Justinus Kerner
Die Heimatlosen

1. Kapitel

[9] Erstes Kapitel.

Die Mädchen des Waldgebirgs saßen im Hirtenhause vertraulich beim Spinnrocken. Der Mond schien durch die runden Fensterscheiben und erhellte das niedere Gemach. Serpentin lag ohnweit des Glockenspiels auf einer Bank an der Wand. Das Haupt hatte er auf den Arm gestützt und war in Träume versunken.

Wie der Mond durch das dichte Gezweige des Nußbaumes vor dem Hause schien, warf er vorüberziehende Gestalten auf die Wände des Gemaches. Serpentin dachte sich in ihnen Geister, die in fliegenden Gewanden hinschwebten, spielende Meerfrauen, kristallhelle Blumen und Sterne.

Seit seinem dritten Jahre immer in den Klüften dieser Gebirge, in der Nacht dieser Wälder lebend, hatte er noch keine freie Aussicht gesehen, noch keinen geöffneten Himmel, keinen Aufgang oder Niedergang der Sonne.

Bücher, die er bei seinem Meister fand, hatten ihm von der größern Welt manches erzählt, das er sich aber immer auf schwarzem Grund in den brennendhellsten Farben dachte; ja, je beschränkter und tiefer dis Wildnis der Gebirge und Wälder war, je heller wurden die Gestalten und Flächen, die sich ihm im Geiste vor Augen stellten.

Die Mädchen beim Spinnrocken erzählten nach der Reihe Märchen und Geschichten alter Zeit. Serpentin vernahm keines: denn er dichtete sich jetzt gerade selbst eine wundersame Geschichte aus den vorüberschwebenden Mondgestalten, die ihm auch oft wie Ahnungen und Bilder aus seiner frühesten Kindheit vorkamen.

Jetzt begann Sililie ihr Märchen, und die ihm liebe Stimme weckte ihn aus seinen Träumen. Sie sprach: »Der Mond, der sich dort auf den schwarzen Felsen seßt, mahnt mich an das Märchen, das die Pflegemutter mir so oft erzählte, nächtlich, wenn das helle Glockenspiel im stillen Zimmer hallte. Ich nenne es nur ›das Märchen vom Lichte‹, denn es gibt mir immer die hellsten Träume.«

[9] Serpentin lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, während Sililie also erzählte:

1»Es sind wohl zweitausend Jahre oder noch länger, da hat in einem dichten Walde ein armer Hirt gelebt, der hatte sich ein bretternes Haus mitten im Walde erbaut, darin wohnte er mit seinem Weib und sechs Kindern; die waren alle Knaben. An dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärtlein, und wann der Vater das Vieh hütete, so gingen die Kinder hinaus und brachten ihm zu Mittag oder zu Abend einen kühlen Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein.

Dem jüngsten der Knaben riefen die Eltern nur: Goldener, denn seine Haare waren wie Gold, und obgleich der jüngste, so war er doch der stärkste von allen und der größte.

Sooft die Kinder hinausgingen, so ging Goldener mit einem Baumzweige voran; anders wollte keines gehen, denn jedes fürchtete sich, zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen; ging aber Goldener voran, so folgten sie freudig eins hinter dem andern nach durch das dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem Gebirge stand.

Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rückweg vom Vater mit Spielen im Walde, und hatte sich Goldener vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah, wie das Abendrot. ›Laßt uns zurückgehen!‹ sprach der Älteste, ›es scheint dunkel zu werden.‹ – ›Seht da, der Mond!‹ sprach der Zweite. Da kam es licht zwischen den dunkeln Tannen hervor, und eine Frauengestalt wie der Mond setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:


›Der weiße Fink, die goldene Ros',
Die Königskron' im Meeresschoß.‹

Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte und verlor eins das andere.

Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldener in dem dicken Wald umher, fand auch weder einen seiner Brüder, noch die [10] Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen: denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere.

Die Braunbeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und löschten seinen Durst, sonst wär' er gar jämmerlich gestorben. Endlich am dritten Tage, andere sagen gar erst am sechsten, wurde der Wald hell und immer heller, und da kam er zuletzt hinaus auf eine schöne grüne Wiese.

Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmete mit vollen Zügen die freie Luft ein.

Auf derselben Wiese waren Garne ausgelegt, denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing die Vögel, die aus dem Wald flogen, und trug sie in die Stadt zu Kaufe.

›Solch ein Bursch ist mir gerade vonnöten‹ dachte der Vogelsteller, als er Goldener erblickte, der auf der grünen Wiese nah an den Garnen stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt sehen konnte.

Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen, er zog seine Garne und husch! war Goldener gefangen und lag unter dem Garne gar erstaunt, denn er wußte nicht, wie das geschehen war. ›So fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen‹, sprach der Vogelsteller laut lachend; ›deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein verschlagener Fuchs; bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Vögel fangen.‹

Goldener war gleich dabei; ihm deuchte unter den Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.

›Laß erproben, was du gelernt hast‹, sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken.

›Packe dich mit diesem weißen Finken!‹ schrie der Vogelsteller, ›du hast es mit dem Bösen zu tun!‹ und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat.

Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht begreifen; er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen.

Er lief Tag und Nacht über Felsensteine und alte gefallene Baumstämme, fiel auch gar oft über die schwarzen Wurzeln, die aus dem Boden überall hervorragten.

Am dritten Tag aber wurde der Wald heller und immer heller, und da kam er endlich hinaus und in einen schönen, [11] lichten Garten, der war voll der lieblichsten Blumen, und weil Goldener so was noch nie gesehen, blieb er voll Verwunderung stehen. Der Gärtner im Garten bemerkte ihn nicht so bald, denn Goldener stand unter den Sonnenblumen, und seine Haare glänzten im Sonnenschein nicht anders als so eine Blume.

›Ha!‹ sprach der Gärtner, ›solch einen Burschen hab' ich gerade vonnöten‹, und schloß das Tor des Gartens. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte unter den Blumen ein gar buntes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.

›Fort in den Wald!‹ sprach der Gärtner eines Morgens zu Goldener, ›hol' mir einen wilden Rosenstock, damit ich zahme Rosen darauf pflanze!‹ Goldener ging nnd kam mit einem Stock der schönsten goldfarbenen Rosen zurück, die waren auch nicht anders, als hätte sie der geschickteste Goldschmied für die Tafel eines Königs geschmiedet.

›Packe dich mit diesen goldenen Rosen!‹ schrie der Gärtner, ›du hast es mit dem Bösen zu tun!‹ und so stieß er ihn gar unsanft aus dem Garten, indem er die goldenen Rosen unter vielen Verwünschungen in die Erde trat.

Goldener konnte die Worte des Gärtners nicht begreifen; er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich nochmals vor, die Hütte seines Vaters zu suchen.

Er lief Tag und Nacht von Baum zu Baum, von Fels zu Fels. Am dritten Tag endlich wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener hinaus und an das blaue Meer, das lag in einer unermeßlichen Weite vor ihm. Die Sonne spiegelte sich eben in der kristallhellen Fläche, da war es wie fließendes Gold, darauf schwammen schöngeschmückte Schiffe mit langen, fliegenden Wimpeln.

Eine zierliche Fischerbarke stand am Ufer, in die trat Goldener und sah mit Erstaunen in die Helle hinaus.

›Ein solcher Bursch ist uns gerade vonnöten‹, sprachen die Fischer, und husch! stießen sie vom Lande. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte bei den Wellen ein goldenes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, seines Vaters Hütte wiederzufinden.

Die Fischer warfen ihre Netze aus und fingen nichts. ›Laß sehen, ob du glücklicher bist!‹ sprach ein alter Fischer mit silbernen Haaren zu Goldener. Mit ungeschickten Händen senkte Goldener das Netz in die Tiefe, zog und fischte eine Krone von hellem Golde.

