Justinus Kerner
Bilderbuch aus meiner Knabenzeit

[9] Vorrede

Vielen, die mir in diesem Leben zu Freunden und Bekannten wurden, möchte ich diese Blätter, Erinnerungen aus meiner Knabenzeit, zum freundlichen Andenken hinterlassen.

Zwar können sie ihnen aus meinem eigenen Leben nur Weniges bieten. Das Leben eines Knaben, meistens nur in ruhigen Verhältnissen, im Schoße und Schutze der Eltern, bietet wohl wenig Außergewöhnliches dar, aber ich betrachte hier mein eigenes Leben auch nur als einen Faden, an den sich Bilder aus dem denkwürdigeren Leben Anderer, die mich damals berührten, anreihten, wie z.B. aus dem Leben meines Bruders Georg. Der bewegteste Teil seines Lebens fiel in meine Knabenzeit, die Zeit der ersten französischen Revolution. Von der Akademie zu Stuttgart aus hatte er sich mit aller Begeisterung eines jugendlichen, nur von Freiheit und Menschenbeglückung träumenden Gemütes der Revolution in die Arme geworfen und in Paris die ganze Zeit ihrer Schrecken durchlebt, zuerst als Jakobiner, dann aber, als sich diese als Mörder der Freiheit, als Terroristen zeigten, als ihr eifriger Gegner. In einem Anhange zu diesen Bildern aus meiner Knabenzeit teilte ich noch das fernere Leben dieses Bruders mit, die Zeit, wo er, durch Napoleon aus seinen Träumen republikanischer Freiheit geweckt, das sich selbst aufgebende französische Volk aufgab und in den Felsen und Wäldern Schwedens Stärkung und Trost in seinen getäuschten Hoffnungen und in seinem verlorenen Glauben an die Möglichkeit eines selbständigen, freien Deutschlands suchte.

Bilder und Erlebnisse in der Jugend gehen, je mehr wir uns von ihr entfernen, in um so hellerem Lichte in uns [9] auf dem schwarzen Grunde des Alters auf; das Ende berührt den Anfang, wir nähern im Alter uns selbst wieder mehr der Kindheit. Es gab Greise, denen die Erinnerung aus ihrem Jünglings- und Mannesleben völlig verschwand, während die Zeit ihrer Kindheit ihnen wieder zur Gegenwart wurde, daß sie vermeinten, noch Kinder zu sein. So wurde mir ein Greis von bald neunzig Jahren bekannt, der zu den Stunden, die ihn ehemals als Kind zur Schule riefen, sich jedesmal erhob, ein Büchlein unter die Arme nahm und wieder, wie ehemals im sechsten Jahre, mit demselben unaufhaltsam zur Schule wanderte.

So licht im Gedächtnisse stehend, gab ich diese Bilder oder Erlebnisse meiner Knabenzeit auch in ihrer reinen Wahrheit ohne eine poetische Ausschmückung, und ich ließ mir letztere nur einmal auf einem Blatte zu Schulden kommen, was ich daselbst, um den Leser nicht zu irren, bemerkte.

Man erwarte also auf diesen Blättern keine Dichtungen (keine Dichtung und Wahrheit, keine Reiseschatten), sie enthalten ungeschmückte und wahre Erlebnisse; auch bemerke ich noch, daß diese Blätter ganz so wie sie abgedruckt sind, schon vor drei Jahren, also lange vor all den neuen politischen Umwälzungen, ohne alle politische Absicht niedergeschrieben wurden.

Eine Vorrede, die ich schon vor drei Jahren dazu schrieb, endigte also:

»Ob mir bei etwa noch längerem Leben, bei dem immer mehr schwindenden Lichte meiner Augen und sinkendem Lebensmute und im Drange ärztlicher Geschäfte, Kraft und Muße bleiben, diesen Bildern aus meiner Knabenzeit auch solche aus meinem Jünglings- und Mannesalter nachfolgen zu lassen, daran fange ich zu zweifeln an. Schaue ich in die Zukunft, so sehe ich sich schwarze Wolken um mein Haupt lagern, und jetzt [10] [12]schon drückt es wie nahende Gewitterluft auf meinen Geist.«

In einem Liede, überschrieben: »Prognostikon«, das sich schon in der Auflage meiner Gedichte vom Jahre 1841 abgedruckt findet, heißt es:


»Wüster Streit bricht bald herein,
Bringet Tod auch dem Gesange!«

Jetzt, wo diese Zeit wüsten Streites wirklich hereingebrochen ist, muß ich jenen Zweifel um so mehr wiederholen.

Möchten diese Blätter, wenn auch nur hie und da, einen der Politik Müden finden, der sie mit jener Unbefangenheit durchliest, in der sie geschrieben wurden! –

Weinsberg, im Mai 1849.

Justinus Kerner.

Meine Geburt und erstes Leben in Ludwigsburg
Die Zeit Herzog Karls

Mein Geburtsort ist Ludwigsburg, eine der Haupt-und Residenzstädte Württembergs. Der Tag, an welchem ich geboren wurde, war der 18. September 1786.

