[216] Gaselen

1847

1

Unser ist das Reich der Epigonen,
Die im großen Herkulanum wohnen;
Seht, wie ihr noch einen Tropfen presset
Aus den alten Schalen der Zitronen!
Geistiges ist noch genug vorhanden,
Auch der Liebe Zucker wird noch lohnen.
Wasser flutet uns in weiten Meeren,
Brauchen es am wenigsten zu schonen:
Braut den Trank für lange Winternächte,
Bis uns blühen neue Lenzeskronen!

2

Herbstnächtliche Wolken, sie wanken und ziehn
Gleich fieberisch träumenden Kranken dahin:
Auf Bergwald und Seele die Düsternis ruht,
Ob kalt sie auch Luft und Gedanken durchfliehn.
Klarstrahlend jedoch tritt hervor nun der Mond,
Und weithin die Wolken entschwanken um ihn.
Geh auf auch im Herzen mir, lieblicher Stern,
Dem immer die Schatten noch sanken dahin!

[217] 3

Wie schlafend unterm Flügel ein Pfau den Schnabel hält,
Von luft'gen Vogelträumen die blaue Brust geschwellt,
Geduckt auf einem Fuße, dann plötzlich oft einmal,
Im Traume phantasierend, das Funkelrad er stellt:
So hing betäubt und trunken, ausreckend Berg und Tal,
Der große Wundervogel in tiefem Schlaf, die Welt.
So schwoll der blaue Himmel von Träumen ohne Zahl,
Mit leisem Knistern schlug er ein Rad, das Sternenzelt.

4

Und als die Schöpfung bleischwer das Haupt im Schlafe wog
Und sie ein quälend Traumbild, daß sie nicht sei, betrog
Und Gott im Himmel selber schlief, vergessend Meer und Land,
Worüberhin kein Lufthauch als Lebenszeichen zog:
Da wachte eine Lilie auf, die einsam, einsam stand
Und die den fernen Sternglanz mit leisem Atem sog;
Da fiel ein Falter tief in sie, mit dunklem Schwingenrand,
Der durch den kalten Nachttau mit Mühe zitternd flog.
Die Flügel schmiegte bebend er an ihres Kelches Wand,
Die, auch erbebend, ob ihm sich eng zusammenbog.

5

Wenn schlanke Lilien wandelten, vom Weste leis geschwungen,
Wär doch ein Gang, wie deiner ist, nicht gleicherweis gelungen!
Wohin du gehst, da ist nicht Gram, da ebnet sich der Pfad,
So dacht ich, als vom Garten her dein Schritt mir leis erklungen.
Und nach dem Takt, in dem du gehst, dem leichten, reizenden,
Hab ich im Nachschaun wiegend mich dies Liedchen leis gesungen.

[218] 6

Der Herr gab dir ein schönes Augenpaar,
Du weißt damit zu blicken lieb und klar.
Mit feiner Hand hältst du in schönen Banden,
Das er dir gab, dein anmutreiches Haar.
Wie eine Palme aus den Morgenlanden
Ließ er dich wachsen, der im Anfang war.
Du aber weißt dich köstlich zu gewanden,
Daß sich verdunkelt deiner Schwestern Schar.
Wie dankbar du des Schöpfers Sinn verstanden,
Legst du in reizbewußtem Wesen dar.

7

Perlen der Weisheit sind mir deine Zähne!
O wie ich mich nach ihrem Scheine sehne!
Denn über dem Bemühn, sie zu erblicken,
Vertrocknet mir die letzte kleine Träne.
Indem ich dich zu holdem Lachen reize,
Vergeß ich ganz der Welt unreine Späne,
Und um dein schönstes Lächeln zu verdienen,
Gelingen meinem Geiste feine Pläne.

8

Nun schmücke mir dein dunkles Haar mit Rosen,
Den Schleier laß die Schultern klar umkosen!
Mit leichtem Spott laß deine Augen schweifen,
Sie können es so wunderbar, die losen!
Du sollst an meinem Arm den Markt durchstreifen,
Dort will ich meiner Feinde Schar erbosen!

[219] 9

Ich halte dich in meinem Arm, du hältst die Rose zart,
Und eine junge Biene tief in sich die Rose wahrt;
So reihen wir uns perlenhaft an einer Lebensschnur,
So freun wir uns, wie Blatt an Blatt sich an der Rose schart.
Und brennt mein Kuß auf deinem Mund, so zuckt die Flammenspur
Bis in der Biene Herz, das sich dem Herz der Rose paart!

