52. Die russische Finetee und die russische Galethee.

Es war einmal in Pommern ein Herzog, der war gut freund mit dem russischen Kaiser, und sie kamen oft zusammen und tranken sich zu, bis sie schwer betrunken waren. Eines Tages machten sie mit einander ab, dass des Herzogs beide Söhne des Russen zwei Töchter heiraten sollten, und zwar sollte Prinz Friedrich die Finetee, Prinz Karl aber die Galethee zur Frau bekommen. Der Herzog von Pommern schrieb das alsbald im Testamente nieder; weil er aber betrunken war, verschrieb er sich und setzte statt der Worte: »Prinz Karl soll die russische Galethee kriegen«: »Er soll sich den russischen Galgen verdienen.« Als er nun starb, ward das Testament geöffnet und den Prinzen verlesen. »Was unser Vater bestimmt hat, das müssen wir thun,« sagten sie, und Prinz Friedrich zog mit grossem Gepränge nach Russland, wo er mit der russischen Finetee verheiratet wurde; Prinz Karl dagegen zäumte sein Pferd und vernähte ein gut Teil Goldstücke in den Sattel, dann schwang er sich auf das Tier und ritt ebenfalls über die Grenze, um sich den russischen Galgen zu verdienen.

Er zog von einer Stadt zur andern und von einem Dorf zum andern, er ritt über Berg und Thal, über Stock und Block, bis er endlich in einen grossen, dunkeln Wald gelangte, der kein Ende nehmen wollte. Auf den Abend kam er obendrein von der Strasse ab, und es dauerte gar nicht lange, so hielt er vor einem grossen, tiefen Bruch, und Weg und Steg hatten ein Ende. Wie er so dastand und wusste nicht aus noch ein, trat aus der Dickung ein schwarzer [266] Mann auf ihn zu und sprach: »Was thust du hier?« – Antwortete Prinz Karl: »Ich bin verirrt.« – Sagte der Mann: »Wenn du mir die Hälfte des Geldes giebst, das du in den Sattel genäht hast, so will ich dich wieder auf den richtigen Weg leiten.« Die Rede gefiel dem Prinzen Karl so übel nicht, denn was nützte ihm das Geld, wenn er in dem Sumpfe ertrank; er trennte darum den Sattel auf und gab dem Manne die Hälfte von den Goldstücken. Der ergriff darauf das Pferd beim Zügel und führte es durch Gestrüpp und Buschwerk, bis sie wieder auf dem Wege waren. Dann verabschiedete er sich von dem Prinzen; doch ehe er ging, schenkte er ihm noch eine Kugel und sagte dabei: »Wenn du dieselbe in den Mund nimmst, so bist du unsichtbar.« Prinz Karl steckte die Kugel zu sich und zog seiner Strasse.

Den andern Tag kam er wieder vom Wege ab; und nachdem er ein Weilchen umhergeirrt war, stand er vor demselben Bruche, wie gestern. »Du hältst ja noch immer hier!« rief eine Stimme, und der schwarze Mann trat aus der Dickung heraus. »Ja, es ist schlimm mit diesem Walde,« sagte Prinz Karl, »wer darin nicht Bescheid weiss, verirrt sich und ertrinkt am Ende im Sumpfe. Kannst du mich nicht noch einmal auf den rechten Weg bringen?« – »Mit dem grössten Vergnügen,« antwortete der schwarze Mann, »wenn du mir wiederum die Hälfte von dem Gelde giebst, das du noch hast.« Dann behielt Prinz Karl zwar nur noch ein Vierteil von dem ganzen Schatze; aber wozu brauchte er auch das rote Gold, um den russischen Galgen zu verdienen. Er gab darum dem schwarzen Manne den geforderten Preis, und dieser führte ihn durch das Dickicht auf die rechte Strasse zurück und schenkte ihm zum Abschied eine kleine Rute. »Was du damit schlägst, sei es Mauer oder Fels, das öffnet sich, und woran du mit der Rute pochst, das giebt dir Antwort,« sagte er und verschwand. Prinz Karl aber setzte seine Reise fort und kam noch vor Abend in eine grosse Stadt und stieg daselbst in einem guten Gasthause ab.