Mein Vater war Oberamtmann in dieser Stadt, mit dem Titel eines Regierungsrates. Meine Eltern hatten vor mir schon drei Söhne und zwei Töchter erzeugt. Am Tage meiner Taufe war mein Vater verlegen um den Namen eines vierten Sohnes. In seiner Unschlüssigkeit betrachtete er die Familienbilder, die im kleinen Bildersaale in großen Ölgemälden, von seinem Vater an bis zur Reformationszeit hinauf, an den Wänden hingen. Sein Blick fiel zuerst auf das Bild eines Mannes in geistlichem Gewande mit einem langen Barte, der ganz breit und unten [12] in einer geraden Linie abgeschnitten, ihm vom Kinn an bis auf die Brust wie eine weiße Serviette reichte. Dieser Mann führte den Namen Justinus Andreas, und lebte im Jahre 1650 als Spezialsuperintendent in Güglingen, wo noch jetzt die gleiche Abbildung von ihm sich in der Kirche befindet. Nach diesem nun schöpfte mir mein Vater die Namen Justinus Andreas, welche nicht gewöhnliche Namen aber meiner Mutter nach der Taufe große Skrupel machten (obgleich den Namen Justinus noch viele meiner Voreltern führten), so daß mein Vater zu ihrer Beruhigung in das Kirchenbuch auch den sehr christlichen Namen Christian einschreiben ließ, mit welchem ich dann gewöhnlich im Kreise meiner Familie genannt wurde.

Von jenem alten Justinus muß ich noch anführen, daß er einmal von der geistlichen Oberbehörde in Stuttgart den Auftrag erhielt, sich nach Laufen zu begeben, um im dortigen Dekanathause die Untersuchung über eine Geistererscheinung zu führen. Der Dekan zu Laufen hatte nämlich an das Konsistorium berichtet: er könne in seinem Hause wegen Verfolgung von einem Gespenste nicht mehr bleiben. Jener alte Justinus wollte da an den Tag gebracht haben, daß jenes Gespenst die lebende Köchin des Herrn Dekans gewesen. Die Akten dieser Untersuchung finden sich noch im Archive des Konsistoriums. Dies zum Beweise, daß mir der Glaube an die Existenz von Geistern nicht anererbt und mit diesem Namen nicht angetan ist.

Am Tage meiner Taufe benetzte mir mein Vater die Lippen mit Champagnerwein, was meiner guten Mutter auch oft ein Bedenken verursachte.

Während meiner ersten Kindheit regierte noch der Herzog Karl Eugen. Er hatte in Ludwigsburg seine Sommerresidenz, und in dieser Zeit füllten sich die weiten menschenleeren Gassen, Linden- und Kastanienalleen Ludwigsburgs [13] mit Hofleuten in seidenen Fräcken, Haarbeuteln und Degen, und mit den herzoglichen Militärs in glänzenden Uniformen und Grenadierkappen, gegen welche die andern wenigen Bewohner in bescheidenen Zivilröcken verschwanden. Das prachtvolle Schloß mit seinen weiten Plätzen und Gärten, der nahe Park mit dem sogenannten Favoritschlößchen, die schattenreichen Alleen von Linden und Kastanienbäumen, die in weiten Reihen auf die Stadt zu liefen und selbst in der Stadt die schönsten Schattengänge voll Blüten und Duft bildeten, der große weite Marktplatz der Stadt selbst, mit seinen Arkaden, waren oft der Schauplatz der Vergnügungen dieses weltlustigen Fürsten, Schauplätze von Festen, die, gedenkt man ihrer in jetziger Zeit, einem nur wie bunte Träume erscheinen. So fanden in der dem Schlosse gegenübergelegenen Favorite die ungeheuersten Feuerwerke statt, mit einem Aufwande, der dem am Hofe von Versailles gleichkam. Auf dem bei der Stadt gelegenen See wurden Feste gegeben, bei denen schöne Mädchen der Stadt als Seeköniginnen figurieren mußten. In seinen früheren Zeiten schuf der Herzog oft im Winter, in den sein Geburtstag fiel, Zaubergärten, ähnlich denen, die in den Erzählungen von »Tausend und eine Nacht« vorkommen. Er ließ in der Mitte des Herbstes über die wirklich bestehenden schönsten Orangengärten von 1000 Fuß in der Länge und hundert in der Breite ein ungeheures Gebäude von Glas errichten, das sie vor der Einwirkung des Winters schützte. In dessen Wänden verbreiteten zahllose Öfen Wärme. Das ganze Gewölbe des großen Gebäudes trug das schönste Grün, und es hing so in der Luft, daß man keinen einzigen Pfosten bemerkte. Da bogen sich Orangenbäume unter dem Gewichte ihrer Früchte. Da ging man durch Weingärten voll Trauben wie im Herbste, und Obstbäume boten ihre reichen Früchte dar. Andere Orangenbäume [14] wölbten sich zu Lauben. Der ganze Garten bildete ein frisches Blätterwerk. Mehr als dreißig Bassins spritzten ihre kühlen Wasser, und 100000 Glaslampen, die nach oben einen prachtvollen Sternenhimmel bildeten, beleuchteten nach unten die schönsten Blumenbeete.