›Triumph!‹ rief der alte Fischer und fiel Goldenern zu [12] Füßen, ›ich begrüße dich als unsern König! Vor hundert Jahren versenkte der alte König, welcher keinen Erben hatte, sterbend seine Krone im Meer, und so lange, bis irgendeinen Glücklichen das Schicksal bestimmt hätte, die Krone wieder aus der Tiefe zu ziehen, sollte der Thron ohne Nachfolger in Trauer gehüllt bleiben.‹

›Heil unserem König!‹ riefen die Fischer und setzten Goldenern die Krone auf. Die Kunde von Goldener und der wiedergefundenen Königskrone erscholl bald von Schiff zu Schiff und über das Meer weit in das Land hinein. Da war die goldene Fläche bald mit bunten Nachen bedeckt und mit Schiffen, die mit Blumen und Laubwerk geziert waren; diese begrüßten, alle mit lautem Jubel das Schiff, auf welchem König Goldener stand. Er stand, die helle Krone auf dem Haupte, am Vorderteile des Schiffes und sah ruhig der Sonne zu, wie sie im Meere erlosch.«

Sililie hatte geendigt, die Uhr schlug Mitternacht, und ihre hellen Glasglocken hallten eine einfache Melodie durch das stille Gemach. Der Mond war unter den Felsen hinabgesunken, und Nacht war in dem Gemache. Serpentin saß in tiefes Nachdenken versunken, und je dunkler es um ihn wurde, desto heller traten all die lichten Bilder jenes Märchens vor ihn, die helle grüne Wiese, der Garten mit seinen lichten Blumen und das brennende Meer. Er schlich sich aus dem Hirtenhause in die Wohnung seines Meisters und legte sich zu noch hellern Träumen auf sein Lager.

Fußnoten

1 Dieses Märchen wurde als ein Bruchstück dieser größern Dichtung in dem Dichterwalde aufgeführt und aus diesem von Gottschalk in seiner Sammlung von Volksmärchen abgedruckt, wahrscheinlich weil der Herausgeber derselben vermeinte, es liege diesem Märchen eine Volkssage oder Volksdichtung zugrunde, was aber nicht ist. –

2. Kapitel

Zweites Kapitel.

Ohnweit des Hirtenhauses stand das Haus eines sonderbaren Mannes, sie nannten ihn Meister Lambert; der war im Rufe eines großen Arztes, und es nahmen alle Kranken dieser Wälder, ja auch Kranke aus entfernten Gegenden ihre Zuflucht zu ihm.

Man sagte von ihm, daß er so auffallende Kuren durch die Kraft der Sympathie verrichte und in uralten angeerbten Handschriften hohe Geheimnisse bewahre. Gewiß aber ist, daß er ein Mann war, der den Staub der Schule von sich geschüttelt, als Kind mit Einfalt und Liebe der Natur selbst sich hingab, der frei von den störenden Einflüssen eines gemeinern Gesellschaftslebens sich gefangen an ihr Herz gelegt. So war die Natur ihm befreundet, es war sein Wesen ihr gleich geworden, er fühlte und erkannte ihre Einflüsse, ohne sie in Regeln fassen zu wollen.

[13] Er hatte den Gang der Gestirne und ihren Wechsel emsig belauscht, das Aufblühen und Verblühen der Tiere und Gewächse, das Schaffen in den Tiefen der Erde in Stein und Metall, und es schloß sich seinem reinen, ungestörten Gemüte manches Wunder auf, das einem der Natur entfremdeten Sinn ewig verborgen bleiben muß, ja von dem ein solcher, von gemeinen Eindrücken befangener Sinn niemals auch nur die entfernteste Ahnung erhält.

»Die Natur, die gar liebreiche Mutter,« sprach er oft, »legt uns so gern an ihre Brust, daß wir die Harmonie ihres Herzens vernehmen, wenn wir uns nur nicht so fremd und großgezogen gebärdeten. Wie eine sorgsame Mutter nach dem kaum laufenden Kinde die Arme ausreckt und ihm damit den geraden, sichern Weg zu ihren Brüsten zeigt, also tut uns die gar liebe Mutter, die Natur, denken wir uns nur nicht so gar großgewachsen; denn dann tritt die sittsame, scheue Mutter zurück und verhüllt vor uns Großen ihre Geheimnisse. Mit gewissenhafter Ängstlichkeit lag auch ich einst dem Studium der Meinungen und Systeme ob; aber recht meinen bessern Teil zu wecken erschien mir bald eine lange Zeit hindurch in jeder Nacht ein Hirsch mit Storchenfüßen, der vor mein Bett sich stellte und mir mit den unverschämtesten, höhnendsten Ausdrücken befahl, ihn nach Linné in eine Klasse zu stellen. Da durchblätterte ich, vor mir den schreckhaften Presser, jedesmal angstvoll im Traume all meine Kompendien und Manuskripte, konnte von dem Ungetüm nichts geschrieben finden, ihm keinen Namen anweisen und erwachte dann jedesmal recht ermattet am Morgen. Erst als ich den Staub der Schule von mir abgeschüttelt, ein Kind mich in den Schoß der Natur legte, verließ mich diese widrige, beängstigende Erscheinung.«

Von diesem Manne wurde Serpentin als Gehilfe angenommen. Er übertrug ihm gern die Berührung und Bereitung der Arzneimittel, weil er sah, wie er sie mit Glauben und Liebe bereitete, und er darin die eigentümliche Kraft der Mischung setzte.

Das Haus, das er bewohnte, war ein einsames Waldhaus im Gebirge. Es lag im wildesten Teil dieser Gegend zwischen hohen Granitfelsen in einer Schlucht, durch die ein Waldstrom sich hinzog. In den Spaltungen des Urgebirgs, auf den Überresten eines längst erstorbenen kräftigen Lebens, hatten Tannen- und Forchenbäume Wurzel gefaßt und ragten oft in seltsamen Stellungen über die Schlucht hin.

Das Dickicht der Waldung, die wild aufeinandergetürmten [14] Felsmassen gestatteten keine freie Aussicht, und es blieb oben nur so schmal, als wie unten der Strom durch die enge Schlucht hinlief, ein Streifen des Himmels sichtbar. Dagegen sprangen lebendige Quellen zu Hunderten aus rätselhaften Tiefen der Erde und schienen durch ihre Klarheit und Bläue den so sparsam zugemessenen Himmel ersetzen zu wollen.

Meister Lambert hatte seine Wohnung von einem Holzhändler erkauft, der in die Stadt gezogen war. In einer Kammer derselben auf ihrem obern Boden lebte seit langer Zeit her ein uralter Mann; der jedesmalige neue Besitzer des Hauses hatte ihn immer wieder von dem Abziehenden übernommen, und so geschah es schon seit langer Zeit her. Als Lambert das Haus bezog, war der Mann vor Alter schon ganz stumpf an Sinnen, er schien Gehör und Sprache gänzlich verloren zu haben. Er ging in dem Hause still aus und ein und holte sich selbst Wurzeln und Waldfrüchte, seine einzige Nahrung. Sein Körper war stark zusammengekrümmt, sein Gesicht und besonders sein Nacken voll Runzeln, die hart und kalt anzufühlen waren.

Sein Kinn und Haupt war wie mit Moos bewachsen, er war ein Bild des höchsten erstarrten Menschenalters.

Er hatte sich in seiner Kammer ein Lager von Moos bereitet, da lag er den größten Teil der Zeit ruhig. Seine ledernen Hände spielten meistens mit einer lebenden Schildkröte, die er immer bei sich hatte.

Die ältesten Männer dieser Gebirge erinnerten sich, ihn in ihrer Jugend schon so mit seiner Schildkröte gesehen zu haben. Sie nannten ihn nur den Waldvater, wußten aber nicht, wie alt er war, oder woher er eigentlich gekommen. Einige wollten sich einer dunklen Sage erinnern, nach der er vom Meere gekommen und viel Elend erlebt habe.

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

Serpentin lag schlummernd auf seinem Lager; es war in der Nacht, als Sililie das Märchen vom Licht erzählte. Da ersah er im Traum zum erstenmal den Aufgang der Sonne. Er erwachte, und düstere Nacht lag im Gebirge; da ergriff ihn die gewaltigste Sehnsucht, endlich einmal die Klarheit des freien Himmels zu schauen. Eilends raffte er das nötige Reisegeräte zusammen und ging, noch ehe der Meister vom Schlaf erwachte, zum erstenmal die Nacht und die Einsamkeit dieser Wälder zu verlassen.

[15] Keines Weges kundig, lief er an dem schmalen Ufer des Waldstromes hin. In den einsamen Hütten, an denen er vorüberzog, schwieg alles; nur hie und da vernahm er aus einer den Schall einer Ziegenglocke oder den Schlag einer Wanduhr. Um ihn war öde Nacht, vor ihm aber schwebte das klare Bild Sililiens, die ihm seit Erzählung jenes Märchens immer mit einer lichten Glorie um das Haupt erschien.

Bald sah er in der Ferne eine helle, wogende Feuermasse und wie mitten in ihr viele ihm fremd gekleidete Männer, die aufs eifrigste und seltsamste beschäftigt waren. Sie schienen ihm ganz in der Feuermasse zu stehen und aus ihr Sonnen, Feuerringe und lichte Kugeln zu bilden. Er war vor eine Hütte gekommen, wo sie Gefäße aller Art von Glas bereiteten, eine Kunst, die er zuvor noch nie gesehen. Er verwunderte sich nicht wenig, wie eine so geringe glühende Masse durch den Hauch des Bereiters in eine so helle, große Kugel sich ausdehnen und durch geschickte Schwingungen in bestimmte Formen treten konnte.

