4. Der vernünftige Rechtsgelehrte

Sagt, Freunde, denen es durch vielen Fleiß gelungen,
Daß ihr ins Heiligthum Asträens eingedrungen,
Ist's möglich, daß ein Geist, der Witz und Denken liebt,
In eurer Wissenschaft sich mit Vergnügen übt?
Sagt, womit kann uns wohl das Chaos von Gesetzen,
Verwirrt, voll Dunkelheit, voll innerm Zwist, ergötzen?
Durch was für Wollust wird der müde Fleiß gestärkt,
Wenn das Gedächtniß nur zerstreute Sätze merkt?
Was wirket der Verstand, wenn wir für Grund und Schlüssen,
Nur auf des Lehrers Wort, die Lehren glauben müssen?
Wenn ein bewährter Mann dem andern widerspricht,
(Der Beyfall des Gebrauchs fehlt keiner Meynung nicht);
Wenn man hier billig heißt, was man dort strafbar nennet;
Hier zu gelinde spricht, und dort zu scharf erkennet;
Wenn man der Meynung folgt, die die Vernunft verdammt,
Nur weil sie auf uns her von unsern Vätern stammt;
Mit der Gerichte Brauch, mit jedes Dorfes Sitten,
Der Ordnung jeder Stadt sich muß den Kopf zerrütten;
Und wenn zuletzt die Frucht von so viel Arbeit ist,
Daß man im dicken Stoß verworrner Acten liest?
So, Freunde, hör' ich oft zu kühne Spötter richten.
Beurtheilt, kann dies Blatt wohl ihren Wahn vernichten?
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Gesetze müssen seyn, sonst kann kein Staat bestehn,
Weswegen will man denn Die, so sie lernen, schmähn?
Vielleicht ist das allein ein Fleiß für kleine Seelen,
Wo Einsicht und Verstand zu größern Dingen fehlen?
Gesetzt, es wäre so: wird denn wohl Der verlacht,
Der auch mit kleiner Müh' für Andrer Glücke wacht?
Und lobte man vielleicht an ihm mit besserm Rechte,
Wenn er durch größern Fleiß geringern Nutzen brächte?
Doch, Tadler, glaubet nicht, der Rechte Wissenschaft
Erfodre wenig Fleiß, und nur geringe Kraft.
Nicht Alle lernen sie in ihrem Umfang kennen,
Die ihre Schüler sind, ja die sich Lehrer nennen.
Der glaubt, im alten Rom, wo sich ihr Quell versteckt,
Sey Alles, was man nur zu wissen braucht, entdeckt;
Ein Andrer, der sich nie vom Nutzen will entfernen,
Wird nur den Schlendrian der goldnen Praris lernen;
Und Beyder dummen Fleiß verlacht ein tiefer Geist,
Der der Gesetze Grund, wie ein Euklides, weist.
Doch Alle fehlen hier, und Keiner würde fehlen,
Wollt' er des Andern Fleiß sich auch zum Beyspiel wählen.
Mit Recht wird Griechenland, mit Rechte Rom verehrt;
Dies hat die Welt regiert, und jenes sie gelehrt.
Mit Rechte fraget man, zum Nutzen stets beschäftigt,
Ob das, was man erlernt, auch der Gebrauch bekräftigt,
Mit Recht sucht man von dem, was ein Gesetz gebeut,
Den unbewegten Grund in ew'ger Billigkeit.
Doch soll man nirgends nicht den wahren Weg verlieren:
So muß uns Alterthum, Gebrauch und Schließen führen.
So viel umfaßt ein Geist, der sich Asträen weyht,
Gestärket durch Vernunft wie durch Gelehrsamkeit;
Die zeiget ihm den Weg, den man vor ihm gewählet,
Die führet seinen Schritt, wo ihm ein Führer fehlet.
Denn damit schmeichle sich kein schläfriger Verstand,
Daß er nur Alles weiß, was man vor ihm erkannt.