In diesem Zaubergarten nun wurden die großartigsten Spiele, dramatische Darstellungen und Ballette und Tonstücke von den größern Meistern damaliger Zeit aufgeführt. Das war noch die Zeit der stürmischen Periode dieses Herzogs, wo er bei einem solchen Feste einmal in weniger als fünf Minuten für 50000 Taler Geschenke in geschmackvollen Kleinodien an die anwesenden Damen austeilte.

Auf dem großen Marktplatze, auf dem die Oberamtei, das Haus meiner Geburt, stand, wurden venezianische Messen gehalten. Der große Marktplatz war zeltartig mit Tüchern bedeckt, Verkäufer und Käufer waren maskiert. Es war ein buntes Getümmel von Masken, welche die tollsten Aufzüge und Spiele ausführten, worunter nicht das stärkste ein riesenhafter Heiducke des Herzogs war, der in die Maske eines Wickelkindes gekleidet, in einer Wiege herumgeführt und mit Brei von einer Amme, die ein Zwerg war, gespeist wurde. Von den Fenstern des Oberamteigebäudes konnte man den Marktplatz am besten überschauen, daher nahm der Herzog in solcher Zeit mit seiner Gemahlin Franziska den Aufenthalt daselbst.

Meine Eltern mußten da jedesmal Raum schaffen, ja, auch die unteren Gelasse des Hauses, wo die Schreibstuben waren, mußten geleert werden: denn hier wurde in solcher Zeit eine Pharobank eingerichtet.

Der Herzog mit seinem goldbordierten Hütchen, seiner mit Buckeln versehenen, gepuderten Frisur mit einem Zöpfchen, seinem kirschroten Rocke, seiner gelben Pattenweste, seinen gelben Hosen, hohen Stiefeln und Stiefelstrümpfen, [15] und die Herzogin in weitem Reifrocke mit schlanker Taille, hoher gepuderter Frisur, auf der hoch oben eine gelbe Bandschleife, wie ein Kanarienvogel saß, sind meine ganz im Nebel schwimmenden, traumhaftesten Erinnerungen.

Etwas heller blieb in meinem Gedächtnisse ein Mann, der zu jener Zeit und auch noch später öfter unser Haus besuchte und um dessen Stock, um auf ihm zu reiten, sich oft meine Brüder schlugen. Es war eine kräftige Gestalt mit großen Augen, einer etwas aufgestülpten Nase und einer toupetartigen Frisur, ein Mann mit lebhaften Bewegungen und kräftiger Stimme, der Dichter Schubart.

Er war ein Jahr nach meiner Geburt von seiner zehnjährigen Gefangenschaft befreit und zum Hofdramaturgen in Stuttgart ernannt worden, wo er dannLudwigsburg, seinen frühern Wohnort, und meinen Vater, hielt sich der Hof und das Theaterpersonal in Ludwigsburg auf, öfter besuchte.

Mein Vater liebte ihn seines Genies wegen, war aber öfter als Beamter genötigt, gegen sein exzentrisches, ja sittenloses Wesen einzuschreiten. Dennoch gedenkt Schubart desselben dankbar in seiner Lebensgeschichte. So sagt er von ihm: »Regierungsrat Kerner, die beste, gütigste Seele, liebte und schätzte mich bei allen meinen Fehlern, in der menschenfreundlichen Erwartung, der Sturm werde sich legen.« Schubart hatte ihn zum Taufpaten eines ihm zu Ludwigsburg geborenen Sohnes erwählt.

Schubart kam meistens zur Abendzeit zu uns, wo meine Schlafstunde war, setzte sich bald ans Klavier, spielte und sang, wobei ich selten einschlief, aber mich vor Angst oft schlafend stellte.

Außer den venezianischen Messen gab es auf dem großen Marktplatze vor dem väterlichen Hause auch noch [16] [18]andere Auftritte, die sich in eine kindliche Phantasie fest einprägten.

Hier marschierten oft die riesigen Grenadiere, man hieß sie Legioner des Herzogs, zur Parade, oder bezogen die nahestehende Hauptwache. Sie waren nach dem Schnitte der Leibgarde Friedrichs des Großen gebildet, in Größe und Gestalt von Pappelbäumen, in roten Fräcken mit schwarzen Aufschlägen, und hatten auf den gepuderten Häuptern über den steinharten Zöpfen hohe spitze Grenadiermützen sitzen, die mit gelbem Bleche beschlagen waren. Oft hatte man hier auch derben Ohrenschmaus von einer Versammlung von Tambours, nach deren Trommelschlag ein gnädiger Pardon den diesem Soldatenjammer entlaufenen Landeskindern verkündigt wurde. Nicht selten fand auch auf diesem Platze die leidige Exekution eines Spießrutenlaufens statt, oder konnte man aufgerichtete Galgen bewundern, an denen die Namen Desertierter angeschlagen waren.

Die bedeckten Gänge unter den Häusern des Marktplatzes waren zu jeder Jahreszeit ein bequemer Spielplatz für die Jugend, wo allein der oberste Teil desselben, die gegen das Rathaus schauende linke Ecke (nun eine Apotheke), für uns Knaben oft gefährlich war. Hier hatte ein alter, in seinem ganzen Wesen eigentümlicher Italiener, Namens Minoni, seinen Spezereiladen und nebenbei in den Arkaden einen großen Hühnerstall.

