[86] An Mademoiselle Rehbeld in Berlin,
nach überstandnen Pocken

Einzige Tochter des sorgenden Paares,
Welches dich nähret, lehret und schützt,
Und in dir ein süßes, wahres
Wiedergeschenktes Vergnügen besitzt –
Danke mit deinem zukünftigen Leben,
Lobe mit jeder Empfindung die Macht
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Welche dem Tode Befehle gegeben,
Nicht mit ewiger Nacht
Dein schon zitterndes Auge zu decken.
Ach, dein keuchender Busen empfand
Schon des Grabes gewaltige Schrecken,
Und gen Himmel gewandt
War das Auge der Mutter, mit Thränen
Ueber und über benetzt.
Durch dein winselndes Stöhnen
Ward ihr liebendes Herze verletzt.
Mit ihr weinte, von Kummer durchdrungen,
Auch der minder weichliche Mann,
Den noch keiner zu Thränen gezwungen,
Der sonst jedem Unglück trotzen kann,
Wann es ihn bedrohen sollte –
Diesem befürchtenden Vater entfiel
Aller Muth, wenn er dich trösten wollte,
Denn er sahe dich am Ziel
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Deines kaum begonnenen Lebens:
Sein Gedanke wiederholte tausendmal:
Armes Mädchen, ach! du strebst vergebens
Hier zu bleiben, deiner Jahre Zahl
Ist vollendet, wie die Zahl der Monden
Von dem jugendlichblühenden Stahl,
Dem die Grazien zu Londen
Rosen auf sein Grab gestreut,
Und dabey voll Mitleid sangen:
Deutscher Jüngling, deine Redlichkeit
Lächelte von deinen Wangen
Und von offener Stirne herab,
Und der Mann, der sie dir erblich gab,
Wird umsonst nach dir verlangen,
Ruft umsonst den einzigen Sohn,
Den die böse Krankheit weggerissen,
Welcher vom bräutlichen Lager und Thron
Oft die Fürstenkinder folgen müssen.
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Fremdes Erdreich deckt dein schönes Haupt,
Deinen Schwestern, deinen Spielgesellen
Ist nichts weiter vom Schicksal erlaubt,
Als im Geist sich um die Gruft zu stellen,
Die dich, Blume der Jugend, geraubt.

Notes
Entstehungszeit unbekannt (zwischen 1761 und 1772).
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. An Mademoiselle Rehbeld. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8F75-B