrühe! »Bist wohl verrückt!« »Dir piekts wohl!« »Zedlitz und verraten!« Das sag ich ja! Dösköppe! Aber der goldne Pfau is doch nu mal keine hundert Schritt weit. Laßt den Ollen drüben blos ne Pulle Selterswasser gekübelt haben. Dann dammelt er uns, wenn er wieder vorbeikommt, de Treppe runter. Plumpst er womöglich mitten in die Mehlkiste! »Schauerlich!« »Hör auf!« Kinder, ich weeß nich, mir schmeckt nich mehr de Pfeife.

CASSIUS
Hand hoch.
SPARTACUS.
Cassius hat das Wort!
[87]
CASSIUS.
Catilina is n oller Bammelfritze!»Bravo!« Händeklatschen.
CATILINA.
Mondkalb!
CASSIUS.
Pavian! Stimmen: »Zur Ordnung!« »Is doch hier kein sozialistischer Parteitage?!«
SPARTACUS.
Ich bitte dringend, parlamentarisch zu bleiben!
CASSIUS.

Ich stelle den Antrag, die Wachen zu verstärken! »Bravo!« »Sehr gut!« Im Hintergrund schlägt eine Glocke an nur ein einziger Ton.

SPARTACUS.
Silentium! Schladebach kommt! Lautlose Erwartung.
SCHLADEBACH
mit einem Licht durch die Tür im Hintergrund.

Bundesbrüder – das Vaterland is jerettet. Traumulus hat sich dinne jemacht! Alle, donnernd: »Hurraah!!!« »Habemus Papam!!!«.

SPARTACUS
dreimal mit dem Schläger dröhnend.

Silentium strictissimum! Unser einziges Ehrenmitglied, unser geliebter Freund und Gönner, unser Mäcen und Metlieferant, Cromwell, er Mildtätige! Graalsgenossen! Dieser seltene Mann, der uns tief unter einer von elendem Knechtssinn durchtobten Phäakenstadt diese sichere Freistatt eröffnet, ihm werde eine ganz besondere Ehre! Ihm steige der [88] erhabene Bank, jenes köstliche Symbolon, das uns Cassius aus den sagenhaften Gefilden des göttlichsten aller Bünde, der Schlaraffia, als geheiligtes Gastgeschenk aus den Weihnachtsferien gebracht hat. Der Bank steigt! Eins! Zwei! Drei! Der »Bank« wird genau nach dem Ritual des »Schlaraffenspiegels« einmal ausgeführt. Wunderschöner Bankus exest! Mister Cromwell, dürfen wir Sie ersuchen, auf der Sella honoria Platz zu nehmen? Cassius! Die Ehrenpfeife!

CASSIUS
das schwarzrotgoldbetroddelte Institut Schladebach überreichend.

Schladebach, in der Längsmitte des Tisches, das bereits gestopfte Pfeifoid anrauchend, während Cassius den Fidibus hält.

Was ist die Welt? Nur Rauch und Ruß.

Hoch Cromwell, nieder Traumulus!

SCHLADEBACH.

Lateinsch und Griechisch macht blos schwach.

Hört auf den Bäcker Schladebach!

»Sehr richtig!« »Hört, hört!« »M.W.!« Gelächter. Ich kann blos n paar Minuten. Meine Meechens sind janz alleen im Laden! Zwischenruf: »Is ja Sonntagsruhe!« Bei uns de beste Betriebszeit! Wozu jiebt't Hintertüren?

CASSIUS.

Kommen die beiden Damen wieder runter? Stimmen: »Ach ja Herr Schladebach!« »Ach ja!« »Famos!« »Feinfein!« »Wird das wieder gemütlich!« »Au, die Minka und die Mietze!«

SCHLADEBACH
schmunzelnd.

Wat, Jungens, die jefallen Euch wol? Stimmen: »Och, Herr Schladebach!« »Da is doch nischt bei?« »Wir pussieren doch nich!« »Bitte, bitte!« Kinder, watt jemacht[89] werden kann, witt jemacht. Ick war ja ooch mal jung! »Bravo!« »Prost, Cromwell!« »Meine Blume!« »Aufs Spezielle!« »N Halben!« Auf meinem Wohle! Trinkt. Zuruf: »Prost!« Herr Spartacus, ich möcht mal ums Wort jebeten haben.

SPARTACUS.
Silentium! Cromwell hat das Wort! Cromwell, der Kundliche!
SCHLADEBACH
aufgestanden.

Bundesbrüder! Bismarck hat mal jesaacht, det Eenzje is de Jugend! Und det war jewiß n heller Kopp! Wenn er ooch in de Walhalla sitzt. Jloobt nur: der sieht jetz uf uns runter und freut sich, wat det hier für ne frische, fröhliche Jemietlichkeit is! Der hats ooch immer mit de Tirannen jehabt. Immer feste druff! Warum haben wir so ville Steuern? Det Mehl muß for de Bäcker jratis geliefert werden. De Fünfjroschenbrode sind zu jroß. De Polizei witt abjeschafft. Jeder kann sein Laden schließen und ufmachen, wenn er Lust hat. Jott, ick wer't nich mehr erleben. Abber Ihr! Dets eire sozjale Ufjabe. Darum haben wir uns hier versammelt. Ick erhebe mein Jlas und trinke uf det ewije ivat Aquademia von unsre Antitirannja! Die Antitirannja – sie lebe hoch! Hoch!! Hoch!!!Alles hat mitgehocht und schüttelt ihm nun die Hände: »Herr Schladebach!« »In tyrannos!« »Prost, Dicker!« »Da lag noch Kraft drin!« Kinder, drückt mir nich dodt. Ick hab schon so Asthma jenuch. Wollt Ihr mir jlooben? Traumulus hat mir noch de Hand jejeben! »Ach, nee!« »Wirklich?« Nich de Bohne hat er jemerkt! Er is [90] blos drüben in die olle Bude jewesen, hat son bisken int jrüne Zimmer jerochen und denn isser jleich wieder abgezogen. »Wenn der wüßte!« »Wir haben keinen kleenen Schreck jekriecht!« »Das wär ne Bescheerung gewesen!« »Au Backe!« »Is doch n juter Kerl!« »Hoch Traumulus!« »Bravo!« »Hoch Traumulus!« Richtig, Kinder! Lassen wirn leben! Ick schlage n Salachmander vor! »Bravo!« »N Salachmander!« »Bravo!«.

SPARTACUS
dreimal mit dem Schläger aufschlagend.

Wir präparieren den »Salachmander!« Mützen ab! Selbst Cromwell entblößt seine Glatze. Blutsbrüder! Es ist ein natürlicher Kampf zwischen Lehrern und Schülern. Dieser Kampf ist gesund! Hie Antityrannia, hie Traumulus! Wenn wir beseelt, von unbezähmbarem Freiheitsdrang auch seine Tafeln zerbrechen wie die apulischen Sklaven die römischen Fasces – wir lieben und verehren ihn doch! »Bravo!« Unbewußt ist er die Wölfin, die in uns die jungen Löwen nährt, die mit ihrem Gebrüll einst die Welt in Schrecken setzen werden! Ad exercitium salamandris! Auf Traumulus!! Eins, zwei drei, bibite! Der Salamander wird donnernd gerieben. Eins, zwei, drei, Salamander ex! Mützen auf! Cromwell hat nachgeklappt. Cromwell steigt in die Kanne! Cromwell steigt hinein, alles singt: »Zieh, Schimmel, zieh! Zieh, Schimmel zieh!" Geschenkt!

SCHLADEBACH.
Det hat geschmeckt.
BÄCKERGESELLE
mit aufgekrämpelten Hemdsärmeln durch die Tür im Hintergrunde.
Wie is dn det nu? Der Brodteich is bald fertich!
[91]
SCHLADEBACH.
Jetz schon?
BÄCKERGESELLE.
Witt doch heut extra jebacken. Fräulein hat gesaacht is Allens alle.
SCHLADEBACH
die ganze Antityrannia hat ehrfürchtig zugehört.

Na! Denn muß ik mal Der Geselle verschwindet wieder. nach meinem Ofen sehn. »Wir helfend!« »Selbstverständlich!« »Wir auch!« »Präsidium, tempus peto!« »Tempus peto!«.

SPARTACUS Habeas! Kolloquium!

SCHLADEBACH
schiebt unter Mitwirkung der Antityrannia neues Scheitholz in den Ofen.

Rin mit de Tyrannen! Chorus: »Rin!« Stimmen, je mit Hineinbugsieren eines neuen Scheits: »Dets Cäsar!« Chorus: »Rin!« »Dets Tionys!« Chorus: »Rin!« »Napoljon!« Chorus: »Rin!« »Philipp von Spanien!« Chorus: »Rin!« »Iwan der Schreckliche!« Chorus: »Rin!« »Oberlehrer Schlammelschlag!« Chorus: »Rin!« »Bebel!« Chorus: »Rin!« Dets erst recht eener! Und nich zu knapp! »Herr von Kannewurf!« Uf den hab ik't abjesehn! Chorus: »Rin!« Alles singt, zum Teil unter Balletbewegungen a la Siouxindianer:

»Nieder mit die Hunde!

Nieder mit die Hunde!

Nieder mit die Hunde von die Reaktion!

Blut muß fließen

knüppelknüppeldick!

Es lebe hoch, es lebe hoch

die deutsche Republik!

Schladebach, den Ofen geräuschvoll schließend. So, Brieder. Die übrijen Karnalljen det nächste Mal!Schon an der [92] Treppe. Na, und det mit die Miete? Wie steht dn det nu? Is heut schon der Fuffzehnte!

SPARTACUS.

Ach Gott, Herr Schladebach, wir wern ja schon berappen! Stimmen: »Ich versetz meine Uhr!« »Ich verklopp mein griechisches Testament!« »Blutsauger!«.

SCHLADEBACH.

Jut! Jut! Also det nächste Mal!Mit seinem Licht die Hintertreppe hoch. Is ja janz scheen, det mit de Blutsbriederschaft, man ... Gebärde des Geldzählens. wovon soll der Schornstein rochen? »Blutsauger!« Die Antityrannia singt: »So leb denn wohl, du altes Haus, du ziehst betrübt von uns hinaus!«.

SPARTACUS
den Gesang unterbrechend.

Ad loca!»Ad loca!« »Ad loca!« Sind die Humpen gefüllt?»Sind!« Brennt der Knaster? »Brennt!« Sind die Windharfen absolviert? »Sind absolviert!« »Bravo!« Catilina: Dein Epos! »Aaah!«.

CATILINA
aufgestanden; aus einem riesigen Manuskript den Titel vorlesend.

Romeo und Julie im Goldnen Pfau, oder Unter allgemeinem Beifallsgegrunz. Brutus nach Mitternacht! Traumulus-Trauertremolo in siebzehn Kapiteln! »Aaaaah!!!«.

ZEDLITZ
mit Hut und Mantel, beschneit, durch die Tür oben links.
Alles aufgesprungen: »Hurrah, Zedlitz!« »Zedlitz!« »Zedlitz!«.
SPARTACUS.