Dem Wirte gefiel der schmucke Reitersmann, und als er gegessen und getrunken hatte, nahm er ihn beiseite und sagte zu ihm: »Ich habe drei schöne Töchter. Wie wäre es, wenn du mein Schwiegersohn würdest?« – »Das wäre so schlecht noch nicht,« antwortete Prinz Karl, »lass mich heute Nacht mit der ältesten den Versuch machen.« Darauf wurde die älteste Tochter des Gastwirts in eine besondere Kammer gebettet, und darnach ward Prinz Karl zu ihr geführt. Der wartete, bis sie eingeschlafen war; dann zog er die kleine Rute hervor, klopfte damit auf ihr rotes Mäulchen und fragte: »Bei wem schon genascht?« – »Beim Bürgermeister, Amtmann, Pastor und Richter,« antwortete das kleine rote Mäulchen. Da ward Prinz Karl angst und bange, er steckte die Rute wieder in den Busen, drehte dem Mädchen den Rücken zu und blieb liegen, wie ein Stück Holz, bis der Tag anbrach. Dann ging er zum Wirte und sprach zu ihm: »Deine Tochter mag ich nicht, sie hat andere lieber, wie mich!« – »So wollen wir es heute Abend mit der zweiten versuchen,« sagte [267] der Wirt; und das geschah auch. – In der nächsten Nacht ging Prinz Karl mit der zweiten Tochter in die Kammer; aber hatten bei der vorigen vier genascht, so zählte bei dieser das Mäulchen eine ganze Mandel auf, dass Prinz Karl nur schnell die Rute wegstecken musste, um nicht einen zu grossen Schrecken zu bekommen. Er drehte ihr ebenfalls den Rücken zu, und mit Sonnenaufgang weckte er den Wirt und sagte zu ihm: »Deine zweite Tochter gefällt mir erst recht nicht, die hält's mit der halben Stadt; ich mag dein Schwiegersohn nicht sein.« Sprach der Wirt: »Nicht so hitzig! Versuch's doch noch einmal mit der jüngsten, die ist erst sechszehn Jahre alt und wird dir gewiss wohl gefallen.« Die Bitte mochte Prinz Karl dem Wirte nicht abschlagen, und in der dritten Nacht ging er zu der jüngsten Tochter. Als sie eingeschlafen war und er mit der Rute klopfte und fragte, siehe, da zählte das kleine rote Mäulchen so viel Näscher auf, wie die beiden andern Schwestern zusammen gehabt hatten. Nun hatte er die drei Töchter durchgeprobt, und als der dritte Morgen kam, sagte er zu dem Wirte: »Deine dritte Tochter ist erst recht nichts wert; sie ist so schlimm, wie die beiden andern zusammen genommen.« Damit wollte er Abschied nehmen; dem Vater lief aber bei diesen Worten die Galle über. »Du hast sie unehrlich gemacht!« rief er voll Zorn; »Will solch hergelaufener Landstreicher anständige Mädchen ins Gerede bringen!« Sprach's und schleppte ihn vor den Richter.

Dazumal waren die Gerichte noch Schnellgerichte; des Vormittags wurde das Recht gesprochen, und am Nachmittag hing der Sünder schon an dem Galgen. Als der Wirt nun mit Prinz Karl vor dem Richter stand und dieser den ganzen Handel gehört hatte, sollte sich Prinz Karl verteidigen. »Ich will nicht sprechen,« sagte er, »die Mädchen sollen es selber sagen,« und auf des Richters Befehl wurden die Jungfern herbeigeholt. Alsobald nahm Prinz Karl die kleine Rute und klopfte und fragte: »Mäulchen, wie oft schon genascht?« – Antwortete das Mäulchen: »Beim Herrn Bürgermeister, beim Herrn Amtmann, beim Herrn Pastor, beim Herrn Rich..!« – »Halt,« schrie der Richter, »die erste ist überführt; man schaffe die zweite herbei!« Bei der dauerte es auch nicht lange, so stand sie neben der ersten und durfte die Augen nicht mehr herumgehen lassen. Nun blieb nur noch die jüngste übrig; die hatte geschwind ihr Schnupftuch zwischen die Zähne gesteckt, und als Prinz Karl anklopfte und fragte, antwortete es: »Wu, wu, wu, wu, wu!« – »Wast ist denn das?« rief der Richter; aber Prinz Karl wusste sich Rat, schlug ihr auf das Näschen und fragte: »Näschen, sag einmal, was ist Mäulchen?« – »Hat sich ein Taschentuch zwischen die Zähne gesteckt,« antwortete das Näschen, und das Mädchen musste das Tuch herausziehen. Da schnatterte das Mäulchen aber los, dass der Richter nur schnell das Gericht aufheben musste, es hätte sonst keiner von den Herren der Stadt seine Ehre behalten. Damit waren des Wirtes Töchter abgethan, Prinz Karl aber sattelte sein Ross und ritt seiner Strasse.