Er verwunderte sich ob den seltsamen Gefäßen, die hier bereitet standen, und dachte sich selbst ihren Gebrauch aus. Er sah hier runde schwarze Spiegel, in denen wundersame Gestaltungen erschienen, große Pokale von buntem Glas, auf die ringsum Denksprüche und Bilder geschliffen waren, künstliche Figuren, die allerlei Ungetüme und Bilder der Phantasie darstellten. Am längsten aber betrachtete er die flüssige Masse des Glases selbst, die er so lange ansah, bis seine Augen den Glanz nicht mehr ertragen konnten. Der Meister sah den begierigen Jüngling mit freundlichen Blicken an und erklärte ihm die Bereitung des Glases und der Gefäße ausführlich. Dann labte er ihn mit Speise und Trank, und als er zufällig im Gespräche von ihm erfahren, daß er des Flötenspielens nicht unkundig sei, schenkte er ihm beim Abschiede eine kleine Flöte von Kristall, auf der Serpentin auch alsbald die hellsten Töne einer Harmonika hervorbrachte. Derselbe Meister gab ihm auch auf den Weg folgendes Rätsel mit:


»Kennst du den seltsamen Kristall?
Er deutet strahlend himmelwärts,
Rund ist er wie das blaue All,
Und seine Folie ist das Herz.
Es bricht aus ihm ein heilig Licht,
Das ist der werten Folie Glanz:
Wann Lieb' und Leiden die zerbricht,
Zerfließet er in Strahlen ganz.«

4. Kapitel

[16] Viertes Kapitel.

Es waren fremde Leute, die mit Arzneimitteln herumzogen und vor Jahren in diese Gebirge kamen, die Serpentin und Sililie in dem nahen Hirtenhause krank zurückgelassen. Mit ihnen war noch ein erwachsener Knabe, der ein Bruder Serpentins zu sein schien; dieser zog mit seinen Begleitern weiter. Nach den Erzählungen dieses Knaben schienen sie, durch Seeräuber an den Küsten von Spanien geraubt, nach Italien gebracht worden zu sein, von wo aus sie mit herumziehenden Tirolern in diese Gebirge kamen.

Lambert trug für die zerrüttete Gesundheit der zarten Kinder alle Sorge, aber bald erkannte er diese Geschöpfe als Blumen, die unter fremdem Himmel nicht lange blühen würden. Geflissentlich hatte er ihnen ihr früheres Schicksal, das er aber auch nur aus der Erzählung des älteren Knaben dunkel ahnte, verschwiegen.

Sililie hatte er der Pflege einer zärtlichen Hirtenfrau übergeben, Serpentin aber nahm er selbst zu sich und lehrte ihm die Kenntnis der Kräuter und die Bereitung der Arzneimittel.

Mit Betrübnis sah er, wie bei diesen Kindern bald und von Tag zu Tag immer mehr eine Erinnerung der frühern Kindheit, ein gewisses Sehnen erwachte, das sie sich selbst nicht deuten konnten, das aber er wohl zu enträtseln wußte.

Besonders sprach Serpentin öfters von einem klaren weiten Himmel, von hellen Lichtgestalten, die er in Träumen gesehen, und wünschte sich zu ihnen. Schon war Lambert entschlossen, ihn aus dem Dunkel der Waldeinsamkeit in das helle Leben hinauszuführen, als er von selbst das Waldgebirg und seinen Meister verließ. Lambert hatte an seiner Statt Sililie zur Bedienung und Bereitung der Arzneimittel zu sich genommen.

In diesem Mädchen entdeckte er bald die wundersamsten, Fähigkeiten, selbst das unverkennbarste Ahnungsvermögen, das ihn oft in Überraschung und Erstaunen versetzte; auch schien, seit Sililie die Arzneimittel berührte, seine Kunst noch auffallendere Wirkungen hervorzubringen.

In ihrer neuen Lage hatte sie sich der Gesellschaft ihrer Gespielinnen entzogen; sie war bei ihren Beschäftigungen gänzlich den Einwirkungen der Natur hingestellt; daher wurde ein ihr angeborenes sympathetisches Gefühl mehr ausgebildet und gesteigert. Ohne daß ihr je die sinnlichen Kennzeichen wirksamer Pflanzen angegeben worden, erkannte sie jede Giftpflanze, [17] ja fühlte selbst in bedeutenden Entfernungen schon ihr Vorhandensein. Ebenso erkannte sie jede wohltuende Pflanze meistens nur durch Berührung als eine solche und wußte ihre Kräfte bestimmt anzugeben. Mehrere Pflanzen erkannte sie als ganz gleichgültige, und es waren meistens solche, die schon durch viele Generationen hindurch in unsern Zimmern und Gärten prangen.

In der benachbarten Waldmühle befand sich ein Kind von vier Jahren, das Sililie im Vorübergehen stets mit Liebe betrachtete und gegen sie auch stets die Arme aufhob und sie anlächelte. Dieses Kind wurde nie anders als mit irgendeiner Blume in der Hand gesehen, die es auch schlafend nicht von sich legte. Oft sprach sie zu Meister Lambert: »Dieses Kind wird gewiß nicht lange mehr leben, das werdet Ihr sehen.«

Eines Tags, als sie diese Worte wieder gesagt, wurde der Meister auch eilends in die Mühle abgerufen. Als er in das Zimmer trat, lag das Kind schon erstarrt, ein Bild des Todes. Sililie war dem Meister nachgefolgt. Vergebens versuchte er jedes Mittel zu seiner Rettung. Als die Kunst des Meisters nichts vermochte, hob Sililie auf einmal das schon gänzlich tot geglaubte Kind von seinem Lager auf und sprach zu ihm mit fester Rede: »Komm mit, auf daß wir Blumen holen!« Da schlug das Kind die Augen hell auf, lächelte und reckte die Arme nach ihr aus, hüpfte auch freudig empor. Lambert und die Umstehenden waren des sehr verwundert, das Kind aber schloß die Augen zum ewigen Schlafe wieder. In jenem alten Manne, den sie den Waldvater nannten, der sonst für jedes Gefühl bestimmt abgestorben war, schien, wenn Sililie sich ihm nahte, ein besonderes Wohlbehagen rege zu werden. Wenn diese seine alten ledernen Hände liebend berührte, taten sich seine sonst fast immer geschlossenen Augenlider mit ihren borstigen Wimpern langsam auf und zeigten zwei große, himmelblaue Augen wie von Kristall, so wie ein hinwelkender Blumenkelch im erquickenden Morgenstrahl sich oft noch einmal auftut und den alten noch nicht vertrockneten Tautropfen in seinem Grunde zeigt.

Ging sie, Kräuter zu suchen, in den Wald, so sprang das Gewild vor ihr nicht, wie vor andern, scheu von dannen; es blieb und sah sie freundlich an, und oft folgte ihr ein schlankes Reh bis an die Wohnung nach.

5. Kapitel

Fünftes Kapitel.

Serpentin zog noch immer im Dunkel der Wälder hin. Die Waldvögel flogen vor ihm von Zweig zu Zweig und [18] stimmten ihren hellen Gesang an. Jetzt traf er auf ein Waldhaus, das war rings mit Laubholz und Tannen umgeben, auf diesen hüpften viele Sangvögel hin und her, Drosseln, Amseln und Nachtigallen, und ihr Ruf tönte laut in den hohlen Wald. Da er einer Erfrischung bedurfte, trat er in das Haus ein. Er verwunderte sich nicht wenig, als ihm da drinnen noch hellerer Gesang als der Vögel da draußen entgegenscholl, es war das Spiel einer Wanduhr, die spielte mit hellen Glasglöckchen und Flötentönen die Melodie des Liedes, das ihm gar wohl bekannt war, und das also heißt:


»Tief durch den Wald Gesang erschallt,
Die leichten Vöglein scherzen,
Der Mensch allein, der trägt die Pein
Recht tief im kranken Herzen.
Leicht hüpft der Bach den Blumen nach,
Ihm ist so kühl und helle;
Durchs Menschenherz, da schleicht mit Schmerz
Des heißen Blutes Welle.
Gesang verhallt, Sturm wiegt den Wald
In dumpfen Melodien;
Einsam die Bahn muß Wandersmann
Mit düstrer Wolke ziehen.
Rinn nieder, Tau! aus Wolken grau,
Dich saugt die Blum' in Liebe!
Trän'! bleib zurück im Menschenblick,
Machst Blumen welk und trübe!«

Serpentin war in das Waldhaus getreten; es wurde von Menschen bewohnt, die künstliche Uhren von Holz und Metall verfertigten und sie weit über das Meer hin zum Verkaufe sandten. Der Meister war ein blinder Greis von achtzig Jahren. Aus seinen großen schwarzen Augen trat eine solche Klarheit, daß, wenn sie auch kein Licht empfingen, sie desto mehr Licht zu geben schienen. Er berührte Serpentin mit weichen Händen, und seine freundlichen Gesichtszüge schienen zu verkünden, daß er auch das Innere des Jünglings erfühle.

