Ursula

I

Entstanden 1877, Erstdruck in den »Züricher Novellen«.

I

Wenn die Religionen sich wenden, so ist es, wie wenn die Berge sich auftun; zwischen den großen Zauberschlangen, Golddrachen und Kristallgeistern des menschlichen Gemütes, die ans Licht steigen, fahren alle häßlichen Tazzelwürmer und das Heer der Ratten und Mäuse hervor. So war es zur ersten Reformationszeit auch in den nordöstlichen Teilen der Schweiz und sonderlich in der Gegend des zürcherischen Oberlandes, als ein dort angesessener Mann, der Hansli Gyr genannt, aus dem Kriege heimkehrte.

In den Anfangstagen des Jahres 1523 zog nämlich das kleine Zürcherheer über die Alpen zurück, das wunderlicherweise dem Papsttum Land und Leute gegen Frankreich geschützt hatte, während in der Heimat schon das Evangelium gepredigt wurde. Diese Zürcher hatten Parma, Piacenza und andere Städte genommen, nach dem Tode Leos X. den vatikanischen Palast verwahrt, bis Hadrian VI. gewählt war, und bei alledem den Zusammenstoß mit den übrigen Eidgenossen vermieden, die mit dem Franzosen im Bündnis und in dessen Heeren standen. Als sie schließlich sahen, daß sie von den Römern allerdings und trotz der Glaubensbewegung beschmeichelt und gehätschelt, aber zugleich gehänselt und die schuldigen Gelder nicht bezahlt wurden, zogen sie endlich, vom Rate abberufen, heimwärts, und die Hauptleute kamen gerade noch zeitig genug in Zürich an, um dem ersten Religionsgespräche vom 29. Januar auf dem dortigen Rathause beizuwohnen und mitzurichten über das päpstliche Rom.

[312] Es mochte wiederum einen seltsamen Anblick gewahren, diese schwertgewohnten, mit goldenen Ketten geschmückten und schwerbefiederten Männer, die vom jahrelangen Aufenthalt in dem Italien des sechszehnten Jahrhunderts herkamen, teilnehmen zu sehen an dem lediglich auf das geistige Wort gestützten logischen Fortgang von Disputationen, Abstimmungen und Beschlüssen, an der Reinigung von Glauben, Sitte und Staat, die sich im Widerstand gegen eine Welt vollzog und deren unfertig gebliebene Ausbreitung nur eine Folge begangener Fehler sein sollte.

Als der gedachte Heerzug, der nicht viel über fünfundzwanzighundert Mann stark sein mochte, mit Zeug und Troß vom Walensee hermarschierend, am linken Ufer des Zürichersees, der Stadt Rapperswyl gegenüber, anlangte, schwenkte Hansli Gyr mit Urlaub von der Heersäule ab und wandte sich der Rapperswyler Brücke zu, um seine am Berge Bachtel im jenseitigen Lande gelegene Hofstatt frühzeitiger zu er reichen. Der Name Hansli bedeutete nicht etwa eine kleine Gestalt; denn es war ein ziemlich hochgewachsener Mann und kräftiger Rottmeister, obgleich noch jung an Jahren. Vielmehr drückte sich darin eine gewisse vertrauliche Beliebtheit und der Ruf der Zuverlässigkeit aus, in welchem der Träger unter seinen Genossen stand; wie denn in den Mannschaftsrödeln oder den Verzeichnissen der Jahrzeitbücher solche oft vorkommende Koseformen für die Namen längst heimgegangener, sonst gänzlich unbekannter Kriegsleute den Eindruck machen, daß diese mehr als andere wert und lieb gewesen seien, vielleicht wegen ihres einfacheren, treuherzigeren Wesens oder wegen heitern Gleichmutes und gutartiger Laune oder irgend anderer guten Eigenschaften.

Den ledernen Reisesack leicht über die Achsel geworfen, schritt der Mann auf der gegen fünftausend Schuh langen geländerlosen Holzbrücke rüstig dahin, daß die Bretter klapperten und der gefrorene Schnee darauf knarrte. Stattlich gekleidet und gewaffnet, zeigte er gleichwohl nichts von dem übermütigen Pompe [313] der Kriegsknechte jener Zeit; sein Kleid in den weiß und blauen Landesfarben war von starkem Wolltuch und nur mäßig zerschnitten, etwa wie auch heutzutage der Bescheidenste den Schneider nicht hindern kann, diese oder jene Mode an seiner Leibeshülle anzudeuten. Allerdings waren Harnisch, Eisenhut und Helbarte von guter mailändischer Arbeit, der Harnisch sogar von den schlanken Hüften gegen die breiten Schultern hin fächerförmig und fein kanneliert, und von eigentlichem Luxus konnten allenfalls die hohen Lederhandschuhe zeugen, die er trug; denn ohne solche ließ sich damals kein schweizerischer Soldat sehen, der etwas auf sich hielt, wie es auch in einem Liede deutscher Landsknechte heißt:


Das Geld woll'n wir verschlemmen,
Das der Schweizer um Handschuh' gibt.

Sonst aber bestand der größte Staat, in welchem der Mann glänzte, aus dem blitzenden Scheine der Wintersonne, die weithin sichtbar sich in seiner silberblanken Rüstung spiegelte, also daß, solang er auf der Brücke ging, im See unter ihm ein zweiter Abglanz mit hinüberwandelte und erst verschwand, als Hansli in das dunkle Hafentor des Städtleins Rapperswyl getreten war.

Da er noch gegen drei Stunden Weges zurückzulegen hatte und überdies nicht sicher war, an seinem verlassenen Heimatherde heute noch etwas Nahrung zu finden, ging er in eine Taverne hinein und ließ sich warmes Essen sowie eine Kanne Wein geben. Die Stube war mit Schiffern, Krämersleuten und Bauern angefüllt, mit gut katholischem Volke aus der schwyzerischen March und dem Gasterlande, und obgleich Hansli Gyr schon manches von den heimischen Vorgängen vernommen, hatte er doch keine Vorstellung besessen von der bereits tiefgehenden Leidenschaft und Gereiztheit, welche jetzt in den Gesprächen der zechenden Leute zutage trat. Verwundert hörte er die über die Zürcher schon im Schwange gehenden Spottnamen und [314] Scheltworte, wie sie in solchen Zeiten immer die ersten Waffen der unwilligen Beschränktheit gegen die Neuerer bilden. Ein alter Söldner, den er wiedererkannte und um die Bedeutung der Worte fragte, erklärte ihm, dieselben mißbilligend, Herkunft und Sinn der häßlichen Schmachrufe, brach aber gleich selber in bitteren Tadel aus.

»Deine Herren von Zürich«, rief er, »wollen die Pfaffen kuranzen und lassen sich von der neuen Art selbst Zaunpfähle auf ihren Köpfen spitzen! Predigen lassen sie gegen uns arme Kriegsleute, daß es ein Elend und eine Schande ist! Sie wollen uns verbieten, unser Leben zu gewinnen, wo wir es finden, und mit Ehren einen blutigen Pfennig zu suchen oder einen goldenen Kronenzinken herunterzuschlagen! Stubenhocker und Duckmäuser sollen wir werden, die der Mutter am Fürtuch hangen, und doch haben wir Land und Freiheit nicht mit Bücherlesen und Schwätzen, sondern mit guten Spießen und langen Degen erhalten! Mögen sie es so treiben, sie werden am Ende geschickte Schulmeister und Disputierer sein, aber sicherlich im offenen Feld keinen Streit mehr bestehen und kaum ihre Stadtmauer schirmen!«

Hansli Gyr wurde von dieser Rede nicht stark betroffen; er war, ob noch jung an Jahren, des Krieges müde und sehnte sich nach Ruhe und friedlicher Arbeit. Auch schien ihm der alte Kriegsmann, wenn er ihn genauer betrachtete, nicht viel Ursache zu haben, sich seiner vergangenen Tage zu freuen. Denn er war offenbar von Mühseligkeiten und wildem Leben gebrochen, von der Gicht geplagt und vor der Zeit alt geworden; sein abgeschossenes seidenes Wams ließ unter den Spuren von Schweiß, Staub und Eisenrost kaum noch eine Farbe erkennen; die dazugehörige gebauschte Prachtshose war längst verschwunden und mit einem bescheidenen Kleidungsstück von Ziegenfell vertauscht. Zwischen Wams und Hosen hing noch das Hemd heraus, aber nicht mehr als Schmuck und Fahne des Übermutes, sondern als ein grauer und gröblicher Sack der Armut. Den [315] Kopf deckte lediglich ein Käpplein von verblichenem rotem Sammet, das er einst unter dem Federhut getragen und jetzt unablässig über die Ohren zog, die ihn schmerzten, und statt des Schwertes trug er eine Krücke. Begierig nahm er den Krug an, welchen Hansli frisch füllen ließ, und wickelte etwas übriggebliebenes Brot und Käse sorgfältig in ein Tüchlein.

Nichtsdestoweniger fuhr er grollend fort »Deine Herren haben sich aber die Rute schon selbst gebunden! Das gemeine Volk überbietet sie in der Torheit wie der Aff den Narren, und die Bauern wollen zu einem andern Loch hinaus als die Herren! Geh nur heim auf deinen Berg, der wimmelt, wie ein Hund voll Flöh, von Schwärmern und Propheten, die in den Wäldern predigen, tanzen und Unzucht treiben, und die Weiber sind toller denn die Männer!«

Erschreckt horchte der jüngere Kriegsmann auf und verlangte näheren Bericht über diese abenteuerlichen Dinge, worauf der Alte ihm in seiner Weise erzählte, was er von dem wiedertäuferischen Treiben wußte, das insbesondere im Grüninger Amte und in der Gegend des Bachtelberges sich ausgebreitet hatte. Er schloß die Erzählung, zu seiner eigenen Narrheit zurückkehrend, mit der Ermahnung, der Junge solle nicht in dieses heimische Wirrsal hinein, sondern wieder fort und zu den Kriegsscharen des Königs Franziskus gehen, wo es Scharten auszuwetzen und neues Glück zu erjagen gelte.

Mit blinzelndem Auge sah der Alte unter den weißen Buschbrauen hervor und schaute träumerisch im Geiste die stürmenden Schlachthaufen, die fliegenden Fahnen, niedergeworfenen Feinde, die brennenden Gehöfte, üppigen Quartiere, fremdländischen Frauen und die silbergefüllten Beutel.

Als er wieder erwachte von den schönen Träumen, fand er den Kameraden nicht mehr neben sich, weil der, von Neugierde und Sorge getrieben, schon die Stadt verlassen hatte und mit starken Schritten der Heimat entgegeneilte.

Dort waren ihm in den letzten Jahren, während er zu Felde [316] lag, kurz nacheinander Vater und Mutter gestorben, der kleine Bauernhof aber und die Güter inzwischen von einem Nachbaren besorgt worden, dessen Behausung ein paar hundert Schritte entfernt auf der gleichen ansteigenden Höhe des Bergfußes stand. Nicht sowohl die Sorge für sein Eigentum beschleunigte seinen Gang, als die Furcht, die Dinge sonst nicht mehr zu finden, wie er sie einst verlassen. Mitten in der italienischen Pracht und Herrlichkeit und beim Anblick der römischen Weiber hatte er stets nur an die junge Ursula, die Nachbarstochter, gedacht, mit der er aufgewachsen war. Ihr stilles, schlichtes Wesen, ohne allen Schein, weder schön noch häßlich, gut wie das tägliche Brot, frisch wie das Quellwasser und rein wie die Luft vom Berge, besiegte vor seinen Sinnen jeden fremden und gewaltsamen Glanz, und das Zusammenwohnen mit ihr dünkte ihm so unentbehrlich wie die Heimaterde selbst, welche den Menschen mit ihren treuen Maßliebaugen anschaut.

Halb vertraut war er von der nicht völlig Erwachsenen geschieden; nun nahm es ihn wunder, wie Ursula aussehen möge, und konnte doch keine andere Vorstellung gewinnen als diejenige des halben Kindes. Um so hastiger eilte er vorwärtszukommen, von den Reden des alten Soldaten verwirrt, und hielt sich bei bekannten Leuten, denen er auf seinem Wege begegnete, nur kurz auf. Trotzdem glaubte er zu bemerken, daß die einen Gesichter machten, als ob sie sagen wollten Du wirst dich wundern, wenn du heimkommst! und daß andere ihn prüfend beäugelten, wie wenn sie seine Gesinnung ausforschten. Endlich sah er sein Haus auf der Höhe unter den zwei großen Nußbäumen stehen, die es im Sommer beschatteten und jetzt ihre mächtigen Äste auslegten, dunkel und bemoost wie das Strohdach unter ihnen und von dem über Tag geschmolzenen Schnee triefend. Aber nicht nur diese fallenden Tropfen, sondern auch die kleinen Fensterscheiben, die er hinter den Läden verschlossen wähnte, funkelten wie frisch gewaschen in der sinkenden Abendsonne; aus dem Dache stieg ein wirtlicher Rauch empor, [317] die Türe öffnete sich, und eine nicht unfeine weibliche Gestalt trat heraus, mehr wie eine Bürgersfrau als wie eine Bäuerin damaliger Zeit gekleidet. Ein langes dunkles Gewand umhüllte einen schlanken Leib bis zum Halse, dicht unter der Brust gegürtet, und ließ am Oberarme die schmal gefalteten Ärmel eines weißen Hemdes hervorgehen; ein halb durchsichtiges Häubchen bedeckte die Stirn bis nahe zu den großen dunkeln Augen; überdies war ein feines weißes Tuch mehrmals um Kopf, Nacken und Kinn gewunden, so daß nichts von dem Haupthaare sichtbar und das Gesicht vollkommen eingefaßt wurde.

Hansli Gyr hatte soeben nur an Ursula gedacht und erkannte sie vielleicht gerade deswegen nicht sogleich, als die gereifte weibliche Gestalt ihm entgegenkam, die Arme öffnete und ihm um den Hals fiel. Erst als ihre weiche Brust auf seinem fühllosen Harnisch lag, erkannte er sie an dem Schnitt ihres ernsten Mundes, den sie ihm zum Kusse bot, und erst nachdem er sie unbewußt umschlossen und geküßt hatte, wurde er des unerwarteten Glücksfalles inne, den er sich nicht so nahe gedacht. Er hielt sie verwirrt und ungewiß in den Armen, ließ diese allmählich locker, da er unrecht zu tun glaubte, zog die liebe Gestalt aber gleich wieder fester an sich, bis er sie endlich entschieden Voll sich abhielt und, sie betrachtend, ausrief »Bist du denn eigentlich die Ursula? Und so groß und schön geworden?«

»Wollte Gott, ich wäre schön!« sagte sie mit liebevollem Blicke, »ich möcht es dir herzlich gönnen! Wie lange hab ich auf dich gewartet! Wir wußten aber, daß ihr heute kommt, wir haben euere Wehre glänzen sehen in der weiten Ferne und durch die stille Luft sogar die Trommeln zu hören geglaubt. Da bin ich hieher gekommen und habe dein Haus gelüftet und gewärmt und das Feuer auf dem Herd entfacht. Deine Tiere stehen in unsern Ställen, morgen kann man sie herüberführen, dann ist alles fertig. Nun komm herein!«

Sie führte den überraschten Mann in das Haus, half ihm dort, sich seiner Kriegsrüstung zu entledigen, brachte warmes Wasser, [318] daß er nach dem langen und beschwerlichen Marsche die Füße baden konnte, und pflegte ihn auf jede Weise. Dann deckte sie den Tisch und trug das Essen auf, das sie bereitet hatte; worauf sie sich neben ihn setzte auf die Bank am Fenster, wie wohl junge Eheleute tun, ehe sich ein Hausgesinde gesammelt und Mann und Frau mehr auseinandergerückt hat.

Es verspürte aber keines von beiden große Eßlust, weil die Freude über das Wiedersehen sich mit einer verwunderlichen Aufregung vermischte, welche aus dem ungewöhnlichen Tun der Frauensperson entstand. Hansli Gyr betrachtete die Jugendgenossin mit wachsendem Wohlgefallen, aber auch mit neuem Erstaunen und ungewissem Sinn, und er wollte sie eben befragen, wie es denn komme, daß sie die Kopftracht, Tuch und Haube einer verheirateten Frau trage, als sie mit zärtlichem Lächeln auf eine Weinkanne, Weißbrot und Gewürzschachtel wies, die auf einem Gesimse standen, und errötend sagte, daß hier schon das Zeug zu einer guten Weinsuppe für den kommenden Morgen bereit sei. Es war damals üblich, daß die Frau eines Kriegsläufers, wenn er aus dem Felde nach langer Abwesenheit zurückkehrte, ihm am Morgen nach der ersten Nacht, die er wieder an seinem Herde zugebracht, zum Zeichen ihrer Freude einen heißen Würzwein mit gerösteten Brotschnitten kochte, so gut sie es imstande war.

Noch ungewisser und erstaunter sagte er »Aber wir sind ja noch gar nicht getraut, und nichts ist beredet und vorbereitet!«

»Warum hast du mich denn geküßt, wenn du mich nicht willst?« antwortete Ursula, die jetzt plötzlich blasse Wangen bekam.

»Ei, wer sagt denn, daß ich dich nicht wolle?« rief Hansli, indem er das junge Weib näher an sich zog; »wenn du mich willst, so will ich auch dich! Aber damit sind wir ja erst Brautleute, sofern die Deinigen auch ihre Einwilligung geben!«

»Weißt du denn noch nicht, daß wir hier zu den Heiligen und Sündelosen des neuen Glaubens gehören, die keiner weltlichen [319] noch geistlichen Obrigkeit mehr untertan sind? In uns ist der Geist Gottes, wir sind sein Leib, und wir tun nichts als allein seinen Willen! So sagen unsere Propheten, und du sollst und wirst auch in unsere Gemeinschaft treten, und so nehmen wir uns zu Mann und Frau vermöge des heiligen Geistes und Willens, der in uns waltet!«

Diese Rede hielt Ursula mit hastigen Worten, und jetzt erblaßte Hansli ein weniges, als er sie noch fester umfing und ihr prüfend in die Augen blickte; denn er hatte sie nie soviel auf einmal reden hören. Wie sie nun, an seinem Halse hangend, die Augen zu ihm aufschlug, sah er darin ein sanftes sinnliches Feuer glühen, aber zugleich auch die Flamme des Irrlichts, welche die Bescheidenheit dieser Seele versengt hatte, und er merkte, daß sie von der Wahnkrankheit befallen war wie eine süße Traube vom Rost.

Ungern und langsam löste er sich aus der Umarmung und von der Brust, die ihm so willkommene Ruhe bot, und suchte sanft die Hände, die sich immer wieder verschränkten, von seinem Halse wegzubringen, bis er endlich mit einem festen Ruck sich befreite und hoch aufgerichtet vor ihr stand.

»Auf die Art kann es nicht gehen«, sagte er ernsthaft, »ich will nach Recht und Bräuchen zur Ehe schreiten und festhalten, was mein ist! Komm, liebe Ursel, ich will dich in dein Haus zurückführen und mit den Deinigen sprechen, so gerät alles in der Ordnung, und wir kommen um so fröhlicher zusammen! Von deinen Heiligen und Propheten höre ich nichts Gutes, und ich kenne sie nicht, meine auch nicht, mit ihnen vertraut zu werden!«

Ursula gab ihm aber keine Antwort; sie ließ die Arme schlaff niederhängen und blickte verstört vor sich hin. Beschämung und Unwillen hatten sie gleich einer Verschmähten, die sich selbst angetragen, überwältigt, und jetzt wußte sie keinen Rat, da der Liebste wie eine Art Richter vor ihr stand. Jene Beredsamkeit war von ihr gewichen, ohne daß die alte bescheidene Gemütsruhe [320] zurückkehrte, und im wunderlichen Wechsel des Lebens traf es sich, daß der in allen Irrsalen herumgetriebene Reisläufer mit gesunden Sinnen dastand, während das Unheil das stille Weib in der entlegenen Bergeinsamkeit aufgefunden hatte.