[268] Als er ein Weilchen geritten war, kam er wieder in einen grossen Wald und verirrte sich darin. Vor einer Ellerei machte er halt, und da er mit dem Pferd nicht durch den Busch kommen konnte, trennte er mit dem Schwerte den Sattel auf und nahm das letzte Geld heraus und steckte es zu sich in die Tasche; dann liess er das Ross laufen und ging zu Fusse weiter und sprang von einem Bülten zum andern, bis die Sonne unter ging und es finster wurde am Himmel. Da stieg er auf einen hohen Ellernbusch und hielt Ausschau, und siehe, nicht weit von ihm schimmerte ein Licht durch die Bäume. Eilends stieg er wieder herab und setzte seine Wanderung fort, bis er vor dem Hause stand. Er öffnete die Thüre und ging hinein; da sass ein alter grauer Mann in der Stube auf der Ofenbank und fragte ihn, was er wolle. Prinz Karl merkte wohl, dass er in eine Räuberhöhle geraten sei; darum sprach er geschwind: »Guten Abend! Kennst du mich nicht? Ich gehöre zum schwarzen Karl und habe mich allein gerettet und will jetzt bei euch wohnen und euch helfen.« Über dieser Rede verfärbte sich der Alte; denn der schwarze Karl hatte eine Brust wie Eisen, und die Kugeln prallten ab von seinem Leibe und konnten ihn nicht durchbohren; seine Bande aber war als die schlimmste verschrieen weit und breit. Darum hiess er den Gast freundlich willkommen und trug ihm Speise und Trank auf und bat ihn zu warten, bis die anderen nach Hause kämen.

Um Mitternacht traten elf grosse, starke Kerle herein; aber Prinz Karl fürchtete sich nicht, ging auf sie zu und drückte einem jeden die Hand, dass es krachte. »Wer ist der?« fragten die elf verwundert den Alten; der aber sagte: »Es ist einer von den Leuten des schwarzen Karl. Er ist bei der grossen Schlacht davon gekommen und hat das Leben geborgen. Jetzt will er bei euch bleiben und euch helfen.« Sprachen die elf: »Sei uns willkommen! Aber das sagen wir dir von vorneherein: Gemordet wird nicht, wir vollbringen alles mit List; und nur wenn es sich nicht anders thun lässt, gehen wir den Leuten an das Leben.« – »So habe ich's beim schwarzen Karl auch gehalten,« gab er zur Antwort, und dann setzten sie sich allesamt zu Tische nieder, und nachdem sie satt gegessen und getrunken hatten, legten sie sich zu Bette und schliefen, bis der Tag anbrach.

Am andern Morgen sprach der alte graue Mann, welcher der Hauptmann der Bande war, zu Prinz Karl: »Wir haben eine Sitte, wer bei uns eintreten will, muss sein Probestück machen.« – »Die Sitte lobe ich mir,« sagte Prinz Karl und ging zum Hause hinaus. Über ein Weilchen erblickte er einen Schlächter, der zwei Ochsen vor sich her trieb. »Die will ich stehlen, ohne Blut zu vergiessen,« dachte er bei sich; dann lief er durch das Gebüsch dem Schlächter voraus und warf seine Säbelscheide auf die Strasse. Als der Schlächter vorbeikam, sagte er: »Sieh da, eine schöne Scheide! Was nützt sie dir aber ohne den Säbel?« Damit liess er die Scheide liegen und zog seiner Strasse weiter. Das hatte Prinz Karl nur gewollt, [269] und schnell hob er die Scheide wieder auf und lief, was er laufen konnte, quer durch den Wald und über den Berg herüber, um den sich die Strasse zog. Dort warf er den Säbel in den Sand und wartete hinter dem Busche, bis der Schlächter kam. Als dieser den blanken Säbel erblickte, sprach er bei sich: »Hättest du doch vorhin die Scheide genommen, hier liegt der Säbel dazu!« und geschwind band er die Ochsen an einen Baumstamm und lief die Strecke zurück, um die Scheide zu suchen. Aber er fand sie nicht, und als er zurückkam, war auch der Säbel verschwunden und die Ochsen mit ihm, die hatte Prinz Karl über den Rasen in die Räuberhöhle geführt, so dass man die Spuren nicht sehen konnte.

