Stummer Kampf

1

[21] [23]1.

Die Andern waren schon versammelt, als Thorwalts mächtige Gestalt unter der Thür erschien. Er bot ihnen seinen Gruß und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Die Andern ließen sich ebenfalls nieder. Dann begann man zu essen. Der Stuhl zur Rechten des Greises war unbesetzt. Links von ihm saß eine wie aus grobem Eisen gehärtete Gestalt, sein Sohn Ulf, diesem gegenüber dessen Gattin, ein starkknochiges Bauernweib mit herbem, verschwiegenem Gesicht. Neben sich hatte sie ihre beiden Töchter. Die Reihe der Mägde eröffnete ein ganz junges Dirnlein. Gegenüber saßen Ulfs Knaben und die Knechte.

Es wurde wenig beim Mahle gesprochen und das Wenige mit leiser, flüsternder Stimme. Die weite, gewölbte, fast hallenartige Stube, in deren Hintergrund das Feuer auf einem riesigen Herde flackerte, besaß nicht [23] das geringste Schmuck- oder Zierstück. Die braungeräucherten Wände waren kahl, das kleine Fenster, das auf das grünliche Wogenspiel der See hinaussah, war ohne Vorhang. Nur Tisch und Stühle und ein mächtiger Schrank befanden sich in dem Raume, der sein Licht hauptsächlich von dem großen Feuer auf dem Herde erhielt. Von draußen ließ sich das Pfeifen des Windes vernehmen.

»Hast du die Boote festlegen lassen?« fragte der Alte. »Es wird eine unruhige Nacht geben.«

»Ja, Vater, die Boote sind festgelegt.« Der Sohn schob den Löffel zurück.

»Die Gerste in der Scheune untergebracht?«

»Ja, sie ist in der Scheune untergebracht.«

»Hat Lomblad die Bretter geschickt?«

»Nein.«

»Weshalb nicht, da ich sie doch bestellt habe?«

»Der Junge war nicht anwesend und der Alte –«

»Was?«

»Der schien nicht genau von der Bestellung unterrichtet zu sein oder sich nicht zu getrauen –«

Die Brauen Thorwalts wulsteten sich.

»Du sprichst unklar. Wann würde sich ein Vater vor seinem Sohne etwas nicht zu thun getrauen? Du? –«

»Ich wollte nur –«

»Laß mich ausreden. Du setzest den Alten herab.[24] Der Vater ist Herr und Meister seiner Familie. Deshalb ist ihm gestattet, sich einem oder dem andern Geschäfte zu entziehen, zu dem er vielleicht weder Freude noch Nötigung in sich fühlt. So wird es auch bei Lomblad der Fall sein.«

»Ich wollte den Vater nicht als schwach hinstellen, eher vielleicht der Handlungsweise des Sohnes tadelnd erwähnen.«

»Das wäre nicht klug gethan. Die Voraussetzung, daß der Vater ein Schwächling sei, müßte trotzdem vorhanden sein. Und die wäre ein Unrecht. Bin ich nicht dein unumschränkter Herr, so wie du der deiner Kinder bist?«

»Vater, darf ich dir noch etwas Bier einschänken?« fragte Ulfs Frau leise. Ihre Hände zitterten, wie sie vor ihn hintretend den Krug aufhob.

»Nein, ich danke Dir.«

Unsichern Schrittes ging sie auf ihren Platz zurück. Das Gesinde unten am Tische saß regungslos da und wagte nicht die Wimpern zu erheben.

Der Alte ließ seine Blicke langsam über die Anwesenden gleiten, Blicke, aus denen der Glaube an die Macht der eigenen Autorität sprach. »Gott, dann Ich!« war es in dem uralten Eichengiebel des Hauses eingeritzt zu lesen. Und der Mann mit der niedern, harten Stirn und dem halbversteckten Feuer im Blick war [25] der Sohn dieses Alten, dem er alles verdankte, der ihm das Weib in die Kammer geführt hatte und seinen Kindern Gottes rauchenden Zorn im Gewitter zeigte.

Eine schwüle Pause war eingetreten. Keiner wagte zu sprechen. Selbst die Kleinen senkten die Köpfe, denn sie kannten die Strenge des Mannes oben am Tische. Da ists, als ob eine Lerche hereinschwirrte und plötzlich zu jubilieren begänne.