Hansli band sein Seitengewehr wieder um den Leib; dann reichte er der Verstummten die Hand, und als sie sich nicht regte, hob er sie gemächlich empor und sagte »Komm, Ursel, wir wollen's bald in Ordnung bringen!« Sie ließ sich willenlos gegen die Türe führen; dort klammerte sie sich aber an den Türpfosten und rief flehend »O laß mich hier! Laß mich hier!« Jedoch er machte sie wiederum los, worauf sie plötzlich rasch entschlossen voranging und in die Nacht hinauslief, ohne auf ihn zu warten. Er holte sie indessen mit wenigen Schritten ein, sie gingen, ohne zu sprechen, nebeneinander hin und sahen bald die großen Ahornbäume in den Nachthimmel ragen, bei welchen der Hof des Enoch Schnurrenberger lag, des Vaters der Ursula.

Dieser Geschlechtsname rührt von einer weiter nördlich gelegenen erhöhten Lokalität her, Schnurrenberg genannt, was ehmals, zur Zeit der Landteilung, Berg des Snurro, des Schnurranten, Possenreißers, bedeutete. Wenn nun Vater Enoch auch schwerlich von jenen alten Snurringen abstammte, so war er doch in seiner Art ein grimmiger Possenreißer, der sich für den durchtriebensten Gesellen der Landesgegend hielt; das wollte aber viel sagen, weil es in diesem Oberlande an aufgeweckten und findigen Köpfen nicht fehlte, unter welchen bei jeder Gelegenheit auch alsobald Propheten und Fanatiker, Maulwerker und Spekulanten aller Art aufstanden.

Im Hause Enochs saß nächtlicherweile gerad eine Anzahl solcher Propheten beisammen, wenn auch untergeordneter Art und keiner von den großen Predigern darunter, die geheim oder offen das Land durchstreiften. Es waren vielmehr allerlei Mittelsmänner, welche den allgemeinen Wahn noch im besondern mißverstanden, mystische Überlieferungen hineinmengten und, [321] von alten Leiden des Volkes bewegt, die wachsende Gärung ausbreiteten und auf derselben schwammen.

Vier oder fünf solcher von der Wärme der Zeit ausgebrüteter Winkelseher hielten bei dem Schnurrenberger eine erbauliche Sprachversammlung. Damit sie jedoch Licht und Raum nicht umsonst gebrauchten, hatte ihnen der schlaue Wirt einen Haufen zum Dörren bestimmter Apfel aufgeschüttet, welche die Propheten zerstückeln mußten, während sie ihre Gesichte und Gedanken austauschten. Da sie aber so fleißiger Arbeit nicht eigentlich günstig waren und zudem von der Wirtin fortwährend ermahnt wurden, die Apfelbutzen reinlicher auszustechen, so saßen sie ziemlich verdrossen um den Tisch herum, und der Geist wollte nicht über sie kommen. Sie fühlten sich daher angenehm erleichtert, als Hansli Gyr gemessenen Schrittes in die Stabe trat, sich umsah und grüßend auf den Vater Enoch zuging, der ihn mit seltsam glitzernden Augen anstarrte und zu durchbohren suchte. Sofort taten die andern Propheten das gleiche, indem sie die Apfel ruhen ließen und mit den müßigen Äuglein, je nach den verschiedenen Leibeskräften, blinzelnd oder funkelnd den unbefangenen Soldaten von allen Seiten bestrichen. Sie hielten sich sämtlich für sogenannte Durchschauer und frönten der schlechten Gewohnheit solchen Anblinzelns, welches immer entweder einen Schelmen oder einen eingebildeten Narren verrät, ehrlichen und anständigen Menschen aber unverständlich und widerwärtig ist und ihnen das Gefühl erweckt, als wenn sie von Ungeziefer bekrochen würden.

Wie sie nun so taten, als ob der Eingetretene von Glas wäre und sie ihn durch und durch schauen könnten, hielt Hansli auf seiner kurzen Wanderung durch die geräumige Stube unversehens still und sah die Männer, einen nach dem andern, mit Erstaunen an. Er besann sich, daß dieses wahrscheinlich von den neuen Heiligen seien, die ihm das Liebchen verdorben; wenn er also mit der neugierigen Betrachtung des letzten fertig war, so begann er wieder bei dem ersten, mit arglos ruhigen Augen, [322] und ließ sich alle Zeit dazu. Sie fingen daher mit ihren Augendeckeln immer unruhiger an zu zwinkern und wollten doch im Durchschaungswerk nicht dahintenbleiben, so daß ihnen das Ding unbequem wurde und der Schnurrenberger das Wort nahm und sagte:

»Was kommt uns da für ein Schwertträger und Kriegsheld? Wen will er befehden?«

»Nur ich bin's!« antwortete Hansli, »guten Abend, Vater Enoch und alle miteinander!«

Zugleich schaute er sich nach der Ursula um, welche ihm schon vor dem Hause abhanden gekommen und verschwunden war. Man wußte hier recht gut, daß sie gegangen war, den heimkehrenden Soldaten zu empfangen; man kannte auch ihre Neigung und setzte ihren Plänen keine Hindernisse entgegen; dennoch stellte sich der schnurrige Mann, als ob er von nichts wüßte, fragte nicht, wo Hansli das Mädchen gelassen habe, und wies ihm eine Schabelle zum Sitzen an, indem er fortfuhr:

»Ei, seht da! Das ist ja unser Freund und Nachbarsmann und fast nicht mehr zu erkennen, wahrlich noch gewachsen, so ein großer Hans ist er!«

Kaum hatte Hansli aber Platz genommen, so begann jener mit volksmäßiger Ungeduld und Streitlust zu schelten:

»Was soll der Degen und das Kriegskleid noch? Weiß man noch nicht, daß das Tausendjährige Reich kommt und unsere Wehrleute die Engel im Himmel sind mit glastigen Schwertern und Demantschilden? Aber freilich, ihr kommt vom Papst und geht zum Papst oder Päpstlein in Zürich, was solltet ihr da vom Tausendjährigen Reich und vom Geiste wissen, ihr Eisenfresser und Großhanse? Ihr haltet euch wohl für groß und wichtig mit euren Trommeln und Fahnen? Ach was für ein hinfälliges, wässerig feuchtes Wesen ist doch der Mensch! Wenn man ihn nur ein wenig ansticht, so läuft er gleich aus, und nimmst du den stärksten Kriegsgesellen, der wie aus Marbel gehauen scheint in seinen Gliedmaßen, und lässest ein Felsstück auf ihn [323] fallen, nur so groß wie ein Kamel, so ist's, wie wenn man eine elende Spinne plattgetreten hätte; ein schmutzig feuchter Fleck auf der Erde ist alles, was übrigbleibt!«

Auf diese unfreundlich gemeinte Demütigung erwiderte Hansli mit gutmütigem Lachen »Und was bleibt denn übrig, wenn das Kamelstück auf einen Heiligen und Propheten fällt?«

Das gefiel aber dem Enoch keineswegs; denn statt darauf zu antworten, rief er: »An ihren Früchten wer det ihr sie erkennen! Willst du Ei auch schon klüger sein als die Henne? Und hast doch noch keinen von den gelehrten Herrenpfaffen gesehen und ihren Hauptmann, den verkehrten Zwingli, noch nicht einmal predigen gehört?«

»Freilich hab ich ihn schon gesehen und gehört«, sagte Hansli, »aber es ist lang her, und ich hatte noch nicht viel Verstand. Das ist vor acht Jahren gewesen, als ich, ein sechszehnjähriger Bub, mit nach der Lampartei gelaufen bin, zur Zeit des Unglücks von Marignan, da wir die Schlacht verloren. Da hat der Zwingli uns im Felde gepredigt, ein lieblicher und mutiger Mann, der haue Augen wie ein Hirsch so schön, ich weiß deutlich noch, daß ich ehrfürchtig hinsah! Freilich will ich den nun predigen hören! Denn man sagt, er baue und stütze sich ganz allein auf das göttliche Wort, wie es in der Schrift stehe!«

»Schrift, Schrift! Was weißt du von der Schrift, und was weiß jener Tropf und Afterlehrer davon?« Diese letzten Worte stieß plötzlich einer der prophetischen Beisitzer mit kreischender Stimme hervor, ein länglicher dünner Mann, welcher der kalte Wirtz von Goßau hieß, weil er immer feuchte kalte Hände hatte. Er war mit einem engen grauen Rock wie mit einem Sacke bekleidet, völlig bartlos, und nur die falben Augbrauen stiegen wie ein Paar Spitzbogen in die schmale Stirn hinauf.

»Was ist die Schrift?« schrie er, »eine leere Haut, ein Balg, wenn ich nicht den Heiligen Geist hineinblase! eine tote Katze, wenn ich sie nicht mit dem Odem Gottes auf die Beine jage! Sie ist eine tonlose Pfeife, eine stumme Geige, wenn ich nicht darauf[324] spiele! Ich bin die Offenbarung und das Wort, und die Schrift ist nur der Schall und der Hauch davon, der die Luft bewegt! Ich zünde sie an wie eine Laterne, damit zu leuchten, und lösche sie aus, sobald es mir gefällt! Ich ziehe sie mir über den Kopf wie eine Nebelkappe und mache brr! brr! und schüttle den Kopf, und alsbald bin ich ins Geheimnis gehüllt, und ein schrecklich, es Dunkel geht von mir aus, daß euch die Haut schaudert! Ich blase durch die Nase, und der Nebel verschwindet, das Buch liegt auf dem Tische Gottes, und seine Buchstaben glänzen wie tausend Sterne, und ihr glaubt der Gründung des Himmelreichs beizuwohnen! Ich nehm's und werf es in die Ecke dort, und es ist ein gedrucktes Buch, ein Häuflein schlechtes Papier wie tausend andere Bücher!«

Alle sahen unwillkürlich nach dem Ofenwinkel, als ob er wirklich eine Bibel dorthin geschleudert hätte; die Wirtin stieß einen Schrei des Schreckens und der Bewunderung aus über solche Kraft und Herrlichkeit. Auch Hansli Gyr schaute hin, erstaunt und erschreckt von dem Unerhörten; aber der kalte Wirtz fuhr fort:

»An diesem Gewimmel toter Buchstaben mag jener eitle Grammatikus und Magister seine Künste treiben, er kann ebenso nutzreich den Sand der Wüste umworfeln, es wird kein lebendiger Quell entfließen! Ich aber nehme sie wieder hervor, und sie ist ein Mosesstab, ein Pflug, ein Schild und ein Schwert, ein Krug und ein Glas, ein Faß und ein Wein, ein grüner Wald und der Hund, mit dem ich darin jage, das tiefe Meer und das Schiff, darin ich fahre! Ich lese die Schrift, und ich schreibe sie, ich denke sie, ich spreche sie, ich tu sie auf, ich tu sie zu, ich sitze drauf, ich binde sie dem Teufel an den Schwanz und laß ihn laufen wie die Katz mit der Schelle!«

»›Denn Ich bin der, der das Wort hat!‹ spricht der Herr, ›und der es geschrieben hat und der es allein lesen und verstehen kann in seiner Wohnung, der Kreatur!‹«

Diese Rede ertönte von einer neuen, noch heftigeren und [325] lauteren Stimme, obgleich die Worte etwas langsamer und ausgeprägter gesprochen wurden. Der Kriegsmann, der sich nach dem neuen Redner umschaute, sah eine gedrungene Gestalt mit rollenden Augen und trotzig vorgestreckter breiter Unterlippe im schwärzlichen Gesicht. Das war der Schneck von Agasul, wie er im Volke genannt wurde, ein viel herumgefahrener Schuster und Schulmeister von abwechselnder Profession. Von seiner Unterlippe hatte ein ihm feindlicher Priester gesagt, sie sehe aus wie des Teufels Ruhebänklein, von welchem der gefallene Engel die haarigen Beine herunterbaumeln und sich schaukeln lasse, wenn der Schneck rede. Sonst hatte er nichts Eigentümliches an sich, als daß er ein Freund des Schmuckes schien; denn er trug mehrere vergoldete Ringe mit roten und grünen Glassteinen an den Fingern. Man sagte ihm nach, daß er in früheren Jahren die Schuhe aufgeschnitten und auch an den Zehen solche falschen Ringe getragen habe.

»Ich bin der, der das Wort hat!« rief er, indem er den Hansli Gyr, der ihn neugierig betrachtete, wieder mit den Augen durchbohrte und immer gereizter wurde, bis er sich plötzlich besann und einen Gesang anhub, in welchen Männer und Frauen einfielen; denn auch Ursulas Stimme ließ sich unerwartet hören:


Gott ist in Juda wohlbekannt,
In Israel sein Name schallt,
Zu Salem ist sein Unterstand,
Von ihm die Burg auf Zion hallt!
Daselbst zerbricht er Pfeil und Speer
Und Schild und Schwert und allen Streit:
Die Stolzen schlägt und bändigt er
Und lähmt die Krieger weit und breit!
Er macht sich auf zu selber Frist,
Zu richten über alle Not,
Und wer auf Erden elend ist,
Dem hilft der Herr, Gott Zebaoth!
[326]
Lobt Gott und opfert ihm, dem Herrn!
Denn seine Hand ist rauh und schwer
Er löschet aus der Fürsten Stern
Und jagt die Könige vor sich her!

Der Gesang verscholl aber eher wehmütig als drohend, mehr wie eine Klage als wie ein Siegeslied; der Schneck von Agasul aber fuhr von neuem empor und rief:


»Nun glaubt ihr wohl, Gott sitze wirklich auf einem feurigen Streitwagen oder auf der Zionsburg über den Wolken, angetan mit einem langen Bart, mit Krone und Schwert, und verjage euch den Papst und die Fürsten, die Junker und die kleinen Burgerkönige von Zürich, und ihr könnt nur dastehen mit offenem Mund, daß die gebratenen Vögel hineinfliegen! Und er trage ein Tintenfäßlein im Gürtel und schreibe alle euere Namen in ein Buch, jeden mit seinem Guthaben und seinen Wünschen, mit seinem Längenmaß und dem Gewicht seines Bauches, daß er zugeben und wegnehmen könne, wie es das Wohlsein erfordert, und habe davon alle Finger voll Tintenflecke, der gute Mann?

Ha, weit gefehlt, ihr blinden Heiden, die ihr Bilder anbetet und den Herren nicht spüret, der euch im Genicke sitzt! Hier ist er, dort ist er, allenthalben ist er! Er ist im Staube dieses Fußbodens und im Salze des Meerwassers! Er schmilzt mit dem Schnee vom Dache, wir hören ihn tropfen, und glänzet als Kot auf der Gasse. Er schwänzelt mit dem Fisch in der Tiefe des Wassers und späht im Auge des Habichts, der in den Lüften fliegt. Wie würde uns der Wein so gut dünken, wenn er nicht darin wäre, das Brot sättigen, wenn er nicht darin wohnte? Aber er ist auch in uns selber, und so wie wir uns selbst nur sehen können, wenn wir einen Spiegel haben, so können wir ihn, der in uns wohnt, nur erblicken im Angesichte des Nächsten und Bruders; darum müssen wir uns fleißig ineinander bespiegeln und uns Brüder sein, daß wir ihn entdecken und offenbaren, der von Urbeginn in uns ist! Denn wie könnten wir so [327] heilig, so sündlos, so geistreich und so witzig sein, wenn wir nicht selber göttlicher Natur wären, und wie könnte er bestehen, wenn wir ihm nicht Wohnung gäben?

Darum, so hängt er von uns ab wie wir von ihm, und wir müssen ihn mürbe machen, wenn er nicht guttut, und ihn gänzlich überschmieren mit kecklichen Gedanken und Worten, bis er kleinlaut wird und mit Wundern und Zeichen ausrückt und uns zu Willen ist!«

Er nahm vom Tisch einen Apfel, hielt denselben vor sich hin und sprach mit ihm, als ob er belebt wäre:

»Holla, du putziges Herrgöttlein! hast dich hieher geflüchtet, sitzest in diesem Apfel und glaubst, ich finde dich nicht? Ich will dich wohl auftreiben, wie du einst den Adam aus dem Busch getrieben hast, als er vom Apfel gegessen! Beim heiligen Blut des Menschensohnes, komm eilends hervor! Sehet, ihr Brüder und Schwestern, wie der Apfel anfängt innerlich zu leuchten, wie er mir auf der Hand schwillt und zur Welt wird? Seht ihr, wie der Stiel wächst und zum hohen Kreuz wird, das auf Golgatha steht? Seht ihr die Menschlein, die auf der Höhe wimmeln, und die Gräber, die sich auftun, und die Toten, die auferstehen? Heilig, heilig, heilig ist Er! Rufet und preiset Ihn, Er hat uns erlöset!«

»Heilig, heilig!« stießen alle mit einstimmigem Ausrufe hervor, mit Ausnahme des Soldaten, der den Propheten unverwandt anstaunte, bis dieser plötzlich ihm die Baumfrucht gegen den Kopf schleuderte und mit verändertem Tone rief »Da hast du den Apfel, friß ihn!«

Hansli hatte den Apfel aber schon mit der Hand aufgefangen, betrachtete ihn eine kleine Weile und legte ihn dann ruhig auf den Tisch.

»Das tust du mir nicht ein zweites Mal, du Gaukelmann!« sagte er zu dem Schneck, indem er ihn gelassen ansah; der Winkelprophet aber rutschte hinter dem Tische, wo er sich halb und halb sicher fühlte, unruhig hin und her, juckte auch ein [328] paarmal in die Höhe, ohne daß er wußte, was er eigentlich mit dem Kriegsmann wolle. Es war eben die böse Willkür, die seit tausend Jahren oben auf den Altären gesessen und nun in diese armen Leute gefahren war, sich da in ärmlicher Weise kundgab und gleich verlegen wurde, wenn sich Widerstand zeigte.

Neben dem Unruhigen saß aber ein stiller Heiliger, der ihn jetzt beschwichtigte, Jakob Rosenstil, der Breitmatter genannt, ein beleibter Mann mit einem langen Bart, welcher bis jetzt mit über den Bauch gelegten Händen bequemlich und schweigend dagesessen hatte. Er huldigte einer geistlichen Gelassenheit, einem Stillstande, einer Unbeweglichkeit der Seele, die alle Betrübnis in sich aufzehrte und sich, ohne sich zu rühren, von den göttlichen Sachen und allen guten Dingen anfüllen ließ. Er war jahrelang gemächlich im Reiche herumgewandert, auch schon einmal in einem Kloster gewesen und dann wieder aus demselben hervorgekommen; jetzt zog er langsam von Hütte zu Hütte, weil die Notdurft ihn immer wieder auf die Beine brachte und ihn zwang, einen Anschluß an beweglichere Gottschauer zu suchen, in deren Gefolge es etwas zu beißen gab.

»Sei doch nicht so ungeduldig und eher sanftmütig!« sagte er zu dem Schnecken von Agasul und legte ihm die Hand auf die Schulter; »siehe, der Mann ist ja ganz ruhig, trotz seines Schwertes; laß ihm doch die nötige Zeit, daß er das wahre Wort Gottes in sich aufnehme und verarbeite, und du wirst sehen, was für ein schöner Erweckter und Heiliger das einst sein wird!«

»Ich will keine Apfel mehr schnitzen!« antwortete Schneck unwirsch, aber ausweichend und schob zurück, was vor ihm auf dem Tische lag.