»Das hast du gut gemacht,« sprach der Hauptmann, »und wenn du uns morgen noch einen Ballen Tuch aus der Stadt ohne Geld kaufen kannst, so wollen wir dich halten, wie der unsern einen, und du sollst unser Spiessgesell werden.« Das liess sich Prinz Karl nicht zweimal sagen. Den andern Tag nahm er Pferd und Wagen, einer von den elfen musste als Kutscher auf den Bock, während er wie ein vornehmer Herr, auf jedem Finger einen Ring, in dem Rücksitz sass. Ausserdem hatte er bei sich eine Truhe, die klipperte und klapperte, sobald man daran stiess, wie wenn eitel Gold und Silber darinnen wären. Als er nun mit seinem Gefährt in der Stadt angelangt war, hiess er den Kutscher vor dem besten Laden halten. Dort stieg er aus und liess sich das feinste Tuch und das teuerste Seidenzeug vorlegen. Der Kaufmann sah nur auf die grossen Ringe mit den glänzenden Steinen und freute sich, einen so reichen Kunden bekommen zu haben, und konnte nicht genug Ballen herbeischleppen. »Ich nehme es, wie es da ist, ungesehen,« sagte Prinz Karl, »und über die Bezahlung werden wir nachher einig werden. Schafft nur das Zeug auf den Wagen herauf und nehmt derweile die Truhe an Euch.« – »Das ist sein Geldkasten,« dachte der Kaufmann bei sich und stiess den Ladendiener heimlich in die Rippen, und dann rechneten sie beide im voraus zusammen, wie viel sie bei dem Handel verdienen würden. Prinz Karl aber ging aus dem Laden, als ob er sich in der Stadt erlustigen wollte; das that er jedoch nur so, in Wahrheit lief er vor's Thor, und als der Räuber mit dem Wagen an ihm vorbei fuhr, sprang er geschwind zu ihm auf den Bock, und nun brachten sie die Ladung in den Wald hinaus in die Räuberhöhle. Da war es Zeug genug, dass sich die ganze Bande neu damit kleiden konnte, und Prinz Karl ward in alle Ehren eines Räubers von dem Hauptmanne eingesetzt. Der Kaufmann wartete inzwischen zwei kurz und drei lang, dass der vornehme Herr zurückkommen sollte. Als er immer noch nicht bei ihm vorsprach, wollte er sich an der Geldkiste schadlos halten; doch wie er den Deckel der Lade erbrach, war nichts darin als Kieselsteine und Glasscherben, das hatte geklungen wie Geld, wenn man mit dem Fusse daran stiess.

Der Kaufmann fluchte über den argen Dieb, die Räuber aber lobten ihn; doch Prinz Karl wollte von alledem nichts wissen und [270] noch eine dritte Probe bestehen, obwohl er sie gar nicht mehr nötig hatte. »Kinder,« sagte er, »aller guten Dinge sind drei; heut Nacht will ich mit euch des Kaisers Schatzkammer bestehlen.« – »Au!« riefen die Räuber, »das thun wir nicht, das bringt uns an Rad und Galgen.« – »Ich gehe voran,« sagte Prinz Karl, »und wer ein Herz hat, der folge mir.« Da mochten sich die Räuber nicht lumpen lassen und thaten, wie er ihnen befahl. Er hiess sie aber den Wagen voll Stroh laden, und als sie mit Einbruch der Nacht vor der Stadt angelangt waren, mussten sie die Räder und die Hufe der Pferde mit Stroh bewickeln, dass niemand das Klappen der Eisen und das Knarren der Räder gewahr würde. Als sie nun vor dem kaiserlichen Schloss hielten, zog Prinz Karl die kleine Rute aus dem Busen hervor und schlug damit an die Mauern. Sogleich thaten sie sich auseinander. Die Wächter auf dem Hofe schliefen, wie Wächter gemeiniglich zu thun pflegen, und so gelangten sie ungestört bis an die Schatzkammer. Ein Schlag mit der Rute, und die schwere Eisenthür sprang auf, und jeder Räuber steckte soviel Gold und Silber zu sich, als er in seinem Sacke nur irgend davon schaffen konnte. Endlich waren sie fertig, und nachdem sie alles Gold auf den Wagen geladen hatten, fuhren sie eben so lautlos wieder zur Stadt hinaus und in den Wald zurück, wie sie gekommen waren.