Großer Brutus, der Du dem Kerker entronnen, der [93] Du die Ketten brachst, wir grüßen Dich! Heil! »Ave Cäsar!« »Morituri te salutant!« »Heil!« Begeisterung im Busen, überreiche ich Dir, unserm Stifter, was ich bisher nur für Dich verwaltete, das Präsidenschwert der Antityrannia!

ZEDLITZ
der seine Sachen abgelegt hat am Präsidenplatz; ein andrer setzt ihm die Mütze auf; er legt sie wieder auf den Tisch.

Einen Augenblick ist er nachdenklich sitzen geblieben, dann steht er langsam auf. Liebe Freunde! Ich habe die mir auferlegte Strafe nicht durchbrochen, um mit Euch fidel zu sein. Ich bin hierhergekommen, um den Antrag zu stellen, unsre Verbindung aufzulösen.»Nanu?« »Zedlitz!« »Bist Du verrückt geworden?« Bitte, laßt mich ausreden! »Ruhig!« »Ssst!« »Ssst!«

CATILINA
mit dem Schläger aufschlagend.
Silentium für Brutus l
ZEDLITZ.

Ich begreife vollkommen, daß Ihr vielleicht meint, ich habe den Verstand verloren Hätten wir unser Stiftungsfest gestern um diese Zeit gefeiert, ich glaube, ich hätte dem, der uns auch nur mit Aehnlichem gekommen wäre, nie mehr die Hand gereicht. »Bravo!« Ich denke jetzt nicht mehr so. Ich habe heute Vormittag mit Herrn Professor Niemeyer ein ... inneres Erlebnis gehabt, das mich – zu einem andern Menschen gemacht hat. Ich habe die Ueberzeugung gewonnen, daß unser Direktor, den wir Tag für Tag auf das Schamloseste beschwindeln, den wir hintergangen haben, wo wir nur konnten, der beste Mensch ist. Einem bessern werden wir nie mehr im Leben [94] begegnen! Wir sind dumme Jungens oder Schurken, wenn wir seine unglaubliche Gutheit in so schandbarer Weise noch weiter mißbrauchen .... Ich habe diese Nacht etwas getan, Vor den ich jetzt ausspucken möchte. Ich habe diesen Mann, der nur in seiner Herzensgüte voll vertraut, in der niedrigsten Art und Weise hintergangen! Einer ... Kanaille wegen! Und ich will heilfroh sein wenn die einzige Folge meiner Gemeinheit die bleibt, daß ich ihn obendrein auch noch auf das Widerlichste belügen mußte! Ich würde sonst wissen, was ich zu tun hätte ... Ich bin kein anständiger Mensch mehr! »Zedlitz!« »Mensch!« »Um Gottes Willen!« »Nu laß doch man!« »Sei doch kein Frosch!«.

CATILINA.
Ruhe!
ZEDLITZ
hart.

Ich will mich hier nicht weiß brennen. Ich bin mir vollständig klar darüber, daß ich mir meinen Reinfall in erster Linie selbst zuzuschreiben habe. Aber – und das soll mir Niemand ausreden – der ganze Rummel hier ist mit Schuld daran! »Oho!« »Beleidigung!« »Andern Präsiden!« Heftig. Habe ich das Wort, oder nicht?

CATILINA
mit dem Schläger aufschlagend.
Silentium! Zum Donnerwetternochmal! Kann nachher jeder quatschen, was er will!
ZEDLITZ.

Ich Wiederhole: der ganze Rummel hier ist mit Schuld [95] daran! ... Glaubt doch ja nicht, daß ich als tränenklötriger Wimmerfritze Euch Moral pauken will. Fällt nur garnicht ein. Ihr wißt genau so gut wie ich, daß unser Direktor wegen einer Geschichte hierher versetzt wurde, die im Vergleich zu manchen, was wir hier schon getrieben haben, einfach harmlos war. Und zu alledem bin ich Euer Anführer gewesen! »Blech!« »Unreif!« »Was machen wir denn!« »Wir stecken doch keine Häuser an!« »Wir bringen doch keinen um!« O, doch bringen wir vielleicht einen um! Es braucht blos der zehnte Teil von dem hier rauszukommen und unser Direktor ist gewesen!

CASSIUS.
Denn kriegen wir eben n andern her. Sehr einfach!
ZEDLITZ
durch die Zähne.
Cassius! Kleine, lautlose Pause. Du weißt ja garnicht, wie gemein Du jetzt bist.
CASSIUS
aufgesprungen.

Das lasse ich mir nicht gefallen! Zedlitz wird das sofort zurücknehmen!Andre, ihn auf seinen Stuhl zurückdrückend: »Laß doch!« »Nu nimm doch Vernunft an!« »Das geht doch nicht.« »Du kennst doch Zedlitz!«.

ZEDLITZ.
Ich nehme nichts zurück! »Aufhören!« »Schluß!« »Schluß!«.
CATILINA.

Ich muß aber dringend bitten! Nicht blos um Ruhe, sondern auch daß Du Dich mäßigst, lieber Zedlitz l »Bravo!« »Sehr richtig!« »Wir sind doch keine dummen Jungens!«.

[96]
ZEDLITZ.
Kurz und bündig, ich Wiederhole den Antrag, die Verbindung aufzulösen.
CASSIUS
wie eine Wildkatze auf.
Ich bitte ums Wort!
ZEDLITZ.
Cassius hat das Wort.
CASSIUS.

Auch kurz und bündig! Was geht da uns an, wenn Zedlitz dämliche Weiberkisten macht? Wir machen auch Welche! Aber natürlich: wenns einer so schlau anstellt, sich mit seiner Dulzinea öffentlich drüben in den Goldenen Pfau aufzupflanzen, dann bringt er die ganze Mimik ins Wackeln! Wißt Ihr, was das einfach für mich ist? Die haarsträubendste, aber auch die haarsträubendste Statutenverletzung! »Bravo!« »Sehr richtig!« »Hoch Cassius!« Wir haben uns doch nich hier zusammengetan, um jede Mal ne große Flennerei loszulassen, wenns einer mit der Angst kriegt. Wir wollen doch mal Männer werden! Wenn Traumulus ne alte Drohmlade is – was können wir dafür?»Bravo!« Ich stelle kategorisch den Antrag, erstens auf Schluß der Debatte und zweitens, die unerhörte Unglaublichkeit von Zedlitz einfach abzulehnen!»Bravo!« »Bravo!« »Bravo!«

ZEDLITZ.

Wer ist für Schluß der Debatte? Alle die Hand hoch. Die Debatte ist geschlossen. Wer ist für den Antrag, [97] die Verbindung aufzulösen? Niemand rührt sich. Wer ist dagegegen? Alle sehn auf. Ich lege hiermit mein Präsidium nieder und trete aus der Verbindung aus.

CASSIUS
wütend.

Das möchtest Du! Um Dich bei Deinem Herrn Direktor wieder lieb Kind zu machen! Du meinst wohl, das geht so? Da haben wir auch noch mitzureden!

ZEDLITZ
sich nur noch mit Mühe zurückhaltend.
Noch ein Wort, und ich ...
CASSIUS.

Ich verlange, daß Zedlitz cum infamia aus unsrer Verbindung excludiert wird! Draußen ertönt ein Pfiff, der im Tumult überhört wird.

ZEDLITZ
von den Andern mit Gewalt zurückgehalten.

Laßt mich! »Excludiert!« »Excludiert!« »Hoch Cassius!« »Nieder mit Zedlitz!« »Cum infamia!« »Cum infamia!« »Cum infamia!«

DIE BEIDEN WACHEN
beschneit durch die Tür oben links.
Die Polizei!!!
ZEDLITZ
rausbrechend.

Da habt Ihrs! Nu is er!»Herrgott!« »Wir Esel!« »Riegelt die Tür zu!« »Durch die Ankergasse!« »Durch die Ankergasse!« Alles, außer Zedlitz, nach dem hinteren Ausgang rechts zu.

POLIZEI
beschneit durch die Tür im Hintergrund.

Zurück! Gleichzeitig [98] von außen Schläge gegen die verriegelte Tür oben links. Aufmachen! Aufmachen! Ein Tritt sprengt das Schloß, die Treppe hinab, beschneit, Schutzmann Patzkowski. Am Eingang, wie am Ausgang je ein Posten.

PATZKOWSKI.
Alles zur Wache! Auf Zedlitz zu, Handbewegung. Der Herr Direktor wird ne Freude haben!
ZEDLITZ
ruhig.
Ich gehöre nicht mehr zur Verbindung!
PATZKOWSKI.
Sie? Sie sind der Schlimmste! Marsch!

Vorhang.

4. Akt

[99] [101]Vierter Akt

[101] [103]Polizeiwache
Zimmer des Polizeiinspektors. Büreaukratisch öder Raum. Weiße Tünche, gelbes Tannenholzgemöbel. Im Hintergrund zwei Fenster, links eine Tür. Zwischen den Fenstern, unter der offiziellen Gipsbüste Kaiser Wilhelms des Zweiten, das Schreibpult des Sekretärs. An der Wand rechts ein vierschrötiger Kleiderschrank und ein Respekt einflößendes Aktenregal mit solide gebundenen Gesetzfolianten, aufgeschichteten Zeitungsstößen, geheimnisvollen Pappkästen und sonstigem Wust. Links, zwischen Tür und Fenster, ein glühender eiserner Füllofen, daneben eine primitive Waschvorrichtung und nach vorn zu eine schnurgerade Reihe Stühle. Im Vordergrund rechts der Tisch des Inspektors. An den Wänden Polizeiverordnungen. Von der Mitte der Decke eine sparsame Gasflamme. Hinter den gardinenlosen Fenstern dichtes Schneegestöber, durch das zwei Stadtlaternen flackern. Das Ganze von trostlosester Nüchternheit.

LANDRAT
im offenen Pelz.
Sind sie Ihres Beamten also ganz sicher? Der Mann hat ihn wirklich mit ihr ins Haus gehn sehn?
HOPPE
Polizeiuniform.
Herr Landrat dürfen sich auf den Bericht vollkommen verlassen.
LANDRAT.

Kanns nicht vielleicht doch n andrer gewesen sein? Solche Weiber wie die Link, lieber Hoppe, sind sehr vielseitig.

[103]
HOPPE.

Der Schutzmann Patzkowski ist mein zuverlässigster Beamter. Außerdem kennt er den jungen Herrn von Zedlitz ganz genau.

LANDRAT.
Nur um Gottes Willen nichts behaupten, was wir nicht ganz, aber auch ganz bestimmt beweisen können!
HOPPE.

Jeder Zweifel ist ausgeschlossen, Herr Landrat. Herr Von Zedlitz hat mit Fräulein Link das Schladebachsche Haus In ein Aktenstück sehend. um Ein Uhr fünfundzwanzig betreten und kurz nach Fünf allein wieder verlassen.