Alle Abende sah man ihn zur Sommerszeit mit seiner alten bald hundertjährigen Schwester in seinen entfernten Garten fahren. Dieselbe sah man nie, ohne daß sie auf dem Schoße ein uraltes Hündchen barg. Am Chaischen war ein fünfzigjähriger, kaum mehr beweglicher Rappe angespannt, dessen Schweif und lange Mähnen altersgrau waren, während ein ebenfalls uralter Ladendiener, Pietro Morano, den Laden und die Hühner hütend zurückblieb, [18] die uns im Raume der Arkaden spielenden Knaben oft zur Übung unseres Mutwillens dienten. Kamen wir mit unseren Spielen in ihren Bereich, und flatterten sie aufgestört mit Geschrei davon, so kam der ergrimmte Morano mit aller Wut auf uns los. Aber je wütender er ward, je neckender und wagender wurden wir Knaben. Sobald er wieder in seinen Laden zurückgekehrt war, standen wir wieder ihn zu erwarten da; der neue Angriff und abermaliges Entfliehen begann, das sich den Tag über zur Zeit unserer Muße öfter wiederholte, und eigentlich auch zu unsern Spielen und damaligen Turnübungen gehörte.

Zum Spiele, Drachen steigen zu lassen, war dieser große Marktplatz und das windige Ludwigsburg auch sehr geeignet. Mancher Drache aber fand seinen Untergang an den Kränzen der beiden Stadtkirchentürme, wo wir sie dann den ganzen Sommer durch, an den Schwänzen aufgehängt, bewunderten.

Wir wetteiferten mit einander, solche Drachen in den verschiedensten Formen zu machen. Drachen, die auf der Erde die Größe eines Mannes überboten, hatten in der Höhe kaum die Größe einer Schwalbe, auch wußten wir solche zu verfertigen, die im Steigen und in der Luft brummende Töne von sich gaben, ein Spiel, das ich noch im Alter zu Weinsberg auf meinem Turme fortsetzte.

Wie im Großen und in natura, so dienten mir diese Stadttürme mit ihrer Kirche auch nachgemacht und im Kleinen oft zum Spielzeuge. Mehr die Arbeit eines Schreiners als eines Steinhauers scheinend, wurden sie auch sehr oft von Schreinern als Kinderspielzeug in Holz gebildet, so auch die Garnisonskirche und die Hauptwache auf dem gleichen Platze.

Sie brachte mir einmal der von mir so gefürchtete Mann, der ehemalige Organist dieser Kirche, der Dichter Schubart, in einer Schachtel zum Geschenk aus Stuttgart mit, [19] wodurch meine Furcht vor ihm nach und nach verschwand.

Es ist mir auch noch wie ein Traum, daß ich die letzte späteste Lieferung der von dem Herzog Karl an Holland verkauften, nach dem Kap bestimmten Truppen, unter dem Gesange des schönen Liedes vonSchubart:

»Auf, auf ihr Brüder, und seid stark!«


die Schloßallee hinabziehen sah.

Noch lebendiger aber erinnere ich mich eines andern Zuges – des nächtlichen Leichenzuges des Herzogs zur Gruft seiner Väter im Corps de Logis des Schlosses. Wachskerzen und brennende Pechkränze waren von dem Tore an, durch das man von Stuttgart kommt, bis zur Schloßkirche aufgestellt. Durch diese ging der Zug mit der Leiche des Herzogs, von acht schwarzbehängten Schimmeln gezogen, gefolgt von Wagen, Trabanten und Reitern, aber nicht langsam und feierlich, sondern unbegreiflicherweise rasch, dem Dunkel zu, in dem aller Erdenglanz auf immer erlischt.

Der zum Himmel aufwirbelnde Rauch der Wachsfackeln und Pechkränze bildete, wie mir noch wohl im Gedächtnis steht, hoch über den Alleen, dem Schlosse und den Häusern der Stadt, in dem erhellten Nachthimmel die sonderbarsten Gestalten, gleichsam einen gespenstischen Zug, mit dem mir der Geist des Herzogs über seiner Leiche zu schweben schien. Später, als nach der Regierung des Herzogs Ludwig eine große Stille eintrat und die Räume des Schlosses sehr verlassen standen, gebrauchten wir Knaben gerade oft jenen Teil des Corps de Logis des Schlosses, wo die Gruft sich befindet, zu unsern Soldatenspielen, und blickten da oft durch das am Erdgeschoß befindliche Gitter auf den mit rotem Sammet beschlagenen Sarkophag des Herzogs Karl und die anderen fürstlichen Särge nieder.

Schiller im Jahre 1793 in Ludwigsburg

[20] Schiller im Jahre 1793 in Ludwigsburg.
Seine Verteidigung Herzog Karls.
Gutmütige Züge aus dem Leben dieses Fürsten

Ob bei dem Leichenbegängnisse des Herzogs Karl, wie billig gewesen wäre, die Schüler seiner Karlsakademie seinem Sarge folgten, weiß ich nicht; ich glaube nicht, daß diese Veranstaltung getroffen wurde, aber ein Karlsschüler, und zwar der größte, den diese Schule hegte, befand sich damals zufällig in Ludwigsburg und sah mit Gefühlen kindlicher Wehmut, die der lebende Herzog wohl nicht von ihm erwartete, seiner Leiche nach.