Am andern Tage war grosses Jammern und Wehklagen auf dem Schlosse, denn der Kaiser liess alle Wächter durchprügeln und jagte sie mit Schimpf und Schande aus dem Schlosse, weil sie die Schatzkammer nicht besser gehütet hatten; in der Räuberhöhle jedoch wurde gesungen und gesprungen, getanzt und gelacht, denn so viel Gold und Silber hatten sie noch niemals zusammengebracht, als sie auf dem letzten Zuge geraubt hatten. Nun sollte Prinz Karl auch der Hauptmann werden, und der alte Räubervater bot es ihm selbst an, aber er wollte nicht. »Ich bin noch zu jung,« sagte er, »und dem Ältesten gebührt diese Ehre.« Da gaben sich die andern endlich zufrieden, und sie lebten einige Zeit lustig in Saus und Braus. Aber die vielen Schätze, welche sie gewonnen hatten, machten sie lüstern auf noch grösseren Reichtum, und sie baten den neuen Bruder, dass er sie noch einmal zum Schloss führen möge. »Ich will es thun, aber es ist euer Unglück,« sagte Prinz Karl; denn er ahnte wohl, dass der Kaiser so kurz nach der That doppelte Wachen ausstellen würde. Doch die Räuber liessen sich nicht abbringen. Da befahl er, den Wagen zum zweiten Male mit Stroh zu beladen, und dann fuhren sie zur Stadt, und der Räubervater blieb allein in der Höhle zurück.

Am Thore wurden wiederum die Räder und die Eisen der Pferde mit Strohbändern bewickelt, und als sie auf diese Weise lautlos bis an die Schlossmauern gelangt waren, schlug Prinz Karl mit der Rute gegen das Gemäuer, und siehe da, es klaffte auseinander. Gierig schlich einer nach dem andern durch die Öffnung hinein; aber sobald sie drinnen waren, wurden sie von den Schildwachen warm beim Wickel genommen, in Fesseln gelegt und in den Kerker geworfen. Nur Prinz [271] Karl ging frei aus, denn er hatte seine Kugel in den Mund genommen, und er hörte, wie die andern sagten: »Wer fehlt denn? Wir waren doch zwölf und sind hier nur elf. Richtig, der jüngste ist nicht da; der ist doch klüger, wie wir andern zusammen genommen!«

Am andern Morgen wurden die gefangenen Räuber vor den Kaiser gebracht, und nachdem jeder fünfzig aufgezählt erhalten hatte, fragte er sie, wo sie ihre Höhle hätten und wie gross die Bande wäre. Erst wollten sie nicht mit der Sprache heraus, als sie aber noch fünfzig bekommen hatten, sagten sie einmütig, sie seien ein Hauptmann und zwölf Mann, und ihre Höhle hätten sie draussen im Walde bei dem grossen Ellernbruch. Da schickte der Kaiser seine Soldaten hin; die nahmen den Räubervater gefangen und luden alles Gold und Silber, was sie in der Höhle fanden, in grosse Karren und führten es in die Stadt zurück, wo es der Kaiser wieder in die Schatzkammer schütten liess. Nun war alles da, nur der Dreizehnte fehlte. »Ihr sollt nicht leben und nicht sterben,« rief der Kaiser, »ehe ihr ihn nicht verraten habt.« – »Wir wissen ja selbst nicht, wie er heisst,« jammerte der Hauptmann, »er sagte, er sei vom schwarzen Karl, und vierzehn Tage war er nur bei uns, da hat er all das Unglück angerichtet.« Der Kaiser glaubte aber den Reden nicht, und jeden Tag bekamen die Räuber Prügel, dass sie gestehen sollten, wo der Dreizehnte sei.