LANDRAT.
Is doch wirklich n Skandal! Der alte Zedlitz kann mir leid tun.
HOPPE.
Ja, sehr bedauerlich ... Den Bäckermeister Schladebach habe ich sofort verhaften lassen.
LANDRAT.
Verhaften? Der Mann ist doch nicht fluchtverdächtig.
HOPPE.
Das nicht, aber § 180. Der Kunde ist imstande und besticht die Zeugen.
LANDRAT.

Ah so? Jajajajaja! Uebrigens ... Mir Wurscht. Das s Kriminalsache. Damit mag sich das Königliche Landgericht [104] rumärgern. Aber wenn der Herr Direktor hier nachher seine Jungens einsammelt, das is mein Ressort. Dann rufen Se mich.

HOPPE.

Ich labe Ordre gegeben, sofort nachdem das Nest ausgehoben ist, Herrn Direktor Niemeyer aufs Revier zu bitten.

LANDRAT.
Sehr schön.
HOPPE.
Der Transport muß bald eintreffen.
LANDRAT.

Schön. Ich werde also Ihrem Wachtmeister hinterlassen, nur n Boten rüberzuschicken. Ich bin im Kasino. Angenehmer Sonntagabenddienst für uns heute!

HOPPE.
Herr Direktor Niemeyer wird überrascht sein.
LANDRAT
achselzuckend.
Ja, da können wir ihm nu nich mehr helfen!
HOPPE.
Verzeihn, Herr Landrat. Diese Festnahme der Schüler ... Ich weiß wirklich nicht ...
LANDRAT.

Darüber lassen sich keine grauen Haare wachsen. Maßregel mag hart erscheinen, Herren Väter werden [105] Spektakel schlagen, aber – Biegen, oder Brechen! ... Uebrigens Schon im Begriff zu gehen. Patzkowski war also auch der findige Beamte, der die Mehlkiste rausgekriegt hat?

HOPPE.

Zu dienen, Herr Landrat. Es ist fast unerklärlich, wie uns dieser Dachsbau so lange hat entgehn können.

LANDRAT.

Schlaue Bengels! Alles was recht is ... Also fuffzehn Mann und sechs davon Niemeyer. Das ganze Internat! Nu ... kann er ja drauf stolz sein. Aber an Patzkowski erinnern Sie mich. Möchte ihn zur Beförderung vorschlagen.

HOPPE.
Zu Befehl, Herr Landrat. Fräulein Link ist übrigens draußen. Wenn der Herr Landrat vielleicht ...
LANDRAT.
Neenee! Um Gottes Willen! Danke für Obst und Südfrüchte. Details Ihre Sache. Mahlzeit! Ab.
HOPPE
der dem Landrat die Tür ausgemacht hat.

Tamaschke! Aus dem Vorzimmer tiefe ehemalige Sergeantenstimme: »Herr Inschpekter!« Die Zeugin soll reinkommen! Die Stimme: »Nu jehn Se man rin!«.

LYDIA
hinter ihr Tamaschke mit Protokollbogen.

Ich begreife garnicht, Herr Inspektor, warum ich schon wieder belästigt werde. Diese Art der Behandlung! Ich habe [106] Ihnen meine Aussage doch schon heute Nachmittag gemacht!

HOPPE.

Weshalb ich Sie nochmal vernehme, ist meine Sache. Der Grund wird Ihnen bald klar sein. Setzen Sie sich!

LYDIA.

Sie könnten mir auch in etwas höflicherer Form Ihren abgescheuerten Stuhl anbieten. Ich werde mich natürlich nicht setzen!

HOPPE.
Sammtpolster gibts hier nich!
LYDIA.
Bitte, setzen Sie Ihre Impertinenzen nur fort.
HOPPE
hinter seinem Tisch aufgestanden; brüllend.
Sie befinden sich hier auf dem Polizeibüreau!
LYDIA.
Das höre ich an Ihrer Grobheit.
HOPPE.
Tamaschke! Warum schreiben Sie nich?
TAMASCHKE.
Ick schreibe ja.
HOPPE.
Also so schreiben Sie! In der Untersuchungssache gegen Schladebach etc. pp ... Haben Se pp.?
[107]
TAMASCHKE.
Zu Befehl, Herr Inschpekter!
HOPPE.

... Wegen unerlaubter Verabreichung geistiger Getränke an Schüler des Königlichen Gymnasiums, Paragraph ... na, Se wissen ja schon.

TAMASCHKE.
Ick weeß schon.
HOPPE.
... und wegen – Kuppelei!
LYDIA.

Schreiben Sie nur hin, Herr Tamaschke. Schreiben Sies ruhig hin! Ich weiß schon, an wen ich mich wende. Nur schieben Sie dann, bitte, nicht mir die Schuld zu, wenn Ihnen das Ihre Stellung kostet!

HOPPE.
...erschien, wieder vorgeladen ...
LYDIA.

Sie Wollen also Beide Ihr Amt los werden! Schön. Aber wenn Sie glauben, daß ich mir dann wieder abbitten ließe, dann irren Sie! Dann irren Sie!

HOPPE.

...die bereits vorvernommene Zeugin Lydia Link, Schauspielerin, protestantisch, etc. Wie schon ein Mal! Mit dein Uebrigen warten Se. Zu Lydia. Sie bewohnen beim Bäcker Schladebach zwei Zimmer.

[108]
LYDIA.

Drei, bitte, drei! Außerdem ist Herr Schladebach Konditor. Herr Tamaschke! Ich bitte das zu Protokoll zu nehmen! Im übrigen sage ich Ihnen gleich, Herr Hoppe: Sie können mich noch siebzig Mal in diese gräßliche Scheune hier schleppen lassen, Sie werden absolut nichts mehr aus mir herauskriegen. Ich weiß nichts mehr!

HOPPE
auf den Tisch schlagend.

Sie werden zunächst mal Ihre törichten Redensarten lassen! Weder ist das hier eine Schelme, noch lasse ich Sie hierher schleppen! Ich frage Sie anständig und Sie haben mir anständig zu antworten!

LYDIA.
Das tu ich ja!
HOPPE.

Sie bleiben also bei Ihrer ersten Aussage? Herr von Zedlitz hat sich unter Ihrer Haustür von Ihnen verabschiedet?

LYDIA.

Ich bitte Sie! Wo soll sich Herr von Zedlitz sonst von mir verabschiedet haben? Ich bin doch keine Person?

HOPPE.

Ich kann Sie zu einer anderen Aussage allerdings nicht zwingen. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß eventuell schon der Herr Untersuchungsrichter [109] den ... Eid von Ihnen verlangen kann. Er wird ihn sogar verlangen! Und der ... Meineid wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft! Vielleicht überlegen Sie sich die Geschichte noch?

LYDIA.
Kann ich jetzt gehn?
SCHUTZMANN
in der Tür, meldend.
Der Kollege Patzkowski bringt die Gymnasiasten.
HOPPE.
Ist der junge von Zedlitz dabei?
SCHUTZMANN.
Zu Befehl, Herr Inspektor.
HOPPE
zu Lydia.
Sie werden jetzt sofort wissen, wozu Sie hier sind! Zum Schutzmann. Lassen Sie ihn eintreten.
LYDIA.
Ich muß aber dringend ins Theater! Ich habe im letzten Akt eine größere Rolle.
HOPPE
nach der Uhr sehend.
Sie haben noch Zeit.
LYDIA.

Aber lieber Herr Inspektor! Herr von Zedlitz ist doch so ein junger Mann! Das ist mir im höchsten Grade peinlich.

[110]
HOPPE.
Das hätten Sie sich früher überlegen sollen.
LYDIA
wieder ihren Kopf aufsetzend.

Soso! Sie hoffen, Herr von Zedlitz wird sich mit mir in Widerspruch setzen? Das wollen wir doch mal ab warten!

ZEDLITZ
eintretend, beim Anblick Lydias stutzt er, ruckt sich aber sofort wieder zusammen.
Grüßt sie stumm und kurz.
HOPPE.

Herr von Zedlitz, der Schutzmann Patzkowski hat Sie gestern Nacht in Begleitung von Fräulein Link gegen halb Zwei das Schladebachsche Haus betreten und dasselbe kurz nach Fünf wieder verlassen sehn.

ZEDLITZ
mit Gewalt seine Haltung bewahrend.
HOPPE.

Fräulein Link behauptet, Sie hätten sich sofort unter der Tür von ihr verabschiedet. Welche von den beiden Aussagen können Sie der Wahrheit gemäß bestätigen?

LYDIA
zu Zedlitz, der von der Wucht dieser Frage fast wie betäubt steht.

Und da zögern Sie noch? Nachdem Sie nur vor dem Herrn Direktor bereits alles bezeugt haben? Daß wir nichts mit einander gehabt haben? Gar nichts? Absolut nichts? Daß dieser ..... Herr Patzkowski ein Lügner ist?

[111]
HOPPE
zu Lydia.
Sind Sie fertig?
LYDIA
noch immer zu Zedlitz.

Heute früh untergräbt Herr von Kannewurf öffentlich meine Mädchenehre, Herr Hoppe macht kaum ein Geheimnis, für was er mich hält, und nun ... lassen Sie mich auch noch im Stich? ... Haben Sie alles verges sen?

ZEDLITZ
der die unerwartete Eröffnung, die Hoppe ihm gemacht hat, noch immer nicht verwunden hat.
Verzeihung, Herr Inspektor ... Darf ich mir ... des Herrn Direktors wegen ... eine Frage gestatten?
HOPPE.
Bitte sehr.
ZEDLITZ.
Muß ich etwas aussagen?
HOPPE.

Sie haben das Recht, über Tatsachen, deren Kundgabe Ihnen ... zur Unehre gereichen könnte, Ihre Aussage zu verweigern.

ZEDLITZ
nach einigem Zögern.
Dann ... verweigere ich die Aussage.
LYDIA.
Pfui!
HOPPE.

Herr von Zedlitz, ich muß Sie darauf aufmerksam [112] machen, daß man in Ihrer Verweigerung eine in direkte Bestätigung der Erinnerungen des Schutzmanns Patzkowski erblicken könnte. Bleiben Sie bei Ihrer Verweigerung?

ZEDLITZ
schwer.
Ich ... muß dabei bleiben.
LYDIA
»kocht«.
HOPPE.

Tamaschke! Schreiben Sie! Die Zeugin beharrt bei ihrer Protokollerklärung. Der ebenfalls erschienene Zeuge Kurt von Zedlitz, Oberprimaner des hiesigen Königlichen Gymnasiums, verweigert die Aussage. Aus dem Vorzimmer Stimmengewirr. Schaffen Sie Ruhe draußen! Tamaschke ab; zu Zedlitz. Unterschreiben Sie.