»Frau, räume den Tisch ab!« rief der Hauswirt; »wir wollen uns noch ein kleines Weltfreudelein bereiten und einen Kopf Wein ausmachen! Hast du dein neues Kartenbüchlein bei dir, Wirtz?«

Der Tisch wurde abgeräumt, der kalte Wirtz zog ein Kartenspiel [329] aus seinem grauen Sackrocke hervor und legte es auf den Tisch; der alte Enoch holte einen großen Krug Weines herbei, den er seinen Gästen für gutes Geld ausschenkte, obgleich er keine Ehafte hiefür besaß, und nun spielten sie ohne weiteres Geräusch den größten Teil der Nacht hindurch eifrig mit den Karten, deren Bilder von greulichem Getier Affen, Katzen und Dämonen, teils unanständiger Art, zusammengesetzt waren, ohne übrigens von den Spielern genauer betrachtet zu werden.

Erst gegen Morgen machten sie mit dem eintönigen Geschäft ein Ende und zerstreuten sich nach ihren verschiedenen Wohnstätten oder Schlupfwinkeln. Hansli Gyr, der es ablehnte, mit den unfreundlichen Gesellen zu spielen, und dem es auch nicht gelungen war, noch ein Wort mit den unsichtbar gewordenen Frauensleuten zu reden, hatte schon früher seine einsame Behausung aufgesucht und sich kopfschüttelnd und mit übelm Mute endlich zur Ruhe gelegt.

II

Dennoch schlief er gut und tief in den Morgen hinein, da seiner Müdigkeit das sorglich aufgefrischte Lager, das vormalige breite Ehebett seiner verstorbenen Eltern, gastfreundlich entgegenkam. Er mußte auch gleich beim Erwachen der weiblichen Hand gedenken, die dieses Lager so wohl zubereitet; und als er vollends den ihm zugedachten Morgenimbiß erblickte, schwankte er in seinem Sinne, ob er nicht töricht gehandelt habe, das zärtliche Glück von sich zu stoßen, das ihm so nahe gewesen. So gut er es verstand, braute er nun selbst den heißen Würzetrank und überlegte, bei demselben sitzend, wie die Sache zu wenden sei, daß er auf rechte Weise zu dem Seinen komme.

Da öffnete sich die Türe, und der alte Schnurrenberger trat herein, in Fausthandschuhen und die Axt unter dem Arme wie [330] einer, der ins Holz gehen und im Vorbeiweg zusprechen will. Mit seinen stets oszillierenden Augen besah er schnell das Frühstück, zu welchem Hansli ihn einlud, und er säumte auch nicht, daran teilzunehmen.

»Ich werde diesen Wein und dieses Brot und das Gewürz«, begann er mit bedächtigen Worten, »auf unsere Abrechnung, und zwar zu meinen Gunsten schreiben müssen, da du das Kind verschmäht und von dir gestoßen hast; denn billig trägst du jetzt diese Kosten allein!«

»Wer sagt denn von verstoßen und verschmähen? Ich will sie mehr als je!« antwortete Hans; »aber ich wundere mich, daß ihr, Vater und Mutter, euer Kind auf die bewußte Art aus der Hand geben wollet; und ich wundre mich, daß ihr mit solchen Schalksnarren verkehrt, die euch solches in den Kopf setzen, wie ich gestern gesehen!«

»Diese armen Schalksnarren werden deine und deiner Herren Meister sein; denn wir, das Volk, werden sie groß machen, damit wir selber groß und herrlich werden nach dem Ratschluß Gottes, der auf dem Wege zu uns ist! Was das Kind, die Ursula, betrifft, so wollen wir uns dem alten Heidenregiment nicht mehr unterwerfen, sondern sie aus göttlicher Freiheit weggeben, und nur wer sie in solcher Freiheit aufnimmt, kann sie haben. Du aber bist als ein halsstarriger und hochmütiger Spießgesell des Alten heimgekommen, das sehen wir freilich und bauen nicht mehr viel auf dich!«

Hansli Gyr sah bekümmert vor sich hin; er gehörte zu jenen einfach gearteten Menschen, welche von ausbrechenden Seelenkrankheiten unberührt bleiben, ohne sich irgend dafür anstrengen zu müssen, wie es Leute gibt, die gegen leibliche Seuchen verwahrt scheinen und ohne Gefährde hindurchgehen. Er fühlte daher wohl, daß er dem verworrenen Wesen, das ihm widerstand, nie näherkommen werde. Während er aber gegen die Ursula keinerlei Bitterkeit, sondern nur zärtliches Mitleid empfand, erfüllte ihn das Benehmen ihres Vaters mit Ungewißheit [331] und Abneigung. Er hatte denselben jederzeit als einen schlauen und beredten Mann gekannt und für klüger gehalten, als er in der Tat war, insofern er in seiner Unschuld nicht zu beurteilen wußte, wie gerade solche Schlauköpfe, von übeln Trieben geleitet, am ehesten der Verkehrtheit verfallen, die sie zu beherrschen wähnen. Um so rätselhafter erschien ihm jetzt dieses fremdartige Unheil, das sich so unheimlich an der Stätte seiner Wiege und seiner verhofften Zukunft eingenistet hatte.

Nach einem kleinen Nachdenken faßte er sich jedoch zusammen und sagte:

»Ich will nach Zürich gehen, wo ich ohnehin mich noch zu stellen und zu tun habe. Dort werde ich mich umschauen und am besten sehen und hören, was im Lande geht und was die Obern eigentlich wollen und lehren lassen. Darum wäre es mir lieb, wenn du meine Sache so lang noch besorgen wolltest; sobald ich wiederkomme, will ich dir alles abnehmen und dich nicht am Schaden lassen!«

Diese Mitteilung gefiel aber dem Enoch Schnurrenberger keineswegs und daß der junge Mann in der Stadt der alten Herrscher sich Rats erholen wolle, statt ihm zu glauben.

»Du wirst nicht wiederkommen!« sagte er schnell besonnen; »und aus alter Freundschaft und um dir Gutes zu tun, will ich es dir leicht machen, deinem vermeintlichen Glücke nachzugehen, solange der Geist Gottes nicht über dich kommt. Höre also Alles, was man jetzt Eigentum nennt, wird aufhören, sobald das Reich der tausend Jahre kommt, was über Nacht geschehen kann! Zuerst werden Zehnten und Grundzins, Gefälle und Frondienst und alle ungerechten Beschwernisse abgeschafft; bald darauf wird aber auch alles Land eingezogen und der letzte Marchstein ausgegraben, und wer nicht mithalten will, kann den Mund wischen und gehen. Damit du jetzt schon gehen kannst, ohne um das Deine zu kommen, weil ich dir dein Gütlein aus Erbarmen um einen billigen Kaufschilling abnehmen und es als das meinige bewerken, solange der alte Zustand noch dauert. [332] Da ich an dem neuen Reiche teilhaben werde, so leide ich alsdann ja keine Not und müßte so wie anders alles, was ich besitze, an dasselbige abgeben. Du aber kannst auf diese Weise einstweilen ziehen, wo dich gelüstet, und hast einen guten Reisepfennig!«

Enoch nannte, nach einem scheinbaren kleinen Besinnen, einen noch kleineren Kaufpreis, um welchen er sogleich mit Hansli abmachen wolle.

»Soviel besitze ich schon an erspartem Sold und etwas Beutegeld«, erwiderte Hans, indem er ein mit Gold gefülltes Ledersäcklein hervorzog und dem Alten zeigte, dessen neugierige Augen mehr von irdischen Dingen als vom Reich Gottes zu funkeln schienen.

»Überdies«, fuhr Hansli fort, »steht mir das Gütlein vorderhand noch fest genug. Es könnte ja aber auch so kommen, daß Zehnten und Grundzinse allerdings abgeschafft würden, nicht aber das Grundeigentum, und alsdann wäre dieser Hof um so viel mehr wert, ich also darum betrogen, woran du freilich gewiß nicht gedacht hast. Wir wollen es daher beim alten lassen, und ich danke dir für deine gute Hilfsmeinung!«

»Wie du willst«, sagte Enoch, dessen Gedanken Hansli ziemlich erraten hatte, da er auch nicht auf den Kopf gefallen war; »aber sorge nun dafür, daß das Gewerblein bestellt wird; denn ich mag mich nicht länger damit plagen!«

Hiemit nahm er seine Axt zur Hand und verließ ohne weitere Reden das Haus, in welchem Hansli Gyr einsam zurückblieb. Enochs Betragen drückte ihm nicht wenig auf das Herz, da er daran erkannte, daß man ihn aufgab und aus der Nähe zu bringen suchte. Nachdem er eine Weile in der stillen Stube gesessen, welche gestern so warm und wirtlich gewesen und jetzt so kalt und unfreundlich war, sprang er plötzlich empor, um sich auf den Weg zu machen. Statt die alten Bauernkleider hervorzusuchen, blieb er in seinem Kriegsgewande und stellte dasselbe, wie die Waffen, sorgfältig wieder in sauberer Ordnung her.[333] Auch die lederfarbigen Handschuhe mit den hohen Stulpen zog er wieder an, wie wenn er sich dadurch stolz von der verkehrten Heimat abschließen und unterscheiden wollte. Als er vollends die Fensterläden zugeschlossen hatte und von der Türschwelle in das dunkle Haus zurücksah, wurde es ihm beinah zu Mut, als ob der alte Invalide zu Rapperswyl recht gehabt und er lieber wieder hinausmöchte, wäre es auch nur, um ein Grab im grünen Felde zu finden.

Er nahm jedoch den Schlüssel zu sich und ging in der Richtung nach Enochs Hof hinweg, in der Absicht, denselben dort abzugeben, gewissermaßen als Unterpfand, daß er wiederkommen werde und seinerseits die Hoffnung nicht fahrenlasse. Als er zu der Behausung kam, saß die Mutter der Ursula, winterlich eingemummt, in der offenstehenden Scheuer und schnitt irgendein Viehfutter zurecht, wonach hier die tägliche Arbeit doch einstweilen in alter Weise fortgeführt wurde.

»Muß man im Tausendjährigen Reich auch noch Kraut und Rüben schneiden?« sagte er mit versöhnlichem Scherz; »guten Tag gebe Euch Gott! so fleißig mit den krummen Fingern?«

»Dank dir Gott, Hansli, und gebe dir auch einen guten Tag!« antwortete die Frau; »man wird immer etwas tun müssen, es wäre ja sonst zu langweilig! Wo willst du hin mit deiner Rüstung? Ich wäre jetzt bald zu dir hinübergekommen, um dir etwas zu Mittag zu kochen, da man dich doch nicht so sitzenlassen kann! Doch du scheinst ja wieder ausfliegen zu wollen?«

»Ich muß nach Zürich hinunter, wo die Mannschaft abgedankt wird; hier ist mein Schlüssel, wenn Ihr ihn noch so lang verwahren wollt! Und sagt, wie ist es mit der Ursula? Ist es auch Euere Meinung, daß sie ohne Pfarrer und Obrigkeit eine Frau werden soll?«

»Ja, das ist auch meine Meinung, weil es der Wille Gottes und meines Mannes ist. Er versteht das Ding freilich besser als ich und hat immer seinen Willen durchgesetzt. Er gedenkt selbst ein Oberhaupt zu werden in der neuen Zeit und sagt, einmal [334] müsse man anfangen und gerad mit dem, was uns am nächsten liegt. Klug genug ist er, alles durchschaut er und hat große Gaben. Du tätest daher am besten, du würdest dich ihm unterwerfen; denn du kannst nicht aufkommen gegen ihn. Die Ursel hat letzte Nacht kein Auge zugetan; sie sitzt jetzt in der Stube und spinnt; willst du nicht hineingehen?«

Er tat es; Ursula wurde ganz mit Rot übergossen, als er eintrat; sie senkte den Blick auf die Spindel, ohne zu beachten, daß der Faden in Unordnung geriet. Seinen Gruß erwiderte sie nicht, und selbst als er ihre Hand ergriff, sah sie nicht auf, sondern wendete sich ab.

»Ich bin gestern gar nicht dazu gekommen, dir das Ringlein zu geben, das ich mitgebracht habe«, sagte er und legte ihr einen feingearbeiteten Goldreif, den er in Italien gekauft, an einen Finger der Hand, die er ergriffen; »willst du dich mir aufs neue anvertrauen und versprechen, daß du wartest, bis ich wiederkomme?«

»Nur wenn du deiner verlorenen Welt absagst und dich zu uns hältst, will ich den Ring tragen«, sagte endlich Ursula mit stets abgewandten Augen, »im übrigen will ich warten, bis du dich an die großen Dinge mehr gewöhnt hast!«

»Ich sage keinem ab und keinem zu!« rief Hansli, »du aber mußt jedenfalls von den Propheten lassen, die ich gestern gesehen; denn die gefallen mir nicht!«

Da streifte Ursula den Ring vom Finger und ließ ihn auf den Boden rollen, indem sie aufstand und, ohne den Hansli Gyr anzusehen, aus der Stube ging, in die Kammer, wo sie sich den heiß hervorbrechenden Tränen überließ. Sie beugte sich unter dem Banne des Wahnes und des stechenden Blickes ihres Vaters, den sie zu gleicher Zeit fürchtete wie ein Schwert und verehrte wie einen untrüglichen Heiligen; denn wo sollten solche Geister Anhang und Glauben finden, wenn nicht zuerst bei den Ihrigen, denen sie die Sache unaufhörlich vorsagen und jede wünschbare Beschreibung von sich machen?

[335] Hans stand noch einige Minuten in der Stube; dann ging er, ohne den Ring aufzuheben oder sich weiter umzuschauen, hinaus und begab sich mit einem schweren Seufzer auf den Weg. Wieder begegnete er, als er durch die nächsten Dörfer kam, manchen seltsamen Leuten und Blicken und sah, wie sie zusammenstanden und raunten. Bald aber, je weiter er kam, war es, wie wenn die Luft sich klärte; er sah das alte vertraute Volk, welches unbefangen und verständig seinen Geschäften oblag und mit heiterer Ruhe seine Wege ging. Und doch war auch hier und überall nicht mehr die alte Weise; eine rege und kräftige Gedankenarbeit schien die geklärten Lüfte zu durchwehen und die Menschen zu beseelen, und ohne daß er sich sagen konnte, woran es lag, wurde es dem rüstig Ausschreitenden wohler und heller zu Mute.

Freilich traf er die Kriegsschar, die noch zu Zürich lagerte, in Widerspruch und Aufregung begriffen. Durch das strenge Verbot aller weiteren fremden Kriegsdienste und der Pensionen fühlten sich die alten Reisläufer und ihre Rädelsführer hart betroffen und am neuen Auslaufen verhindert, und von den geheimen oder offenen Gegnern der Reformation aufgehetzt, ließen sie ihrem unwirschen Mute und der Zunge den Zügel schießen, während von der andern Seite die prophetischen Schwärmer sich unter die Soldaten mischten und sie für sich zu gewinnen suchten.

Nachdem Hansli Gyr sich vorläufig umgetan und bei den Vorgesetzten gemeldet hatte, suchte er, da es Abend geworden, das Trinkhaus zum Elsasser auf, wo die Stadt durch ihren eigenen Wirt elsässischen Wein ausschenken ließ und jetzt die Unteroffiziere und alten Streithähne des zurückgekehrten Heerhaufens beieinander saßen oder standen; denn schon unter der Haustüre, über welcher das Stadtwappen gemalt war, und auf dem Flur waren die reisigen Gesellen in Gruppen versammelt und gingen ab und zu in aufrechter, schlanker Haltung wie Leute, die seit Jahren den Rücken nicht gebeugt und den Karst [336] nicht mehr geführt haben oder die Axt. Hansli drängte sich durch und eroberte noch einen äußersten Platz in der dichtgefüllten Stube, die vom lauten und aufgeregten Gespräche widerhallte, soweit die niedere Decke das zuließ. Scharfe Sprüche und Reden schwirrten durcheinander; die in den höchsten Lagen ertönenden Stimmen gehörten gerade den längsten und stärksten Männern an, erklangen aber nur um so schneidender und drohender. Sie stritten auf allen Seiten darüber, ob dem Kriegsverbote zu gehorchen oder offen zu trotzen sei oder ob man einfach das Land verlassen und, das übrige der Zukunft anheimstellend, ziehen wolle, wo es beliebe.

Als Hansli sich genauer umsah, bemerkte er den kalten Wirtz von Goßau, der mitten unter den Kriegern zuhinterst an der Wand saß, dicht neben einem andern seltsamen Nichtkrieger, einem verkappten Mönch und Papist, den niemand kannte, der aber bis jetzt allerlei aufreizende Worte zum Widerstand und zum Festhalten an der alten Kriegsfreiheit in Umlauf gesetzt hatte. Plötzlich zog Wirtz seine Augbrauen bis unter den Hut hinauf und fing an zu rufen, die Männer sollten diesem römischen Teufelsgesellen nicht glauben, aber auch nicht den Herren und Räten, sondern sie sollen ihre Spieße auf einen Haufen werfen mitten in der Stadt und dieselben feierlich verbrennen; denn das neue Jerusalem sei im Anzuge, das seine eigenen Stadtsoldaten mitbringe, Legionen von Engeln mit feurigen Schwertern, gegen die kein irdisches Eisen mehr aufkommen könne. Dieses werde nur noch dazu bestimmt sein, die willige Erde mit leichter Mühe zu graben und der mildesten Witterung zu öffnen. Jeder bekomme überdies eine neue junge Frau und könne sich der alten, wenn er eine solche habe, bei dieser Gelegenheit entledigen, da mit jeglichem Übel aufgeräumt würde.

Ein schallendes Gelächter unterbrach Wirtzens Rede, die sich anfänglich einiger Aufmerksamkeit erfreut hatte; nur drei oder vier ältere Hähne, welche die Heimkehr ersorgen mochten, schienen der Sache reiflicher nachzudenken, bis auch sie das [337] Unwahrscheinliche einsahen und den Propheten weiter keines Blickes würdigten. Hansli Gyr aber, voll Unwillen, daß der Fratzenmann, den er erst gestern gesehen, ihm heute schon wieder vor Augen kam und ihn an die unglückliche Wendung erinnerte, die das Wiedersehen mit Ursula genommen, rief jetzt mit lauter Stimme, man sei nicht dazu da, sich mit allerhand Eselsschwänzen abzugeben, wie sie im Lande jetzt vom Himmel zu fallen scheinen; man habe Ernsteres zu schaffen und müsse zusammenhalten.

Als er nun begrüßt und gefragt wurde, wie er denn von den Sachen denke, sagte er »Liebe Brüder, ich bin erst seit ein paar Stunden hier und habe gleichwohl erkundet, daß die Räte und Bürger, die Zweihundert und das Volk auf der Landschaft in großer Mehrheit einig gehen und die Gewalt bei ihnen ist nach wie vor! Darum halte ich dafür, daß es uns nicht anstehe oder nützlich sei, Streit zu erregen und von der Ordnung zu weichen.«

»Das ist eine gute Rede von einem jungen Kriegsmann!« sagte jemand neben ihm mit wohlklingender Stimme, und eine Hand legte sich warm und fest auf seine Schulter. Als er sich verwundert umschaute, sah er den Meister Ulrich Zwingli, der, von einem angesehenen Zunftvorsteher und einem jungen Humanisten begleitet, aus den Staatsgeschäften kommend, hier vorsprechen wollte, um selber wahrzunehmen, wie es um die Kriegsleute stehe.