Indessen schlenderte Prinz Karl in den Strassen umher. Und wie er einmal stille stand und seine Stiefel besah, merkte er, dass es mit den Sohlen nicht zum besten bestellt war. Nun hatte unweit davon ein Flickschuster seinen Laden. »Der soll den Schaden wieder gut machen,« dachte er bei sich und trat zu ihm in die Werkstatt herein. »Meister Schuster,« sagte er, »hier ist ein Goldstück; geh hin und kauf gutes Leder ein und besohl mir die Stiefel.« Der Altflicker nahm das Goldstück und lief, was seine Beine laufen mochten, denn solch vornehmen Herrn hatte er noch niemals zum Kunden gehabt. Während er fort war, zog Prinz Karl ein zweites Goldstück aus der Tasche und gab es der Frau, dass sie ein gutes Mittagessen besorge für drei Mann, mit Braten und Wein. Da ging nun ein schönes Leben an bei den Altflickersleuten, der Meister besohlte mit neuem Leder, und die Frau briet und schmorte, und dann setzten sich alle drei zu Tische und sie assen und tranken, bis sie nicht mehr wussten, wo sie waren, und trunken zu Bette gingen. Die Stiefel wurden auf diese Weise am ersten Tage nicht fertig, das nimmt kein Wunder; und am zweiten auch nicht, denn da trieben sie es nicht anders; als sie aber endlich doch fertig geworden waren, zog sie Prinz Karl auf seine Füsse, lobte den Meister wegen der guten Arbeit und sprach: »Warum geht's ihm denn bei der guten Arbeit so schlecht?« Antwortete der Altflicker: »Ach, lieber Herr, ich bin ein armer Mann und kann kein gutes Leder kaufen. Wer bei mir einmal besohlen liess, der kam das zweite Mal nicht wieder. Und mit Goldstücken bezahlt sonst niemand, da seid Ihr der erste.« – »Wenn's ihm an Geld fehlt, so gehe er doch [272] in des Kaisers Schatzkammer,« sagte Prinz Karl, »da ist Gold und Silber, wie Heu.« – »Ja, wer das dürfte!« sagte der Meister. – »Das ist nicht so schlimm,« sprach Prinz Karl; und als es dunkel wurde, hiess er den Altflicker einen Sack auf den Buckel nehmen und ging mit ihm dem Schlosse zu.

Sobald Prinz Karl das Gemäuer mit der Rute berührte, wich es auseinander, und sie hatten freien Gang; denn die Wachen waren schon wieder sorglos geworden und schnarchten um die Wette. Noch ein Schlag an die Eisenthür, und sie standen in der Schatzkammer, und der Schuster füllte seinen Sack mit Gold an, so schwer er nur irgend tragen konnte, und dann kehrten beide durch den Mauerriss in die Werkstätte zurück. Dem Schuster erging es aber nicht anders, wie den Räubern. Als er viel Geld hatte, war es ihm nicht Geld genug, und er sprach zu seinem Gaste: »Wie Ihr es macht, kann einer leicht zu Gelde kommen. Aber die Zeiten sind schlecht, und die Preise sind hoch, was meint Ihr, wir gehen heut Abend noch einmal in die Schatzkammer.« – »Zum zweiten Mal ist's gefährlich,« warnte Prinz Karl; aber da sich der Flickschuster nicht raten liess, ging er mit ihm, und als sie an das alte Loch gekommen waren, kletterte der Schuster geschwind hinein. Doch er kam nicht weit, denn kaum hatte er die Beine auf der andern Seite der Mauer, so griffen die Schildwachen, welche diesmal besser aufpassten, zu und zogen und zogen, damit sie ihn ganz hinein bekämen. Prinz Karl hatte das wohl bemerkt, und da er den Meister nicht den Soldaten lassen wollte, zog er am Kopfende. Doch drinnen waren vier und draussen nur einer. »Verloren ist er doch,« sprach Prinz Karl bei sich, und Ratz! schnitt er ihm mit seinem langen Messer den Kopf ab, damit er wenigstens nicht nachsagen könnte, wo der dreizehnte Räuber geblieben sei.

Den andern Morgen war die Freude gross im Schlosse, denn sie glaubten allesamt, jetzt habe man den Dreizehnten erwischt. Als die Leiche aber dem Räubervater gezeigt wurde, schüttelte derselbe den Kopf und sagte: »Das ist der Dreizehnte nicht. Dies ist ein kleiner, schmächtiger Kerl, aber unser Bruder war gross und stark; er ist's gewesen, der diesem Manne den Kopf abschnitt.« Um nun sein Leben zu retten, gab er dem Kaiser den Rat, er solle die Leiche, die Füsse nach vorn, auf einen Karren legen und zum Schindanger fahren lassen, aber im Umwege durch alle Strassen der Stadt. Wer dann schreie bei dem Anblick der Leiche, der sei ein Verwandter des Geköpften und könne wohl angeben, wo der Dreizehnte sei. Und so that der Kaiser auch. Während nun Prinz Karl bei der Altflickerin in der Werkstatt sass und ihr erzählte, wie ihrem Manne die Geldgier das Leben gekostet habe, und dabei fleissig zu seinem Zeitvertreib mit Pechdraht und Nadel hantierte, führte der Scharfrichter den Schinderkarren mit der Leiche des Meisters an dem Fenster vorbei. »Du meines Lebens!« schrie die Frau auf und fiel von einer Ohnmacht in die andere. Prinz Karl aber war nicht faul und hieb sich das Schustereisen [273] in das Knie, dass das Blut zur Erde floss. Als nun die Henkersknechte herbeikamen und Nachfrage hielten, weshalb die Frau so geschrien habe, wies er auf das strömende Blut. Da waren die Männer zufrieden gestellt und zogen mit ihrem Karren weiter, aber den Dreizehnten fanden sie nicht.