Als er Serpentin einige Erfrischungen dargebracht, machte er ihn mit dem wundersamen Bau seiner Kunstwerke bekannt. Vor allem fiel Serpentin eine hohe Flötenuhr auf, die den Lauf der Gestirne wie den der Stunden zeigte. Sie stellte ein Waldschloß dar, das von Bäumen umgeben war, darin ließen [19] sich zu jeder Stunde Sangvögel aller Art hören, die sangen einander in den lieblichsten Akkorden zu; ob dem Schlosse aber zogen auf einem himmelblauen Grunde die Gestirne hin und gaben in ihrem Lauf ein lieblich Tönen.

Der Meister setzte sich mit seinen Gesellen und Serpentin zum Abendbrot, da sprach der Greis viel vom Gesange der Vögel, von den Tönen des Holzes und der Metalle und von dem Laufe der Gestirne.

Die Nacht war hereingetreten; es war eine stürmische Gewitternacht. Der Meister wollte den Jüngling nicht weiterziehen lassen und wies ihm in einem einsamen Gemache eine Schlafstätte an. Schauerliche Nacht war draußen, wundersam brauste der Sturm durch die dichte Waldung; es war ein Tönen wie von Meereswogen, welches ein Singen wie von Geisterchören öfters wieder übertönte.

Serpentin wurde bald in tiefen Schlummer gewiegt. Da ersah er im Traume kristallene Gärten in den Tiefen des Meeres; es war ein Himmel mit Farben des Regenbogens über ihn ausgebreitet, singende Meerfrauen in lichten Gewanden flogen an ihm vorüber, und es war ihm immer, als vernahm' er den unbeschreiblich süßen Ton kristallener Flöten. Dann aber war er plötzlich wieder aufwärts durch die kristallene Hellheit getragen. Er war am Meeresstrande auf einer lichten grünen Wiese unter blauem, warmem Himmel; auf schlanken, hohen Bäumen mit seltenen, klaren Blüten wiegten sich Vögel von unbeschreiblichem Glanze. Es war ihm, als wär' er da einmal in frühester Jugend gewesen. Er lag im Schöße seiner Mutter, dieselbe war in einem lichten, milchweißen Kleide. Ihr liebreiches, blaues Auge sah aus einem Schleier, der mit goldenen Sternen geziert war, so lieb und herzerfreulich wie der warme Himmel auf ihn hernieder.

Ein heller, lichter Blütenzweig bildete, eine Glorie um sein Haupt. Die klaren Bilder verschwanden, er schiffte mit fremden, unheimischen Leuten über die dunkle See, dann sah er sich mit Sililie im Korbe eines Maultiers in ein nächtlich Gebirge geführt.

Der tobende Sturm draußen hatte sich gelegt, die Wolken zerteilten sich, und der volle Mond trat übers Gebirge und erleuchtete Serpentins Gemach mit unbeschreiblicher Klarheit. Es war Mitternacht, noch lag Serpentin träumend auf dem Lager. Da erschien ihm auf einmal eine runde wogende Feuermasse, die war auf himmelblauem Grunde und warf an ihrem Umkreise rings goldene Blumen, brennend wie von Feuer, [20] in den blauen Himmel hinaus. Inmitten der Klarheit aber stand Sililie; sie hatte eine hohe weiße Lilie in den Händen und nickte mit ihr ihm freundlich zu. Er erwachte. Noch nie hatte er eine innigere Sehnsucht nach dem freien Himmel, nach der hellen Heimat in sich erfühlt. Rasch sprang er von seinem Lager auf und lief schnell wie ein gescheuchtes Reh im Waldgebirge weiter.

6. Kapitel

Sechstes Kapitel.

Seit dem Verschwinden Serpentins fühlte Sililie einen Schmerz in sich, den sie sich selbst nicht zu deuten wußte. Sie sahen und sprachen einander im Waldgebirge nur selten, aber ein jedes hatte das andere, ohne es sich gerade zu sagen, warm und befreundet in sich getragen. Eines Tages kam sie mit großer Freude zu Lambert gelaufen und versicherte ihn, daß sie gewiß wisse, daß Serpentin ihrer recht sehr denke. Von da an nannte sie öfters seinen Namen, saß gern auf der Stelle, wo er gesessen, und berührte oft seine zurückgelassenen Gewande.

Lambert hatte einen uralten Becher von Kristall, er merkte, wie Sililie sich öfters mit diesem in ein einfaches Gemach schlich. Einsmals ging er ihr insgeheim nach und sah, wie sie dasaß und starr in den Grund des Glases schaute. Sie schien ihn nicht zu bemerken oder seine Tritte zu vernehmen. »Was machst du, meine Tochter?« sprach er. »Ich sehe Serpentin in diesem Glase,« sprach sie; »da sitzt er im Waldgebirge im Zimmer eines Wirtshauses; ich fühle, daß er meiner sehr denkt.«

Von da an verschloß Lambert das alte Glas, daß es Sililie nicht mehr vorfand; denn aus Sorgfalt für ihre Gesundheit wollte er verhüten, daß das ihr angeborene wunderbare Ahnungsvermögen gesteigert würde.

7. Kapitel

Siebentes Kapitel.

Serpentin saß in der Ecke einer Wirtsstube, eines Hauses, das noch im Waldgebirge lag, von wo aus aber ein gebahnter Weg bald zu freiern Aussichten in die Ebene führte. Ein nach der Sitte der Stadt gekleideter Mann saß am Tische und faßte den Jüngling öfter scharf ins Auge. Jetzt trat ein Mädchen mit einem Harfenspieler ein, sie schien dem Manne untergeordnet zu sein; denn derselbe legte alsbald einige Speisen, die vor ihm standen, zurück und befahl dem Mädchen, ihm [21] sein Lied zu singen. Da sang das Mädchen mit Begleitung der Harfe:


»In einem dunklen Tal
Lag ich jüngst träumend nieder;
Da sah ich einen Strahl
Von meiner Heimat wieder.
Auf morgenroter Au
War Vaters Haus gelegen,
Wie war der Himmel blau!
Die Flur wie reich an Segen!
Wie war mein Heimatland
Voll Gold und Rosenhelle!
Doch bald der Traum verschwand,
Schmerz trat an seine Stelle.
Da irrt' ich weit hinaus
Durchs öde Land voll Sehnen;
Noch irr' ich, such' das Haus
Und find' es nicht vor Tränen.«

Dem fremden Manne standen nach dem Gesange helle Tränen im Auge. Rasch griff er nach Hut und Wanderstab. »Auf!« sprach er zu dem Mädchen, »heute noch auf das Schloß von Kastell!« – »Gott mit Euch, Herr Luchs!« sprach der Wirt, indem beide das Wirtshaus verließen.