»Ist unter den Waffen«, fuhr Zwingli fort, »eine so biedere Meinung und noch ein Plätzchen für uns übrig, so möchte ich gern auch ein Glas von dem elsässischen Wein trinken, der einem Geistlichen, der die Soldaten liebhat, nicht minder wohltun muß als diesen selbst!«

Zum Teil willig und freundlich, zum Teil nur langsam und murrend rückten die Männer zusammen; aber diese Bewegung wurde mit jedem Augenblicke kräftiger, je länger das sonnige Auge des Reformators auf der Versammlung ruhte, weshalb bald hinlänglicher Raum für die Neuangekommenen vorhanden war, [338] freilich auf Kosten des römischen Mönches und des kalten Wirtzen; denn weil diese beiden allein sich nicht gerührt hatten, so wurden sie von zwei Seiten her zusammengedrückt und aneinandergepreßt, so daß sie sich nicht mehr bewegen konnten zwischen den starken und breiten Gesellen und dabei alte Mühe bloß darauf verwenden mußten, ihre feindlichen Gesichter voneinander abzukehren.

Um so ungestörter konnte Zwingli, der die beiden Eingeklemmten mit heiterer Laune gar wohl bemerkte und erkannte, sich mit den Soldaten unterhalten; bald hörten sie auch mit sichtlichem Wohlgefallen auf seine Reden, deren toggenburgischer heller Dialekt anmutig abstach gegen den Vokalismus der Zürcher, der, bald dumpf geschlossen, bald ungefügsam breit, dem Inhaber selbst zuweilen beschwerlich fällt, bis der erstarkende Redestrom alle Hindernisse besiegt und wie ein geschiebeführendes Bergwasser einherdonnert. Die bewegliche Sprache Meister Ulrichs war zudem die Blüte des frischen und unbefangenen Wesens des Gebirgskindes, das, hoch unter Felsenhäuptern und Firnen geboren, mit gelenker Kraft ins Leben herniedergesprungen ist und überall den Glanz der Heimat im Auge zu tragen und die wehende Bergluft auf den Wangen zu fühlen scheint.

Es wurde auch dem Manne, der später die merkwürdige Instruktion für einen Feldhauptmann, wie er sein soll, geschrieben hat, nicht schwer, die Wehrmänner zu überzeugen, daß er kein Feind und Verächter redlicher Kriegsleute, sondern ihr Freund und guter Bruder sei. Sie folgten mit Aufmerksamkeit seinen Worten, als er die höhere Art eines Wehrvolkes schilderte, welches nicht sein Blut für Geld und fremde Händel verspritze, wohl aber mit seinen Ehrenwaffen die Unabhängigkeit des Vaterlandes, das selbstgeschaffene Recht, die gute Sitte und die Freiheit des Gewissens zu schirmen verstehe.

Es wurde zuletzt so still, daß man plötzlich die Glocke läuten hörte, welche den Schluß aller Trinkstuben und Wirtschaften [339] gebot. Sogleich erhob sich Zwingli mit seinen Begleitern und begab sich nach seinem Hause, das ihm ungewohnte Abenteuer beendigend. Allein auch die Soldaten, denen in Anbetracht ihrer langen Kriegsfahrt sowie ihrer besondern Stimmung niemand den Aufbruch anzubefehlen wagte, erhoben sich zum größten Teile freiwillig, und einige von ihnen geleiteten den Magister bis zu seiner unfern beim Münster gelegenen Pfarrwohnung und schüttelten ihm dort traulich die Hand, unter ihnen auch Hans Gyr, der mit großer Zufriedenheit dicht neben ihm gesessen und ihn, soviel es die Bescheidenheit erlaubte, fleißig angeschaut hatte. Zwingli wachte noch den größten Teil der Nacht hindurch, indem er an seine gelehrten Zeit- und Kampfgenossen lateinische Briefe schrieb über die Dinge, die ihn und sie bewegten.

Die Mannschaft aber ging dann am nächsten Tage friedlich auseinander und zerstreute sich über die Landschaft, jeder seinen Herd suchend; nur Hansli Gyr blieb mit einer kleinen Zahl zuverlässiger Leute, die keine andere Unterkunft wußten, in der Stadt, um für alle Fälle bei der Hand zu sein und inzwischen mannigfache vertraute Dienste zu leisten. Hansli wohnte auch am Schlusse des Monates der ersten großen Disputation bei, durch welche die Oberherrschaft des Staates und die Unabhängigkeit der Gemeinde festgestellt, die für wahr gehaltene biblische Urkunde zur alleinigen Grundlage des Glaubens erklärt wurde. Er ging auch fleißig in die Predigt des Reformators, und nach Maßgabe seines schlichten Verständnisses war er Zeuge einer wirklichen Reformationsarbeit, die noch das Glück hatte, aus dem Ganzen zu bauen. Von dem festen Grunde der Erde erhoben sich die Pfeiler und Giebel des Werkes in die Höhe der Übersinnlichen Welt, bis sie wie lauterer Kristall in den kristallenen Äther tauchten, ohne die Umrisse zu verlieren, und die Baumeister standen nicht wie willkürliche Macher hinten in einer geistigen oder körperlichen Sakristei, sondern mitten im Tempel und blickten, selber leidend, hoffend und vertrauend, [340] siegend oder untergehend, in die Höhe, die vom Dunste des Priesterheidentums, soweit das Zeitalter es erlaubte, gereinigt war. Aber die Religion blieb die alte und wurde nicht zu einer mythologischen Literatur, welche, über eine philosophische Formel gespannt, mit mehr oder weniger Kunstfertigkeit gespielt werden kann wie ein anderes Instrument.

Daher waren die Reformatoren samt ihrem Volke naiv fromm und mit sich einig bei aller Freiheit des Geistes, und es wurde auch dem einfachen Soldaten Hansli Gyr möglich, mit Bewußtsein und wachem Auge die neuen Wege zu gehen.

III

Die Pfingstzeit des Jahres 1524 war für die in den Kirchen zu Stadt und Land versammelte Bilderwelt kein liebliches Fest geworden; denn infolge einer weiteren Disputation und daherigen Ratsbeschlusses wurde, unter Zustimmung des Volkes, alles Gemalte, Geschnitzte und Gemeißelte, Vergoldete oder Bunte von den Altären und Wänden, Pfeilern und Nischen genommen und zerstört, also daß der Kunstfleiß vieler Jahrhunderte, so bescheiden er auch in diesem Erdenwinkel war, vor der Logik des klanglosen Wortes erstarb; allein die eigentlichen Religionen dulden keine Surrogate; entweder gehen sie in denselben unter, oder sie verzehren sie wie das Feuer den Staub. Trotz allem Schonen und Zögern brach es los wie ein Gewitter, und unter dem Rufe: »Fort mit den Götzen!« ging es an ein Hämmern, Reißen, Abkratzen, Übertünchen, Zerschlagen und Zerspalten, daß in kurzer Frist die ganze kleine Farben- und Formenwelt vom Tageslicht hinweggeschwunden war gleich dem Hauch auf einer Fensterscheibe.

Ein Jahr später, an einem schönen Herbsttage, fand das Nachspiel statt, als im Chorherrenstift zu Zürich der Kirchenschatz ausgehoben und zu Handen des Staates genommen wurde. Von [341] den in Silber und Gold gebildeten Heiligtümern trennten sich die geistlichen Hüter nicht so leicht, und sie wichen schließlich nur dem bestimmten Befehl, als die Abgeordneten des Rates in die Sakristei drangen. Hansli Gyr war zu Schutz und Wache beigegeben und wunderte sich, indem er das zudringende Volk in Schranken hielt, selber über die verjährte Kostbarkeit, die nun durch die verödeten Kirchenhallen in den hellen Sonnenschein getragen und zunächst in das gegenüberliegende Kaufhaus gebracht wurde, welches ein grauer alter Ritterturm war.

Voran schwankten die silbernen Bilder der Schutzheiligen Zürichs, der Märtyrer Felix, Regula und Exuperantius, welche trotz aller Reformation zur Stunde noch, die Häupter in den Händen, das Zürchser Staatssiegel bilden. Dann folgte ein sechzig Pfund schweres Muttergottesbild von purem Golde, dann eine Reihe goldener und silberner Kreuze, schwere gotische Monstranzen, gleich kleinen Münsterkirchen einherwandelnd, ein dichter Schwarm goldener Kelche und anderer Gefäße, von den ältesten byzantinischen, dann gotischen Formen bis zur neuesten Gestaltung im Stil der Renaissance; Rauchfässer und dergleichen begleiteten die Reliquienkasten, Plenarien und andere Behältnisse der Heiligtümer, das goldene Gebetbuch Karls des Kahlen und ähnliche Raritäten, alles mit Edelsteinen und Perlen mannigfach übersäet; das alles schimmerte auf dem kurzen Wege im letzten Sonnenblick, eh es in den düstern Hallen des Turmes verschwand.

Sogleich folgte aber ein noch farbenreicheres Schauspiel, das mehr von einem fröhlichen Geräusch begleitet war, als die unabsehbare Menge der Meßgewänder und Paramente, der Kirchenfahnen, Altartücher, Teppiche und Buntgewebe aller Art erschien, von Schülerknaben und anderer Jugend getragen und geschwenkt. Dieser Zug ging aber nicht in den Kaufhausturm, sondern bewegte sich wie ein Katarakt von Seide, Gold- und Silberfäden, Leinwand und weißen Spitzengeflechten die Münstertreppe [342] hinunter auf das im Flusse stehende Helmhaus, ein offener Estrich, wo die Trödler und Krämer saßen und allerhand Schacher getrieben wurde. Dort hielt man nun einen Markt über alle die Stoffe und Gewebe von zum Teil sehr alter Abkunft und kunstreicher Arbeit; ein Haufe eitler oder leichtsinniger Weiber und Dirnen eilte aus seinen Schlupfwinkeln herbei, worin die alte Zeit noch ihr Wesen trieb, ehe sie völlig überwunden war, und es begann ein Feilschen und Bieten um die schimmernden und glitzernden Stoffe. Nicht nur Frauensleute wühlten und zupften darin herum und suchten möglichst bunte Zeugstücke für ihres Leibes Putz heraus, um sie für wenig Geld zu erstehen, sondern auch hie und da ein unverbesserlicher Kriegsgeck zog eine Decke oder ein Gewand von vielleicht sarazenischer Wirkerei hervor, das er zu einer stattlichen lacke zuzuschneiden gedachte.

Hans Gyr betrachtete das unruhige und ungewohnte Schauspiel mit Verwunderung und entdeckte sogar den Schneck von Agasul, den Winkelpropheten, wie derselbe an einer uralten Dalmatika zerrte, welche von Löwen und Adlern in roter und gelber Seide bedeckt war und sich zur Umwandlung in ein Offizierskleid des neuen Jerusalems zu eignen schien. Dabei bemerkte Hansli, wie jener in der Hast einen schön gewirkten länglichen Teppich zur Seite warf; er hob ihn auf, breitete das Tuch auseinander und sah eine anmutige Schilderei sich entwickeln. In einem Walde, der durch einige auf bläulichem Grunde stehende Ebereschenbäume angedeutet war, haschte eine Drossel, auf dem Aste sitzend, nach dem blutroten Beerenbüschel, sich daran zu letzen. Ein Fuchs lauerte gierig auf den arglosen Vogel, nicht ahnend, daß hinter ihm ein junger Jäger den Bogen nach ihm spannte, während dem Jäger schon der Tod nach dem Genicke griff, zuletzt aber der Heiland durch den Wald kam und den Tod an dem Reste des Haarschopfes packte, der ihm hinten am kahlen Schädel saß. Da diese Decke oder Tapete für keinerlei Gewandstück zu brauchen war, so achtete niemand [343] weiter darauf, und Hansli Gyr, dem sie gefiel, kaufte dieselbe und faltete sie sorgfältig zu sammen. Beim Anblicke des Schnecken war ihm nämlich unversehens die Ursula durch den Sinn gefahren und sodann der Wunsch erwacht, ihr den Teppich für den Haushalt zu schenken, den er immer noch mit ihr zu führen hoffte; schon ging es nun ins dritte Jahr, daß er aus dem Kriege heimgekehrt war, ohne doch zu Hause zu sein, wo der Wahnwitz ihn fernhielt.

Gerade in diesen Tagen sollte auf einer Bergmatte, welche ihm gehörte, eine Versammlung der jetzt zur Wiedertäuferei offen gewendeten Schwärmer jener Gegend stattfinden. Ursula hatte im Sommer das Gras gemäht und mit Mühe auf einen Haufen gebracht, da sich sonst niemand darum kümmerte und bei aller Verfinsterung der Seele sie doch unbewußt nicht lassen konnte, was dem Hansli nützte. Denn obgleich ihr Vater zunächst den Nutzen bezog, so gewährte es ihm doch ein boshaftes Vergnügen, Hanslis Sache verderben zu lassen, abgesehen davon, daß ihn das schwärmerische Treiben und Spekulieren schon vielfach von der nötigen Arbeit abzog. Knechte aber konnte er schon seit einem Jahre nicht mehr finden, weil jeder ihm gleich sein und keiner ihm gehorchen wollte.

Ursula fürchtete, daß der Heuschober, den sie mit soviel Arbeit im jener Matte errichtet, von dem versammelten Volke zerstört und zertreten werden könnte; sie ging daher am frühen Morgen des betreffenden Tages mit Rechen und Gabel hinauf, um das Heu möglichst auf die Seite zu schaffen, und tat ihr Vorhaben niemandem kund. Die Wiese war so gelegen, daß sie von drei Seiten mit Wald umgeben und nach der vierten Seite hin offen, aber nur in der Ferne sichtbar war, von wo man etwa mit Fernröhren hätte erkennen können, was darauf vorging, wenn es damals solche gegeben.

Wie sie nun in der Morgensonne und in der Bergeinsamkeit schaffte und sich mühte, wurde das blasse und freudelose Gesicht sanft gerötet und von frohem Mute belebt. Während der [344] Herbstnebel die Täler deckte, war es hier oben so warm wie im Mai oder Brachmonat; sie warf daher im holden Eifer Kopf-und Halstuch zur Seite und blühte jetzt wie eine junge Rose, während sie für Hansli Gyr sich regte und sein Goldreif an ihrer Hand schimmerte. Denn sooft sie sich des Nachts schlafen legte oder des Tages allein war, steckte sie sogleich den Ring an den Finger. Manchmal sah sie sich mit leuchtenden Augen um, bald in die duftige Ferne, in welcher die Gebirgshäupter gleich bläulichen Schatten sich reihten, bald in die nahen Waldsäume, die mit purpurner und goldener Farbe sie umgaben, so geheimnisvoll, als ob jeden Augenblick der geliebte Mann aus den Bäumen hervortreten sollte.

Da schien plötzlich ein Teil des Laubes, ein rotgelber Busch selber lebendig zu werden und heranzuwandeln; es war der Schneck von Agasul, der die Dalmatika in eine Art Talar verwandelt, mit Ärmeln versehen und angezogen hatte, um darin vor dem zu erwartenden Volke aufzutreten und eine hohe Stellung einzunehmen. Auf dem Kopfe trug er einen alten Hut von blauem Sammet, den er mit Goldschnüren in die Höhe gebunden und zu etwas Undeutlichem geformt hatte, und alle seine Finger waren mit gläsernen Juwelen besteckt, welche in der Oktobersonne schwächlich glänzten wie falsche Redensarten.

Mit angenehmer Überraschung bemerkte er die einsame Ursula und beschleunigte seine Schritte, bis er sie erreichte, deren unbewachter Liebreiz seine Augen blendete.

»Ich finde dich zu guter Stunde, Töchterlein Zions!« rief er; »es ist Zeit, daß man dich zu Ehren zieht, und längst habe ich dich ausersehen, an meiner Seite zu sitzen auf den Stühlen des Gerichts und zu liegen an meiner Seite auf der Liegerstatt der ewigen Herrlichkeit! Heut ist ein großer Tag, und ehe die Sonne wieder aufgeht, muß vieles vollendet sein!«

Ohne Zögern wollte er sie packen und an sich ziehen; doch die aus süßem Träumen Aufgeschreckte wehrte den Andringenden [345] mit ihrer Heugabel ab und stieß mit derselben so heftig nach ihm, daß die Zinken sich in dem Mummenschanz verfingen und der übel zusammengesetzte Talar, als der Prophet sich befreien wollte, in verschiedenen getrennten Stücken ihm vom Leibe fiel und er m schäbigen und beschmutzten Unterkleidern dastand. Da zugleich fremde Schritte nahten, las er fluchend die Fetzen zusammen und lief in das Gehölze zurück, um seine Blöße zu decken und das Herrschergewand wiederherzustellen, so gut es ging.

Auf ihre Waffe gestützt, blickte ihm Ursula aufatmend und erschrocken nach wie einem unholden Gespenst, das uns aus einem Traume geweckt hat; aber schon schrie sie noch erschreckter auf, als sie sich von zwei Armen umfaßt fühlte. Sich umdrehend, ersah sie den Mann der Gelassenheit, Jakob Rosenstil, den Unbeweglichen, der aber jetzt ganz rührig war, ein Glücklein zu erhaschen. Er griff mit beiden Händen fortwährend nach der Abwehrenden und mit großer Schnelligkeit, wodurch er das Aussehen eines Hundes gewann, der im Wasser schwimmt; Ursula wies ihn jedoch mit ebenso großer Sicherheit mit nur einer Hand ab, indem sie aufs neue erstaunt den merkwürdigen Mann betrachtete, den sie nicht für so gefährlich gehalten hatte.

»Du hast recht«, sagte er schnaufend, »daß du den, der dort wegflieht, nicht willst! Er ist zu scharf und zu hitzig für dein sanftes Gemüt, trotz deiner Heugabel! Teile mit mir meinen lieblichen Seelenstillstand, die Ruhe unter den Palmen; da ist volles Genügen und stille Zeit, bis der Herr kommt und sagen wird: ›Aha! die zwei sind nicht dumm gewesen, die haben das Paradies schon zum voraus gehabt!‹«

»Geh, ich will dich nicht«, rief Ursula, »ich weiß schon meinen Engel und Herren, auf den ich warten muß; der ist schlank und schön, hell und sauber von Angesicht und nicht so schlumpig wie du! Pfui Teufel, mach dich fort, du Aschensack! Schäm dich, es kommen ja Leute!«

[346] In der Tat näherten sich mehrere Gruppen von Männern und Frauen und begannen sich zu sammeln. Gleichzeitig kam aber der alte Enoch herzugelaufen und schrie »Fort, fort! Der Landvogt von Grüningen ist auf dem Weg mit Spieß und Schwert! Wir sind verraten!«

Alle flohen waldeinwärts und verloren sich so geschwind wie ein Luftzug; die Bergmatte war still und leer, nur Ursula kehrte von der Seite, wohin sie schon vorher unbemerkt entwichen, zurück, um unbekümmert ihre Arbeit fortzusetzen, da sie das Heu erst zur Hälfte an eine geschütztere Stelle gebracht hatte. Ihre Gedanken irrten aber, von dem Abenteuer und der eingetretenen Stille gedrängt, vom Ziele ab; ohne es zu wissen, setzte sie sich auf den halb abgetragenen Heuschober, stützte den Kopf in beide Hände und versank in tiefes Sinnen.