»Vater, weshalb steht der leere Stuhl neben deinem Platze? Wer saß dort? Wann kehrt er wieder?«

Ein Schrecken faßt die Andern. Die kecke Voreiligkeit! Die junge Dirne, die neben den Kindern sitzt, hat den Mund geöffnet. Die braunen Augen unter den feinen dunklen Bogen blitzen vor Lebenslust. Um den rosigen Mund spielt ein Schalklächeln.

Der Alte blickt sie an, wie er etwa ein Insekt oder eine Blume angesehen hätte, die der Wind auf seinen Rockärmel geweht hat. Wird er erzürnen über ihre Weise? Nein, er ergrimmt nicht. Er lehnt sich zurück und richtet die mächtigen Augen auf sie.

»Hier ist der Brauch, erst zu reden, wenn man gefragt wird, verstehst du? Aber du bist erst einen Tag hier und kennst unsere Sitten noch nicht, so will ich dich heute entschuldigen. Dieser Stuhl da ist der meiner Frau. Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Er soll zu ihrem Andenken noch stehen bleiben.«

[26] »Habt Ihr sie sehr lieb gehabt?« zwitscherts wieder von unten.

Ulf wirft einen erschreckten Blick auf die Fragerin. Ihre Augen begegnen mit strahlender Wärme den seinen.

Der Alte oben am Tische streicht sich durch den weißen Bart. »Sie war ein braves Weib. Kein Tag ging ihr nutzlos vorüber. Sie hat Gott gefürchtet und ihre Kinder in seiner Zucht erzogen. Sie war mir eine gehorsame Gefährtin. Selbst als ihr jüngster Bruder, dein Vater, ihr den Kummer bereitete, in ein fremdes Land zu ziehen und sich eine Frau aus fremdem Blute zu nehmen, verlor sie nicht ihre Ruhe.«

»Ach, wenn er noch lebte, der gute Vater! Er war so lieb und schön. An Mutter erinnere ich mich gar nicht. Sie starb, als ich noch ganz klein war.«

»Ein Glück.« Hat es jemand geflüstert? Die Anwesenden sehen einander betroffen an.

»Und der Vater lehrte mich eure Sprache. Ich konnte mich mit den andern Kindern fast gar nicht unterhalten, die nur italienisch reden. Wenn der Vater auf Fischfang hinauszog – Du, warum ist denn euer Meer so häßlich graugrün?« wandte sie sich plötzlich an Ulf; der Alte schien ihr zu weit zu sitzen. »Das unsere ist ganz, ganz blau und so lind. Du meinst, in lauter weiche Blumenblätter zu sinken, wenn du in seine Wasser [27] tauchst; du das ist dir schön! Und am Abend, wenn man hinaussegelt, die großen Sterne, die spiegeln sich wieder in der Flut, und dann hast du zwei Himmel, den einen oben und den andern unter dir, und weiche Mandolinenklänge klingen vom Ufer herüber und lassen dich glauben, du hörtest die leisen Stimmen der Engel. Dann kommt wohl einer oder der andre im Nachen dir nach, bindet sein Schifflein an deines, steigt zu dir herüber, legt den Arm um dich und flüstert dir etwas Liebes ins Ohr. Und bunte Lämpchen zünden sie an und essen bei ihrem Rosenschein Konfetto, und schenken einander Blumen und Küsse .....«

»Wie alt bist du, Dirne?« klang es vom Kopfende des Tisches herab.

»Sechzehn, Väterchen.«

Ulf hatte den Arm auf den Tisch gestützt, das Haupt darauf gelehnt und starrte mit großen Augen auf das schwatzende Mägdlein.

»Und du hast wirklich niemanden in Spezia? Hat denn deine Mutter keine Verwandten gehabt?«

»Nein, niemanden. Deshalb sagte mein Vater, bevor er starb: Unten an der nordischen Küste, sagte er, bei Thorwaltshavn, lebt meine Schwester. Geh zu ihr, sie wird dich aufnehmen. Hier will ich dich nicht allein wissen, sagte er. Ich verkaufte alles, was wir besaßen, als er tot war, und kam hierher. O, er war so süß! [28] Keinmal kam er nach Hause, ohne mich an seine Brust zu ziehen und zu küssen. Wir hatten einander schrecklich lieb.«

Wieder das fremdartige Wort!