Prinz Karl ärgerte es jedoch, dass der Kaiser so scharf hinter ihm her war, und er beschloss, ihm einen rechten Streich zu spielen. Und das stellte er so an. Er nahm die Kugel in den Mund und ging unsichtbar in das Schloss hinein, die Treppen herauf, bis er in des Kaisers Zimmer gelangte. Dort lagen auf dem Tisch die Tagesbefehle, welche der Kaiser an den Feldmarschall und an den Bürgermeister zu schicken pflegte. Eins fix drei hatte Prinz Karl den ersten Brief erbrochen, und statt des Befehles, der darin stand, schrieb er hinein: »Weil die Soldaten gestern so gut exerziert und geschossen haben, sollen sie heute Mittag ein jeder zwei Pfund Fleisch zu essen bekommen,« denn bei den Russen lagen dazumal alle Soldaten in Bürgerquartieren. In den andern Brief aber schrieb er: »Weil die Soldaten so schlechtes Gesindel sind und allesamt nichts taugen, sollen ihnen die Bürger heute Mittag nur trockene Kartoffeln vorsetzen.« Dann versah er die falschen Briefe mit des Kaisers eigenem Siegel und ging wieder seiner Wege zu der Schustersfrau.

Am Vormittag verlas der Feldmarschall den Soldaten und der Bürgermeister den Bürgern den Tagesbefehl; und die Soldaten freuten sich, dass sie so viel Fleisch bekommen sollten, und die Bürger freuten sich, dass sie heute kein Fleisch zu geben brauchten. Als nun aber die Soldaten müde vom Dienst heimkamen und es nicht fanden, wie ihnen durch den Tagesbefehl verheissen war, wurden sie sehr zornig und schalten die Bürger Diebsgesindel und schlugen auf sie ein, und es war ein Heulen und Wehklagen in der Stadt, wie noch niemals gehört worden war. Endlich liess der Feldmarschall Generalmarsch schlagen, und als die Trommeln gingen: Kam-me-rad – kumm! Kam-me-rad – kumm! da mussten die Soldaten freilich vom Schlagen abstehen und zur Fahne eilen. Der Kaiser war sehr böse, als er von der Sache hörte, und konnte nicht begreifen, wie die falschen Befehle aus seinem Zimmer gekommen waren; der Räubervater aber sagte zu ihm: »Das ist niemand anders gewesen, wie der Dreizehnte; und wenn Ihr seiner nicht habhaft werdet, so bringt er noch Euch und das ganze Land in Unglück!« Das sagte er aber nur, damit er alle Schuld auf den Prinzen Karl schieben möchte und mit dem Leben davon käme. »Wie soll ich ihn denn aber fangen?« fragte der Kaiser. Da gab ihm der Räubervater folgenden Rat: »Der Dreizehnte ist ein grosser, starker Mann und dabei noch von jungen Jahren. Lasst alle jungen Leute zu Euch auf das Schloss kommen, dass sie mit der Prinzessin Galethee tanzen, und die Nacht über müssen sie in dem Saale bleiben und auf einer Streu schlafen. Wie ich den Dreizehnten kenne, wird er bei dem Feste nicht fehlen und in der Nacht Eurer Tochter nicht schonen. Dann muss ihm die Prinzessin mit Farbe [274] einen Strich auf die Wange malen, und am andern Morgen könnt Ihr sehen, wer Euch all das Unheil angerichtet hat.«