ZEDLITZ
der eben unterschrieben hat und jetzt durch die einen Augenblick offene Tür deutlich die Stimme des Direktors hört: »Da ist mir alles gleich.
Ueber meine Schüler habe ich allein zu befinden! zu Hoppe angstvoll. Der Herr Direktor?
HOPPE.
Scheint so.
LYDIA.
Das ist ja das reine Komplott! Ich unterschreibe nichts!
PATZKOWSKI
in der Tür.
[113]
HOPPE.
Patzkowski?
PATZKOWSKI.
Der Herr Direktor verlangt durchaus, daß wir die Schüler sofort nach Hause entlassen.
HOPPE.
Sind sie alle protokolliert?
PATZKOWSKI.
Zu Befehl, Herr Inspektor.
HOPPE.
Is zum Herrn Landrat nachm Kasino geschickt?
PATZKOWSKI.
Zu Befehl!
HOPPE
achselzuckend.

Ja ... wenn der Herr Direktor durch aus darauf besteht, können wir nischt machen Gesetzlichen Grund, sie zurück zu halten, giebt nicht. Lassen Sie se laufen.

PATZKOWSKI.
Zu Befehl!
HOPPE.
Und wenn der Herr Landrat kommt – melden Se ihm das sofort.
PATZKOWSKI.
Zu Befehl, Herr Inspektor! Ab.
[114]
ZEDLITZ.
Darf ich nun gehn?
HOPPE.
Ich habe nichts dagegen.
ZEDLITZ
zögernd an der Tür, hinter der er den Direkter weiß.
LYDIA.
Und ich?
HOPPE.
Sie warten, bis alle Schüler weg sind.
LYDIA.
Soll ich nicht vielleicht gleich über Nacht bleiben?
HOPPE.

Ich habe jetzt Geduld genug mit Ihnen gehabt! Wenn Sie nicht den Mund halten, lasse ich Sie einstecken!

NIEMEYER
Pelz, Cylinder; in großer Erregung durch die Tür.

Wie können Sie nur so etwas antun, Herr Inspektor! Meine Schüler gehören nicht auf die Polizei! Sie greifen mir in meine Rechte ein!

HOPPE.
Bedaure, Befehl des Herrn Landrat.
NIEMEYER
der jetzt erst Zedlitz sieht.

Zedlitz! ... Sie? ... Auch Sie? ... Sich an die Stirn fassend. Bin ich ... Auf [115] ihn zu, ihn an die Schultern packend. Mensch!! Ihn schüttelnd. Is das Ihr Zimmerar rest? So quittieren Sies mir, daß ich Sie wie einen anständigen Menschen behandelt habe? ... Zu Lydia. Und Sie? Was tun Sie hier?

LYDIA.

Herr Direktor! Mißhandeln Sie mich nicht auch noch! Zu Hoppe. Warum dulden Sie das, Herr Hoppe? Ich muß fort!

NIEMEYER.

Sie bleiben! Ich muß Klarheit haben! Ich werde von allen Seiten hintergangen! Was haben Sie mit Zedlitz? Zu Hoppe. Herr Inspektor, warum befindet sich die Dame auf Ihrem Büreau?

HOPPE.
Als Zeugin in der Untersuchungssache gegen den Bäcker Schladebach wegen Kuppelei.
NIEMEYER.
Wegen ... Kuppelei?
LYDIA
zu Hoppe.

Dafür werden Sie sich zu verantworten haben! Empörend! Ich werde mich beim Herrn Justizminister beschweren! Der wird Ihnen zeigen, was es heißt, eine Dame beleidigen!

NIEMEYER.
Und ... mein Schüler?
HOPPE.

Der Schutzmann Patzkowski hat auf seinen Diensteid [116] genommen, daß Herr von Zedlitz gestern Nacht ... bei diesem Fräulein war.

LYDIA.

Das ist nicht wahr! Das ist eine ganz infame Lüge! Glauben Sie ihm nicht, Herr Direktor! Ich weiß nicht, was Herr Hoppe gegen nu hat! Herr Hoppe ist immer so! Ich habe ihm nie etwas getan!

NIEMEYER
um den sich noch alles »dreht«, zu Zedlitz.
Sie haben mich also ... belogen. Pause. Herr Polizeiinspektor ...
HOPPE.
Herr Direktor?
NIEMEYER.
Ist die Anwesenheit dieser ... Dame noch nötig?
HOPPE.
Nein.
NIEMEYER.
Dann befreien Sie mich, bitte, von ihrer Gegenwart.
HOPPE
zu Lydia.
Gehn Sie.
LYDIA
während sie hinausrauscht, zu Zedlitz, halblaut.
Gentlemen.
NIEMEYER
zu Hoppe.
Darf ich jetzt hier eine Depesche niederschreiben?
[117]
HOPPE
ihm seinen Platz einräumend.
Bitte sehr, Herr Direktor. Ich kann sie Ihnen ja gleich besorgen lassen.
NIEMEYER.
Danke. Wirft das Telegramm aufs Papier; es ihm überreichend. Wenn Sie also die Güte hätten.
HOPPE
die Adresse lesend.
Freiherr von Zedlitz ... Verzeihen, Herr Direktor, es fehlt wohl der Bestimmungsort.
NIEMEYER
das Vergessene nachtragend.
Mein Gott, ja ... Falkenau.
HOPPE
das Telegramm in Empfang nehmend.
Wird sofort erledigt werden.
NIEMEYER.

Danke sehr. Hoppe ab. Pause. Sie werden noch heute mein Haus verlassen! Nicht eine einzige Nacht mehr will ich Sie unter meinem Dache wissen! Wie ich Ihren Herrn Vater kenne, wird er bereit den nächsten Zug benutzen und Punkt Elf hier sein. Halten Sie also Ihre Sachen bereit! ... Sie sind der sittlich verkommenste junge Mensch, der mich je meinen schweren Beruf noch schwerer empfinden ließ. Wenn Sie ahnen könnten, was dieser Augenblick eben in mir zertrümmert hat!

ZEDLITZ.
Lieber Herr Direktor ...
[118]
NIEMEYER.
Sie wollen mich von Neuem belügen! Lügen Sie!
ZEDLITZ.
Ich will jetzt die Wahrheit sprechen.
NIEMEYER.
Sie und die Wahrheit!
ZEDLITZ.
Ich habe verdient, daß Sie so zu mir sind.
NIEMEYER.

Sie sollten Schauspieler werden! Die notwendigste erste Verbindung mit der Bühne hätten Sie ja bereits!

ZEDLITZ.
Ich habe gefehlt, Herr Direktor. Ich bereue es!
NIEMEYER
bitter.
Bereue es! Heftig. Was Sie angerichtet haben, schaffen Sie damit nicht aus der Welt!
ZEDLITZ.

Ich weiß selbst nicht, wie ich mich so erniedrigen konnte .... Aber als ich mir heute früh darüber klar wurde, was mein Leichtsinn für Sie im Gefolge haben könnte, wenn mein schweres ergehen bekannt wurde, glaubte ich, ich ... dürfte Ihnen garnicht die Wahrheit sagen.

NIEMEYER.

Ausgezeichnet! Also nun hätte ich Ihnen noch obendrein dankbar zu sein! Kaum noch an sich haltend. [119] Wissen Sie auch, daß Sie mit Ihrer Frechheit jetzt bald das Maß zum Ueberlaufen bringen?

ZEDLITZ.

...Ich kam dann noch mal und wollte Ihnen die Wahrheit sagen aber als Sie mich dann mit Ihrer ..... Güte so unverdient überschütteten, da habe ich ganz einfach nicht mehr den Mut gehabt ...

NIEMEYER.

Den Mut! Auflachend. Aber meine bodenlose Vertrauenseligkeit, Ihnen Zimmerarrest bei unverschlossner Tür zu geben, so zu belohnen ... den Mut, mich mit der gleichen, niederträchtigen Hinterhältigkeit a tempo noch einmal zu betrügen ... den Mut, den traurigen Mut, den hatten Sie!!

ZEDLITZ
vergeblich nach Worten ringend.
NIEMEYER
maßlos.
Unterbrechen Sie mich nicht! Ich habe genug von Ihnen! Ich kenne mich nicht mehr! Kleine Pause
ZEDLITZ.
Ich ... hatte ja die beste Absicht. Ich wollte meine Mitschüler ...
NIEMEYER.

Aah! ... Sehr fein ausgedacht! Sie verlieren die Fassung nicht. Soll ich Ihnen das Märchen, das Sie mir jetzt vorgaukeln wollen, nicht doch lieber gleich selbst erzählen? ... Sie sind mit beflügelter Tunika in das unterirdische Symposion enteilt, um [120] Ihrem alten Lehrer den Kummer zu ersparen, in die geheiligten Mysterien der »Mehlkiste« durch die Polizei eingeweiht zu werden! Sie verfolgte Unschuld! ... Sagen Sie mal, warum haben Sie eigentlich nicht zur Zeit der Kreuzzüge gelebt? Was hätten Sie für eine Figur abgegeben! Mit verbissener Wut. Sie hätten um Fatima, die Liebliche, das heilige Grab an Saladdin verramscht, beim nächsten Frühstück hätten Sie sich diesen Unbequemen vom Halse geschafft mit Rattengift, zuletzt wären Sie Kalif von Rom geworden! Sie ... Edelmann, Sie! Zedlitz zusammengezuckt. So müssen Sie sich nun mit mir altem, abgetakelten Schartekenpauker rumschlagen! Na, Ihr Käfig wird ja bald geöffnet werden. Ihr prosaischer Herr Vater hat auch keinen Sinn für Romantik, in Transvaal ist nichts mehr los, werden Sie eben, wie schon so viele Ihrer Herrn Sportskollege.., werden Se Kellner in Amerika! ... Losbrechend. Warum reden Sie nicht? Warum lassen Sie sich von mir beschimpfen? Haben Sie nicht mal so viel Ehrgefühl mehr, um sich zur Wehre zu setzen, wenn man Sie mit Peitschenhieben traktiert?

ZEDLITZ.
Gegen Sie ... Herr Direktor ... wehre ich mich nicht.
NIEMEYER.

Na-türlich! Solche Helden wie Sie, haben so viel Feingefühl, sich nur mit Leuten zu befassen, die zurechnungsfähig sind! Im Moment tanzen Ihnen [121] Wohl zu viel rote Blutskörperchen in mir? ..... Und wenn ich hundert mal ruhiger geworden sein werde – an einen Menschen wie Sie, werfe ich meine Zeit nicht mehr weg! Gehn Sie sofort nach Hause! Ihr Zeugnis werde ich Ihnen auf Ihr Zimmer schicken! Ich wünsche nicht, daß Sie mir nochmal unter die Augen kommen! Ich will Sie nicht mehr sehn! ... Warum zögern Sie noch? Haben Sie mich nicht verstanden?

ZEDLITZ.
Ich bitte Sie, Herr Direktor ... mir zu verzeihen!
NIEMEYER.
Ich bin mit Ihnen fertig!
ZEDLITZ.
Es ist meine letzte Bitte, Herr Direktor ...
NIEMEYER.

Sie haben jedes Bitten bei mir verwirkt! Danken Sie Gott, daß ich Ihnen rechts und links nicht noch einen Polizisten mitgebe! Sie sind ein Verbrechern

HOPPE
durch die Tür.
Verzeihn Herr Direktor, der Herr Landrat wünscht Sie zu sprechen.
NIEMEYER.