Von der damaligen freien Reichsstadt Heilbronn aus stellte Schiller, der sich einige Zeit dort aufgehalten hatte, an den Herzog die Anfrage, ob er ins Vaterland wieder zurückkommen und in Ludwigsburg auf kurze Zeit sich aufhalten dürfe? Der Herzog gab ihm, altersschwach und krank, keine Antwort, sagte aber zu seiner Umgebung: er werde ihn ignorieren.

Auf dieses begab sich Schiller mit seiner Gattin und Schwägerin nach Ludwigsburg, wo er in dem Hofmedikus von Hoven einen alten akademischen Freund hatte. Hier wurde ihm sein erstes Kind geboren. »Ich sah ihn (erzählt Hoven in seiner Selbstbiographie) bei der Nachricht, daß der Herzog krank und seine Krankheit lebensgefährlich sei, erblassen, hörte ihn den Verlust, den das Vaterland durch dessen Tod erleiden würde, in den rührendsten Ausdrücken beklagen, und die Nachricht von dem wirklichen Tode des Herzogs erfüllte ihn mit Trauer, als wenn er die Nachricht von dem Tode eines Freundes erhalten hätte.«

Als Schiller damals auf einem Spaziergange der Gruft des Herzogs nahe kam, sprach er zu seinem Freunde Hoven: [21] »Da ruht er also, dieser rastlos tätig gewesene Mann. Er hatte große Fehler als Regent, größere als Mensch; aber die ersten wurden von seinen großen Eigenschaften weit überwogen, und das Andenken an die letzteren muß mit dem Tode begraben werden; darum sage ich dir, wenn du, da er nun dort liegt, nachteilig von ihm sprechen hörst, traue diesem Menschen nicht, er ist kein guter, wenigstens kein edler Mensch.« 1

Schiller hatte noch unter Karls stürmischer Periode gelebt und gelitten, um so überraschender ist dies sein Urteil.

In den späteren Zeiten, wo mehr Ruhe und Überlegung in das Gemüt dieses Fürsten trat, sah er die Fehler seiner früheren Jahre im vollsten Maße ein. Gewöhnlich begleitete ihn der Hofprediger vom Dienste (die Hofprediger mußten wochenweise abwechselnd in Hohenheim anwesend sein) auf seinen Spaziergängen morgens, wenn die Herzogin nicht zugegen war. Auf einem dieser, am 7. August 1792, sagte der Herzog zu seinem Begleiter: »Ich war ein ausschweifender Teufel, was um so weniger zu verwundern war, da mir jeder Diener dabei willig frönte, aber Reue und Buße, werden die Vergehungen erkannt, sind immer noch zulässig und bereiten Verzeihung.«

Seine ehelichen Verhältnisse betreffend, so lebte er mit seiner zweiten Gemahlin Franziska, wenigstens dem äußeren Ansehen nach, friedlich, und obgleich die eheliche Treue nicht groß war, erfuhr man von Zerwürfnissen beider nie etwas.

Sein Fleiß und seine Tätigkeit in den Regierungsgeschäften und sein vorsichtiges Benehmen gegen die[22] Machthaber der französischen Revolution kamen dem Lande wohl zu statten.

In der ruhigeren Zeit seiner Regierung suchte er Zwistigkeiten in den Gemeinden durch persönliches Erscheinen selbst zu schlichten; so einmal im Jahre 1790 zu Kirchheim am Neckar, von wo aus er damals nachstehendes Billet doux seiner Franziska nach Hohenheim schrieb, das im Original vor mir liegt, und das ich, zum Beweise seines zärtlichen Verhältnisses mit seiner Gattin, hier wortgetreu und mit seiner Orthographie gebe.


Kirchheim a.N. 1/23 Uhr.
Herzallerliebstes Franzele!

Schon der Anfang meiner Fahrt war sehr angenehm um 4 Uhr bin ich hier angekommen und habe bis auf diesen Augenblick einen fatiguanten Augenschein eingenommen; Jetzo stehen zwanzig Personen vor meinem Tisch um einen Vergleich wo möglich zu erzielen welches noch lange dauern wird, doch werde ich mein Möglichstes thun um nicht gar zu spät zu kommen, aber ich lasse nicht nach bis es verglichen ist, ich kann fast nicht mehr reden.

aber schönstes Weible!
das wichtigste:

hast Du mich auch gern? Ich habe hundertmahl an Dich gedacht, auch daß Du meine Geduld beloben würdest, ja mein Franzele ist mir immer vor Augen. Adieu Engel! ich küße Dich tausendmahl in Gedanken und bin von ganzem Herzen Dein bis in den Tod.

Adresse. Der regierenden Herzogin meiner allerliebsten Frau in Stuttgardt.

Ein anderes Billet doux desselben, geschrieben am Franziska-Tage, ohne Beisetzung der Jahreszahl, lautet nach dem Original folgendermaßen:


Herzallerliebste Frau!