Indessen war der Landvogt von Grüningen, welchen Enoch von weitem gesehen und der von dem Vorhaben der Täufer nichts wußte, sondern einfach mit seinem Gefolge auf die Jagd ritt, eine andere Straße gefahren und aus der Gegend wieder verschwunden. Was seinem kleinen Zuge das Ansehen einer amtlichen oder militärischen Unternehmung gegeben hatte, war das zufällige Voranschreiten des Hansli Gyr gewesen. Wie es in Zeit und Umständen lag, ging er bewaffnet als Soldat auch auf diesen friedlichen Wegen, auf denen er mit der erworbenen Tapezerei die Ursula suchte, und er hatte so einer spähenden Vorhut allerdings nicht ungleich geschienen, als er die Höfe von Menschen verlassen gefunden und in die Höhe gestiegen war, nach ihnen zu sehen. So gelangte er, während die Baptisten im Walde herumhuschten, auf seine Matte und ging langsam über dieselbe weg, die er jetzt seit Jahren nie mehr betreten hatte. So wird man fremd auf seiner eigenen Scholle, dachte er, und weiß selbst kaum, warum!

Aber wer macht sich denn hier noch mit Heu zu schaffen? fuhr er in seinen Gedanken fort, als er den Schober bemerkte, die Person, die auf demselben saß, und den Rechen nebst der [347] Gabel. Er schritt ungehört auf die unerwartete Erscheinung zu und stand nun in seiner ganzen Länge vor der in sich zusammengesunkenen Ursula, welche eingeschlummert war. Da er vor der Sonne stand, so bedeckte er sie mit seinem Schatten, so daß ein leichter Schauer über ihre bloßen Schultern flog. Aber erst als er sie beim Namen rief, wachte sie auf und sah seine hohe Gestalt, die sich dunkel von der leuchtenden Fernsicht abhob und nur auf den Achseln vom beglänzten Eisen schimmerte. Aber so stattlich er anzusehen war, so verblaßte doch seine soldatische Pracht und Herrlichkeit vor dem seltsamen Schönheitsstrahle, der ihr Gesicht verklärte, als sie ihn plötzlich erkannte. Und zwar entstand diese Schönheit sozusagen in Abwesenheit des Geistes wie der Sonnenblick, der über ein stilles Wasser läuft. Zitternd stand das arme Mädchen auf und streckte dem Manne lächelnd die Hände entgegen; doch wankten ihr die Knie, und sie sank wieder zurück, und zugleich ward sie erst jetzt ihrer halb entblößten Brust gewahr, bedeckte sie mit den Händen und schlug schamrot die Augen nieder.

»Ursula, was schaffst du hier?« sagte Hans Gyr; »komm, gib mir die Hand und deck dich nicht so ängstlich!«

»Nein, das schickt sich nicht!« flüsterte sie; »ich bin nicht so liederlich!«

Hansli sah ihre Tücher liegen, holte sie und ließ sich bei ihr nieder, indem er ihr half, dieselben umzulegen. Dann nahm er sie in den Arm und küßte sie.

»Und was tust du hier im Heu?« fragte er sie wie der.

Sie schaute ziemlich lange zu ihm auf, das Haupt auf seinem Arme zurücklegend, eh sie antwortete. Doch dann besann sie sich.

»Ei, was wollt ich tun? Euer Heu besorge ich, wie es meine Pflicht ist, o schönster Herr Engel Gabriel! Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr hier eine Matte habt, und keine von den schlechtesten!«

»Wie sagst du mir? Gabriel?«

[348] »Herr Gabriel, freilich! Herr, Herr, Herr, sag ich, nicht so grobweg Gabriel!«

»Kennst du den Hansli Gyr nicht mehr?«

»Den Hansli? Wo ist er? Ach, ach! den hab ich ja ganz vergessen! Wie traurig ist doch die Welt! Und hab ich ihn doch so liebgehabt! Aber das kann ihm nun nichts mehr helfen und mir auch nicht; jetzt bin ich die Braut eines englischen Herren und himmlischen Barons, da hat Hansli das Nachsehen, der Ärmste! Freilich dauert er mich, wenn ich das Unglück recht betrachte! Drum küsse mich, Herr Gabriel, aber leise, daß er es nicht hören kann!«

Sie sagte diese Sachen so anmutig, daß Hansli sich nicht enthalten konnte, sie wieder zu küssen, und er sah ihr dabei tief und prüfend in die Augen; denn er wußte nicht, ob sie scherzte oder irreredete, und zwar über das Maß hinaus, das ihm bekannt gewesen. Er konnte aber nichts entdecken als eine unergründliche Flut von Liebe, Traurigkeit, Freude und Sorglosigkeit, was alles er eben nicht auseinanderzuhalten vermochte. Und doch war es ihm zu Mute, als ob er allein da wäre, der bei sich selbst sei, und keine zweite Person in der Nähe. Und doch lag sie warm genug in seinem Arm; auch fand er, als er mit ihrer Hand spielte, den Ring, den er als den seinigen erkannte.

»Woher hast du denn das Ringlein?« fragte er jetzt; »hast du es vom Engel Gabriel?«

»Wie kannst du so töricht fragen«, erwiderte sie, »du hast es mir ja selbst gegeben! Aber was ist das für ein Bündelein, das du da bei dir trägst?«

»Das ist ein gewirktes Tuch, das ich dir mitgebracht habe für deinen Haushalt. Schau, was zierliche Bilder drauf sind!«

Er breitete den Teppich auseinander, so gut er es vermochte; denn sie wollte ihm durchaus nicht soviel Freiheit geben und hielt sich fest an ihm. Sie betrachtete, ohne sich zu rühren, die Schilderei, jedoch aufmerksam und mit Verstand und sagte nachdenklich:

[349] »Das ist gar ein schönes Tuch, wie ich noch keines gesehen; man sieht wohl, daß es im Himmel gewoben ist, und du hast es mir gebracht wie einen Brief. Der ganze Lauf der Welt ist drauf zu lesen, eines jagt dem andern nach, und zuletzt kommt der Heiland und überwindet den Tod und alle Übel. Das gibt eine schickliche und feine Wiegendecke für unsern Haus halt! Bst! Schweig nur, du wilder Vogel mit deinen Rauscheflügeln, mit deinen klingenden Federn! Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es sehen, wozu das Tuch bestimmt ist!«

Hans Gyr ertrug das Spiel nicht länger, dessen Süßigkeit für ihn mit bitterer Galle gemischt war. Er vermochte nicht zu erkennen, ob Ursulas Reden sich nur in den gemeinsamen Wahnvorstellungen ihrer Genossen bewegten oder ob sie durch jene noch persönlich und vielleicht unheilbar in der Seele gestört sei. Er sprang gewaltsam in die Höhe, schüttelte sich, daß sein Rüstzeug klirrte, und mit bleichen Wangen rief er »Komm, Ursula, wir wollen zu den Häusern hinunter!«

Verschüchtert und demütig stand sie vor ihm. »Sogleich, liebster Herr Engel Gabriel, werde ich Euch folgen«, sagte sie; »ich kann ja die Arbeit hier später verrichten und was noch zu tun ist.«

»Laß das dürre Gras fliegen, wo es will, wie unsere armen Sinne«, rief er nochmals, »und komm!«

Er ergriff Rechen und Gabel, während sie ungesäumt das Tuch zusammenwickelte, es an sich drückte und still und eilfertig an seiner Seite den Berg hinunterlief. Zuweilen sah sie furchtsam zu ihm auf; wenn er aber ihren Blick mit leid- und liebevollem Aug erwiderte, faßte sie Mut, und da Land und Himmel immer sonniger und freundlicher wurden, kehrten auch die Vertraulichkeit und das Glücksgefühl der verwirrten Jungfrau zurück. Sie plauderte und erzählte dies und jenes und antwortete verständig auf die Fragen, die Hansli an sie richtete, wie der Weg, den sie gingen, es mit sich brachte.

Seine Behausung war die nächste, die sie erreichten. Verschlossen, [350] still, wie eine Wohnung Abgeschiedener lag sie da, der Boden vor der Türe mit gefallenem Laube bedeckt, das niemand wegräumte. Mit einem tiefen Seufzer blieb er stehen; leise raunte Ursula ihm ins Ohr:

»Was suchst du hier? Da wohnt mein alter Schatz, machen wir, daß wir weiterkommen!«

»Ist er denn zu Haus und sitzt da drin im Dunkeln?«

»Kann wohl sein! Er hat heitere blaue Augen, bei deren Licht er allerhand schaffen kann, selbst wenn alle Fensterläden geschlossen sind. Hörst du? Ich glaub, er klopft und hämmert was! Hu! es wird mir gruselig!«

»Wir wollen sehen, ob er drin ist!« sagte Hansli und ging gegen die Haustüre. Ursula kam ihm aber zuvor; sie horchte mit dem Ohr am Schlüsselloch. »Jetzt ist er mäuschenstill«, flüsterte sie; dann pochte sie mit dem gekrümmten Finger sachte und höflich an der Türe und rief halb furchtsam, halb schalkhaft »Hänslein?«

»Er ist doch nicht drin!« sagte sie herzhafter, als alles still blieb und man nur das Geräuch des Brunnens hörte, welcher unter den Bäumen unverdrossen sein Wasser in den Trog ergoß, auf den der bekümmerte Hansli sich gesetzt hatte. Er fühlte sich wie in zwei Teile gespalten und war auf sich selbst eifersüchtig, weil er in seinem einfachen Sinne den Irrwegen, die Ursulas Gedanken gingen, nicht folgen konnte und ein unbegreifliches Unglück vor sich sah. In dieser Not gedachte er des Evangeliums und des allmächtigen, barmherzigen Gottes, der ihn jetzt gewiß sehen und hören werde, und verrichtete ein stilles Gebet für die Ursel, welchem er das Unservater beifügte.

Sogleich wurde ihm leichter, als er sah, wie inzwischen Ursula den Rechen genommen hatte und mit fester Hand das gefallene Laub vor der Türe und auf der ganzen Hofstatt zusammenkehrte und zur Seite schaffte. Sie sah dabei so gesund und verständig aus wie jemals, bis sie fertig war und sagte: »So, nun kann er [351] doch ordentlich laufen, wenn er kommt, derselbige Schwartenmagen, und man muß nicht singen:


Traut Hänslein über die Heide reit
Er schoß nach einer Tauben,
Da strauchelt ihm sein graues Roß
Über eine Fenchelstauden!

Ach, so eine alte Lieb ist doch nicht ganz leicht auszureuten!« fuhr sie nachdenklich fort und setzte sich neben den Hansli, »auch ist die Untreu nichts Schönes, nein, und nichts Gutes, man mag sagen, was man will – und doch ist mir so wohl bei der Sache! Ich bin so leicht wie ein Vögelein in der Luft, wie das kleinste Fläumlein, das ein solches verloren hat und das nun stillsteht zwischen Himmel und Erde und nicht weiß, soll es steigen oder fallen!«

In diesem Augenblicke fielen ein paar Nüsse von den Bäumen. »Er kommt, er kommt! Fort, fort!« rief sie und eilte so schnell davon, daß Hansli sie kaum einholen konnte.

»Ist er's? Hast du ihn gesehen?« fragte sie, sobald er bei ihr war.

»Wen?«

»Ei, der dort wohnt!«

»Vergiß ihn jetzt, ich bin ja bei dir!«

»Ja, das ist auch wahr, und er kann mir nichts tun!«

Hansli ging nun mit ihr zu ihres Vaters Haus und sah mit Verwunderung, daß um dasselbe her eine fast ebenso große Verwahrlosung herrschte wie um das seine. Die Mutter saß auf der Türschwelle mit abgehärmten Zügen, mit düsterem, beinahe wildem Blicke, und schien sehr gealtert zu haben. Sie hielt ein Messer, ein Gericht Rüben zu schneiden, hatte aber beide Hände sinken lassen und den grauen Kopf brütend vornübergebeugt.

»Mutter! Sieh, wer da ist, die Herrlichkeit kommt!« rief ihr Ursula mit rosigen Wangen entgegen; »mach, steh auf, ich will nur hinein und einen süßen Hirsbrei rüsten! Den liebt Ihr doch, [352] Herr Gabriel? Ach bedenkt, wenn Ihr mit uns gehen wollt, so müßt Ihr eben vorliebnehmen!«

Sogleich eilte sie ins Haus und machte sich dort zu schaffen. Die Alte hatte erstaunt aufgeblickt; als sie den Soldaten erkannte, schrak sie leicht zusammen.

»Mein Mann ist nicht da«, sagte sie, »wenn du etwa mit ihm rechnen willst; er hat übrigens jetzt kein Geld; du mußt dich gedulden, bald wird's besser kommen!«

»Ich brauche kein Geld und kann warten«, versetzte Hansli, »aber zu rechnen hätt ich allerdings etwas und möchte fragen, was habt ihr mit euerer Tochter Ursula angefangen?«

»Wieso? Was weißt du von ihr?«

»Ich habe sie draußen getroffen und bin über zwei Stunden mit ihr gewesen; sie behauptet, ich sei der Engel Gabriel, und redet als eine Irrsinnige. Denn daß sie nur ein Spiel treibe, kann ich nicht glauben, es ist nicht ihre Art!«

»Das sind eben Sachen, die dir verschlossen und auch dem Kinde noch dunkel sind; aber es ahnt sie und ist davon erfüllt. Es gehen Dinge vor, und die Wunder werden dasein, ehe du dich dessen versiehst!«

»Sie werden ein Ende mit Schrecken nehmen, eh ihr euch dessen verseht; ich fürchte, der Enoch führt euch alle ins Unglück mit seinen Spitzfindigkeiten!«

»Im Gegenteil! Alles baue ich nur auf ihn und halte fest an ihm und seinem Geiste!« sagte die bedrängte Frau mit einem Tone, dem man wohl anfühlte, daß sie geheime Zweifel zu bekämpfen hatte und sie nur mit Mühe überwand, wenn sie sich selbst überlassen war. Mit unbewußter Vorsorge äußerte sie denn auch keine feindliche Gesinnung gegen den Hansli, noch brauchte sie harte Worte, noch dachte sie daran, ihm den weiteren Verkehr mit dem Kinde zu untersagen, obgleich sie wissen mußte, daß das gegen den Willen ihres Mannes ging.

»Ich weiß nichts zu tun«, sagte Hansli nach einigen Minuten stummen Sinnens, »als daß ich mich in Geduld fasse und die [353] Zeit abwarte, die diese Verwirrungen lösen wird. Aber es ist schad um die schönen Jahre, um die arme Jugendzeit! Ihr Alten hättet die Besessenheit während eueres eigenen Lenzen abspinnen können, wenn es so nötig war, so könnten die Jungen jetzt ihrer Tage froh werden!«

Ursula war allein guter Dinge; sie bereitete das Essen und holte den Hansli und die Mutter herein.

»Essen die Engel auch Hirsebrei?« sagte ersterer mit trübem Lächeln, während er doch ihr treuliches und geschäftiges Wesen und Treiben wohlgefällig bemerkte.

»Wenigstens essen sie Weizenkuchen und Kalbsfleisch«, rief sie fröhlich; »beim Erzvater Abraham im Hain Mamre sind sie zu Tisch gesessen drei Mann hoch und haben fest abgespiesen!«

Nur mit gepreßtem Herzen entschloß er sich, für diesmal wieder zu scheiden, brach aber dann plötzlich auf und machte sich, Abschied nehmend, auf den Weg. Ursula ging eine Strecke weit mit ihm; dann blickte sie ihm nach, bis er hinter einer Erdwelle verschwand, und als das geschehen war, kehrte sie mit entblühtem, fahlem Antlitz zurück, wie der Seele beraubt.

Ich bin doch froh, daß er dagewesen ist, um des Kindes willen! dachte die Mutter, es hat doch einmal wieder eine gute Stunde gehabt und sich etwas erholen können! Als sie aber die Ursula zurückkommen sah, rief sie aus »Um des Herren Christi willen, wie siehst du aus! Was für ein Elend ist das!«

Erst gegen Abend kam der alte Enoch nach Hause, aber nicht in guter Laune. Die Bewegung hatte sich stark verbreitet und schlug hohe Wellen; aber sie war aus den Händen der Winkelpropheten und in diejenigen der bekannten mehr oder minder gelehrten Führer geraten, welche die gröberen Narrheiten darniederhielten und bewußtere Ziele verfolgten. Sosehr sich Enoch überall hervortat mit Schreien und wildem Possenreißen, so vermochte er doch nicht obenauf zu kommen, sondern trug nur dazu bei, Verwirrung und Gefahr, Haß und Leidenschaft zu vergrößern.

[354] Bei allen drohenden Aufläufen und Kundgebungen war er einer der vordersten, zog in einem groben Sacke umher, streute sich Asche auf den Kopf und schrie »Zion! Zion!«

Dabei ließ er seine Augen fleißig umhergehen und spähte, was er sich nach dem Umsturz aller Dinge wünschen und aneignen solle. Die große Menge der Aufgeregten dagegen glich, wie es jeweilig die Weise dieses Volkes war, einem von leidenschaftlicher Grab- und Hackarbeit, von Schleppen und Tragen, Grübeln und Sorgen ermüdeten Mann, der plötzlich einmal aufwallt, sich über die eigene Sorge und Mühsal ärgert und den Spaten wegwirft, um ihn später von selbst wieder aufzuheben, nachdem das Trugbild entschwunden ist, das ihn gelockt hat.

Jedoch Regiment und Mehrheit behielten die Oberhand über das Wirrsal; es wurde abermals zum lebendigen Worte und zur Bibel gegriffen, die Wiedertäuferei zum öffentlichen Gespräch geladen, für überwiesen und besiegt erklärt und verurteilt, d.h. bei fernerem Beharren verfolgt, verbannt oder an Freiheit und Leben bestraft.

Enoch Schnurrenberger gehörte zu denjenigen, welche sich nicht fügen wollten oder stets rückfällig wurden; bald war er flüchtig und trieb sich in benachbarten Gebieten herum, bald kehrte er heimlich zurück und suchte neue Zusammenrottungen aufzubringen oder an solchen teilzunehmen. Auf allen diesen Fahrten eignete er sich immer neue Manieren, Gebarungen und Schaustücke an; er konnte Feuer essen, mit Gott durch das Dach reden, sterben und wieder auferstehen, sooft er wollte, obgleich ihm diese Künste bei zunehmendem Alter beschwerlich wurden, insbesondere das Sterben, wo er sich gewaltsam auf den Boden werfen und in Zuckungen verfallen mußte.

Eines Tages aber wurde er mit Frau und Tochter, die er elendiglich mitschleppte, gefangengenommen, als er sich in einem Holze eben am Ausüben von Taufhandlungen beteiligte, und mit einem ganzen Trupp anderer Schwärmer nach Zürich geführt. Es waren gegen zwanzig Personen, die zuerst im [355] Spital untergebracht, dann auf den Platz vor dem Rathause gestellt und hierauf in einen hohen Turm an der östlichen Ringmauer der Stadt, den seither so genannten Ketzerturm, geleitet wurden, wo sie auf Stroh liegend bei geringster Nahrung »ersterben« sollten, jeder, solang er nicht abschwur. In dem kleinen Aufzuge gingen auch der Schneck von Agasul und der gelassene Rosenstil, der sich ein für allemal an diese Gruppe gehängt hatte, weil er bei seiner Unbeweglichkeit so nie für ein Unterkommen sorgen mußte. Voran zog der Enoch mit gebieterischer Haltung, zuletzt kamen einige Weiber. Ursula stützte ihre Mutter und trug in einem Bündel etwas Kleider für dieselbe und für sich, in den gestickten Teppich Hansli Gyrs gewickelt. Sie schaute sich schüchtern mit suchenden Augen um; als aber das Volk am Wege den Zug mit mißbilligender, ja verächtlicher Miene besah, wagte sie nicht mehr aufzublicken, während die trotzigen Männer sangen und riefen »Hie Jerusalem, hie Zion!«

Hansli Gyr stand auch am Wege; sein Herz schlug ihm erbärmlich, allein er regte sich nicht. Wie er nur in Verständigkeit und Ordnung und klarer Luft zu leben vermochte, war ihm auch die bürgerliche Ehre notwendig zum Atmen. Da nun aber diese Betörten durch die Wendung der Dinge als Verbrecher und Verurteilte erschienen und wohl auch zu gutem Teil in Unehren dahinzogen, wendeten seine Gedanken sich schmerzlich ringend von seiner Neigung und von der Ursula weg, und er ließ sie ungesehen vorüberwandeln.

