Abschied aus dem Zimmer, in welchem ich erzogen worden

Leipzig den 4. October 1756 1.


So seyst du noch für thränenvolle Blicke,
Geliebter Ort, zuletzt mein Gegenstand!
Ach, welch Gefühl bringst du mir nicht zurücke!
Hier lebt' ich erst, eh' ich es noch empfand;
Hier hat für mich oft kummervolle Nächte,
Mir unbewußt, die Mutter durchgewacht;
Und wie das Kind zum Menschen werden möchte,
Des Vaters Treu, des Vetters Huld 2 bedacht.
[58]
Der Unschuld Zeit, des Lebens froher Morgen,
Verflog mir hier bey Büchern mehr als Spiel;
Und ohne Zwang, noch längst nicht reif zu sorgen,
War ich voll Fleiß, weil mir der Fleiß gefiel.
Wenn hier zu ruhn mein Vater sich verweilte,
Und den ihm gleich mein frommer Dank verehrt,
Von Arbeit matt, wo ich die Frucht stets theilte,
Hat Der mein Herz, Der meinen Geist gelehrt.
Ihr seyd dahin, ihr schönsten meiner Tage,
Ihr seyd dahin, und kommt nicht mehr zurück!
Nur noch ein Lied, das euch zu spät beklage!
Nur noch nach euch ein sehnsuchtsvoller Blick!
Schnell flieh' mein Reim, gleich euch vergnügten Jahren,
Zu einer Zeit, die mir nicht mehr gefällt.
Was mir auch einst, ach wann? muß widerfahren,
O Trauerplatz, hast du mir dargestellt.
Hier zeigte mir der König kalter Schrecken,
Die strenge Macht, die nur den Leib besiegt,
Wenn Blicken nach, die sich zum Heiland strecken,
Der frohe Geist mit Engelschwingen fliegt.
Dir Seliger! dank ich nicht nur ein Leben,
Den Unterricht zum Leben nicht allein,
Zum Lehrer mehr, als Vater mir gegeben,
War noch dein Amt, zum Sterben das zu seyn 3.
Ach, wär von dem, was ich allhier empfunden,
Das Traurigste nur eines Vaters Tod!
Hier bluteten der treuen Mutter Wunden;
Hier fühlte sie, ach! mehr als Sterbensnoth.
Allwissender! der ihre Thränen zählte,
Die sie mir oft aus Zärtlichkeit verbarg,
Den Helden gleich, die Wuth der Heiden quälte,
War sie durch dich bey größern Leiden stark.
Fünf Jahre lang, bis alle Kraft versiegte,
Lag deine Hand, Herr, Tag und Nacht auf ihr:
[59]
Sie hat gesiegt, hier, wo mein Vater siegte,
Ihr bessrer Theil ließ Leib und Elend hier 4.
Gott! deine Huld zeigt sich auch da am größten,
Wo Qual und Noth die Sterblichen beschwert:
Nie unverdient, stets uns zum wahren Besten,
Und niemals nicht der sel'gen Zukunft werth.
Ach bliebe stets von hier verbrachten Zeiten
Ein traurig Bild mir in das Herz gesenkt!
Mehr als die Lust von allen Eitelkeiten
Ist Schwermuth werth, die uns zum Heil uns kränkt,
Mehr als ich noch in Zukunft Jahre zähle,
Zähl' ich in euch, verlebte Jahre, schon:
Und fern von hier, eilt bald wohl meine Seele
Den Seelen nach, die hier der Welt entflohn.

Pope:


Poets themselves must fall like those they sung
Deaf the prais'd ear; and mute the tuneful tongue,
Ev'n he whose soul now melts in mournful lays,
Shall shortly want the gen'rous tear he pays.

Fußnoten

1 Ich hatte es meine ganze Lebenszeit über mit und nach meinen Eltern bewohnt, und verließ es den Tag, da ich aus Leipzig mit meiner Ehegattinn abreiste.

2 Meiner Mutter Bruder, Dr. Gottfried Rudolph Pommer, ein Rechtsgelehrter, dem ich einen Unterricht in verschiedenen nützlichen Kenntnissen, besonders fast allen neuern gelehrten Sprachen, eine außerordentlich freygebige Unterstützung meines Studirens, und eine der väterlichen vollkommen gleiche Liebe zu danken habe. Ich habe sein Andenken in einer Vorrede zu seinen 1751 in der Richterschen Buchhandlung zu Altenburg herausgekommenen Sammlungen historischer und geographischer Merkwürdigkeiten zu erhalten gesucht.

3 Er war die erste Person, die ich sterben sah, den 15. November 1747.

4 Den 27. Juni 1755.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kästner, Abraham Gotthelf. Gedichte. Elegieen. 13. Zwo Elegieen. Abschied aus dem Zimmer. Abschied aus dem Zimmer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9724-2