»Das ist ein guter Rat,« dachte der Kaiser und that, wie ihm der Räubervater geraten hatte. Alle jungen Leute wurden zu einem grossen Feste aufs Schloss geladen und durften mit der Kaiserstochter und den Hofdamen tanzen, und Prinz Karl war wirklich mitten unter ihnen und tanzte fleissig mit. Um Mitternacht war der Tanz zu Ende, und den Tänzern wurde auf einer Streu gebettet; die Prinzessin aber bekam von dem Kaiser ein Töpfchen mit Farbe in die Hand gedrückt, damit sollte sie demjenigen, der sie bei Nacht stören würde, einen Strich auf die Backe malen. – Und der Räubervater hatte sich nicht verrechnet. Als alles schlief, konnte Prinz Karl allein keinen Schlaf in die Augen bekommen; die Kaiserstochter hatte es ihm angethan, und er stand auf und schlich in ihre Kammer und küsste sie. Der Prinzessin that das sanft; doch als er fertig war, gedachte sie des Gebotes, das ihr der Kaiser gegeben, und sie malte dem Manne einen schwarzen Strich auf die Backe; dann drehte sie sich um und schlief ein. Prinz Karl aber war auf seiner Hut und hatte die List wohl gemerkt. Sobald die Prinzessin schlief, stahl er ihr das Töpfchen und malte mit der Farbe jedem Schläfer einen schwarzen Strich auf die Backe, vom Kaiser herab bis zum jüngsten Küchenjungen.

Am andern Morgen stand der Kaiser früh auf und ging in seiner Tochter Kammer. »Aber pfui, Papa!« sagte die Prinzessin, als sie die Augen aufschlug; und als der Kaiser nicht wusste, warum sie das sage, wies sie ihm den schwarzen Strich auf der Backe. Da lief der Kaiser in den Saal, und siehe da, alle jungen Männer waren in derselben Weise gezeichnet. Jetzt ward der Kaiser gar zornig und drohte, den Räubervater lebendig braten zu lassen, wenn er ihm nicht den Dreizehnten schaffe. »Ich kann es nicht und wenn ich sterben muss!« rief der Hauptmann, »Nur ein Mittel giebt's noch. Geht in den Saal und versprecht dem, der Eure Tochter im Schlafe geküsst und die falschen Tagesbefehle geschrieben hat, die Prinzessin Galethee zur Frau, dann wird er sich wohl melden.« Anfangs wollte dieser Rat dem Kaiser gar nicht in den Kopf, endlich aber bedachte er sich, dass er sein Reich keinem Besseren hinterlassen könne, als solch klugem Schwiegersohne, und er ging in den Saal zurück und sprach mit lauter Stimme: »Wer gestern Nacht meine Tochter geküsst und den Spass gemacht hat mit den Tagesbefehlen, der melde sich, er soll mein Schwiegersohn werden.« Aber siehe da, niemand meldete sich. Der Kaiser sprach es zum zweiten Male, es half wiederum nichts. Da setzte er die goldene Kaiserkrone auf und warf den Purpurmantel um und schwur bei Krone und Zepter, er wolle halten, was er gesagt habe. Jetzt trat Prinz Karl vor und sagte: »Ich bin der Dreizehnte, ich bin es gewesen.« – »Wie heisst du denn?« fragte der Kaiser verwundert. »Prinz Karl von Pommern,« gab er zur Antwort. »Du bist Prinz Karl?« rief der alte Kaiser voll Freuden, »Da solltest du ja schon längst meine Galethee zur Frau bekommen.« – »Davon stand [275] nichts im Testament,« antwortete Prinz Karl, »den russischen Galgen sollte ich mir verdienen.« – »Ach, Schnack,« sagte der Kaiser, »das kam damals so, da hat sich Vater verschrieben! Das sollte heissen: Prinz Karl soll die russische Galethee kriegen.« Nun war die Freude gross, und es wurde sogleich Hochzeit gefeiert, und all die jungen Leute im Saale nahmen daran teil. Die elf Räuber aber und der alte Hauptmann wurden in Freiheit gesetzt, denn eigentlich war's doch nur Prinz Karl gewesen, der sie zu den schlimmsten Dingen angestiftet hatte.

Und was das beste ist an der ganzen Geschichte, es ging alles hübsch ohne Blutvergiessen ab. Nur der Altflicker! Du mein Gott, ein Flickschuster, das spricht doch nicht mit, und dabei war er selbst in das Unglück gerannt. Wäre er hübsch zufrieden gewesen, so sässe er noch in seinem Laden und machte den Leuten die Stiefel. So aber führte seine Frau ohne ihn das Geschäft fort und heiratete sich einen hübschen, jungen Mann, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.

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TextGrid Repository (2012). Jahn, Ulrich. Märchen und Sagen. Volksmärchen aus Pommern und Rügen. 52. Die russische Finetee und die russische Galethee. 52. Die russische Finetee und die russische Galethee. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8CA9-F