Mich? Der Herr Landrat? Ich wüßte nicht, was ich mit dem Herrn noch zu verhandeln hätte! Am wenigsten auf diesem Boden hier! Wollen Sie ihm das mitteilen.

[122]
HOPPE.

Offen gestanden, Herr Direktor, Ihr Auftrag ... Würden Sie nicht vielleicht Herrn Landrat gütigst selbst ...

NIEMEYER.

Wenn der Herr Landrat Wünscht, werde ich ihm das auch ins Gesicht sagen! Hoppe ab, durch die offene Tür der Landrat.

LANDRAT
im Pelz; fragender Blick auf Zedlitz.
NIEMEYER
zu Zedlitz.
Nun? Warum sind Sie noch hier?
LANDRAT.
Herr Direktor ...?
NIEMEYER
zu Zedlitz.
Ich begreife Sie nicht!
ZEDLITZ.
Ich ... bitte Sie noch mal!
NIEMEYER.
Also dann muß ich raus!
ZEDLITZ.
Verzeihn Sie. Ab.
NIEMEYER.

Sie haben Schüler meines Gymnasiums wie ein Horde Vagabunden auf die Polizeiwache schleppen lassen! Das setzt allerdings Ihrer ganzen Willkür [123] gegen mich die Krone auf! Ich dächte, wir hätten das Tischtuch zwischen uns schon heute morgen zerschnitten! Was wünschen Sie noch?

LANDRAT.

Ihren Schmerz möglichst kurz zu machen, Herr Direktor! Offen und ehrlich ... kommen Sie um Ihre Pensionierung ein.

NIEMEYER.
Sind Sie bei Sinnen?
LANDRAT.

Auf Ihre Beleidigung reagiere ich nicht. Sie sitzen zu sehr in der Klemme. Ich wäre vielleicht noch gröber. Also ... machen Sies.

NIEMEYER.
Und wenn Sie noch zehn mal so viel Trümpfe in der Hand hielten – den Gefallen tue ich Ihnen nicht!
LANDRAT
der die Tür aufgemacht hat.
Patzkowski!
PATZKOWSKI
draußen.
Zu Befehl!
LANDRAT.
Stellen Sie, bitte, sofort fest, ob der junge Herr von Zedlitz nach Hause gegangen ist.
PATZKOWSKI
draußen.
Zu Befehl, Herr Landrat!
[124]
NIEMEYER.
Zedlitz steht zur Zeit noch unter meiner Autorität, Herr Landrat!
LANDRAT.

Bestreit ich nicht. Aber der Vater is n alter Freund von mir. Und da möcht ich mich doch grade jetzt n bischen um den jungen Mann kümmern. Sah mir etwas ... sehr merkwürdig aus.

NIEMEYER.

Ich hätte meine Hand für ihn ins Feuer gelegt! Ich hätte tausend Eide geschworen! Ich habe an ihn mehr als an mich selbst geglaubt! Er hat mich belogen und betrogen! Vertrauen ist Wahnwitz! Güte ist Dummheit! Milde ist Verbrechen!

LANDRAT.

Sie kennen nur Schwarz oder Weiß. Heute früh war er noch ein Lämmchen, jetzt is er n zweibeiniges Krokodil, das alte Oberlehrer frißt.

NIEMEYER.
Herr Landrat!
LANDRAT.

Wenn ich mich recht entsinne ... ich denke, Sie wollten doch lieber auf Amt und Würden verzichten, als je den Glauben an Ihre Jungens verlieren. Haben Sie den immer noch?

NIEMEYER.
Ja! Und ich werde ihn verteidigen bis aufs Letzte!
[125]
LANDRAT.
Trotz des lieblichen Ergebnisses Ihrer strengen Untersuchung?
NIEMEYER.

Trotzdem! Ich kann wegen dieses einen traurigen Ausnahmefalls nicht meine ganze Anschauung auf den Kopf stellen.

LANDRAT.

Löblich, löblich. Na, und diese ... Horde Vagabunden, wie Sie vorhin beliebten? Die hat Ihrem rührenden Glauben also auch keinen Knax gegeben?

NIEMEYER.

Nein! Zu Vagabunden haben erst Sie diese jungem unverständigen Leute gemacht! Wenigstens in den Augen eines belustigten Pöbels, durch den meine Schüler wie Zuchthäusler transportiert wurden!

LANDRAT.
Ach, das s ja reizend! Also nu bin ich der Sünder! Ich!
NIEMEYER.

Ja! Hätten Sie mir, wie dies unbedingt Ihre Pflicht gewesen wäre, zu rechter Zeit von dem, was Sie wußten, Kenntnis gegeben – Sie hätten den Triumpf Ihrer heutigen Brutalität nicht genossen!

LANDRAT.

Nu reißt mir aber die Geduld! Ich habe Ihnen in früheren Fällen Kenntnis gegeben! Ich habs! [126] Wo's sich um ganz ähnliche Mimiken handelte! Wo Ihnen die Jungens genau so auf der Nase rumgetanzt hatten, wie heute! Was hats genützt? Nicht den kleinsten Fingernagel! Angeschnauzt haben Se mich! Angeschnauzt! Wurden Zwei hinterm Fliederbusch abgefaßt, dann hatte der Jüngling der Maid Geibelsche Gedichte vordeklamiert! Ihnen sohlten die Lümmels vor, sie wollten sich für ihren Körnerbund Scherrs »Blücher und seine Zeit« kaufen und was haben Sie sich erstanden? Mantegazza »Physiologie der Liebe«, Pierre Louys »Aphrodite« und ähnliche Klassiker! Haben Sie mal beim Buchhändler Bodenhammer nachgefragt? Erst ich mußte Ihnen das Verzeichnis dieser hervorragend vaterländischen Bibliothek schicken!

NIEMEYER.
Diese unsittlichen Bücher sind vernichtet worden!
LANDRAT.

Jawohl! Nachdem sich an ihrer Lektüre auch noch die ganze höhere Töchterschule beteiligt hatte! Und wenn Sie in dem seligen Wahn lebten, Ihre begeisterte Schillerschaar berauschte sich vom hohen Olymp herab an Maria Stuart oder am Herrn von Wallenstein, wo schwelgte sie? Im Edengarten, bei Miß Pollini! Hoch das Bein!

NIEMEYER.

Das ist nicht wahr! Ich habe die Billets, die immer nur besondere Vergünstigungen waren, stets selbst besorgt.

[127]
LANDRAT.

Gewiß. Und die fidele Firma Klausing, Pöhlmann & Cie. verkloppte sie dann mit 50% Unterbilanz an die dadurch hoch beschmeichelten Herren Tertianer!

NIEMEYER.
Ich hatte dem Wirt vom Edengarten aufs strengste verboten, Schüler von mir in sein Lokal zu lassen.
LANDRAT.
Nun, Sie erfahren ja jetzt, wie dieser Biedermann Ihr Verbot befolgt hat.
NIEMEYER.
Also abermals ein Disziplinarvergehen, das Sie mir verschwiegen haben.
LANDRAT.

Zum Teufel nochmal, ich hatte es satt, daß Sie Ihre Schwefelbande immer wieder in Schutz nahmen! Ich habe mir darauf notgedrungen mein eignes Privatcontobuch angelegt! Und jetzt ist die letzte Seite voll! Mag ja sein, daß ich in der Form manchmal bischen Juchtenleder war. Großer Rhetoriker bin ich nich. Aber kein schlechter erwaltungsbeamter! Das lassen Sie sich gesagt sein. Bei Ihnen is umgekehrt! Und wenn ich Ihnen jetzt weiß Gott als guter Freund den vernünftigen Rat gebe, nu is de höchste Zeit, nu gehn Se, sonst werden Se gegangen, dann halten Se mich fürn Wehrwolf, der Sie auffressen will. Dann schmeissen Se mir niedrige Denkart an den Kopp und sonstige antike Lorbeerkränze, [128] Wie heute früh im Kasino! Henkersdienste leisten, is kein Vergnügen. Auch fürn preußischen Landrat nicht. Gefühle haben wir auch! Aber wo's sein muß, wie jetzt, nach dieser Zedlitz- und Mehlkistengeschichte – los! Da kennen wir keine Rücksichten mehr! erlassen Se uns also nich freiwillig ...

NIEMEYER.
Sie scheinen seit heute früh nicht mehr aus dem Kasino gekommen zu sein.
LANDRAT.

Verlangen Sie doch nich, daß ich in solchem Augenblick wie ne Amsel flöte! Im Uebrigen, Wenn Sie's erleichtert – packen Sie auf mich, was Sie Lust haben.

NIEMEYER.
Sie verrechnen sich! Sie verrechnen sich gewaltig! Dieser Tag wird Ihnen das Genick brechen!
LANDRAT.
Ah so! Herr Rechtsanwalt Falk. Er hat also seine Weisheit schon bei Ihnen abgeladen?
NIEMEYER.

Ich hätte dieser »Weisheit« nach Dem, Was Sie mir über Ihre Taktik bereits offenbart hatten, nicht erst bedurft. Trotzdem War Herrn Falks Angebot mir natürlich von Wert und ich habe es daher acceptiert mit Vergnügen!

[129]
LANDRAT.

Also Ihre alte Methode. Sie drehn den Spieß um und hoffen nun, er wird ... mir durch den Leib gehn! Darauf hätte ich allerdings gefaßt sein können.

NIEMEYER.
Ihr System gegen mich war eine Perfidie!
LANDRAT.
Herr!
NIEMEYER.

Eine Perfidie! Sie hätten mein Verbündeter sein sollen und erniedrigten sich zu meinem Spion. Staatsangestellte haben sich gegenseitig zu unterstützen und sich nicht in den Rücken zu fallen. Es giebt eine allgemeine Kameradschaft, die im Gesetz nicht kodifiziert ist, auch unter Beamten. Ich mag blind gewesen sein. Sie waren unehrlich!

LANDRAT.

Ich habe Sie ausreden lassen. Unsre Hirne sind zu wenig congruent, als daß eine Diskussion über Metaphysik und Verwandtes zwischen uns Sinn hätte. Jedenfalls das Resultat – Sie gehn nicht.

NIEMEYER.
Nein.
LANDRAT.

Also bon! Kampf bis aufs Messer! Wenn Sie glauben, daß Sie dabei sanfter fahren ... ich [130] werde mich meiner Haut schon zu wehren wissen. Den Begriff Ihrer Kameradschaft, um Sie wenigstens darüber zu beruhigen, kenne ich auch. Aber nit diesem Milchbrei Waren Sie nicht zu ku rieren. Es mußte Schwefelsäure sein! Und wenn ich jetzt mit Ihnen va banque spiele – in Dreiteufels Namen va banque!