Die grobknochige Frau mit den herben Zügen senkte den Kopf tiefer auf ihren Teller. Die Kinder öffneten die Lippen zu einer leisen Frage an ihren Vater, verstummten aber erschreckt bei seinem Anblick. Seine Augen hingen an den roten Lippen des Mägdleins mit einem Ausdruck, der ganz fremd an ihm war.

»Ich werde nun wohl immer bei euch bleiben. Aber ihr sollt euch freuen an mir. Vater hat mich die Mandoline spielen gelehrt und singen kann ich auch, auch tanzen.«

Sie sprang auf, nahm ihren ärmlichen Rock zierlich zwischen die Fingerspitzen und begann sich im Kreise zu drehen. Aller Augen hingen wie gebannt an ihr.

Da knarrte der Stuhl oben am Tische.

Der Hausherr hatte sich erhoben.

Seine Gestalt schien noch größer und mächtiger als sonst zu sein.

»Führt die Kleine auf ihre Schlafstelle. Der Schluck Bier, den sie trank, ist ihr in den Kopf gestiegen.«

Eine Magd trat heran und gab ihr einen Wink. Sie legte die Finger an die Lippen, warf den Anwesenden eine Kußhand hin, lächelte alle an und folgte [29] der Voranschreitenden. Die Dienstboten erhoben sich, ebenso die Andern.

Nur Ulf blieb sitzen und starrte auf ihren Stuhl hinüber. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er sprang auf. Sein Vater stand mit unbeweglichem Gesichte vor ihm und sah ihn an.

»Mir ist, als hätt ich geträumt« stotterte der Sohn.

Seine Frau und seine Kinder waren demütig hinter seinem Stuhl versammelt, damit er ihren Gutenachtgruß erwidere. Er murmelte etwas zwischen den Zähnen. Der Blick des Alten, der wie eine Flamme auf ihm ruhte, raubte ihm fast die Besinnung.

Da, als die Andern im Fortgehen waren, trat sein ältester Bube nochmals vor ihn.

»Vater!«

»Was willst du?«

»Ich glaube – ich weiß nicht – ich fürchte mich vor der Nacht.«

»Was hast du gethan?« fragte Ulf finster.

»Ich spielte in dem Felsen am Strande, da –« Der Junge stockte.

»Rede die Wahrheit« sagte Thorwalt und legte seine Hand auf den blonden Kopf des Knaben.

»Da sah ich ein Ei in einem verlassenen Nest. Ich legte es der Schwalbenmutter unter. Sie brütete es aus. Ein kleiner, fremder Vogel ist aus dem Ei gekrochen. [30] Aber seither zanken sich die Alten immer und flattern umher, anstatt bei den Jungen zu bleiben. Sie werden allesamt erfrieren müssen. Ich hör' ununterbrochen –«

»Was denn, was hörst du denn?«

»Ihr trauriges Zwitschern. Selbst in der Nacht. Gestern kroch ich zu Radulph aufs Lager und schwatzte mit ihm, um die ängstlichen Laute nicht zu hören. Was soll ich thun? sie werden allesamt zugrundegehen.«

Ulf starrte wie geistesabwesend auf den Platz gegenüber am Tische.

Der Alte sagte: »Nimm den fremden Vogel aus dem Neste.«

»Dann stirbt er aber, denn er kann noch nicht fliegen.«

»Laß ihn sterben.«

»Nein!« schrie Ulf wie erwachend auf, »nein, er soll nicht sterben!«

Aus des Greises Augen flammte ein Blitz.

»Geh fort, Bube!« rief er dem Jungen zu.

Dann standen die beiden Männer einander gegenüber. Sie sahen sich in die Augen. Ulf legte die Hand über die seinen. – – –

Als er aufblickte, war der Alte verschwunden. Er stand allein in der weiten Stube.

Die Flammen auf dem Herde brannten nicht aufwärts, sondern schlugen zur Seite wie in irrer Flucht. – –

[31]

2

2.

Andern Tages gegen Abend.

Vor dem kleinen Fenster bäumt sich ein grünliches Gespenst und winkt und droht mit huschenden Händen. Die See ist in unheimlicher Erregung. In der braunen Stube sitzen die Leute am langen Tische und verzehren schweigend ihr Nachtmahl. Das Herdfeuer wirft ungewisse Lichter um sich. Bald lohts durch den Raum wie sinkender Sonnenschein, bald hüllt Dämmerung alles in fahle Schatten, bald ruht auf des Einen oder Andern Haupt ein flimmernder Glanz. Sie schweigen und essen, wie sie gestern und vorgestern thaten. Oben am Kopfende sitzt der Alte, wie er vor fünfzig Jahren schon saß, mit unbeweglichem, steinernem Gesicht, in dem nur die Augen zu leben scheinen, ein unergründliches, von niemand verstandenes Leben.