Jeder Tag ist Dir geweiht, doch besondere Fälle gestatten [23] den Drang des Herzens im Vollerem, im mehr als gewöhnlichem maaß. Franziskens Nahme ist mir so angenehm, so wichtig, weilen Ich Dir heute Geliebteste, die Gesinnungen erneuern darf, die mein Vor Dich so zärtliches Herz empfindet, mit ächter Wärme empfindet.

Wortgepräng, schmeicheley, fliehn auf immer, der treue Freund, Gatte, tritt an die Stelle, und mit der aufrichtigen Herzenssprache, die Dein Edles benehmen mit Recht fordern darf, ruft Er Dir laut zu:

Bleibe ferner die Beruhigung meiner Tage,

und

Mache Mich zum Glücklichsten der sterblichen
nemlich
Zum Werkzeug Deines Glücks.
so denkt so schreibt am Franziscenstag
Dein ewig treuer

Carl HZW


Gutmütigen Humor zeigte er oft auch in Ordern an Untergebene. So erließ er eine Ordre an den General v. Bouwinghausen, mit dem er übrigens nicht immer in so freundlichem Vernehmen stand, die anfing:

»Mein lieber, zwar nicht Kammerherr, doch die Erlaubnis habender in all Meine innersten Gemächer eingehen zu dürfen, Nicht Geheimrat dem Titel nach, sondern doch mein festes Vertrauen besitzender, noch nicht ganz Generallieutenant, sondern doch dazu zu gelangen in baldiger Hoffnung stehender Generalmajor von Bouwinghausen!«

Einst kam der Herzog in die Wohnung des Pfarrers K. zu H. Dieser gab sich für einen sehr frommen Mann aus, war aber sehr geldbegierig. Der Herzog wußte das, und als er seine Bibel bemerkte, die unter anderen Büchern im Bücherschrank steckte, zog er sie heraus, blätterte in ihr, legte heimlich ein Goldstück in dieselbe und stellte sie wieder an ihre vorige Stelle. Nach einiger Zeit kehrte [24] der Herzog wieder beim Pfarrer ein. Sein erster Blick fiel auf die Bibel, die sehr bestäubt noch an alter Stelle stand; er zog sie heraus und siehe da, das Goldstück fiel ihm aus ihr in seine Hand! Liest Er auch fleißig in seiner Bibel? fragte er den Pfarrer. Ihro Durchlaucht, pflichtgemäß alle Tage. Sieh er, erwiderte der Herzog, da sagt er nicht die Wahrheit, sieh Er, dies Goldstück legte ich Ihm vor einem Vierteljahre in das Buch, und da ist es noch in ihm. Hätt er darin gelesen, hätt Er's gefunden, jetzt steck ich's wieder ein. – Der Pfarrer sah dem Goldstück mit Ärger nach.

Nach Karls Tode war Aller Hoffnung auf seinen Nachfolger Ludwig Eugen gerichtet. Die Herzensgüte dieses Prinzen war anerkannt, so wie die Achtung, die er der Landesverfassung zollte. Dem Vater Schillers lag an der Gnade des nachfolgenden Regenten sehr viel, und er sprach sich damals auch gegen meinen Vater aus: daß es ihm erwünscht wäre, sein Sohn würde sich eine Audienz bei dem neuen Herzoge er bitten, und ihm zum Antritte der Regierung Glück wünschen; auch Herr von Hoven wollte ihn dazu bewegen, aber Schiller tat es durchaus nicht, er sprach nur immer von den Vorzügen des verstorbenen Herzogs.

Er arbeitete in Ludwigsburg damals an seinem Wallenstein, und zwar meistens bei Nacht, weil er bei Tage sehr häufig von Brustkrämpfen befallen wurde, studierte sehr fleißig die Kantische Philosophie und schrieb daselbst auch die bekannte Rezension über Matthissons Gedichte.

Öfters besuchte er auch seinen alten Lehrer Jahn und dessen Schule, in der er als Knabe Unterricht erhalten hatte. Manchmal machte er sich da die Freude, dem Lehrer die Mühe des Unterrichts auf einige Stunden abzunehmen und ihn den Schülern statt seiner zu erteilen.

[25] Ein Verwandter von mir, älter als ich (der kürzlich verstorbene landschaftliche Archivrat Schönleber), der dazumal Jahns Schüler war, schrieb mir hierüber: »Nach Darstellung einiger Biographen Schillers könnte es scheinen, daß Schiller erst im Oktober 1793 nach Lüdwigsburg gekommen wäre, während ich mich mit Gewißheit erinnere, daß es lange vor dem Anfange der Herbstvakanz war (Schiller kam wenigstens vor Anfang September 1793 an und war noch im November und vielleicht Dezember in Ludwigsburg), wo er an einem Freitag Nachmittag den Professor Jahn besuchte, als gerade Unterricht in der Geschichte gegeben wurde. Dieser Unterricht in der Geschichte veranlaßte ihn, mehrmals zu kommen und uns selbst in ihr zu belehren. Er nahm mir da oft und viel Schröks Lehrbuch aus der Hand und benutzte es als Leitfaden, während ich bei meinem Nebensitzer einsehen durfte.

