Abendlied an die Natur

Hüll ein mich in die grünen Decken,
Mit deinem Säuseln sing mich ein,
Bei guter Zeit magst du mich wecken
Mit deines Tages jungem Schein!
Ich hab mich müd in dir ergangen,
Mein Aug ist matt von deiner Pracht;
Nun ist mein einziges Verlangen,
Im Traum zu ruhn, in deiner Nacht.
Des Kinderauges freudig Leuchten
Schon fingest du mit Blumen ein,
Und wollte junger Gram es feuchten,
Du scheuchtest ihn mit buntem Schein.
Ob wildes Hassen, maßlos Lieben
Mich zeither auch gefangen nahm:
Doch immer bin ich Kind geblieben,
Wenn ich zu dir ins Freie kam!
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Geliebte, die mit ew'ger Treue
Und ew'ger Jugend mich erquickt,
Du einz'ge Lust, die ohne Reue
Und ohne Nachweh mich entzückt –
Sollt ich dir jemals untreu werden,
Dich kalt vergessen, ohne Dank,
Dann ist mein Fall genaht auf Erden,
Mein Herz verdorben oder krank!
O steh mir immerdar im Rücken,
Lieg ich im Feld mit meiner Zeit!
Mit deinen warmen Mutterblicken
Ruh auf mir, auch im schärfsten Streit!
Und sollte mich das Ende finden,
Schnell decke mich mit Rasen zu;
O selig Sterben und Verschwinden
In deiner stillen Herbergsruh!

Notizen
Aus der Sammlung »Gedichte« (1846).
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Abendlied an die Natur. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9E68-5