Das Wesen des fremden Mannes und der Gesang hatten Serpentin wundersam ergriffen. Es schien ihm jede Strophe aus seinem eigenen Gemüte genommen zu sein. Er war im Begriffe, dem Manne nachzurufen, und doch wußte er keine Worte zu finden. Er verließ das Wirtshaus und schlug unwillkürlich die Straße nach Kastell ein. In tiefen Gedanken ging er des Wegs hin. Es war ihm, als erinnerte er sich, in frühester Kindheit dem Manne schon einmal begegnet zu sein. Da eröffnete sich auf einer Berghöhe auf einmal die Wildnis zu einer freien Aussicht. Es war ein herbstlicher Abend. Unübersehbar lag die Welt vor ihm ausgebreitet. Flüsse, weite Täler, Städte, Burgen und Dörfer, alles schwamm im Feuer der sinkenden Sonne. Wie er bei jener Glashütte die Menschen von ferne, als wie in der Feuermasse stehend, erblickte, so sah er jetzt in der Glut des Abendhimmels hohe alte Münster und Burgen. Die Umrisse der Gegenstände waren auf dem Feuergrunde alle bestimmt hervorgetreten, und so schien auch [22] das Ferne dem Auge begrenzt und deutlich. Wie er mit Lust in die geschmolzene Glasmasse geschaut, so sah er nun mit dem höchsten Entzücken in diese milde Klarheit, die auch dem Auge wohltuend erschien. Er verlor sich mit seinen Blicken weit in die Ferne hin, wo blaue Gebirge Wolken von Gold und Feuer wie lichte Kronen trugen. Dann hing wieder sein Auge auf dem alten Schlosse von Kastell, das, eine wunderbare Geisterburg, mit seinen alten Türmen schwarz wie aus gegossenem Eisen auf dem leichten Grunde stand. Die Verzierungen der gotischen Türme, die alten Ritterbilder, die Köpfe von Ungetümen und die steinernen Verzweigungen waren in ganz bestimmten Umrissen schwarz hervorgetreten und gewährten seinem Auge einen ganz seltsamen, neuen Anblick. Noch stand er im Anschauen dieser Klarheit verloren, als ein schwarz gekleideter, wohlaussehender Mann von mittlerem Alter auf einem Maultiere die Straße hergeritten kam, ihn anrief und aus seinen Träumen weckte; es war der Graf von Kastell. Der Graf war im Begriff, die Straße nach seinem Schlosse einzulenken. Serpentin fragte ihn, ob dieser Weg nach Kastell führe? Da der Weg einen steilen Berg hinabging, war der Graf von seinem Maultier abgestiegen und ging mit Serpentin zu Fuße weiter. Das eigene Wesen des Jünglings fiel dem Grafen bald auf; er erkundigte sich, von wannen er komme, und was der Zweck seiner Wanderung sei. Serpentin hatte kaum Lamberts Namen ausgesprochen, als der Graf sich mit vieler Liebe nach ihm als einem alten Freunde erkundigte. Es war ihm überraschend, ihn in jenen Gebirgen zu wissen, da er ihn an den Küsten der Nordsee begraben glaubte. Serpentin, als er in dem Manne einen Freund seines Meisters erkannte, konnte sich der Tränen fast nicht erwehren, denn er dachte seiner jetzt erst recht in Liebe und konnte eine geheime Sehnsucht nach ihm, die seit seiner Entfernung schon einigemal gewaltig in ihm aufgestiegen war, nicht länger mehr zurückhalten. Das Lob, welches der Graf über seinen alten Freund ausgoß, machte ihn recht wehmütig, und er mußte mit festen Blicken in die Glut des Himmels vor sich hinschauen, um in seinen Augen einen Strom von Tränen noch zurückzuhalten. Desto heimlicher aber kam ihm jetzt der ihm erst kurz noch so fremde Mann vor.

Als der Graf durch die freimütige Erzählung des Jünglings ganz in dessen Gemüt gesehen, als er erfahren, wie er aus bloßer innerer Sehnsucht, die Klarheit des Himmels zu schauen, die Nacht der Gebirge und seinen liebreichen Meister [23] verlassen, so schien ihm ein so klares Herz noch nie begegnet zu sein. Er machte ihm den Antrag, ihn in sein Schloß zu begleiten, indem er ihm die Hoffnung gab, ihn vielleicht bald selbst zu seinem Meister wieder zurückzuführen.

Das Wunderbare jenes Schlosses, dem sie nun bald nahe waren, und ein geheimer Zug, der ihn dahin trieb, und den wohl jener Mann, dessen Lied ihm noch so gut im Gedächtnis stand, in ihm veranlaßte, ließen ihn leicht in die Wünsche des Grafen eingehen.

8. Kapitel

Achtes Kapitel.

Sililie widmete sich von Tag zu Tag mehr ausschließlich der Pflege jenes alten Mannes, den sie den Waldvater nannten. Sie bereitete ihm an jedem Morgen ein neues Lager von getrocknetem Moose, das sie öfters bunt mit jungen Waldblumen umwand. Oft auch bekränzte sie, wenn der Alte im Schlummer lag, sein bemoostes Haupt mit lichten Blumen. Unter dieser zarten Pflege schien der Alte sich auch in der Tat zu verjüngen. Seine von rauhen Wimpern beschatteten Augen, die sonst immer unter harten Decken verborgen lagen, wurden immer sichtbarer; sie schienen größer zu werden und zeigten ein helles himmelblaues Licht. Auch bemerkte Lambert: daß, seit Sililie die Pflegerin des Alten war, er wärmer anzufühlen war und einige der Runzeln seines alten Gesichtes verschwanden. Der Alte fing auch an, an Blumen, die Sililie ihm reichte, Wohlgefallen zu finden, dieselben gern in seiner Nähe zu haben und anzusehen.

Indes ging Sililie immer weniger unter andere Gespielinnen, ihre liebste Beschäftigung schien die um den alten Mann zu sein; sie war stiller geworden. Lambert bemerkte, daß sie immer weniger aß, auch bleicher wurde, und so fing er an, um ihre Gesundheit besorgt zu werden.

9. Kapitel

Neuntes Kapitel.

Schwarz und wundersam stand das Schloß von Kastell auf einer abgesonderten Berghöhe, hoch über das weite Tal ragend, mit Türmen, von denen wie von hohen Mastbäumen lange Wimpel in die Luft flatterten. Es war dieses Schloß auch seltsam, ganz in Gestalt eines Schiffes gebaut und trug aus uralter Zeit viele in Stein gehauene Bilder von Meerfrauen und rätselhaften Seeungetümen. Zwei Linden von unsäglichem Alter, die ihre schwarzen Arme weit in den hellen [24] Himmel hinhielten, standen vor den Toren des Schlosses gleichsam wie riesige Wächter.

Der Graf, welcher das Schloß bewohnte, war ein Mann in den mittleren Jahren. Einst hatte er auf der See gedient; eine erhaltene Wunde aber machte ihn des Dienstes unfähig, und er zog sich auf die Burg seiner Väter zurück. Jetzt trat er mit Serpentin in das Schloß ein. Schon war Luchs daselbst angekommen und ging dem Grafen freudig entgegen. Dieser umarmte in ihm einen längst erwarteten Bekannten. Er hatte die Gäste in seinen Familiensaal geführt. Hier waren die Bilder seiner Ahnen, mehrere in verschiedenen Epochen ihres Lebens aufgestellt; es war ein kräftiger Menschenstamm. Serpentin zog vor allen das Bild eines Kindes an. Es war ein Knabe von unbeschreiblicher Lieblichkeit und Zartheit. Er saß am Gestade des Meeres unter bunten Muscheln und spielte mit einer Schildkröte. Lüfte, wohl von duftvollen Eilanden, schienen in seinen goldenen Locken zu wehen. Seine großen blauen Augen waren voll Anmut und Klarheit. Im Hintergrunde des Bildes zeigte sich das Meer, darob ein klarer Morgenhimmel. »Dieser Knabe«, sprach der Graf, »steht hier als Mann.« Serpentin wandte seinen Blick nach dem größeren Gemälde. Es war das Bild eines kecken Seemanns. Sein blaues Auge wie die ruhige See zeugte von Tiefe und Kraft. Seine Stirne war breit und frei, und das auf ihr gescheitelte braune Haar hing in langen Locken hernieder. Auch hier war ihm wieder eine Schildkröte beigegeben. Im Hintergrunde des Bildes erblickte man ein Schiff, das in stürmender See vor Anker lag.

»Diese Schildkröte«, sprach der Graf, »soll bei hundert Jahre und mehr in unsrer Familie lebend gewesen sein; wir erblicken sie noch auf einigen Abbildungen meiner Vorfahren, die alle zur See dienten.« – »O du beneidenswertes, sorgloses Geschöpf,« sagte Luchs, »Zentnerlasten gehen über dich hin, wie ruhst du so sicher noch lebend unter deiner Schale, harmlos, wie der arme Mensch erst unter dem Sargdeckel!«

Der Graf hatte sich in dem erleuchteten Saale mit Luchs und Serpentin zur Abendtafel gesetzt.

Bei Gelegenheit einiger Früchte, die ihm gereicht wurden, sprach Luchs: »Nur eine schwache Erinnerung haben wir jetzt noch von der Lust, die uns in früher Kindheit das Essen eines Apfels, einer Kirsche, eines Stückleins Brot verursachte. Als wir noch keine so fleischfressenden Tiere waren, da wir noch mehr von Kraut und Früchten lebten, da war es auch noch[25] anders, noch harmloser in uns, so harmlos wie dem grasfressenden Tiere, das geruhig auf dem großen, grünen Teller der Wiese weidet, das nur eine Miene machen kann, weil es keine andere zu machen bedarf als die, welche die größte Ruhe und Harmlosigkeit ausdrückt. Seit wir auf eigenen Füßen gehen, seit wir unsrer Mutter, der Erde, entwöhnt sind, will uns, was so ganz von ihr genommen ist, wie Kraut, Frucht und Brot, nicht mehr so munden. Nur das Weib, das stets treue Kind der Erde, verbleibt gerne bei der Kost, die die Mutter reicht; wir aber streben nach einer ihr fremden, fleischigen Kost mit Beil und Geschoß, bis wir im Alter, zu Kindern geworden, wieder der Muttererde uns nähern; da labt uns wieder Kraut und Obst wie in der Kindheit, und endlich legen wir uns selbst, ein Samenkorn, in ihren Schoß, wo es uns freilich am allerharmlosesten wird.«

Serpentin saß gerade dem Bilde jenes Seemannes gegenüber. Ein Kronleuchter erhellte das Bild.