Es existiert eine kleine Ausgabe seiner Werke von Cotta in klein Oktav, mit einem Bilde von ihm. Hier ist er sitzend, den Kopf auf die Hand gelehnt, die Beine übereinander geschlagen, abgebildet, und so saß er fast jedesmal auf der Schranne an unserem Schultische mir gegenüber, und das ist auch dasjenige Bild von ihm, das ich nach meiner Erinnerung für das richtigste halte.« –

In Begleitung seines Vaters, der schon früher mit dem meinigen durch gleiche Neigung, die Baumkultur, verbunden war, besuchte er damals auch mein elterliches Haus, aber ich erinnere mich seiner nur aus den späteren Erzählungen meines Vaters, der öfter von ihm als einer hagern, aufrechten, bleichen Gestalt sprach, auch daß er den Kopf mehr hoch als nieder getragen und dadurch auf manchen den Eindruck eines stolzen Menschen gemacht habe, was er so gar nicht gewesen sei! Das Gleiche sagt auch sein Ludwigsburger Freund Hoven: »Dieses Ansehen«, schreibt Hoven, »hatte Schiller schon als Zögling [26] der Karlsakademie, und ich erinnere mich noch wohl, daß einst eine Frau, welche dort ihren Sohn besuchte, wie sie Schillern den Schlafsaal hinunter schreiten sah, sagte: ›Sieh doch, der dort bildet sich wohl mehr ein, als der Herzog von Württemberg.‹«

Während ich oben rühmte, mein Vater seie mit dem Vater Schillers in Bekanntschaft gestanden, fiel mir eine komische Tatsache späterer Zeit bei, die ich mich nicht enthalten kann, hier noch anzuführen. Ein Schullehrer in der Gegend von Ludwigsburg, der ein Bekannter des alten Schillers gewesen war, wollte, als Schillers Statue in Stuttgart errichtet wurde und man die Gelehrten zu Beiträgen in das Schilleralbum aufforderte, auch sein Scherflein beitragen und sandte folgende Verse ein:


»O großer Friedrich Schiller!
Für mich auch Poesieerfüller,
Kommst nun gegossen in das Land! –
Herrn Vater hab ich auch gekannt.«
Schade, daß die Verse nicht aufgenommen wurden!

Fußnoten

1 Obiger Zug und diese Worte Schillers stehen in Hovens Selbstbiographie und in mehreren Biographien Schillers aus der Hovens abgedruckt, können aber zur Ehre Schillers nicht genug wiederholt werden.

Die Zeit Herzog Ludwigs

Nach dem Tode des Herzogs Karl wurde der Zustand Ludwigsburgs weniger glänzend, aber gemütlicher, bürgerlicher; das eigentliche Militär wurde mehr in den Hintergrund gestellt, die großen Grenadiere Friedrichs verschwanden, und der Herzog Ludwig, ein Freund der Bürger mit Leib und Seele, glaubte sich auch jetzt, zur Zeit der bedrohten Kronen, nur unter ihrem Schutze sicher. Als dieser Herzog eine allgemeine Volksbewaffnung zu organisieren gedachte, was Österreich wünschte, und nur Preußen für gefährlich hielt, da gelangten auch an meinen Vater, wie an alle Oberamtmänner, Befehle zur Organisation [27] derselben. In einer, bei solch einer Gelegenheit gehaltenen Rede, die ich noch besitze, sprach er unter anderem folgendes, was ich hier wörtlich anführe:

»Zur Abwendung drohender Feindesgefahr hat der Herzog den Entschluß gefaßt, nach Anleitung der älteren und neueren Landesverträge und Beispiele eine allgemeine Landesverteidigung zu veranstalten und eine Landmiliz zu errichten, die in Vereinigung mit den regulären Truppen, und in Vereinigung mit den anderen benachbarten Reichs- und Kriegsständen, mit Gottes Hülfe die Feinde bekämpfen soll. Wahrhaftig, meine Mitbürger, Hermanns kriegerischer Geist, welcher ehemals der römischen Herrschaft in Deutschland Grenzen setzte und mit unseren Voreltern begraben zu sein scheint, muß wieder belebt werden: denn, wenn ein ganzes Volk aufsteht, um die Nachbarschaft zu verheeren, so müssen auch gegenseitig andere Völker sich verbinden, um der Gewalttat zu steuern, die Gefangenschaft der Familien und die Zerstörung der Wohnungen zu verhindern. Jeden Bürger zur Ergreifung der Waffen aufzurufen ist Pflicht der Obrigkeit, und so rufe ich diejenigen unter euch zu den Waffen, welche tätig, kräftig und durch Alter oder Krankheit nicht verhindert sind, sich unter der Fahne der Vaterlandsverteidiger zu sammeln. Um mit gutem Beispiele voranzugehen, mache ich mich verbindlich, unter hoffender Erlaubnis unseres Herzogs, wenn eine Anzahl entschlossener ehrliebender Bürger sich zu einem Schützenkorps vereinigt, daß ich nicht bloß, wollt ihr es, das Kommando übernehmen, sondern auch wie jeder andere Bürger mit Allen Gefahr und Anstrengung teilen werde. Es lebt in mir die feste Überzeugung, daß die Gefahr nicht so groß ist, wenn man zusammenhält, statt daß man sich einzeln jedem herumstreifenden Haufen preisgibt.« –