Drei Stühle am Tische sind leer: der der Toten, Ulfs Stuhl und jener der jungen Dirne.

Der Greis sieht die Leute entlang.

»Wo ist Ulf?«

»Er ist vor etlichen Stunden mit seinem Netze hinausgerudert, Vater.«

»War er allein?«

[32] »Nein, Vater, deiner Frau Bruderkind war mit ihm.«

Das grobknochige Weib mit dem herben, demütigen Gesichte neigt sich wieder über den Teller. Der Greis schweigt und streicht langsam durch seinen niederwallenden Bart. »Weshalb ging die Dirne mit ihm?«

Die Frau weiß keine Antwort zu geben, aber ihr jüngster Bub weiß eine.

»Sie mochte Thora nicht zur Hand sein, sondern tanzte und sang draußen umher. Gegen Mittag kam Svend vom Bernsteinhof herüber. Was habt ihr für ein Tiriliren im Hause? fragte er. Ists ein Vogel oder eine Flöte, die da singt? Keins von beiden, sondern meiner Großmutter Bruderkind ists, das da singt, sagte ich und deutete auf sie. Sie kam eben herbei. Vater folgte ihr. Er hob die Faust auf, sie aber fiel ihm in den Arm und bettelte, daß er ihr nichts zu Leid thue. Sie fuhr mit der Hand über seine Wange und lächelte ihn an. Da wurde er ganz still. Svend ging ins Haus. Mein Vater sagte: Die Wellen können aber doch lauter singen als du. Mir kam vor, er hätte aus dem Keller heraufgesprochen, weil es so tief klang. Aber er stand neben ihr. Da rief sie: Das möchte ich versuchen. Ich muß hinausfahren, sagte er hierauf und ging vor das Haus. Sie bat: Nimm mich mit! Er antwortete nicht, hob sie aber ins Boot und ruderte hinaus.«

[33]

Es ist totenstill, als der Knabe ausgesprochen hat. Vom Herde kommt ein geheimnisvolles Raunen und Flüstern, und der Wind schlägt ans Fenster.

Da dröhnt es draußen im Flur wie von schweren, schlürfenden Tritten.

»Ulf« murmelt der Greis. Niemand wagt aufzustehen, obgleich sie ihr Essen beendet haben. Eine lange Pause.

Die Schritte sind verstummt, alles bleibt still draußen.

»Ulf!« ruft der Alte mit mächtiger Stimme. Keine Antwort. »Hole deinen Vater!« Der älteste Knabe erhebt sich gehorsam und eilt hinaus. Er kehrt nicht wieder. Und nun stehen alle zugleich auf, wie unter einer plötzlichen Eingebung. Ohne ein Wort zu wechseln, treten sie hinaus, zuletzt mit gesenktem Kopf die Mutter der Kinder. Nur Thorwalt bleibt bewegungslos auf seinem Platze sitzen.

Von draußen dringt geheimnisvolles Flüstern herein, als ob keiner wagte, laut zu sprechen. Dann öffnet sich schwerfällig die Thür. Ulf tritt herein.

Seine Kleider tropfen; sein Gesicht ist weiß wie der Schaum auf den Wogen draußen. Er bleibt beim Eingang stehen, ohne die Kraft oder den Muth zu finden, näherzutreten.

»Wo ist die Dirne?«

[34] »Das Boot ist gekentert; sie ist ertrunken.«

Aus dem schneeweißen Gesicht richten sich zwei starre, brennende Augen in die des Alten.

Der entgegnet nichts, streicht sich durch den Bart und schreitet langsam hinaus.

Ulf ist allein. Seine Blicke suchen einen Stuhl am Tische, dann schleppt er sich vor den Herd und blickt in die Flammen. Sie steigen ruhig und kerzengrade empor.

– – – – – – – – – –

[35][37]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Janitschek, Maria. Erzählungen. Kreuzfahrer. Stummer Kampf. Stummer Kampf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8CEE-6