Während die andern in solchen ihm gleichgültigen Gesprächen begriffen waren, hatte er es öfters unwillkürlich scharf in das Auge gefaßt.

Jetzt hatte er gerade wieder seinen Blick fest darauf gerichtet, es schien ihn mit so wundersamen bekannten Augen anzublicken und dieselben nicht von ihm zu lassen; da stürzte das Bild plötzlich, ohne eine sichtbare Berührung erhalten zu haben, mit einem dumpfen Schlag von der Wand hernieder.

»Schade, daß dieser Mann schon vor fünfzig Jahren gestorben, es müßte gewiß seinen Tod bedeuten«, sprach der Graf.

»Wer weiß,« sprach Luchs, halb scherzend, halb im Ernste, »ob mit dem Manne nicht gerade in diesem Moment eine wichtige Veränderung in einem andern Leben, in welchem wir ihn anzunehmen haben, vorging? Es ist bekannt, daß, wenn die Reben blühen, der Wein sich im Fasse rührt; allein nicht so bekannt ist die gewisse Beobachtung, daß die Weine aus den verschiedenen Weinbergen sich in ihren Bewegungen gänzlich nach der verschiedenen Blütezeit der verschiedenen Berge, von denen sie genommen sind, richten. Was geschieht mit einem Weine, dessen Weinberg ausgerottet wurde? Gewiß hat er auch Ahnung davon. Sollten wir weniger Ahnung von bedeutenden Schicksalen, von dem Tode anverwandter teurer Personen haben, von denen wir so ganz genommen sind wie die Traube von der Rebe?«

10. Kapitel

[26] Zehntes Kapitel.

Es war in derselben Nacht, Meister Lambert war noch mit Berechnung gewisser Formeln beschäftigt, da trat Sililie zur Mitternachtsstunde in sein Gemach und fragte ängstlich: »Meister! o hört Ihr nicht da oben den wunderbaren Gesang? Er kommt wie aus der Kammer des Alten, und ich vermag nicht mehr auf dem Lager zu bleiben.« – »Es ist der Wind, der durch das Schilf am See bläst«, sagte Lambert. Da tat es in der Kammer des Alten einen dumpfen Fall.

»Laß uns auf den Boden gehen«, sprach Lambert.

Sie nahmen Licht und traten in die Kammer des Alten ein. Er lag auf seinem Lager nicht anders, als wär' es sein steinern Bild, das man ihm zu einem Grabsteine bereitet. Die Schildkröte, seine treue Gefährtin, lag auf seiner Brust, aber sie zeigte kein Leben mehr, ihre Schale war zersprungen. »Es ist gewiß,« sprach Sililie, »daß jene wunderbaren Töne aus dieser Kammer kamen, und daß der Alte vor seinem Hinscheiden noch gesungen. Seht nur seine Hände, wie alt, wie die Haut der Schildkröte, und sein Nacken scheint wie die Rinde eines alten Baumes mit Moos bewachsen. Aber seine Augen, die haben sich ganz geöffnet und sind kristallhell, himmelblau als wie zwei große Tautropfen auf einer blauen Wasserlilie.«

»Du ruhst wohl, rätselhafter Mann!« sprach Lambert; »deine harte Schale ist zerbrochen, und dein banger Traum ist geendet!«

Der Tod des Alten wurde bald rings im Gebirge bekannt. Männer, Frauen und Kinder kamen häufig herbei, den Waldvater noch einmal zu sehen und ihn zu Grabe zu geleiten. Lambert hatte schon längst für ihn eine Bestattungsstelle ausersehen; es war eine von Bergkristallen und Tropfsteinen ausgekleidete Höhle, die sich unweit seiner Wohnung in einem Felsen befand. Das Wasser, das von ihren Wandungen niederträufelte, hatte die Kraft, alles bald in Stein zu verwandeln. »In diese Höhle«, sprach Lambert, »laßt uns die Hülle des Alten legen; sie sei nicht der Verwesung preisgegeben. Wie ihr ihn, als er noch auf der Erde war, Waldvater, Geist dieser alten Wälder, nanntet, so liege er nun, da er nicht mehr auf der Erde weilen darf, unverweslich hier unten, Geist der Wasser, Metalle und Gesteine dieser Gebirge.«

»Geh, Sililie!« sprach er weiter »bereite ihm in der Höhle ein Lager von Tulpen und Wasserlilien; auch diese wird die Kraft des Wassers unverweslich erhalten.«

[27] Sililie bereitete der Leiche ein buntes Lager von Blumen. Wer diese holde Gestalt so unter Blumen und Bergkristallen in dunkler Höhle beschäftigt gesehen hätte, der würde nichts anders in ihr als ein seltsames Berg- oder Nachtfräulein vermeint haben.

Um Mitternacht der folgenden Nacht trugen sechs der ältesten Männer dieser Gebirge, von denen jeder mehr als das achtzigste Jahr erreicht hatte, unter Begleitung Lamberts und vieler Gebirgsbewohner die Leiche im Scheine der Fackeln zur Höhle. Ein Chor weißgekleideter Jungfrauen war vorangeschritten. Da legten sie den durch Alter und Tod ganz erstarrten Körper auf Blumen nieder.

Ein Kranz von Schilfblättern war um sein Haupt geschlungen. Seine Augen gaben wie die Kristalle der Höhle hellen Schein. Die Höhle selbst war durch das Licht der Fackeln wundersam erleuchtet. Es brannten die bunten Kristalle in den Farben lichter Regenbogen. Die Tropfsteine aber standen, wundersame Gestaltungen, bald in dunkeln, bald in lichten Gruppen umher.

Nachdem sie die Hülle des rätselhaften Alten noch eine Zeitlang mit stiller Andacht betrachtet, sang der Chor der Jungfrauen folgende Strophen:


»Nun schließt das felsige Gemach,
Verwesung dring' nicht ein.
Wohl ruht sich's bei Metallen licht,
Bei Wassern und Gestein.
Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!
Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!
Verwelket nicht, ihr Blumen bunt,
Auf die wir ihn gelegt.
Blüht auf zum farbigsten Kristall,
Vom Bergfräulein gepflegt.
Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!
Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!
Erglüh' mit dem Kristall der Kluft,
Du Aug' mit hellem Schein,
Einst finde man im Felsen dich
Als reichen Edelstein.
Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!
Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!«
Hierauf wälzten sie einen großen Felsstein vor die Höhle und vermauerten die noch offenen Stellen.

11. Kapitel

[28] Elftes Kapitel.

Der Graf hatte Luchs und Serpentin in die alte Kapelle seines Schlosses geführt. Sie betrachteten die gemalten Glasscheiben der Kapelle mit ihren Heiligenbildern. Serpentin konnte die Glut ihrer Farben nicht genug bewundern. Mit solchem Himmelsscheine traten ihm einst Bilder in der Nacht der Gebirge vors Auge. »Solche Bilder«, sprach Luchs, »erscheinen oft am Himmel im Farbenschmelz des Abends. Derlei Malerei ist dem Himmel selbst abgelernt. Das ist das Gold der Sonne, die Glut des Abendrots, die Bläue des Äthers. Gewiß hat diese Kunst ein kindlich klares Gemüt zuerst geübt oder ein frommes Gemüte, dem zum erstenmal in solcher Glorie ein Heiliger erschien. Wir besitzen diese Reinheit nicht mehr, diese Kunst ist uns verloren gegangen, wir sind zu weise und groß geworden.« Jetzt betrachteten sie ein Bild des Erlösers am Kreuze, auf Goldgrund gemalt. »Auch diese Art der Malerei wird nicht mehr geübt,« sprach der Graf, »und doch so herrlich treten auf einem solchen Grunde die Gestalten hervor; er ist ein Heiligenschimmer, der über das ganze Gemälde hinfließt.« Vor diesem Gemälde blieb Serpentin in stiller Andacht stehen, nicht bemerkend, daß der Graf mit Luchs in seine Familiengruft gestiegen war.

