Die Mühle steht stille

Herr Irrwing reitet nachts durchs Tal der Mühle,
Ein Lichtstrahl folgt ihm und ein Windhauch kühle.
Herr Irrwing denkt: das ist des Mondes Licht;
Da haucht es hohl: »Der Mondstrahl redet nicht!«
Die Mühle steht stille.
Herr Irrwing denkt: das ist des Baches Tönen!
Da haucht es hohl: »Vom Bach aus Blut und Tränen!«
Herr Irrwing spornt sein Roß zu schnellem Lauf,
Doch plötzlich geht ihm innres Schauen auf.
Die Mühle steht stille.
»Das ist nicht Mondenstrahl, nicht Baches Wogen,
Gespenstig kömmt ein Weib mir nachgeflogen,
Vom Leichentuch getragen, bleich und wund,
Ein kalter Hauch entströmet ihrem Mund.«
Die Mühle steht stille.
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Herr Irrwing läßt dem scheuen Roß die Zügel,
Der Geist doch auf des Leichentuches Flügel
Ereilt ihn bald und hauchet in die Luft:
»Schnell wie kein Vogel fliegt ein Geist der Gruft.«
Die Mühle steht stille.
Und wie Herr Irrwing schaut, sieht er gespalten
Des Geistes Haupt, er siehet in den kalten,
Gespenst'gen Schädel, tief bis auf den Grund;
Da haucht also des Geistes kalter Mund:
Die Mühle steht stille.
»Schau' diese Spalte, draus entfloh mein Leben,
Sie hat mein Mann, John Mulling, mir gegeben,
Der Müller dort, den Sarg schlug selbst er zu
Und sprach: ›Ein Schlag gab ihr die ew'ge Ruh'!‹«
Die Mühle steht stille.
»Nun irr' ich ungerochnes Weib als Schatte,
Johannens jüngern Leib umfängt mein Gatte,
Die trägt den Goldkranz mein im Haare dicht,
Der trinkt er zu mein röm'sches Glas so licht.«
Die Mühle steht stille.
»Die schläft im Bette mein, hat all mein Habe,
Hungrig mein Knäblein weint auf meinem Grabe.
Herr Irrwing! daß Ihr meinen Worten glaubt,
Werft Euren Goldring mir ins offne Haupt!«
Die Mühle steht stille.
Herr Irrwing spricht: »In Jesu Christi Namen
Werf' ich den Goldring mein ins Haupt dir, Amen!«
Er wirft den Goldring in der Spalte Blut,
Zu klappt der Schädel laut, der Wurf war gut.
Die Mühle steht stille.
Der Geist verschwindet, aus löscht alle Helle,
Ein kalter Graus Herrn Irrwing packt zur Stelle,
Er braucht zu spornen nicht sein weißes Roß,
Von selber rennt es vor des Richters Schloß.
Die Mühle steht stille.
»Herr Richter,« spricht er, »eine Bitt' ich habe,
Kommt auf den Kirchhof mit zu Elsbeths Grabe!«
Sie graben lange da, sie graben tief,
Bis zu dem Sarge, drin Frau Elsbeth schlief.
Die Mühle steht stille.
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Sie brechen auf den Deckel, daß es schallte,
Da liegt die Leiche mit des Schädels Spalte,
Herr Irrwing spricht: »So war's!« und plötzlich rollt
Hell aus der Spalte Irrwings Ring von Gold.
Die Mühle steht stille.
Was sammeln sich die Raben dort in Banden?
John Mulling hat die blut'ge Tat gestanden:
Hoch auf dem Berge bleichet sein Gebein,
Frau Elsbeth ging in Gottes Himmel ein.
Die Mühle steht stille.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Gedichte. Die lyrischen Gedichte. Die Mühle steht stille. Die Mühle steht stille. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A586-8