NIEMEYER
der wieder ruhiger geworden ist.
Den Rest überlassen wir jetzt wohl dem Ministerium. Sie werden Ihr Spiel verlieren.
LANDRAT.
Abwarten! Tut mir leid, daß ich mich umsonst bemüht habe.
NIEMEYER.
Bedaure gleichfalls.
PATZKOWSKI
in Helm und Mantel durch die Tür.
Zur Stelle!
LANDRAT.
Nun?
PATZKOWSKI.

Herr von Zedlitz hat sich von hier nach Hause begeben. Dann war er ganz kurz auf seinem Zimmer und ist gleich wieder weggegangen.

LANDRAT.
Wissen Sie wohin?
[131]
PATZKOWSKI.
Nein, Herr Landrat. Als ich hinkam, war er schon fort.
LANDRAT
zu Niemeyer.
Haben Sie irgend eine Vermutung, Herr Direktor?
NIEMEYER.

Nicht die geringste. Ich verstehe das garnicht ... Er hatte die strengste Weisung, das Haus nicht mehr zu verlassen.

PATZKOWSKI.
Herr Schimke hat sich gewundert, daß der junge Herr ohne Mantel fortging.
LANDRAT.
Als Sie vorhin die Sistierung vornahmen, ist Ihnen da an dem jungen Herrn nichts aufgefallen?
PATZKOWSKI.

Nein, Herr Landrat. Er war der ruhigste von allen. Er behauptete sogar, er gehörte nicht mehr zum Verein. Er sei ausgetreten.

LANDRAT.
Ausgetreten?
NIEMEYER
hastig.
Hat er Ihnen einen Grund angegeben?
LANDRAT.
Nun?
[132]
PATZKOWSKI.

Jawohl, Herr Landrat! Er wär blos noch mal hingekommen, um seinen Kameraden ins Gewissen zu reden. Aber se haben ihn ausgelacht.

LANDRAT.
Hat er Ihnen das blos selbst erzählt?
PATZKOWSKI.
Nein, Herr Landrat. Auch die andern haben das deponiert.
NIEMEYER
zum Landrat, schwer.
Ich fürchte ... ich habe dem ... armen Jungen ... das schwerste Unrecht getan.
LANDRAT.
Er wird doch keine Dummheit machen?
NIEMEYER
der erst jetzt voll die Situation erfaßt; verstört.
Sie ... glauben doch nicht etwa ...? Um Gottes Willen!
LANDRAT.
Patzkowski, wie viel Leute sind bei Ihnen frei?
PATZKOWSKI.
Außer mir noch Zwei. Schmiedel und Krebs.
LANDRAT
Tür auf.

Schmiedel! Krebs! Die Gerufenen in Helm und Mantel durch die Tür. Patzkowski! Sie nehmen den Hirschgrund, Schmiedel den alten Wall und Krebs die Obermühle.

[133]
PATZKOWSKI.
Zu Befehl!
NIEMEYER
stammelnd.
Bester Herr Landrat ...
LANDRAT
achselzuckend.
Wir müssen ihn suchen gehn.

Vorhang.

5. Akt

[134] Fünfter Akt

[135] [137]Studierzimmer Niemeyers
auf dem Tisch brennt die Lampe.

NIEMEYER
Lodenmantel, Schlapphut; erschöpft durch die Tür im Hintergrund.
Nichts! Nach dem Vordergrund zu sich setzend. Nirgends! Nach seiner Uhr sehend. Dreiviertel elf!
OLGA
durch die Tür.
Ich habe Sie garnicht kommen hören. Herr Direktor gehn doch jetzt nich noch mal fort?
NIEMEYER.
Ich muß mich erst ... einen Augenblick ausruhen.
OLGA
dem sich schwer Erhebenden den Mantel abnehmend.
Der junge Herr wird schon kommen.
NIEMEYER.
Gott gebs! ... Meine Frau noch nicht da?
OLGA.
Die gnädige Frau ist eben aus dem Theater.
NIEMEYER
bitter.
Aus dem Theater! ... Und mein Sohn?
OLGA.
Herr Fritz ist schon seit Nachmittag fort.
[137]
NIEMEYER.
Hat Kurt denn zu gar keinem mehr was gesagt?
OLGA.
Nein.
NIEMEYER.
Zu Niemand?
OLGA.
Nein, Herr Direktor. Kein Wort.
NIEMEYER.
Und seine Kameraden? Haben die Ihnen nicht wenigstens irgend eine Andeutung gemacht?
OLGA.

Nein. Die wußten auch nichts. Die haben blos immer gefragt, ob er schon da war, und dann sind sie gleich wieder weggelaufen.

NIEMEYER.
Wenns doch was nützen würde?
JADWIGA
im Theatermantel in der Tür, leise ungeduldig.

Ist denn noch immer alles in dieser Aufregung? Zu Olga, die ihr den Mantel abnimmt. Tragen Sie die Sachen raus. Olga mit den Sachen Beider ab; Jadwiga, mit gemachter Besorgnis. Die Jungens sind auch noch nicht zu Bett. Soll denn das die ganze Nacht so gehn?

NIEMEYER
den ihr Eintritt kaum berührt hat.

Hätt ich ihm doch geglaubt! Hätte ich ihn doch nicht so von mir gestoßen! [138] Das erste Mal, daß ich hart war! Und so bitter soll ich gestraft werden!

JADWIGA.

Mein Gott, Du tust wirklich, als hätte sich der Junge schon den Hals abgeschnitten! Dies ewige Kokettieren mit solchen Gräßlichkeiten! Das solltest Du doch bei Deinen Herren Primanern nachgerade schon gewohnt sein!

NIEMEYER
schmerzlich.
Ja, wenns nicht Zedlitz wäre!
JADWIGA.

Ach, Du machst viel zu viel aus ihm. Is ja n netter Mensch, von besten Manieren, ich hab ihn gewiß ganz gern: aber so haben wir schon viele gehabt!

NIEMEYER.

Nein. So haben wir noch keinen gehabt! Du kannst darüber wirklich nicht so urteilen. Ich werd es mir nie verzeihen, daß ich ihn so wenig verstanden habe!

JADWIGA.
Ja, wenn ich das nicht beurteilen kann ...Nervös. ich geh also schlafen.
NIEMEYER
mühsam.

Das weiß ich: kommt der Junge nicht zurück, ist das Schrecklichste wirklich geschehnSicher steigernd. das ertrage ich nicht! Nein, nein! Das [139] kann ich nicht!Fast flüsternd. Dann ist es aus mit mir! Dann bin ich fertig!

JADWIGA
vollständig verständnislos.
Ich verstehe Dich nicht.
NIEMEYER
wieder wie zu sich selbst.
Mit einer solchen Schuld auf dem Gewissen ...
JADWIGA
fragendes Stutzen.
NIEMEYER.
Ich könnte niemand mehr unter die Augen treten.
JADWIGA.
Was soll das heißen? Willst Du damit sagen, Du würdest Deine Entlassung einreichen?
NIEMEYER.
Ja!
JADWIGA
von hier ab immer hysterischer.

Eines solchen verzogenen Muttersöhnchens wegen? Wegen einer solchen Exaltiertheit? ... Und was soll ans uns werden? Aus Deiner Familie? Aus Deinem Sohn? Und aus mir?

NIEMEYER.
Wir würden unser Schicksal eben tragen müssen.
JADWIGA.

Wir? Du bist wirklich köstlich! Was können wir [140] denn dafür? Du wirst doch nicht verlangen, daß wir das Opfer Deiner Sentimentalität werden?

NIEMEYER
aufgestanden; erstaunt.
Wie sprichst Du zu mir?
JADWIGA.

Genau, wie Du es in diesem Augenblick verdienst. Du kannst noch zwanzig Jahre lang Direktor sein. Und Du wirst es sein. Dafür werde ich sorgen, wenn Du's nicht tust. Ich lasse mich nicht ins Unglück stürzen!

NIEMEYER.
Ich glaube ... wir verstehn uns wirklich nicht mehr.
JADWIGA.

Ich bin mit Dir gegangen, als man Dich gemaßregelt hat! Kein Wort habe ich gesagt! Aber ich wehre mich, jawohl ich wehre mich, wenn Du mich jetzt auch noch zur Bettlerin machst.

NIEMEYER.
Zur ... Bettlerin?
JADWIGA.

Du scheinst Dir so eine Pensionierung furchtbar einfach vorzustellen. Du bekommst die Hälfte von dem, was wir bisher hatten, Vermögen außer unsern Schulden Niemeyer stutzt. hast Du nicht, unsre Pensionäre fallen auch weg, Dein Sohn steckt seine Carriere auf, ich fang n kleinen Blumenhandel an und Du suchst durch Kaisergeburtstagsprologe die [141] allgemeine Finanzlage zu verbessern! Kann gemütlich werden.

NIEMEYER.
Wo haben wir Schulden? Bei wem haben wir Schulden?
JADWIGA.

Wo! Bei wem! Du bist wirklich naiv! Glaubst Du, die Verminderung Deines Einkommens wäre so spurlos an uns vorüber gegangen? In welcher Welt lebst Du eigentlich? Und dann wunderst Du Dich, wenn Du nachher nicht blos Dich, sondern auch noch andere ruinierst! Niemeyer »starr«. Du hasts doch eben selbst gesagt: den armen Zedlitz hast Du auch auf dem Gewissen!

NIEMEYER.

Wie? Du wagst es, mir diesen furchtbaren Schicksalsschlag vorzuwerfen? Du, die überhaupt alles Unglück über mich heraufbeschworen hat? ..... Deine Eitelkeit war es, die mich zu dieser kindlichen Festspieldichterei gedrängt hatte! Ohne mein Wissen hattest Du Dich hinter das Komitee gesteckt! Hinter meinem Rücken wurde von Dir über mein Manuskript verfügt. Alle Hebel hast Du in Bewegung gesetzt! So daß ich schließlich gar nicht mehr anders konnte! Und als ich dann auf jenen unglückseligen Einfall mit den Jungens verfiel, um mir diese aufgezwungene Last wenigstens erfreulicher zu machen, kröntest Du Dein Werk, indem Du mir diese ... Dirne aufschwatztest!

[142]
JADWIGA
gezwungenes Lachen.
NIEMEYER
zornig.

Schweig! ... Ich zittre hier um das Leben eines Menschen, ich härme mir das Herz aus dem Leib und Du feilschst um elende Groschen, wie ein Marktweib! Das ist niedrig! Das ist gemein! Kennst Du denn wirklich nichts Höheres, als Dein bischen Prunk und Bequemlichkeit? Geht Dir Dein Modejournal über mein Gewissen? Soll ich deswegen vor mir selbst zum Lumpen werden, weil Dich die Angst zerreißt, Du könntest nicht mehr im ersten Rang sitzen? Oder es könnte eine andre beim Kasinoball die Polonaise anführen? ... Ich habe Dir all den Flitter und Kram gegönnt die ganzen Jahre! Ich habe die Nächte durch hier gesessen und gerechnet und gerechnet, wie ichs schaffen könnte! Deinetwegen habe ich mir diese Pensionswirtschaft, unter der ich litt, keiner weiß wie, aufgebunden wie eine Zuchtrute! Und das Resultat? Jetzt? Das Resultat? Du, bei der ich in dieser schweren Nacht den letzten Halt, die letzte Zuflucht zu finden hoffte – Du bist die erste, die mich verläßt! Mein größter Feind war mit mir in Wetter und Schnee draußen, wildfremde Menschen haben mir auf der Straße ihre Hülfe aufgedrängt, unser einfaches Zimmermädchen ließ mich fühlen, wie ihr meine Sorge nahe ging! Du ließst mich allein und saßst im Theater! Und schon der bloße Gedanke jetzt, dies Leben aus dem Vollen könnte für Dich aufhören, macht Dich rasen. Ich verachte Dich!