»Wie Ihr sie in jenem Saale oben in lebendigen Farben sahet,« sprach der Graf, »liegen sie hier unten, verstorbene Leichen, in verschlossenen Sarkophagen. Alle sind hier versammelt, so getrennt sie auch voneinander lebten, ob sie auf dem Meere oder auf dem Lande der Sturm des Lebens herumtrieb, von diesem, der am Heiligen, Grabe kniete, bis auf diesen, der unter Braunschweigs Fahne in blutiger Schlacht erlag;« er deutete auf den Sarg seines Vaters. »Alle kamen hier zusammen. Nur einer fehlt, hier steht sein Sarkophag noch ungefüllt, es ist der, dessen Bild uns in vergangener Nacht durch seinen gewaltigen Fall erschreckte. Er war der Bruder, meines Urgroßvaters und hat den größten Teil seines Lebens zur See verlebt. Er war auf der Insel Helgoland geboren, daselbst brachte auch seine Mutter, durch gewisse politische Verhältnisse gezwungen, einige Jahre zu. Frühe zum Seedienst bestimmt, sollte sein Körper, um ohne Nachteil einst den wilden Elementen sich preiszugeben, auf das höchst Mögliche abgehärtet werden. Auf dieser rauhen Insel, die nicht einen Baum erzeugte, die gleichsam wie der gezackte Rücken eines versteinerten Seeungetüms aus dem Meere ragt, verlebte er[29] seine Kindheit, das Gestade des Meeres war sein liebster Spielplatz, Meerfische, Wurzeln und Wasser seine einzige Nahrung. Alle Sagen, die von dem Leben dieses Mannes zu uns kamen, verlieren sich fast in das Wunderbare und Abenteuerliche. Gewiß ist, daß er unter Seeräuber geraten und in Tunis mehrere Jahre in der drückendsten Gefangenschaft verlebte; auch ist gewiß, daß er mit der Tochter eines reichen Bankiers in Bremen heimlich verehelicht war, einer Jungfrau, deren wunderbare Schönheit ihm alle Widerwärtigkeiten äußerer Verhältnisse, die aus dieser Verbindung entsprangen, vergessen machte.

Das Schicksal aber trieb ihn bald aufs neue zur See; seine Gemahlin, mit der er einen Sohn erzeugte, ließ er an den Küsten von Spanien zurück. Fünf Jahre erhielt sie regelmäßig Nachrichten von ihm, dann blieben alle auf einmal aus, und nach zwei Jahren, die sie im tiefsten Kummer durchlebte, sandte man ihr seinen Totenschein. In ihrer Trauer versöhnten sich ihre Eltern wieder mit ihr, beredeten sie aber, in ihr Vaterland zurückzukehren und ihre Hand einem Landedelmann bei Oberoa zu geben. Sie verließ Spanien, indes ihr Sohn, an die Tochter eines Edelmannes in der Nähe von Valencia verheiratet, zurückblieb. Nachdem sie mit ihrem zweiten Manne schon viele Jahre durchlebt und mit ihm Kinder erzeugt hatte, soll sich, wie sie und ihr Gemahl eines Abends bei Tische saßen, die Tür geöffnet haben und ihr voriger Gemahl, ohne ein Wort zu reden, auf sie zugeeilt sein, sie geküßt haben und auf immer wieder verschwunden sein. Die Frau starb bald nachher an den Folgen des gehabten Schreckens. Von ihm aber ist nie eine Spur wieder zum Vorschein gekommen, als daß die Sage ging, er sei von Holzhauern nachher einmal in der Wildnis der Waldgebirge erblickt worden. Der Sohn, den er in Spanien zurückließ, starb, nachdem er viel Elend erlebt. Auch er hatte einen einzigen Erben, einen Sohn erzeugt, dem er sterbend noch den Rat gab, mit seiner Familie, einer Frau und drei Kindern, in die Heimat der Voreltern zu kehren. Keines aber von ihnen kam je in Deutschland an. Es ging die Sage: das Schiff, auf dem sie sich zur Heimfahrt befunden, sei im Meere versunken; andere wollen wissen, daß sie alle während eines Gefechts mit den Seeräubern umgekommen; und so ist nun dieser Zweig unserer Familie erloschen.«

Luchs stand während der Erzählung des Grafen in tiefem Nachdenken; einigemal wollte er den Grafen mit einer Frage unterbrechen, als ihm immer wieder die Frage entfiel. Er [30] folgte in tiefem Sinnen dem Grafen aus der Gruft in die Kapelle. Serpentin stand noch immer in tiefer Andacht vor dem Bilde des Gekreuzigten; unwillkürlich hatten sich seine Hände gefaltet, seine Knie gebogen. Der Goldgrund des Gemäldes war ihm zum goldenbrennenden Abendhimmel geworden. Darin stand das sterbende heilige Bild und hatte seine Arme versöhnend über die weite Erde ausgereckt.

12. Kapitel

Zwölftes Kapitel.

Sililie war nach dem Tode des Alten in große Stille versunken. Es schien ihr in den Gebirgen immer unheimischer zu werden. Sie verlangte laut bald nach Serpentin, bald nach dem Alten und setzte sich auch oft stundenlang in des einen oder des andern verlassenes Gemach. Eines Abends sank sie neben Lambert bleich auf einen Sitz zurück. »Sililie! ich glaube, du bist krank« sprach Lambert. »Mich friert«, sprach Sililie. »Komm, lege dich auf dein Lager nieder,« sprach Lambert, »ich will dir einen Trank bereiten.«

Lambert erkannte, daß das Mädchen von einem Fieber befallen worden, das jede Stunde, der kräftigsten Heilmittel ungeachtet, zuzunehmen schien.

Am siebenten Tage der Krankheit sprach sie: »Meister! hört Ihr die helle Flöte von Kristall?« Von da an verfiel sie in einen langen Schlummer. Lambert hoffte mit banger Erwartung noch das Beste.

Sie schien ihm wiedererwacht, und es war ihm, als ob sie ganz fröhlich sei und lache, er wußte nicht, durch welche Süßigkeit. Er trat näher zu ihr und fragte sie, warum sie so holdselig lache.

»Ich sah«, sprach sie, »einen Ort, der mit schönem und hellem Lichte angefüllt ist.«

»Sei gutes Mutes, meine liebe Tochter,« sprach Lambert, »du wirst in diesem schönen Lichte wohnen.« Sie lächelte wieder und nickte mit dem Haupte, und ein wenig hernach sprach sie: »Ich bin ganz fröhlich.«

Mehr hat sie darauf nicht geredet; außer da schon ihre Augen dunkel wurden, sprach sie: »Ich kenne Euch fast nicht mehr, denn alles andre scheint mir voll heller Rosen zu sein«, – und dieses ist ihre letzte Rede gewesen.

Bor dem Waldhause in einem kleinen Garten hat ihr Lambert mit eigner Hand ein Grab bereitet und hat es mit hellen, warmen Tränen benetzt. Ein Felsstück, das mit Bergkristallen [31] von ungemeiner Klarheit und Größe bewachsen war, hatte er auf die Stätte gewälzt.

Aus den Zwischenräumen der Kristalle sproßten bald Alprosen empor und verbreiteten im Glanze der Kristalle, ein jugendlich Morgenrot über die Stätte.

13. Kapitel

Dreizehntes Kapitel.

Serpentin und Luchs hatten einander, ohne ihrer Kindheit noch klar zu gedenken, wie Brüder erkannt. Es war einem jeden, als wär' er schon längst um den andern gewesen, und als zöge süße Gewohnheit einen jeden wieder zum andern hin.

Serpentin legte gern seine Hand in die von Luchs, folgte ihm auch auf jedem Schritte.

Der Graf hatte große Freude an der Zuneigung, die sich beide schenkten. Schon längst war der Tag verflossen, den Luchs sich zur Abreise vom Schlosse bestimmt hatte, aber immer fühlte er sich wieder von Serpentin zurückgehalten. Überall ging der bleiche stille Knabe ihm zur Seite. Der Graf, besorgt um Serpentins Gesundheit, die immer wankender zu werden schien, ließ sich von Serpentin das Wort geben, nicht ohne seinen Willen das Schloß zu verlassen. Heimlich aber hatte der Graf schon vor Tagen einen Brief an Meister Lambert, seinen alten Freund, gesandt, in welchem er ihm Serpentins Anwesenheit auf dem Schlosse verkündet und den Wunsch äußerte, ihn als seinen ältesten Freund, den er schon längst begraben glaubte, wiederzusehen, wo er alsdann den zarten Pflegesohn ihm wieder in die Arme führen werde. Deutlich wie noch nie stiegen indes in Luchs Gefühle aus seiner Kindheit auf. Es war ihm immer, als könnte er ohne Serpentin das Schloß nicht mehr verlassen; endlich aber gewann dennoch sein Trieb zu wandern, die Unruhe, die er stets fühlte, wenn er eine Zeitlang an einem Orte verweilt hatte, die Oberhand, und er war fest entschlossen am nächsten Morgen Kastell zu verlassen.