Viel konnte man vor uns in feste Regeln binden:
Viel müssen wir anjetzt selbst denken, selbst erfinden.
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Hier schränkt man den Verstand zu weiter Vorschrift ein,
Den eingeschränkten Satz macht man dort allgemein,
Erklärt, was dunkel ist, versöhnt, was scheint zu streiten,
Läßt, wo kein Fürst befiehlt, von der Natur sich leiten;
Was dieser Staat verlangt, schickt sich für jenen nicht,
Was sonst verboten war, wird jetzund oft zur Pflicht.
Unendlich ist die Zahl von stets verschiednen Fällen,
Man sieht sie manchen Band gehäufter Sprüche schwellen.
Vergebens lernt daraus des Ansehns träger Knecht:
Ein neuer Umstand kommt, und heischt ein neues Recht.
Verwegner Bosheit Trotz muß man beherzt besiegen;
Mit Klugheit hindert man der schlauen List Betriegen,
Bestimmt des Beyfalls Maaß, wenn man den Zeugen hört,
Ob er voll Dummheit irrt, voll Trug uns falsch belehrt.
Lernt, wie die frevle List verborgner Uebelthaten
Durch manches Zeichen sich der Rache muß verrathen.
Dies Alles braucht Verstand. Umsonst ist Dessen Fleiß,
Der, was man ihm gesagt, nur nachzusprechen weiß.
Wahr ist es, daß ein Schwarm Asträen scheint zu ehren,
An Zahl den Fliegen gleich, die sich im Sommer mehren,
Für sich gedankenlos, von fremder Meynung voll,
(Nur hat er noch Verstand, wenn er betriegen soll,)
Der nie nach Billigkeit, nie nach Vernunft getrachtet,
Vom Pöbel stets gehaßt, vom Weisen stets verachtet.
Doch wer ist, der so schlecht den Werth der Dinge kennt,
Daß er ein solches Volk Asträens Freunde nennt?
Wo ist die Wissenschaft, da nicht der Thoren Menge
Sich zu der kleinen Zahl von wahren Weisen dränge?
Wie aber, flieht nicht Der, der sichre Kenntniß liebt,
Die Kunst, wo steter Zank die größten Meister übt,
Und wider einen Spruch, der auf das Recht sich stützet,
Ein andrer Spruch erscheint, den auch das Recht beschützet?
Bisweilen wankt das Recht, ich räum' es willig ein:
Doch öfter wird die Schuld nur an dem Lehrer seyn.
Ein Geist von Wahrheit voll, gewöhnt zu scharfen Schlüssen,
Entdecket da Beweis, wo Andre glauben müssen,
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Und wo ihm das Gesetz vielleicht zu dunkel spricht,
Versagt die Billigkeit ihm ihren Ausspruch nicht.
Durch ein verdreht Gesetz, durch ein verwirrt Erzählen
Glückt es dem Zänker nicht, ihm Beyfall abzustehlen.
Durch ihn wird selbst das Recht, das so verworren scheint,
Ein ordentlicher Bau, wo Alles sich vereint.
Er sieht, wie ein Gesetz sich stets im andern gründet,
Den Menschen die Natur, der Staat den Bürger bindet;
Er kennet, er verehrt die Weisen jener Zeit,
Wie sie, an Einsicht stark, und voll Gerechtigkeit.
Vergleicht man sie mit ihm, nach weit entfernten Jahren,
Wird das ihr Vorzug seyn, daß sie sein Muster waren.
Er wirkt der Menschen Glück durch Tugend und Verstand;
Nun urtheilt, wird er wohl verehrungswerth erkannt?

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TextGrid Repository (2012). Kästner, Abraham Gotthelf. Gedichte. Lehrgedichte. 4. Der vernünftige Rechtsgelehrte. 4. Der vernünftige Rechtsgelehrte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-947E-5