[143]
JADWIGA.

Du verachtest mich. Ah, sieh, das ist also der Dank dafür, daß ich Dir meine Jugend geopfert habe! Daß ich fünf Jahre mit einem Manne ausgehalten, dessen Sohn mein Bruder sein könnte! ... Soll ich Dir noch mehr sagen? Kleine Pause; mit letztem Haß. Darauf wartest Du. Ich erzähle nichts! Ich habe nichts zu erzählen! Und hätt ichs – ich täts nicht!

NIEMEYER.
Und Dich habe ich zu meiner ... Frau gemacht.
JADWIGA.

Es war ein erbrechen von Dir, mein bischen Lebensfreude an Deine fünfzig Jahre zu ketten! ... Und wenn Dein talentvoller Sohn Fritz hier seine Bummelferien verliedert, preßt er mich aus, daß ich nicht einmal meine Garderobenschulden bezahlen kann. Netter Herr Dein süßer Sohn von Deiner ersten lieben Frau!

NIEMEYER.
Sprich weiter!
JADWIGA.

Ja, weiter! ... Damit Du's endlich mal erfährst: die Frau, die Du verachtest, hat dieses Bürschchen, das nicht sein Leder wert ist, vorm Zuchthaus bewahrt!

NIEMEYER.
Wie? Was? Bist Du ... Ich ... Drohend auf sie zu.
[144]
JADWIGA.
Ich habe einen gefälschten Wechsel bezahlt.
NIEMEYER
keuchend.
Von meinem Sohn?
JADWIGA.
Von Deinem Sohn. Auch in Deinem Sohn hast Du Dich verrechnet!
NIEMEYER
scheinbar wieder vollständig ruhig.
Hast Du den Wechsel noch?
JADWIGA.
Nein.
NIEMEYER.
Wo ist er?
JADWIGA.
Ich hab ihn verbrannt.
NIEMEYER.
Eine Spielschuld?
JADWIGA.
Ja.
NIEMEYER.
Wessen Unterschrift ... war gefälscht?
JADWIGA.
Die Deine.
[145]
NIEMEYER.
Das hättest Du mir ... heute ... nicht sagen sollen. Kleine Pause. Es klopft.
JADWIGA
angstvoll, flüsternd.

Doch nicht Fritz? Daß Du ihm nichts sagst! Es klopft stärker, Niemeyer auf die Tür zu. Du richtest ihn sonst ... auch noch zu Grunde.

NIEMEYER
zu Schimke, der in der offenen Tür steht, hastig.
Zedlitz?
SCHIMKE.
Leider noch nicht, Herr Direktor. Ne Depesche.
NIEMEYER
der das Telegramm sofort aufgerissen hat.

Aus Falkenau! Das Papier fliegt ihm in der Hand, er reicht es Schimke. Mir tanzt alles vor den Augen. Lesen Sie.

SCHIMKE.
Komme Elf-Uhr-Zug. Wünsche meinen Sohn sofort zu sprechen. Von Zedlitz. Pause.
FRITZ
Mantel, Stock, blauweißrotes Band, blaue Mütze; schon hinter der Szene, nachdem er die Flurtür aufgeschlossen, hat man ihn die »Lindenwirtin« pfeifen hören; taucht jetzt, leicht angesäuselt, hinter Schimke im hell erleuchteten Korridor auf.

Jadwiga macht ihm ein Zeichen, still zu sein. Nann? Is hier n Biergericht? Nabend, Papachen. Tag, Mamachen. Moin, Schimke.

NIEMEYER
scharf.
Geh auf dein Zimmer!
[146]
FRITZ
bleibt starr stehn.
NIEMEYER
zu Schimke.
Wenn er noch kommen sollte, schicken Sie ihn sofort zu mir.
SCHIMKE.
Sehr wohl, Herr Direktor. Ab.
NIEMEYER.
Ich kann nicht mehr!
FRITZ
leise zu Jadwiga.
Was du los?
NIEMEYER
drohend.
Geh auf dein Zimmer!
JADWIGA
gedämpft.

Fritz, geh! Fritz ab. Er ist nur leichtsinnig. Du hast ihm zu sehr die Zügel gelassen. Er hatte ja gar keinen Ausweg. Er mußte sein Ehrenwort einlösen.

NIEMEYER.
Und fälschte die Unterschrift seines Vaters! Möchtest Du mich nicht jetzt ... verlassen?
JADWIGA.
Ich sehs ja ein. Ich hätts Dir nicht sagen sollen ... Zweimal ein scharfer Glockenton.
NIEMEYER.
Laß!
[147]
JADWIGA.
Das wird endlich Kurt sein! Ab durch die Tür, die sie offen läßt.
NIEMEYER
wie ein Ertrinkender, der mit letzter Kraft wieder an die Oberfläche will.
Kurt ... Kurt ... alles andre.
FALK
noch im Korridor.
Entschuldigen Sie tausendmal, gnädige Frau, daß wir noch so spät ...
SANITÄTSRAT
ebenfalls noch draußen, wo beide ihre Mäntel ablegen.
Es wird Ihren Herrn Gemahl wenigstens beruhigen!
JADWIGA
sie ins Zimmer einladend.
Bitte meine Herren.
FALK.

Danke, gnädige Frau, danke. Ins Zimmer tretend; Jadwiga ab. Liebster Herr Direktor! Wir bringen gute Nachricht. Er ist eben gesehn worden! Es wird noch alles gut werden!

SANITÄTSRAT.

Ich hatte ja von der ganzen Geschichte nicht die blasse Ahnung! Erst vor fünf Minuten durch Herrn Rechtsanwalt erfahr ich ... ich hätte ja den jungen Mann sonst gleich in mein Koupé genommen! Ich kam von Obernaundorf. Ich rief ihm noch zu: He! Sie! Zedlitz! Wollen Se mit?Sich plötzlich besinnend. Mir fällt jetzt allerdings auf, er hatte keinen Mantel. [148] Aber du lieber Gott, junges Blut! Ich nahm an, er war wieder bei Seckendorfs.

NIEMEYER.
Warum ist er nicht hier? Warum kam er nicht mit? Warum ... quält er mich so?
SANITÄTSRAT.

Aber bester Herr Direktor! So beruhigen Sie sich doch! Ich sags Ihnen ja: ich habe sonst nicht das geringste Abnorme an ihm bemerkt. Mir wärs sicher aufgefallen! Es ist noch keine halbe Stunde her.

NIEMEYER.
Wir wollen gleich hin!
FALK.

Was geschehn konnte, ist ja längst geschehn! Wir kommen eben von der Wache. Herr Hoppe ist sofort selbst losgefahren!

SANITÄTSRAT.

Ich habe ihm natürlich meinen Wagen gegeben. Er kann ja nur den einen einzigen Weg kommen: den Steinbruch vorbei über die Langebrücke.

FALK.
Herr Sanitätsrat hat sich auch nur heraufbemüht, damit Sie nicht den kleinsten Zweifel mehr hegen!
SANITÄTSRAT.
Nicht wahr? Und nun peinigen Sie sich nicht länger! Sie sind ja ganz kaputt!
[149]
NIEMEYER.
Ich muß ihm entgegen! Ich kann doch nicht hier so tatlos ...
SANITÄTSRAT.

Sie haben heute wahrhaftig genug hinter sich! Sie klappen uns sonst zusammen! Zu Falk. Herr Rechtsanwalt, Sie stehn mir dafür, daß unser lieber Freund sich endlich n paar Minuten Ruhe gönnt. Wieder zu Niemeyer. Als Arzt verbiete ich Ihnen einfach, daß Sie sich nochmal dieser Januarnacht aussetzen! Hören Sie? Ich verbiete es Ihnen. Sie werden Ihren Jungen schon zurückkriegen. Auch ohne daß Sie sich dabei ne Lungenentzündung holen. Morgen Abend stärken wir uns im Kasino durch ne Flasche Bernkastler Doktor! Abgemacht?

NIEMEYER
der ihm die Hand gereicht hat.
Lieber Herr Sanitätsrat!
SANITÄTSRAT.
Na, denn gute Nacht. Morgen Vormittag seh ich nach Ihnen.
NIEMEYER
der sich kaum noch aufrecht hält.
Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen herzlich!
SANITÄTSRAT.
Aber liebster Niemeyer! Anordnend. Herr Rechtsanwalt! Sie bleiben noch n bischen.
FALK.
Versteht sich doch ganz von selbst!
[150]
SANITÄTSRAT.
Also allerseits!
FALK
ihm die Hand schüttelnd.

Sie dürfen sich auf mich verlassen! Sanitätsrat ab, Falk zurückkehrend. So. Und nun noch ein ganz klein wenig Geduld, Herr Direktor. Das Schwerste ist überstanden. Sie müssen doch schließlich auch an sich denken! Und an Ihre Familie!

NIEMEYER
bitter.
Meine Familie!
FALK
stutzt.
NIEMEYER
in einen Sessel gesunken; mit geschlossenen Augen.

Ich bin ... wie zerbrochen! Falk schweigt noch immer, wieder kleine Pause. Wer von uns ... hätte gedacht, ... daß der alte Lehrer ... mal bei seinem Schüler Trost suchen würde.

FALK.
Lieber Herr Direktor. Sie machen mich glücklich.
NIEMEYER
wieder für sich.

Mir ist Recht geschehn. Wozu war ich so blind? Ausbrechend. Und auch mit diesem Sohn ..... Wozu bin ichs immer ge wesen! Erst jetzt fühle ich, was ich mit diesem Andern vielleicht... schon vernichtet habe. Aus übertriebener Härte!

FALK.

So regen Sie sich doch, bitte, nicht wieder von [151] Neuem auf! Sie haben ja eben gehört. es ist alles in bester Ordnung!

NIEMEYER.

Ich gebe mir alle Mühe. Ich will ruhig sein. Ich bins ja! Aber wo war er die ganze Zeit, wo war er? Drei Stunden! Wir haben ihn überall gesucht!

FALK.

Ja, wo war er! Das wird er Ihnen vielleicht selbst nicht sagen können! Er ist eben ziel- und planlos in die Nacht hineingelaufen. Das sind so Stimmungen. Das will überwunden sein.

NIEMEYER.