Im Turme erhoben die Gefangenen, besonders in stiller Nacht, einen unheimlichen Lärm mit Singen und Schreien, das zuweilen in ein weithin schallendes Geheul von furchtbaren Verwünschungen und Ausrufungen ausartete, von Angst und Not, Blitz und Donner, Jammer, Tod und Teufel, Untergang und Zerknisten, worauf zuweilen plötzlich wieder ein Siegesgesang ertönte.

Das ertrug Hansli doch nicht länger; er beschloß, wenigstens [356] die Ursula aus dem Turme zu ziehen, wenn es irgend anginge, und beobachtete einige Tage die Gelegenheit. Der Eingang des Turmes befand sich in einem kleinen angebauten Holzschuppen und war nicht bewacht, da der Hochwächter, der zuoberst im Dachstübchen saß, den Schlüssel inwendig abzog und mit sich nahm, während die Wiedertäufer ungefähr in der Mitte des Turmes lagen. Überdies waren keine besonders festen Schlösser angebracht, weil der Turm ursprünglich nicht zu einem Gefängnisse bestimmt gewesen.

In einer dunkeln Nacht nahm Hansli das nötige Geräte sowie eine kleine Laterne und begab sich an Ort und Stelle. Er öffnete leicht ein paar Türen und stieg die steilen Treppen hinan, nachdem er das Licht angezündet. Es fand sich, daß die Gefangenen auf einem Estrich lagen, der nur durch einen leichten Lattenverschlag abgesperrt war. Diesmal schliefen die Wiedertäufer oder verhielten sich wenigstens still. Männer und Weiber lagen blaß und verwahrlost durcheinander; Hansli zündete jedem ins Gesicht, ohne die Ursula zu finden. Endlich sah er, daß sie abseits in einer Ecke auf einem Bündel Stroh lag, über welches sie den Teppich mit dem Tod und dem Heilande gebreitet hatte. Sie schlief tief und fest wie jemand, der nach langem kummervollem Wachen endlich eine Stunde der Ruhe gefunden hat. Um jedes Geräusch zu vermeiden, rief er sie nicht an, sondern berührte nur leise ihr Kinn, und da sie hievon nicht erwachte, ergriff er ihre Hand, an welcher sein Ring im schwachen Laternenschimmer glänzte. Davon betroffen, schwankte er eine kurze Weile, ob er den Reif nicht vom Finger streifen und an sich nehmen sollte? In diesem Augenblicke aber schlug Ursula die müden Augen auf, und er wurde durch den unbeschreiblichen Ausdruck derselben an dem schnöden Vorhaben verhindert.

Wie im Traume eines Traumes erhob sie sich ungesäumt und schweigend, raffte die Decke zusammen und verließ an der Hand des Retters den schauerlichen Raum mit dem sichern [357] Tritte einer Nachtwandlerin; aber vor und hinter ihnen wischten und huschten gleich grauen Lemuren auf leisen Sohlen die munter gewordenen Mitgefangenen die langen Treppen hinunter und davon. Wie ein Nebelstreif vor dem Nachtwinde glitten sie an der Ringmauer dahin und stoben aus dem in Friedenszeiten offenstehenden unweiten Kronentore und verschwanden in Nacht und Nebel. Auch die Ursula war dem Hansli Gyr von der Hand gekommen, ohne daß er wußte, wie es zugegangen; sie selber kam erst mit anbrechendem Tage zu völligem Bewußtsein, und es war begreiflich, daß auf ihre Aussage hin die Entsprungenen ein Wunder vorgaben und im Lande herum verbreiteten, der Engel des Herren habe sie aus dem Gefängnis geführt. Zwei oder drei von ihnen wurden abermals rückfällig, wieder eingefangen und hingerichtet; Enoch Schnurrenberger irrte mit den Seinigen im St. Gallischen herum und kehrte erst später in seine Heimat zurück, wo er sich einstweilen still verhielt und unbehelligt gelassen wurde.

Hansli Gyr, der vor dem leeren Gefängnisse stehengeblieben war, hatte die Türen so gut als möglich zugemacht, sein Licht ausgelöscht und sich still hinwegbegeben. Das Aufblicken der erwachenden Ursula in dem Momente, wo er mit sich zu Rate ging, ob er ihr den Ring nehmen solle, hatte einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er viele Tage voll bitterer Reue zubrachte. Freilich konnte er glauben, Ursula sei ihm freiwillig entflohen, während er gehofft hatte, sie in der Stadt behalten und guter Pflege übergeben zu können. Dann aber war er wieder versucht, das Verschwinden unlauteren Kräften zuzuschreiben, besonders wenn er bedachte, wie es der alten Frau möglich geworden sei, mit so hexenhafter Schnelligkeit davonzukommen, zumal er von den Wirkungen solcher Seelenzustände, wie diejenigen der Entflohenen waren, keine Kenntnis besaß noch besitzen konnte.

Die Berichte von dem Treiben der Baptisten in den Gegenden, in welchen die Flüchtlinge sich jetzt aufhielten, von den [358] greulichen Verirrungen und Handlungen derselben waren so abstoßender Art, daß Hansli die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten aufzugeben begann und zunächst eine Gelegenheit, die sich ihm bot, benutzte, um sein bescheidenes Besitztum am Berge Bachtel zu verkaufen.

Nach Abzug der Lasten, die darauf ruhten, erhielt er einen mäßigen freien Gewinn, durch welchen er nun von der Heimatflur so gut wie geschieden war.

IV

So sah und hörte er lange nichts mehr von dem Nachbarvölklein und vergaß dasselbe beinahe über all den Ereignissen, deren Zeuge und eifriger Mithelfer er an seinem bescheidenen Orte war. Zwinglis und seiner Freunde Werk hatte sich in der Zeit siegreich über die ganze offene Schweiz verbreitet und mit den deutschen Reformationsverhältnissen berührt; das mächtige Bern war hinzugetreten, weiches ein verschiedenes Temperament und eine andersgeartete politische Auffassung mitbrachte; mannigfache weitere Träger, Gegensätze und Ansprüche wirkten mit, so daß eine größere Masse in Bewegung ging, hier vorwärtsdrängend, dort schwerfälliger an sich haltend, und dazwischen schwankende, vermittelnde Teile schwebten, alles das um den festen Kern der katholischen Orte herflutend, welche unveränderlich, listig und entschlossen wie eine Insel inmitten der Flut widerstanden, auf altbewährte Kraft bauend und von den auswärts waltenden Mächten der Vergangenheit angefeuert.

Auf dieser stürmisch hin und wider wogenden See fuhr das Schifflein der Zürcher mit seinem Zwinglischen Steuermann ohne Aufenthalt weit voran. Mit vollkommener Einfalt in seinem Vertrauen auf die unmittelbare persönliche Vorsehung Gottes und ebenso großer Wachsamkeit und Kenntnis der Dinge und Menschen kämpfte er unermüdlich gegen List und Gewalt [359] der gegnerischen Welt; er war die Seele des geheimen und des offenen Rates, Lehrer und Prediger, Staatsmann und Diplomat und schrieb mit der gleichen Feder theologische Abhandlungen, Sittengesetze, Staatsschriften und Kriegspläne.

Denn endlich war die Sache zum kriegerischen Austrage gediehen; der Reformator lebte des heiligen Glaubens, daß diese Welt des Widerstandes nur gezwungen zu werden brauche, das Wort Gottes zu hören, um sich zu ergeben, und statt der völkerrechtlichen Verträge führte er lediglich das Evangelium in der Hand, während das alles den Widersachern unleidlich war und jener nicht wußte, daß ein Volk aus dem gleichen Grunde eine Religions- oder Staatsänderung abweisen kann, aus welchem eine Weibsperson ein für allemal einen Freier verwirft.

Aber unerschütterlich standen jetzt Regiment und Volk hinter dem Meister, wobei freilich die Eintracht und das gute Einvernehmen mit eine Frucht steten Berichtens und Anfragens bei den Gemeinden waren. Auch dem Hans Gyr, der eine Versinnlichung des Volksgeistes vorstellen konnte, wie dieser jetzt lebte, waren die Dinge geläufig, und er wurde in brauchbarer Tätigkeit zur Hand gefunden, als jetzt zu den Waffen gegriffen wurde.

Die beiden Lager des ersten Kappeler-Krieges standen sich jenseits des Albisgebirges gegenüber in der Weise, daß die Katholischen nicht genügend vorbereitet und zahlreich, die Zürcher aber im Vorteil waren an Macht sowohl als in der politischen Stellung überhaupt. Ihre Verbündeten waren zum großen Teil ebenfalls aufgebrochen und im Felde, während der österreichische König Ferdinard, mit welchem die fünf Orte ein Bündnis geschlossen, keine Anstalten traf, ihnen tatsächlich beizuspringen.

Da die fünf Orte unter diesen Umständen etwas kleinlaut und eine gute Zahl Vermittler und Schiedleute mit im Felde waren, kam es zu jenem Frieden, der nur von kurzer Dauer [360] sein sollte und die Zürcher sowie das von ihnen geführte Werk um den Vorteil brachte. Indessen bot das zürcherische Lager während der Zeit der Unterhandlungen das neuartige Bild eines reformierten Kriegslagers, wie es später vielleicht nur unter dem Schwedenkönig oder bei den englischen Puritanern eine Wiederholung fand, und in diesem Musterlager stellte der Hansli Gyr einen wahren Mustersoldaten vor.

Die Trommel rief täglich zu Predigt und Gebet; jeder war gut genährt und getränkt, aber es wurde keine Betrunkenheit gelitten noch Fluchen oder lästerliches Schwatzen. Keiner durfte eine Pflanze im Acker schädigen oder einen Zaunstecken entwenden, und freundliches Benehmen unter sich und gegen jedermann, selbst gegen die Feinde im Felde, war allgemeine Übung. Die Jüngeren verbrachten ihre Zeit mit fröhlichen Liedern oder mit solchen Spielen, welche die Glieder schmeidigten, mit Leibesübungen, wie Steinstoßen und gewaltiges Springen; alle landläufigen Dirnen wurden ferngehalten oder verjagt, wenn sich eine sehen ließ.

Hansli Gyr war einer der Eifrigsten, solche Ordnung zu halten. Für einen jungen Krieger (freilich jetzt bald nicht mehr ganz jung) betete er fast etwas zu gern und zu laut und mit zu feierlichem Gesichte, wie wenn er sich selbst wohlgefällig belauschen würde, obgleich dies wenigstens jetzt noch nicht der Fall war, wohl aber kommen konnte, wenn es lange so fortging. Immerhin hörte er sich nicht ungern sprechen, während er früher einsilbiger gewesen war. Das lag aber in den Zeitläufen und in der aufgeregten Teilnahme, in welcher der einzelne bei den gemeinsamen Angelegenheiten festgehalten wurde.

Sah er aber einen Burschen von fern mit einer Landmagd reden oder gar schäkern, so sandte er sofort eine Wache hin, zu betrachten, was dort vorgehe, und ließ sich gar eine kurzgeschürzte Kriegsdirne blicken, so hätte er am liebsten den Merkur oder die Venus auf sie gerichtet und abgeschossen, welche[361] unter dem Züricher Feldgeschütze standen, und der Vogel tat wohl, zu dem Lager der Katholischen zurückzufliegen, von woher er gekommen. Denn dort gab es Weiber die Menge nebst Karten- und Würfelspiel, obgleich Speise und Trank teuer waren.

Nachdem nun die im Felde anwesenden Vermittler und Schiedleute die Stimmung auf beiden Seiten so weit gebracht hatten, daß ein Frieden verhandelt werden konnte, wurde beschlossen, denselben vor offene Kriegsgemeinden zu bringen. Zuerst stellte sich das zürcherische Heer auf freiem Felde auf im weiten Ringe um eine hohe Bühne, auf welche das Panner, umgeben von den übrigen Fahnen, gepflanzt war, nach dem Ausspruche Wo das Panner weht, da ist Zürich. Dabei standen die Hauptleute und Fahnenträger, die Rottmeister aber vor ihren Leuten auf freiem Platze und unter ihnen Hans Gyr; ihnen lag ob, vor andern aufmerksam zu hören, was gesprochen wurde, und Hans stand in der Tat so ernst und schweigend da wie eine Bildsäule, sobald die dreißig Abgeordneten des katholischen Heeres, von einem Trompeter eingeführt, zu Pferde erschienen waren und vor der Tribüne hielten.

Zuerst stiegen die Schiedsmänner hinauf und hielten ihre zum Frieden mahnenden Reden, worauf die Katholiken ihre Redner absitzen, die Tribüne besteigen und ihre Klagepunkte vorbringen ließen, worauf sie wegritten und die zürcherischen Führer wieder auftraten, Zwingli an der Spitze, um über das Gehörte weiter zu sprechen und zu beraten.

Mit dem Ergebnis dieser Beratung ritten am dritten Tage die reformierten Abgeordneten, an sechzig Mann stark, in das Lager der fünf Orte hinüber. Dort stand in gleicher Weise die Heergemeinde versammelt, und es kam die Reihe nun an die Zürcher, vor dem katholischen Volke ihre Beredsamkeit zu entwickeln.

Leider waren sie in diesem Punkte nicht gut bestellt. Der Reformator selbst hätte bei dem gegen ihn obwaltenden Hasse in [362] keinem Falle mitgehen können; die ersten Hauptleute aber waren dem Reformationswerke nie grün gewesen und dem Frieden allzu günstig gestimmt, so daß von ihrer Vertretung keine große Wirkung erhofft wurde. Es blieb nichts anders übrig, als einen Advokaten von Beruf zum Sprecher zu wählen, welcher vor dem aufmerksamen Heer der Waldstätte, das an Landsgemeinden regelmäßig gewöhnt war, seine Aufgabe nur dürftig löste.

Es waltete daher eine kühle und ungewisse dünne Stimmung über der Szene; da trat zuerst Hansli Gyr den Herren zur Seite und erhob das Wort, indem er aus seinem Volksgemüte heraus zu demjenigen der Gegner sprach, wie es der Meister Ulrich nicht besser hätte wünschen können. Frischweg und verständlich ließ er jene hören, was dem reformierten Volke das Herz bewege und wie es auf seine Wege geraten; was es für recht und billig halte und wie es zu seinen Führern stehen werde bis in den Tod, einem gerechten Frieden aber nicht entgegen sei, sondern mit Freuden zu seinen alten Eidgenossen zurückzukehren sich sehne, sobald diese zu gerechten und notwendigen Friedensartikeln die Hand bieten.

Ihm folgten ohne Zögern andere Kriegsleute aus den zürcherischen Landgemeinden und verteidigten in kräftiger Rede ihre und ihrer Herren Sache. Das katholische Heervolk erhielt durch dieses Auftreten den bestimmten Eindruck, daß die reformierte Bevölkerung mit sich einig sei und wisse, wohin sie wolle, und die Gemeinde ging nachdenklich über das Gehörte auseinander.

Die Schiedleute, Männer von Straßburg, Konstanz, Basel, Bern usw., eifrig und ängstlich, den Krieg und die offenbare Spaltung der Eidgenossenschaft zu hindern, setzten sich nun in der Mitte zwischen den beiden Lagern, in dem Dorfe Steinhausen, zusammen und minderten oder mehrten die Artikel, wie dieselben dann beiden Teilen vorgelegt und nach abermaliger Beratung und Zögerung schließlich angenommen wurden.

[363] Kein Teil war recht zufrieden; immerhin war eine Hauptsache für die Reformierten erreicht, nämlich daß die fünf Orte der Ferdinandischen Vereinigung absagten und den Bündnisbrief herausgaben. Der Landammann von Glarus, welcher mit nassen Augen erst den Ausbruch der Tätlichkeiten verhindert und die Verhandlungen ermöglicht hatte, zerschnitt das Pergament mit seinem Dolche vor allem Volke und mit jener Genugtuung, welche wohlmeinende, aber nicht weitsehende Friedensstifter in solchen Augenblicken empfinden.

Das Heer der fünf Orte kehrte mißmutig und in gedrückter Stimmung nach seinen Bergen zurück, die Zürcher aber als eine Art Sieger mit fliegenden Fahnen und beim Schalle der Musik in ihre Stadt.

Die Auslegung und Durchführung des Friedenstraktates verursachte bald genug neue Schwierigkeiten und Anstöße an allen Enden, so gutmeinend und vorzüglich in an sich rechtlicher und eidgenössischer Hinsicht das Instrument abgefaßt war, trotzdem es im Feldlager entstanden. Denn wo die Zeiten ineinanderströmen und die Leidenschaften, die reinen und die unreinen, darauf einherfahren, sind die Rechtsleute schwache Dammwächter. Als Zeichen der wiedereintretenden Verschlimmerung zeigte sich die wider den Frieden neuerdings erwachende Neigung der fünf Orte mit dem Österreicher abermals anzubinden, und die stets wache Bereitschaft des Bruders Karls V., mit seinen hinterlistigen Einwirkungen die Schweizer auseinanderzubringen, ohne tatsächlich einen Mann daranzuwagen. Eine derartige Hinterlist veranlaßte den sogenannten Müsserkrieg, durch welchen Hansli Gyr wieder ins Feld kam. Der berüchtigte Kondottiere Jakob Medicis, der von Karl V. zum Markgrafen und Kastellan von Musso, einem festen Schloß am Comersee, gemacht worden war, fiel in die den Graubündnern gehörigen Täler von Kläven und Veltlin, nachdem er ähnliche Überfälle schon früher gewagt und bündnerische Gesandte nach Mailand mit Assassinat hatte anfallen und aufheben lassen. Sein Verwandter, [364] Markus Sittich von Hohenems, machte Miene, ihm mit östreichischen Völkern beizuspringen, und es gelang der Plan insoweit, als die Aufmerksamkeit der evangelischen Orte auf diesen Punkt gezogen wurde. Zürich mahnte Bern und die übrigen zur Hilfe für Bünden, und es zog eine hinreichende Macht an Ort und Stelle, warf den Eindringling unverweilt aus dem Lande, veranlaßte die Regierung zu Inspruck zu einer höflichen Entschuldigung wegen des unliebsamen Vorfalls und übertrug dann mit den Bündnern die Fortsetzung des Krieges gegen den von Musso dem Herzog von Mailand sowie das eroberte Gebiet des erstern. Etwa zweitausend Mann blieben behufs der Belagerung des Schlosses zurück, dessen Zerstörung die Schweizer selbst besorgen wollten. Diese Mannschaft wurde unter den Befehl des Herrn Stephan Zeller von Zürich gestellt, welcher den Hansli Gyr bewog, bei ihm zu bleiben, statt mit den Heimkehrenden zu ziehen.