10

Berge dein Haupt, wenn ein König vorbeigeht,
Tief an der Brust des Geliebten, der frei steht;
Aber dem Betteljung laß es erglänzen,
Welchen das Elend der Erde vorbeiweht!

11

Als ich an deiner Frühlingsbrust zwiefachem Himmel geruht,
In königlicher Ruhe stolz hinwogte unser Blut:
Von diesem Himmel unverwandt sah ich zum andern auf
Und schaute in den Hesperus mit frohem, stillem Mut.
Dann drückte müd die Augen ich an deinem Busen zu,
Doch immerfort sah ich den Stern in seiner schönen Glut.
Er ging in deinem Herzen auf, wie es der Widerschein
Lunas in einem spiegelnden und tiefen Brunnen tut.

12

Dies ist eine heilige Lenzmitternacht, o höre:
Drangvoll alle Quellen gehn, laut rauschen ihre Chöre!
Tag und Nächte gleichen sich, hell zuckt ein Wetterschein,
Lieblich aber, als ob ihn nur Blütendunst geböre!
Löse auf dein wallend Haar, weit laß es sich zerstreun,
[220]
Schwöre, daß ein jegliches mein nur, o mein gehöre!
Löse deine Schleier auf, die Liebesbrust zu weihn,
Bade sie im Wetterschein; mich treu zu lieben schwöre!

13

O heiliger Augustin im Himmelssaal!
Nun werd ich glauben an deine Gnadenwahl:
Denn gleich dem Affen, der eine Tulpe hält,
Sah heut ich einen halten den Weinpokal.
Wie hat zerreißend es mir ins Ohr gegellt,
Als er der Maid froschmäulige Küsse stahl!
Dazu schaut' er so säuerlich in die Welt,
Als stäk er in des Fegefeuers Qual.

14

Mich tadelt der Fanatiker, in deinen Armen weich zu ruhn,
Und heischt, indem zum Streit er eilt, zu lärmen und ihm gleichzutun.
In tollen Sätzen eilt er fort und peitscht die Luft mit seinem Stahl
Und schwört: es gäb kein größer Heil, als auf dem Schlachtfeld bleich zu ruhn!
Laß laufen ihn, den Närrischen, und küsse mich noch hundertmal!
Ich denke doch beizeiten noch vor ihm den ersten Streich zu tun!

15

O Mädchen! gestern quälte mich ein eitler Christ, ein Esel!
Heute schreckte mich par excellence ein Atheist, ein Esel!
Dort naht mit worteschwangerm Nichts, mit ungeheurem Unsinn,
Mit tönender Salbaderei ein Pantheist, ein Esel –
[221]
Birg mich an deiner jungen Brust und rette meine Menschheit,
Mein Kind! sonst werd ich selber noch zu dieser Frist ein Esel!

16

'ne Schale Feuerwein ist gut, wenn man sich schlagen soll!
Und mehr noch, wenn das Leben man zu Markte tragen soll,
Ist eine Überzeugung wert: wofür man steh und falle,
Woran das junge Leben man, das schöne, wagen soll?
Doch mehr als Wein und Hochgefühl beim hellsten Zinkenschalle
Begeistert mich, so ich der Lust der Welt entsagen soll,
Wenn auf dem Mund ein Weibeskuß noch brennt! Ich frag euch alle:
O saget mir, nach was man noch auf Erden fragen soll?

17

Zerbogen und zerkniffen war der vordre Rand an meinem Hut,
Und rötlich färbte er sich auch, wie es des Säufers Nase tut.
Und wenn ich auf der Straße ging, so fiel ich in der Spötter Schlingen;
Das füllte mich mit Ärger, denn im ganzen war der Chapeau gut.
Drum dreht ich ihn, bis hinter mir des Würdigen gelähmte Schwingen,
Und, vorn den wohlerhaltnen Rand, trat ich einher mit frischem Mut.
Doch weh! an meinem Rücken nun die tausend schlimmen Augen hingen,
Ich hörte zischeln hinter mir und in den Kopf stieg mir das Blut
Und zwang mich, den verdammten Filz flugs wieder vorn herum zu bringen:
Denn lieber vor als hinter mir mag ich der Tadler stille Wut.
In seinen Schatten neige dich, Schlußton von allem meinem Singen,
Mein treues Lieb, und tröste mich mit deiner Lippen süßer Glut.

Notes
Entstanden 1847. Erstdruck 1851.
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TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Gaselen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9A8A-6