Dieser eine schreckliche Tag hat mehr über mich gebracht, als alle die Jahre ... Von neuem angstvoll. Er lebt also noch? Sie sind überzeugt, daß er lebt? Er lebt wirklich? Sie wollen mich nicht blos beruhigen? Entsetzt. Sie helfen mir doch nicht über etwas hinweg? Falk! Freund! Ich bitte Sie! Ich beschwöre Sie! Ich ginge daran zugrunde! Daran ginge ich zugrunde!

FALK.

Aber liebster Herr Direktor, so hören Sie doch! Sie machen mich ja selbst ganz verzweifelt! Ich stehe Ihnen dafür ein, daß er zurückkommt! Ich hafte für ihn, wie für mich selbst!

NIEMEYER.

Ich würde ein neues Leben anfangen! Ich würde all diesen Schmutz, den man um mich aufgehäuft [152] hat, vergessen! Meine fünfundfünfzig Jahre sind ja noch kein Alter! Was könnte ich noch wirken, was könnte ich noch schaffen! Meine ganze Aufgabe liegt ja noch erst vor mir! Ich habe mich noch gar nicht verständlich machen können! ... Zum ersten Mal heute habe ich den Glauben verleugnet, der mich getragen hat. Nein, nein, lieber Freund! Sie sind doch auch ein Beispiel! Ich halte fest an meiner Ueberzeugung, ich lasse sie nicht, auch jetzt nicht, selbst in dieser Stunde nicht: die Jugend durch Güte zu leiten und ihre Fehler nachzusehn und zu verstehn! Ihr zu verzeihn und nicht sie zu verdammen! Eine einzige Untreue gegen sich selbst kann doch unmöglich die ganze Summe eines langen, arbeitsschweren Lebens vernichten! Eines Lebens, nicht für sich, sondern in der hellen Freude an Andern! Vor sich hin; knirschend. Die Welt wäre ein blöder, brutaler Zufall!

FALK.
Sie fiebern ja! Kommen Sie doch zu sich!
NIEMEYER.
Ich will mich nicht mehr selbst betrügen!
FALK.
Es erregt Sie doch nicht, daß ich mir erlaubt habe ...?
NIEMEYER.

Aber mein lieber, guter Falk! Wir sind doch Freunde! Wo sollte ich welche finden, wenn nicht unter meinen alten Schülern?

[153]
FALK.
Ihre treusten und besten. Auch wenn Sie sie vielleicht gar nicht kennen!
NIEMEYER.

Schaffen! Wirken! Fühlen, daß man nicht blos ins Leere lebt! ... Ja, Falk! Wenn mir das noch mal bescheert wäre! Handbewegung. Lassen wir! Ich will ja aufrichtig froh sein, wenn ein Verhängnis, das entsetzlich wäre, mir jetzt nicht auch noch das Letzte antut!

FALK.
Aber das ist ja gar nicht möglich.
NIEMEYER
erregt auf und ab; sich mit Gewalt in eine freudige Stimmung redend.

Nein, Falk, das ist nicht möglich! Solche Dinge geschehn ja nicht! Solche Dinge können nicht geschehn! ... Um Elf kommt sein Vater. Ich werde ihn bitten, mir den Jungen noch zu lassen. Das wird heute noch ein Freudentag für ihn werden, für uns alle! Dieser Mann soll wissen, was er für einen Sohn hat! ... Sehn Sie! Und jetzt spüre ich auch die Kraft wieder, doppelt und dreifach, auszuhar ren auf meinem Posten, festzuhalten an meiner Ueberzeugung und mich nicht unterkriegen zu lassen von diesem seelenblinden Unverstand eines Menschen, der aus meinem Gymnasium eine Kaserne machen möchte!

FALK
erfreut auf ihn zu und ihm die Hand schüttelnd.

Lieber Herr Direktor! Jetzt sind Sie wieder ganz der Alte, dem [154] unsre Jungensherzen nur so zuzogen. Jetzt haben Sie doch wieder Freude an sich selbst!

NIEMEYER.
Ja! Ja, die habe ich! Sie wissen garnicht, von welchem Entsetzlichsten Sie mich befreit haben!
FALK.

Ich wollte Sie heute Abend nicht auch noch damit plagen! Aber jetzt, wo ich Sie wieder zuversichtlich sehe – was ich Ihnen schon heute Nachmittag sagte: ich komme auf meinen Vorschlag zurück! Warten wir nicht erst auf seinen An griff, kommen wir ihm zuvor! Eine so unerhörte Taktik gegen Sie kann und darf die Regierung nicht dulden! Reichen wir den Antrag schon morgen ein!

NIEMEYER.

Nachdem ich eben erst, wenn auch nur einen Augenblick, seine Hand gehalten? Nein! Mag er an mich rankommen! Ich werde jede Attacke zu parieren wissen. Dieser Tag soll mir eine heilsame Lehre gewesen sein. Ich stehe jetzt fester, als je. Ich habe mich selbst wieder!

FALK.
Dann wäre dies ja heute trotz allem Ihr größter Glückstag!
NIEMEYER.

Ja, Falk! Das ist er! Immer konvulsivischer. Und ob Sie jetzt wollen, oder nicht und wenns zehntausendmal auf Mitternacht geht – diese Stunde muß bekränzt [155] werden! Wir sind heut Nachmittag um unsre Burgunder gekommen! Brechen wir ihr jetzt den Hals! Ein Regal öffnend. Horaz und Pindar in Flaschenform! Mit Flasche und zwei Gläsern. Und die Griechen, siegestrunken, reichbeladen mit dem Raub ... glauben Sie doch nicht, daß ich blos Bücherwurm bin. Einschänkend. Carpe diem quam minimum credula postero! Sein Glas hoch. Und nun, lieber Falk ...

FALK
ebenfalls sein Glas hoch.
Auf einen frischen Kampf, auf einen fröhlichen Sieg!
NIEMEYER
aus seinem Rausch plötzlich erwacht, sein Glas langsam mit zitternder Hand wieder zurücksetzend.
Ich ... kann nicht!
FALK.
Ja ... Was ist denn?
NIEMEYER.
Ich ... kann nicht! Das Glas ... würde zerspringen!
FALK.
Ich glaube wirklich, Sie sind abergläubisch!
NIEMEYER.
Nennen Sies wie Sie wollen, es käme mir vor ... wie ein Frevel!
FALK.

Aber Sie dürfen sich doch nicht so von Ihrer Stimmung übermannen lassen! Ich begreife das ja! Man kann sich schwer solchen Dingen entziehn. In uns allen [156] steckt noch so etwas. Eine Angst wie vorm Butzemann.

NIEMEYER
in noch immer sich steigernder Aufregung.

Ich hätte nicht hierbleiben sollen! Sich vor die Stirn fassend... diese Polizei! Dieser Hoppe! Das War ja wie eine Verhaftung! Das war ja Irrsinn! Irrsinn! Ich hätte sofort nachfahren müssen! Nur mich durfte er sehn! Nur ich hätte ... Zusammenschreckend. Mein Gott!

FALK
angstvoll.
Was ist Ihnen?
NIEMEYER.
Haben Sie gehört? Was war das?
FALK.
Ich habe nichts gehört! Wahrhaftig nicht! Wirklich nicht!
NIEMEYER.
Horchen Sie doch! Es zittert ja noch! Es war wie ein Knall. Ganz deutlich!
FALK.
Es wird vielleicht das Eis gewesen sein. Vom Fluß her. Wir haben Mondwechsel. Es geht Südwind.
NIEMEYER.
Falk! Sie belügen mich! Wenn ich auch sonst nichts mehr tauge – mein Gehör ist noch gut!
FALK.

Kommen Sie zu sich. Sie phantasieren! Es ist[157] ja nichts. Er kann jeden Augenblick kommen. Jede Sekunde muß er da sein!

NIEMEYER.
Sie belügen mich!!
FALK
auf die Tür zu.
Ich verschaffe Ihnen sofort Gewißheit.
NIEMEYER.
Bleiben Sie! Oeffnen Sie nicht die Tür!! Lassen Sie mich nicht allein! Haben Sie Erbarmen.
FALK.
Ich will ja nur ... Es kann auch ein Wagen gewesen sein.
NIEMEYER.
Ein Wagen? Fern schlägt die Turmuhr. Es schlägt ja erst elf!
FALK.
Allerdings. Der Herr Baron kann noch nicht hier sein.
NIEMEYER.

Nein, nein! Das war nicht das Eis. Das war auch kein Wagen! Fast flüsternd. Das war etwas Furchtbares.

FALK.
Lieber, liebster Herr Direktor.
NIEMEYER.

Lassen Sie mich! Auf die Tür zu. Ich will selbst ... Zurücktaumelnd. Ich kann nicht! Ich will... keine [158] Gewißheit! Ich fürchte mich!! Schrilles Telephongeklingel. Großer Gott, nein, nein, nein! Nicht!! Nicht!!

FALK
ans Telephon gestürzt.

Hier Rechtsanwalt Falk bei Direktor Niemeyer. Pause. Seine Hand mit dem Hörrohr zittert. Sie, Herr Hoppe? ... Zusammengezuckt. Nicht möglich! ... Am Zollhaus? ... Hastig... Ist ein Arzt bestellt?

NIEMEYER
schreiend.
Falk!!
FALK
Handbewegung, weiter telefonierend.
So! Der Herr Landrat hat schon Meldung? ... Seit zehn Minuten? ... Danke. Vom Telephon wieder weg.
NIEMEYER
nicht mehr fähig, auch nur noch einen Laut hervorzubringen.
FALK.

Er ist verwundet ... Schwer sogar ... Vielleicht hält ers durch ... Es war ein Fehler, daß wir diesen Wagen schickten ... Weiß der Himmel, was für Vorstellungen in dem Aermsten dadurch ausgelöst wurden.

NIEMEYER
schwer in seinen Sessel fallend.
Und noch heute ...soll ich ihn ... seinem Vater geben!
FALK.
Aber liebster Herr Direktor! Wer kann Ihnen einen Vorwurf machen? Das wäre ja ein Schurke!
NIEMEYER.
Nun ist alles vorbei!
[159]
FALK.
Sie sind völlig frei von Schuld!
NIEMEYER
qualvoll.
Nein!!
FALK.
Es giebt keine Schuld! Wir sind willenlose Spielbälle eines unbegreifbaren Schicksals!
NIEMEYER.
Das sind ja nur Worte!
FALK
flehentlichst.
Herr Direktor!
NIEMEYER.
Ich bin sein Mörder!
FALK.
Sie werden morgen ruhiger denken.
NIEMEYER.

Ich werde morgen ... mein Amt niederlegen! Ein scharfer Ton der Korridorglocke. Schimke öffnet dem Landrat die Tür.

LANDRAT
erschüttert; auf Niemeyer zu, dessen Hand er sofort faßt.
Lieber Herr Direktor! ... Wir sind keine Gegner mehr.
NIEMEYER
der sich mit letzter Kraft aufrichten will.
Lebt er noch?
LANDRAT.
Nein.
NIEMEYER
zusammenbrechend.
Wärs doch mein eigener Sohn!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Holz, Arno. Dramen. Traumulus. Traumulus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8102-1