Besagter Stephan Zeller war nämlich ein gar frommer, wachsamer und reformatorischer Mann, welcher sich vornahm, die gute Ordnung des Kappeler Lagers hier einzuführen, nachdem er zu seiner Betrübnis bemerkt hatte, daß auf dem jetzigen Kriegszuge von jener christlichen Zucht nicht viel zu sehen gewesen, teils weil viele Kriegsleute von der alten Observanz dabei, teils weil man außer Landes war und es einen fremden Feind zu schlagen gab. Statt der gottesfürchtigen Liedlein, die Zwingli in seinem alten Toggenburger Dialekt gedichtet und in Noten gesetzt hatte, sangen die Knechte wieder: »Nun schürz dich, Gretlein, schürz dich«, und »Frisch auf, gut G'sell, laß ume gan!« und ließen den Worten häufig die Tat folgen, was dem würdigen Hauptmann keineswegs gefiel; und eben zu einer Unterstützung und Mittelsperson gegen die Verwilderung, gewissermaßen als einen Mustersoldaten, behielt er den Hansli bei sich. Der entsprach dieser Anforderung mit großem Eifer; er suchte mit unveränderlichem Ernste Zucht und Ordnung aufrechtzuhalten, ging in Mäßigkeit und Sitte mit gutem Beispiele [365] voran und war dem Hauptmann, der bei Tag und Nacht alle Posten und Wachen selbst beging und untersuchte, behilflich in seiner Arbeit.

Denn der eingeschlossene Raubtyrann war mit allem Rüstzeug und mit Leuten wohl versehen und sein Nest außerordentlich fest; und so streng ihn die Schweizer mit Hilfe eines trefflichen Geschützmeisters, welchen Landgraf Philipp von Hessen der Stadt Zürich gesandt, beschossen, so ergiebig erwiderte jener das Feuer, und es bedurfte aller Vorsicht, dem Schaden desselben in den offenen Stellungen auszuweichen.

Inzwischen aber nahmen die Knechte, von alten Söldnern aufgestiftet, Ärgernis an der strengen Ordnung, in welcher sie gehalten werden wollten, und spielten dem Hauptmann einen Schabernack, wo sie konnten. Bald artete dies Wesen in eigentliche Anfeindungen und Anschwärzungen aus, die einige nach Zürich zu fördern wußten, also daß Bericht hierüber verlangt und der Hauptmann seinerseits wiederum geärgert und gekränkt wurde.

Der üble Wille mancher schlimmen Gesellen kehrte sich natürlich auch gegen den Hansli, der es treulich mit dem Hauptmann hielt und von ihnen der tugendreiche Feldküster genannt wurde; und wo sie ihm eine Falle zu stellen verhofften, unterließen sie es ungern. Nicht ohne einen Anhauch von Selbstgerechtigkeit ertrug er solche Unbill, seine Wege um so unbestechlicher mit feierlichem Wesen verfolgend.

An einem schönen Septembertage, als das Schießen ruhte, überschritt er den Lagerkreis und wandelte unter dem paradiesischen Himmel dahin, der sich über dem dunkelblauen See von Como wölbte. Er gelangte endlich vor ein Haus, in welchem ein mailändischer Wirt, die Kriegsläufe und Anwesenheit der verschiedenen Heerhaufen benutzend, sich festgesetzt hatte und neben gutem Wein allerhand Kramsachen verkaufte, wie sie von den Soldaten im Felde gesucht werden. Ein paar wohlgestalte Nichten unterstützten das Geschäft und lockten ebenso [366] stark als das Getränke die mailändischen wie die schweizerischen Soldaten herbei.

Unter einer steinernen Bogenhalle, zu welcher eine lange, halbverfallene Treppe hinaufführte, saßen auch jetzt zehn oder zwölf wackere Eidgenossen und zechten. »Da geht der tugendsame Küster!« sagte einer, als er den Hansli unten vorüberschreiten sah. »Lockt ihn herauf!« rief ein anderer, »wir wollen ihn einmachen!«

Sogleich rief der erste hinunter »Rottmeister! Hie gute Gesellen und guter Wein, auf einen Schluck!«

Hansli Gyr bedachte, daß sich vielleicht eine Unordnung verhüten und eine rechtzeitige Rückkehr ins Lager betreiben lasse, wenn er auf ein Stündchen teilnehme, und er kletterte in die Burg der Fröhlichkeit hinauf und setzte sich zu den Zechbrüdern.

Der dunkle Wein war wirklich so frisch und gut, daß er sein kühles Herz erwärmte und Hansli den zutrinkenden Gesellen mehr nachgab, als ihm nützlich war, zumal das goldene Wetter und der scheinbar harmlose Frohsinn der Gesellschaft ihre Rechte geltend machten und ihn seine ernsthaften Grillen vergessen ließen. Einzig die hübschen Aufwärterinnen hielten einiges Bedenken wach; doch würdigte er sie nicht manchen Blickes, sondern hielt sich als einer, dem dergleichen fremd ist.

Da brachte unversehens einen Krug Wein, den er selbst zum besten gab, die schönste Weibsgestalt herbei, die er je gesehen, hoch und fern, mit dunklen Haarflechten, noch dunkleren Augen und reich in grüne Seide gekleidet, Brust und Arme in faltiges, weißes Nesseltuch gehüllt. »Das ist die lange Freska von Bergamo!« hieß es unter den Soldaten (zu deutsch Fränzchen oder Franzi), was aber Hans überhörte, weil er nur auf die auserwählte Erscheinung sehen mußte, die sich keineswegs unbescheiden, aber mit lächelnder Sicherheit bewegte und ohne weiteres an seiner Seite Platz nahm, als er sein gutgefülltes Geldbeutelchen hervorzog, nur um für den Augenblick sich mit [367] ihr zu schaffen zu machen; denn die Worte versagten ihm trotz der ungewohnten Weinlaune, in die er unbewußt geraten war. Immer wieder mußte er das edelgeformte Gesicht, die schlanke Gestalt, die im Knochengerüste hochgewölbte breite Brust anschauen, was alles eher für einen Fürsten gemacht schien als für arme Kriegsgesellen; und soviel schöne Weiber er in Italien auch schon gesehen hatte, so war ihm dergleichen eine doch noch nie vorgekommen.

So oft sie aufstand und wegging, kam sie doch immer wieder zu ihm zurück und gab sich, ohne unhöflich zu sein, mit den andern nicht ab. Der gestrenge Rottmeister sah und hörte nichts mehr als die schöne Person, die sich ruhig und traut mit ihm unterhielt und ihm dabei nicht wie eine verdächtige Gesellin, sondern wie eine wackere gute Freundin in die Augen sah, indem sie nach seiner Heimat und seinen Schicksalen, nach seinen Gewohnheiten und dem, was er gern habe, fragte.

Der Abend rückte vor, es wurde Nacht, die Sterne funkelten am Himmel und aus dem Seespiegel, und Hansli merkte nicht, daß einer der Gesellen nach dem andern sich weggedrückt hatte und selbst der Wirt mit seinen Leuten verschwunden war, bis die lange Freska mit ihrer wohllautenden Stimme sagte: »Hier wird's zu kühl, wir müssen hineingehen, wenn Ihr noch einen Becher trinken wollt!«

Sie gingen in das anstoßende Gemach, welches, ebenfalls leer und still, von einer Lampe schwach erhellt wurde, die am Gewölbe hing. Er war nun ganz verliebt, sein Herz klopfte in der Fülle seiner Lebenslust, die plötzlich aus dem langen Schlaf erwachte, und da der zu reichlich genossene Wein zugleich seinen Verstand umnebelt hatte und er doch wiederum ein redlicher Mensch war, so tauchte, wie sie jetzt ernst und schweigend in seinen Armen lag, das Projekt in ihm auf, das herrliche Wesen, das an sich ein Glück und ein großes Vermögen wert zu sein schien, mit sich zu nehmen und zu heiraten, wenn sie ihn möchte. Das schien ihm indessen keineswegs unzweifelhaft [368] sicher; auf der andern Seite war es aber wohl des Versuches wert, die Seele eines solchen Körpers zu erretten und dem Papsttum zu entreißen.

Wie er derartige Gedanken in seinem heißen Kopfe erwog, spielte er mit der weißen Hand des Weibes und lüftete einen Goldreif, den sie an einem ihrer Finger trug. Plötzlich bemerkte er, daß der Ring ganz genau demjenigen glich, welchen er einst der Ursula geschenkt hatte, und ein Zwillingsbruder desselben, vom gleichen Schmiede verfertigt, sein mußte.

Hansli erblaßte; denn das bleiche liebe Antlitz der armen Ursula stieg vor seinem Geiste empor und warf seinen Widerschein auf sein Gesicht.

»Was ist das für ein Ring?« fragte er mit gepreßter Stimme.

»Das ist der Ring von meinem Geliebten, der mich heiraten wird!« antwortete die schöne Freska gelassen.

»Wo ist er und was ist er?«

»Er ist eigentlich ein Bäcker und Wirt, in den letzten Jahren aber ein Bandit gewesen, da es ihm schlecht ging. Jetzt ist er flüchtig und sitzt in Neapel, weil er im Solde eines großen Herren einen Grafen erschlagen hat und entdeckt worden ist. Sobald ich mir genug Geldes erworben habe, gehe ich zu ihm, und wir errichten irgendwo im Süden eine Locanda und Bäckerei. Nächstens gehe ich nach Rom, wo ich eine Schwester habe, die bei einem Kardinale lebt.«

»Und willst du wirklich an jenem Verlobten hangen, der ein Totschläger und Verworfener ist?«

»Warum nicht? Ein Verworfener ist er nicht, sondern nur ein armer wilder Mensch, der nötig hat, daß man ihm hilft und für ihn sorgt. Wir sind von Kindesbeinen an füreinander gewesen und lassen nicht voneinander!«

Also diese verlorene Seele bleibt einem verbannten Mörder getreu und hält an ihm fest, dachte Hansli bei sich selbst, und du elender Mensch hast die unschuldige Seele der Ursel verlassen und jetzt verraten wollen!

[369] Er war bereits wieder nüchtern geworden; der Schweiß stand ihm auf der Stirne, auch hatte er schon die seltsame Person fahrenlassen und empfand einen Abscheu vor dem unbegreiflichen Gemische ruhigen, praktischen Wesens, gemeiner Zweckmäßigkeit, Liebe, Selbsttreue und Schamlosigkeit, welches in der edlen Gestalt zum Vorschein kam.

»Gute Nacht!« sagte er; »leuchtet mir ein wenig!«

»Wo wollt Ihr hin?« erwiderte sie verwundert, aber ruhig; »geht hier durch die Küche, da kommt Ihr auf den bessern Weg.«

Allein er hörte nicht darauf, ging nach der Vorlaube, durch die er gekommen, und begann im Dunkeln die gefährliche Treppe hinabzusteigen; denn die Schöne hatte schweigend die Türe hinter ihm zugeschlagen, statt ihm zu leuchten. Er gleitete auch bald aus auf den verwitterten Steinstufen und stürzte in ein dichtes Lorbeergebüsch hinunter, das ihn zum Glücke vor hartem Schaden bewahrte. Doch hatte er einige Mühe, sich zurechtzufinden und auf festen Fuß zu kommen und sein Quartier zu suchen.

»Ist es möglich! Ist es möglich!« sagte er wiederholt vor sich her, ohne sich in seiner Verwirrung klar bewußt zu sein, ob er die lange Freska oder sich selber meine. Denn er war ja noch länger als das Weibsbild und von festerem Stoffe und war doch gefallen.

Am nächsten Tage machte er kein heiteres Gesicht, als er die Zechbrüder traf, die ihn mit verschmitzten Augen beguckten und mit halblauten Spottworten verfolgten.

»Ihr habt recht und habt nicht recht!« sagte er, sich umwendend zu ihnen, »doch habt ihr mir mehr Gutes als Übles getan!«

»Ei, das haben wir auch bezweckt, Herr Rottmeister!« riefen sie mit Gelächter, »wer wollte Euch etwas Schlimmes wünschen? Heut ist auch ein Tag, und da könnet Ihr ruhig mit den Tugendwerken fortfahren!«

Eine Botschaft und Verrichtung, mit welcher er von den Befehlshabern [370] unerwartet nach Zürich gesandt wurde, kam ihm soeben erwünscht, und er machte sich zur selben Stunde auf den Weg.

In der Heimat hatten sich die Dinge wieder zum innern Kriege angelassen und drängten nach jener Entscheidung hin, welche durch die unglückliche Kappeler Schlacht zuungunsten Zürichs ausfiel und die Reformation auf dem Punkte festhielt, auf dem sie gerade stand.

Die Stadt Zürich war jetzt mit Gelehrten und Theologen wohl besetzt, ein Geist der Klugheit und Überlegenheit erfüllte sie; jedermann hatte die Heilige Schrift und die Traktate in der Hand, und die allgemeine Wohlweisheit beleidigte und reizte nicht nur die katholischen Gegner, sondern selbst die Freunde; das starke Bern, wo die weltliche Staatsklugheit die Oberhand Über die geistliche behielt, empfand den schulmeisterlichen Ton ebenso unangenehm, so daß, als Zürich durch gewaltsame Rechtsverletzungen und einseitiges Vorgehen sich in seinem Eifer in gefahrvolle Lage gebracht, ein Berner Regent einem zürcherischen, der zu Tathandlungen mahnte, zu verstehen gab, die Zürcher werden sich wohl allein Zu helfen wissen, da sie so gescheit seien.

V

Enoch Schnurrenberger war in letzter Zeit mit den Seinigen zurückgekehrt, nachdem man in den Nachbargebieten mit der Sache wegen zu großer Tollheit aufgeräumt hatte und diesseits die Sektierer längst still geworden und ihre Geschichten halb verrochen, die eigentlichen Häupter aber entweder tot oder verbannt oder eingekerkert waren.

Nur Enoch konnte sich nicht ganz zur Ruhe geben; je weniger er noch bemerkt und beobachtet wurde, desto weniger verließ ihn der Drang, eine Darstellung zu machen und eine neue Gestalt zu finden, in welcher die rechte Zeit und das Tausendjährige [371] Reich, wo er durchaus Vorsteher oder wenigstens Einnehmer werden wollte, abzuwarten sei.

Neuestens hatte er den Spruch »Wer sich nun selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich!« wörtlich auszulegen und auszuüben begonnen. So saß er denn schon am Vormittage des zehnten Weinmonats 1531, statt der Arbeit nachzugehen, mit dem Anhange, der ihm geblieben und ihm heimlich nachzog, auf seinem abgelegenen Hofe und spielte kleines Kindlein. Er war gebückt und eingefallen, hatte einen langen weißen Bart, der ihm fast bis zum Nabel ging. Mit nackten Beinen hockte er in einem roten alten Weiberrock, der ein Kinderröcklein vorstellen sollte, auf dem Stubenboden und baute ein kleines Fuhrwerklein von Brettchen, das er mit Spreuer belud und dazu mit Kinderlauten stöhnte »Lo lo lo, da da da!« wobei ihm die eingetretene Engbrüstigkeit zu schaffen machte. Der Schneck von Agasul hatte sich von Zaunstecken einen Laufstuhl gezimmert, in welchem er umherhumpelte, einen Lutschbeutel im Munde. Manchmal zog er diesen heraus und rief »Schneck heiß ich, ein Schneck bin ich und hole dennoch den geschwinden Herrgott ein, der auf der Windsbraut reitet!« Der kalte Wirtz von Goßau an seinem Orte hatte eine Schnur um einen Ofenfuß gebunden und peitschte den Ofen unablässig mit einer Kindergeißel, bald auf dem Boden kauernd, bald auf dem Ofen sitzend wie auf einem Pferde. Den besten Teil hatte Jakob Rosenstil erwählt; er lag auf einem Strohsack in der Ecke und stellte das Kind in der Wiege vor, indem er versuchte, die große Zehe des rechten Fußes zum Munde zu bringen, was wegen seiner Beleibtheit nicht wohl möglich war. Ein paar fremde Weiber zogen Tannzapfen an langem Faden in der Stube herum, weil sie kein anderes Spielzeug zu schaffen wußten oder solches ihren eigenen Kleinen abgesehen hatten.

Zuweilen vereinigten sich alle die bejahrten Leutchen, bildeten einen Ring und tanzten im Kreise, sangen Kinderliedchen, klatschten in die Hände und hüpften in die Höhe.

[372] Die alte Schnurrenbergerin stand in der Küche vor dem Herde, unter dem Arm eine von Lumpen gemachte Puppe haltend und ein blaues Kindermützchen, in welchem einst Ursula getauft worden, auf den grauen Haaren tragend, an welchen es notdürftig festgebunden war, doch so, daß es schief auf dem linken Ohre saß. Das machte eine unheimliche Wirkung bei dem Ausdruck von hoffnungslosem Kummer, der in ihrem runzlichten Gesichte nistete; denn sie fing an zu glauben, daß sie selber den Nutzen von ihres Mannes Klugheit doch nicht mehr genießen und er selbst den Sieg nicht mehr erleben werde. Sie kochte einen Haferbrei für die sämtliche Gesellschaft. Ursula saß vor dem Hause allein unter den Ahornbäumen, deren herbstliches schöngezacktes Laub einen goldenen, von blauer Luft durchwirkten Himmel über ihr ausbreitete. Sie selber sah nicht bunt oder sonnig aus, sondern sie war ganz düster und dunkel in braune und graue Zeugstücke und Kleider gewickelt vom Kopfe bis zum Fuße, wie sie dieselben hatte zusammenlesen können; die Füße waren mit starken Ackerschuhen bekleidet, und neben ihr auf der Bank lag ein gut eingeschnürtes Päcklein und lehnte ein Stab; denn sie sagte seit Wochen schon, sie werde mit dem Engel Gabriel davonwandern, sobald er gesund sei. Diesen hielt sie nämlich in Gestalt eines heiligen Sebastian, eines hölzernen Männleins von ungefähr anderthalb Schuh Länge, im Arm. Der Vater hatte das Bildchen einst beim Plündern einer Kapelle vom Altare genommen und nach Hause gebracht, um irgendeinen Scherz damit zu treiben, die Ursula es aber weggenommen und verborgen, weil es in ihren Augen dem Hansli Gyr oder vielmehr jenem Engel glich wegen der blonden Haare und der blauen Augen; denn das Holzbild war noch ziemlich frisch bemalt gewesen. Sie hatte ihm die Drahtpfeile, mit denen es besteckt war, sorgfältig ausgezogen und verband ihm nun täglich die rot angetupften Wunden mit weißen Leinwandstreifchen und wickelte den kleinen Herren Gabriel liebevoll ein, nachdem sie jedesmal vergeblich versucht [373] hatte, die auf den Rücken gebundenen Händchen loszulösen.

Sie beschaute den englischen Bräutigam immer nur, wenn sie sich ungestört glaubte, und wickelte ihn eben jetzt wieder in seine Binden und Tüchlein, indem sie die Figur mit aller Behendigkeit drehte und wendete.

Im Hause drin spielten sie nach ihrer Weise auch fort; zuweilen hielt der eine oder der andere eine kurze Predigt im Kinderton, dann aßen sie, was sie dürftig zusammengetragen hatten, und zankten sich scheinbar, wie die kleinen Kinder, um die größeren Bissen; Ursula dagegen holte sich etwas Nahrung und machte sich mit ihrem eingewickelten Schatze wieder beiseite. Als es aber gegen Abend ging, erhob sich Enoch plötzlich und sagte mit seiner gewöhnlichen unverstellten Stimme »Nun haben wir genug getan für heute, ihr Kinder! Nun wollen wir Feierabend machen und noch ein wenig zusammensitzen!«

Sogleich juckten alle mit einem Frohgefühl in die Höhe, so rasch sie es in ihren verschiedenen Altersjahren vermochten, dehnten ihre Glieder, kratzten sich die Beine und saßen dann unverweilt um den Tisch herum, wo sie, wie ehmals, mit nüchternem Ernste anhuben, Karten zu spielen.