Noch an diesem Abend war Lambert angekommen.

Es war ihm nach dem Tode Sililiens Tröstung, seinen Serpentin wiederzusehen. Der Graf umarmte in ihm den alten Freund. Er führte ihn zu Serpentin, der erkrankt das Bett zu hüten gezwungen war. Serpentin zog den Meister mit Tränen an sein Herz, auch dem Meister traten Tränen in das Auge. Er konnte Sililiens Tod nicht verschweigen. Da stockten Serpentin die Tränen im Auge, und mildes Lächeln verbreitete sich über sein Gesicht.

[32] Luchs kam nur auf einen Augenblick in die Gesellschaft, Lamberts; er hielt sich den Abend und die Nacht über allein in seinem Gemach verschlossen.

14. Kapitel

Vierzehntes Kapitel.

Serpentin lag im einsamen Gemache des Schlosses auf seinem Lager schwer erkrankt. Es war drei Stunden nach Mitternacht, da trat seine Mutter in verklärter Hellheit vor ihn. Sie stand auf einem Grunde von brennenden Rosen, eine doppelte Glorie umfing ihr Haupt; in ihren Armen hielt sie Sililie, ein Kind in holder Klarheit. Ihr Schein warf eine wonnige Wärme auf ihn, wie die des mildesten Himmels. Alles außer ihr und dem klaren Rosenschimmer war ein dunkelblauer Himmel. Es war ihm, als läge er, ein Kind, zu ihren Füßen und sähe, in die Hellheit hin.

Wie aus der weitesten Ferne vernahm er jetzt den Klang einer Harfe. Es war Luchs, der unruhige Wanderer. Dieser hatte, als ihm noch alles zu schlummern schien, seinen Reisebündel zusammengepackt und mit dem kleinen Mädchen, das ihm die Harfe trug, daß Schloß verlassen. Auf dem höchsten Gipfel eines noch über das Schloß ragenden nahen Berges, dem Fenster des Gemaches, in welchem Serpentin lag, gegenüber, setzte er sich noch einmal nieder, ergriff die Harfe und sang in die Täler hin:


»Die Straßen, die ich gehe,
So oft ich um mich sehe,
Sie bleiben fremd doch mir.
Herberg', wo ich möcht' weilen,
Ich kann sie nicht ereilen.
Weit, weit ist sie von hier.
So fremd mir anzuschauen
Sind diese Städt' und Auen,
Die Burgen stumm und tot;
Doch fern Gebirge ragen,
Die meine Heimat, tragen,
Ein ewig Morgenrot.«

Ein herrlicher Morgen war aufgegangen, der Himmel stand heute wie nie voll Glut. Die Gemächer des Schlosses schienen durch ihre hohen Fenster wie in Flammen zu brennen.

Lambert warf sich noch unruhig auf seinem Lager hin und her; er war um Serpentins Leben, der schon seit einigen Tagen [33] das Bett zu hüten gezwungen war, sehr besorgt. Er erhob sich und trat leise in Serpentins Schlafgemach. Rosenrot, vom heraufsteigenden Sonnenball beschienen, lag er auf seinem Lager. Lambert trat näher zu ihm; kalt waren seine Hände, er war zur hellen Heimat übergeflogen. Unter den Harfentönen seines Bruders war er verschieden. Mit stiller Rührung überbrachte Lambert dem Grafen die Nachricht von Serpentins Tode. »Ich habe seinen Tod vorausgesehen,« sprach der Graf; »Blumen der Art halten nicht über den Sommer aus.« Lambert erzählte, wie er zu Serpentin und Sililie gekommen. »In den kurzen Augenblicken,« sprach er, »in welchen ich Luchs gesehen, fand ich so viele Ähnlichkeit mit ihm und jenem ältern Knaben, der sich damals seinen Bruder nannte, daß ich nicht zweifle, ihn als solchen bei näherer Betrachtung bestimmt zu erkennen.« – »Soviel ich höre,« sprach der Graf, »hat er sich vor Anbruch des Tages vom Schlosse entfernt. Was ich von seinem Leben weiß, ist zwar wenig; doch könnte es Eurer Mutmaßung völlig zur Stütze dienen. Luchs wurde als Knabe von vierzehn Jahren von herumziehenden Marionettenspielern nach Oberoa gebracht, wo er auf einem Theater sich nach und nach zum beliebten Schauspieler ausbildete. Er wurde aber bald wie von einer innern Unruhe von einer Stadt in die andere getrieben, wollte ungestört allein sein und handeln und fiel auf Erfindung jener Schattenspiele, die man auch chinesische Schattenspiele nennt. Mit diesen zog er, ein ewiger Wanderer, bald dahin, bald dorthin. Ich lernte ihn früher zu Oberoa kennen, und schon einigemal kehrte er auf seinen Wanderungen in meinem Schlosse ein. Zu Bremen soll er einige Jahre hindurch in einem Wirtshause, wie ein Reisender immer mit gepacktem Koffer, gewohnt haben.«

Unter solchem Gespräche waren sie in den Familiensaal getreten. Lambert betrachtete das Bild des Seemannes mit vieler Aufmerksamkeit, und je fester er es betrachtete, desto mehr schien es ihm die Züge des alten Waldvaters an sich zu tragen.

Der Graf erzählte seinem Freunde die Geschichte des Mannes, wie er sie Luchs kürzlich vor dem leeren Sarkophage erzählt.

Nun hegte Lambert keinen Zweifel mehr; die Geschichte des Waldvaters schien ihm enträtselt zu sein. Der Graf war von seinen Erzählungen überrascht, er ließ sich zu wiederholten Malen alles sagen, was er von dem alten Manne wußte, auch genau die Umstände angeben, unter denen Serpentin [34] und Sililie in das Waldgebirg gebracht wurden, und was der Knabe dazumal über ihr früheres Schicksal äußerte. Lambert stellte alles aufs genaueste zusammen: da dämmerte dem Grafen ein Licht auf, und er ahnete in jenen Fremdlingen die Urenkel seines Verwandten. »Luchs«, sprach er, »ist der einzige, der unsern Vermutungen noch nähere Bestätigung geben könnte, wer aber weiß, wohin sich der unruhige Wanderer jetzt gewendet.«

»Auch die Hülle des Alten«, sprach Lambert, »könnt Ihr noch ersehen, unversehrt noch so, wie er einst in ihr lebte. Im Waldgebirge ruht sie, bald zu Stein gewandelt, in einer Höhle von Bergkristall.« – »Laßt uns den guten Knaben erst zur Ruhe bestatten,« sprach der Graf, »und dann laßt mich mit Euch ins Waldgebirg zur Ruhestätte des Alten pilgern.«

15. Kapitel

Fünfzehntes Kapitel.

Der Graf ließ Serpentin in ein lichtes Gewand kleiden und ihn in einen Sarg voll Rosen niederlegen. Seine kristallene Flöte, die einzige Habseligkeit, die man außer einigen Kleidungsstücken bei ihm fand, ward ihm zur Seite gelegt. Im Chor der alten Kapelle war ihm eine Ruhestätte bereitet. Vier weißgekleidete Hirtenknaben trugen ihn im Morgenrote unter Begleitung des Grafen und Lamberts dahin. Auch viele Knaben und Mägdlein der Gegend folgten seinem Sarge mit weißen Gewanden. Die Kapelle war rings mit Rosen ausgekleidet. Der Schloßkaplan, ein ehrwürdiger Greis mit silberhellem Haare, sprach ein kurzes Gebet, weihte den Sarg mit heiligem Wasser ein und gab ein Zeichen, ihn, das Haupt gegen Morgen gerichtet, in die Gruft zu versenken.

Im nämlichen Momente trat der Feuerball der emporsteigenden Sonne der Kapelle gegenüber, die gemalten Glasscheiben mit ihren Heiligenbildern brannten in verklärten Farben, und hellauf glühte die ganz mit Rosen ausgekleidete Kapelle und goß Duft und Schimmer auf den langsam versinkenden Sarg. Aus all der Klarheit aber blickte das Bild des Gekreuzigten, vor dem Serpentin erst kürzlich noch in so hehrer Andacht gekniet war, freundlich lächelnd hernieder.

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TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Erzählung. Die Heimatlosen. Die Heimatlosen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A530-6