Kaum hatten sie aber eine halbe Stunde die Köpfe zusammengesteckt und die Karten auf den Tisch geschlagen, so wurden die Türen aufgestoßen, und es stürmten zwei Männer in Waffen so aufgeregt herein, daß die Spieler zusammenfuhren und meinten, die öffentliche Gewalt breche wieder über sie los. Es war jedoch der benachbarte Landmann, der den Hof des Hansli erworben hatte, mit seinem Sohne.

»Hört ihr denn gar nichts, was in der Welt vorgeht?« riefen die Männer; »macht doch die Fenster auf! Der Rottmeister Gyr reitet wie der wilde Türst durch die Dörfer und rafft Volk zusammen! Die fünf Orte sind aufgebrochen und stehen in großer Zahl an der Grenze; alles muß nach Zürich! Hört ihr, wie der[374] Landsturm geht? Lasset euere Narrenspossen und wahret Haus und Hof, so gut ihr könnt, und eile mit, wer noch Kraft hat! Denn euch geht's erst recht um Leib und Leben!«

Damit liefen sie davon und den Berg hinunter. Die erschreckten Leute traten vor das Haus und hörten, wie es überall Sturm läutete, Trommeln tönten, und sahen die Feuerzeichen auf den Hochwachten weit ins Land hinaus.

Staunend schauten und horchten sie; allein es war jedes Gefühl und Verständnis für die Bedeutung des Augenblicks abhanden gekommen; fröhlich oder spöttisch gelaunt wurden sie gerade nicht, weil es ihnen keineswegs geheuerlich vorkam und sie zu erschrocken waren, und so gafften sie denn in Gottes Namen blöde in die erregte Nacht hinaus.

Ursula aber hatte im Ofenwinkel, wo sie saß und wachend träumte, bei den Worten der Nachbaren das Haupt erhoben, und als sie den Hansli nennen gehört, augenblicklich die Holzpuppe fallen gelassen, den Stab und das Bündel ergriffen und war still aus dem Hause entwichen. Sie spähte und lauschte eine kleine Weile in die dunkle Welt hinaus, sah die Feuer und hörte die Sturmglocken; dann schritt sie ohne Aufenthalt in der Richtung nach der tiefern Gegend, welche die beiden Bewaffneten eingeschlagen hatten. Im nächsten Dorfe sah sie einen kleinen Trupp Wehrleute, die sich bereits versammelt hatten; die zogen weiter und vereinigten sich auf dem Wege mit andern, und so ging es die Nacht hindurch, bis die zusammengeeilten Männer die Stadt erreichten, und immer wanderte und wanderte die dunkle Gestalt der Ursula ungesehen hinter den Scharen und gelangte unbehelligt mit ihnen durch das Tor.

Alle Straßen waren beleuchtet, und es wurde gerufen, befohlen, gerüstet und ab- und zugegangen. Die Vorhut war schon am Nachmittage nach Kappel gezogen; jetzt sammelte sich nur langsam das überraschte Volk. Es wurde eingereiht und abgezählt, gespiesen und getränkt, was da war; Ursula huschte [375] unter der wogenden Bevölkerung hin und her und sah den Hansli Gyr deutlich und genau, wie er im Fackellichte jetzt zu Fuß und ganz ruhig auf und nieder ging und die Züge ordnen half. Sie erkannte ihn, wie sie sich später erinnerte, jetzt zum ersten Mal wieder als ihn selbst, hütete sich aber, ihm unter das Gesicht zu kommen, und ebensosehr, ihn aus dem Gesichte zu verlieren. Erst als er nach Tagesanbruch in ein Haus ging, setzte sie sich unweit desselben mit verhülltem Kopfe auf einen Wehrstein und ruhte aus. Als aber gegen Mittag endlich das Banner abzog, war sie schon auf der Straße nach dem Albisberge vorausgegangen und schlüpfte längs derselben in den anstoßenden Wäldern unverdrossen dahin.

Mitte Weges ruhte sie wieder aus und sah durch die Bäume hindurch das unvollständige und in Verwirrung aufgebrochene Heerwesen vorüberziehen. Reiter, Geschütz, Fußvolk waren durcheinandergemengt; doch der tiefe Ernst, welcher über den Ziehenden schwebte, und das schöne, der Ursula ungewohnte Aussehen derselben, muteten sie wie eine reinere Luft an. Unter den stattlichen Männern, die in der Nähe des Banners ritten, war Ulrich Zwingli selbst, und sein sympathischer Anblick erhellte die Seele des unverwandt schauenden Weibes. Der schlanke Mann trug über dem langen Gelehrten- oder Predigerrocke einen guten Stahlharnisch, seinen Kopf schützte ein eigentümlicher runder Stahlhut mit breitem Rande, auf der Schulter lehnte eine halblange eiserne Halbarte oder eher Streitaxt von zierlicher Form, und an seiner linken Seite hing das Schwert. Aber trotz allen diesen Waffen lag auf seinem schöngeprägten Gesichte ein so ahnungsvoll trauriger, frommer und ergebener Ausdruck, die Lippen beteten leise vor sich hin, aber so sichtbar aufrichtig aus tiefstem Herzen herauf, daß von dieser Erscheinung ein lichter Strahl von Gesundheit und lindem Troste in ihre gequälte Brust hinüberzog und sie beinahe den Hansli übersehen hätte, der dem entschwindenden Reformator an der Spitze seiner rüstigen Rotten folgte.

[376] Sie rührte sich aber nicht und setzte ihren Weg erst wieder fort, als der Zug vorbei war und die Berghöhe überschritten hatte und sich zu sammeln begann. In weitem Bogen umkreiste die farblose Gestalt, vom braunen Erdboden kaum zu unterscheiden, alle Bewegungen des kleinen Heeres, das seine Hauptstärke erst noch erwarten sollte, während verbündete Kriegsmassen untätig fern im Westen lagerten, die feindlichen Brüder aber achttausend Mann stark heranzogen.

Sie stand jetzt vor jenem Gehölze zur Linken der Zürcher Stellung, welches zu besetzen diese versäumt hatten, und sah beide Heere; der Geschützkarnpf, der schon seit geraumer Zeit angefangen, scheuchte sie jedoch in das Innere des Waldes. Sie fand eine alte Buche, deren starke Wurzeln eine Bucht bildeten und überdies eine kleine Erdhöhlung umspannten; in diesen Schutzort schmiegte sie sich hinein und saß da wohlgeborgen, wie sie glaubte. Sie öffnete jetzt rasch ihr Reisebündelchen, da die Zeit gekommen war, sich zu stärken, und zog ein Fläschlein Wein und ein Stück getrockneten Fleisches mit Brot hervor, aß und trank und war ziemlich guter Dinge; atmete sie doch die gleiche Luft mit dem Manne, dem sie nachging.

Jetzt knisterte und schallte es aber auf einmal in den Bäumen und in ihrem Rücken; die wenigen Schützen von Uri, welche die Stellung und die hier mögliche Umgehung der Zürcher erkundeten, hatten das Gehölz besetzt und schossen aus demselben, worauf die Zürcher einen Teil ihres Geschützes herwendeten und ihre Kanonenkugeln über Ursulas Haupt in die Bäume schlugen.

Sie saß unbeweglich still, kein Auge sah das in sich geduckte graubraune Häuflein Menschenleben.

Dann wurde es wieder still um sie her; die Schützen hatten das Gehölz verlassen, um die bisher zum Angriff noch unentschlossene Hauptmacht der Katholischen heranzurufen. Dann nahte das Gewitter in Ursulas Rücken wirklich heran; zu vielen Tausenden brach der Gewalthaufe der fünf Orte durch Wald [377] und Gebüsch und zu beiden Seiten darüber hinaus, daß, wie der Chronist sagt, ein so gewaltiges Getöse, Prasseln und Brausen entstand, als ob die Erde erbebte und der Wald brüllte. Ursula duckte sich mit gefalteten Händen; aber es schien kein Ende nehmen zu wollen. Links und rechts stürmten unaufhörlich neue Scharen ergrimmter Männer an ihr vorüber, sie sah jedoch fast nur deren breite Füße, unter welchen der Waldboden samt dem Unterbusch sich bald in eine zerstampfte Heerstraße verwandelte. Zum Glücke zerteilte der alte Buchenbaum, in dessen Wurzeln sie saß, den Strom des wilden Heeres in ihrem Rücken; um so betäubender tönten die Landhörner, Trompeten und Trommeln ihr in die Ohren, und sie lehnte sich zuletzt halb ohnmächtig an das gute und sichere Baumfundament.

Endlich aber wurde es abermals still um sie her. Die letzten waren vorübergeeilt, die ganze Heermenge war nun zwischen ihr und der geringen Schlachtordnung der Reformierten, welche zudem eben im Vollzug einer Wendung begriffen war.

Jetzt hörte Ursula das Geschrei des Angriffs die Luft erschüttern, als die Rache für vermeintlich oder wirklich erlittene geistige Verachtung mit einem Sturme von Schmähworten eröffnet und der furchtbare Gruß mit ebenso lautem und bitterem Schelten erwidert wurde.

Hierauf hörte sie das Getöse eines heftigen Schlagens, das aber nicht lange dauerte, da die Schlacht von jetzt an den unglücklichen Verlauf nahm, der für die Zürcher in den Sternen geschrieben stand.

Die Sonne neigte sich zum Untergange; unter den Gefallenen der Walstatt lagen bis auf wenige die angesehensten Zürcher, die ausgezogen, gegen dreißig Ratsglieder, ebenso viele reformierte Seelsorger, vielfach Vater und Sohn und Brüder nebeneinander, Land- und Stadtleute. Zwingli lag einsam unter einem Baume. Er hatte nicht geschlagen, sondern war nur mannhaft bei den Seinigen im Gliede gestanden, um zu dulden, was [378] ihnen bestimmt war. Er war mehrmals gesunken, als die Flucht begonnen, und hatte sich wieder erhoben, bis ein Schlag auf und durch den Helm ihn an der Mutter Erde festgehalten.

Die sinkende Sonne glänzte ihm in das noch feste und friedliche Antlitz; sie schien ihm zu bezeugen, daß er schließlich nun doch recht getan und sein Amt als ein Held verwaltet habe. Wie die große goldene Welthostie des gereinigten Abendmahles schwebte das Gestirn einen letzten Augenblick über der Erde und lockte das Auge des darniederliegenden Mannes an den Himmel hinüber.

Vom Rigiberge bis zum Pilatus hin und von dort bis in die fernab dämmernden Jurazüge lagerte eine graue Wolkenbank mit purpurnem Rande gleich einem unabsehbaren Göttersitze. Auf derselben aber schwebten aufrechte leichte Wolkengebilde in rosigem Scheine wie ein Geisterzug, der eine Weile innehält. Das waren wohl die Seligen, die den Helden in ihre Mitte riefen, und zwar, wie er einst an König Franz 1. geschrieben, nicht nur die Heiligen des Alten und Neuen Testamentes und der Christenkirche, sondern auch die rechtschaffenen Heiden Herkules, Theseus, Sokrates, Aristides, Antigonus, Numa, Camillus, die Catonen und die Scipionen. Und auch Pindaros war da mit schimmernder Kithara, dem der Sterbende einst eine begeisterte Vorrede geschrieben.

Auch der Mann, welchem Ursula in ihrem ahnenden Wandertriebe nachgegangen war, lag reglos dahingestreckt, etwa fünfzig Schritte von der Stelle, wo der ehrwürdige Bannerherr über der geglückten Rettung des Banners gefallen. Hansli Gyr hatte sich mannhaft geschlagen und die ersten Anfälle wiederholt abwehren geholfen. Als die Verwirrung und Flucht eintrat und das Banner niedergelassen worden, hörte er, selbst im Strudel mitgerissen, Hilfe für das Feldzeichen rufen. Sich einigen zustürmenden Feinden entgegenstellend, kämpfte er mit Hieb und Stoß gegen die Andringenden, was er vermochte, mußte aber einen Schritt um den andern zurückweichen und stürzte, da er [379] nicht hinter sich sah, rücklings in den Graben, der für den Tag so verhängnisvoll geworden. Schwer gerüstet, wie er war, hatte er auch einen schweren Fall getan und lag, von der Erschütterung bewußtlos geworden, in der Tiefe, die Füße nach oben gerichtet.

Als die Nacht auf das Land herniedergestiegen und Ursula unterscheiden konnte, daß die Schlacht vorüber war, trat sie aus dem Gehölze hervor. Sie sah das Feld von den zahlreichen Feuern der Sieger bedeckt und hörte deren Jubel. Alsobald merkte sie wohl, wer gesiegt habe, besann sich aber keinen Augenblick, vorwärts zu gehen und über das Schlachtfeld. Es kümmerte sich auch niemand um sie, als sie nun wie ein Nachtgeist herumstrich; denn es liefen aus dem Trosse der Sieger noch manche Weibsbilder unter den Männern herum. Überall, wo sie sah, daß man um Tote oder Verwundete beschäftigt war, trat sie herzu, fand aber nicht, was sie befürchtete, und trachtete voll Hoffnung, allmählich aus den Katholischen hinauszukommen und die zürcherischen Trümmer zu erreichen. Aus einem der Wachtfeuer hatte sie unbemerkt ein hell brennendes Kienscheit gezogen und leuchtete sich unerschrocken durch diese seltsame nächtliche Welt voll Übermut, Freude, Elend und Todesschrecken. Schon wurde es dunkler und stiller, als sie an einen Steg gelangte, der über den Mühlegraben führte. Sie schaute wie zufällig seitwärts und sah, wie ein Lichtstrahl ihrer Fackel auf ein Waffenstück fiel, das in der Tiefe lag. Ohne Zögern kehrte sie um und stieg an dem buschigen Bord hinunter, wo unter Erlen ein Toter lag. Es war aber nicht Hansli; doch ging sie auf dem Grunde des Grabens, durch welchen sich das Wasser schlängelte, weiter und fand noch einen stillen Mann, aber auch nicht den rechten. Gleich der nächste aber, auf den sie stieß, war es. Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Augenblicklich begann sie, seine aufwärts am Bachbord liegenden Beine herunterzuziehen und ihm mit Mühe das Haupt zu erhöhen, und erst jetzt warf sie sich auf ihn und lauschte an seinem Munde. Er atmete noch, [380] gab aber sonst kein Lebenszeichen; doch auch von Blut war nichts an ihm oder um ihn zu sehen. Hastig nestelte sie an Helm und Panzer, ohne sie loszubringen, und fing laut an dabei zu seufzen, besonders nachdem ihr auch der Kienbrand ins Bachwasser gefallen und erloschen war.

Da erschienen oben zwei Männer mit einer Fackel und leuchteten hinunter. »Da unten liegt auch einer am Ausweben!« sagte der eine, und der andere »Wir wollen hinabsteigen, vielleicht ist's einer der Unsern!« – »Gotts Wunden! das ist ja ein Pärlein!« riefen sie, als sie unten anlangten.

»Den hab ich auch schon gesehen!« fuhr der eine fort, als er dem Gefallenen ins Gesicht leuchtete.

»Auch ich, aber ich weiß nicht, wo?« versetzte der zweite Kriegsmann, der aber, wie sein Kamerad, besänftigt und menschlich aussah.

»Wer ist der, der da liegt, und wer bist du selbst, du Nachtschatten?« fragten sie nun die Ursula.

»Es ist ein Rottmeister Hänslein Gyr und ein guter Mann«, erwiderte sie flehend; »habt Erbarmen, ihr Herren, und helfet ihm, denn er lebt noch!«

»So wahr Gott lebt, das ist jener Hansli!« und »Ein alter ehrlicher Kamerad! Wie die Jahre vergehen!« riefen nun die beiden voll Verwunderung aus. »Aber wer bist denn du selbst, und wie kommst du in diesen Graben?«

»Ich bin seine Nachbarin, Kindergespielin und gewesene Braut und ihm nachgelaufen, ohne daß er's weiß!«

»Nun«, sagte der eine, »wem der Herrgott ein so treues Mensch geschenkt hat, den darf man nicht verderben lassen! Komm her, du Feldgespenst, wir wollen dir helfen!«

Die Befehlshaber der Fünförtigen hatten eben mit Trommelschlag verkünden lassen, daß keine Verwundeten oder Gefangenen mehr getötet werden dürfen, und so hatte es für die zwei Gesellen, die Schwyzer waren, keine Schwierigkeiten, den Hansli aus dem Graben hinauszuarbeiten und ihn nach dem Kloster[381] Kappel zu bringen, dessen reformierter Abt auch auf der Walstatt lag und das mit Verwundeten angefüllt wurde.

Hansli geriet durch Vorsorge der braven Männer in eine kleine Mönchszelle auf ein ordentliches Bett; die Ursula wich nicht von seiner Seite und lauschte auf jeden seiner Atemzüge. Erst am dritten Tage kam er wieder zu sich selbst; in acht Tagen aber konnte er das Bett verlassen, und als er sich, da sich eine Verletzung sonst nirgends zeigte, völlig erholt und seine Gedanken wieder beisammen hatte, fand er die ebenfalls durch die Ereignisse auf wunderbare Weise genesene Ursula in seiner nächsten Nähe, so nah er es nur wünschen konnte.

Sie wußte durchaus nicht zu sagen, wie sie von Hause fortgekommen sei, und doch waren ihre Gedanken und Augen jetzt vollkommen sicher und klar Das Glück, das sie empfand, half ihr bald wieder zu blühenden Wangen; denn sie war wie ein gesegnetes Fleckchen Erde, das alsobald wieder ergrünt, sobald nur ein Sonnenblick und ein Tau darauf fällt.

Als die nächsten Folgen der Schlacht und auch die weiteren Kriegswirrsale sich verzogen, nahm Hansli Gyr die Ursula zur Frau nach der Vorschrift der bestehenden Ordnung, der sie sich nicht länger widersetzte, und zog mit ihr auf ihren eigenen Hof, wo der alte Enoch das Zeitliche gesegnet hatte und seine gebeugte und zerknistete Frau ihm gehorsam in das neue Jerusalem nachgefolgt war. Sie hatte aber, freilich hinter dem Rücken des Mannes, noch den Trost erlebt, die Tochter versorgt und glücklich zu sehen.

Der Rottmeister und seine Ehefrau aber lebten als würdige Glieder des Volkes, welches nach jener Schlacht die Regierung und die Führer, statt sie im allgemeinen Unglücke mit Vorwürfen zu überhäufen und mit Unzufriedenheit zu quälen, zur Standhaftigkeit aufmunterte und seiner Opferfreudigkeit versicherte, freilich nicht ohne seine aufrichtige Meinung über dies und jenes beizufügen, was vielleicht besser zu machen wäre. Und Hansli gehörte zu den Männern der Landschaft, welche [382] mit wohlwollender Offenheit ihre Stimme erhoben, aber zugleich mit eiserner Zuverlässigkeit für das gemeine Wesen einstanden. Gegen zweihundert Jahre lang hausten seine Nachkommen auf dem gutbestellten Hofe, welcher der Gyrenhof genannt wurde. Den Winkelpropheten aber schenkte das brave Ehepaar jedesmal ein Glas Wein oder guten Apfelmost ein, sooft einer derselben mit irgendeiner neuen Lustbarkeit auf den Hof kam. Denn immer trieben sie etwas Schnurriges, obgleich sie nicht mehr predigten. Ihre Art spukt indes ab und zu immer noch um jenen Berg herum.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Erzählungen. Züricher Novellen. Zweiter Band. Ursula. Ursula. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9EE9-5