Die Ludwigsburger teilten aber meines Vaters kriegerischen [28] Geist nicht, sie bildeten wohl ein Korps, als man aber nach langer Zeit wieder eine Rekruten-Auswahl ausschrieb, entstand (am 4. Jan. 1794) ein kleiner Aufstand, weil die Bürgerschaft von der Leistung persönlicher Kriegsdienste ebenso befreit zu sein behauptete, wie die Stuttgarter. Die jungen Leute erschienen auf dem Rathause, aber mit ihnen auch die Väter und andere Bürger. Als nun mein Vater seine Obliegenheiten als Beamter der Regierung erfüllen wollte, kam es endlich zu einem persönlichen Losgehen auf ihn. Ein starker Rotgerber, Namens Breuninger, wollte ihn schützen, drückte ihn aber, ungeschickter- und unbeholfenerweise, um ihn den auf ihn Eindringenden zu entziehen, so in die Ecke, daß er fast erstickte und sich vorerst nur bemühen mußte, sich diesen Schutz vom Halse zu schaffen, worauf die Beschwichtigung des Tumultes ihm bald gelang.

Als der Herzog zwei Monate vor dieser Begebenheit (den 3. Nov. 93) in die Residenz Ludwigsburg einzog, wurde er nicht nur von einem Bürgerkorps empfangen, dessen Einrichtung hauptsächlich von meinem Vater veranstaltet wurde, sondern auch selbst die Knaben der Stadt hatten sich zu einem wohl uniformierten und armierten Korps gebildet, dessen Anführer ich sein mußte. Als solcher überreichte ich damals dem Herzog einige von meinem Vater gedichtete Verse, mit den kurzen Worten:

»Gnädigster Herzog! empfangen Sie hiermit die Huldigung der jungen Landmiliz.«

Der bekannte Spezial Zilling, von dem später mehr die Rede sein wird, wollte da den Herzog mit einer langen Rede empfangen, blieb aber schon am Eingange stecken und brachte nichts heraus als:

»Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Herzog und Herr!
[29] Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Herzog und Herr!«

Inzwischen hatte sich ein junges Mädchen aus der Zuschauerreihe herauszuschleichen gewußt und kam auf ein Brett zu stehen, daß man dem hochwürdigen Herrn, der Feuchtigkeit wegen, unter die Füße gelegt hatte, worauf dieser, nachdem er zum dritten Mal: »Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Herzog und Herr« herausgebracht hatte, sich gegen das Mädchen wandte und sagte:

»Mädle gang weg von dem Tritt! der Tritt iss net vor di do!«

Der Herzog antwortete Einiges auf die Anrede meines Vaters, die derselbe früher als der Spezial sein »durchlauchtiger Herzog« an ihn gerichtet hatte, und ließ dann weiter fahren.

Die erwähnte junge Landmiliz, die über hundert Knaben zählte, erhielt zu gewissen Stunden der Woche Exerzier-Unterricht. Jener Italiener Minoni, wahrscheinlich vergnügt, daß durch dieses Landmilizspiel der Knaben die Beunruhigung seiner Hühner unter den Arkaden für eine Zeit lang aufhörte, stiftete dem jungen Korps eine ganz schöne große Trommel mit dem Stadtwappen; und der, durch die Lebensbeschreibung Schubarts und die Händel, die er mit diesem Freigeiste hatte, bekannte so eben erwähnte Dekan Zilling schenkte an das junge Korps eine schöne gelbe und blaue Fahne von Seidenstoff, mit goldenen Franzen.

Sobald wir dieses Geschenk erhalten hatten, kommandierte ich das Korps in das Schloß und vor des Herzogs Speisesaal, und ließ dem Herzoge durch den Hofdiener, der uns empfing, sagen: er solle doch herauskommen und unsere Fahne sehen. Der gute Herzog gab hierauf den Befehl, uns alle in den Saal zu führen. Wir marschierten um die Tafel und stellten uns dann hinter dem [30] Herzoge auf; dieser nahm die Fahne, gab sie den Anwesenden an der Tafel umher und nahm mich auf seinen Schoß, wo ich mit Zuckerwerk von ihm und der Herzogin überfüllt wurde; auch die anderen Helden erhielten Bonbons und sonstiges Naschwerk. Der Herzog entließ uns dann freundlich, und wir riefen: »wir werden bald wiederkommen!« was auch noch öfters geschah.

Bekanntlich aber währte diese gutmütige Regierung nicht lange; der Herzog litt an einem Fußübel, das unvorsichtigerweise von einem österreichischen Regimentsarzte hinter den Leibärzten des Herzogs geheilt wurde, und ich kann mich noch erinnern, daß, als ich an einem Märzmorgen in der Schule war, ein großer Zusammenlauf und Wehklagen entstand: der Herzog sei vom Pferde, in der untern Allee, auf einen Stein gefallen; es war aber ein Schlag, der ihn auf dem Pferde traf.

Es lief alles dem Platze zu.

Ich sah ihn nicht mehr, man hatte ihn schon tot in das Schloß getragen. Viel Volk stand auf dem Platze, auf dem er fiel, herum, und ein Maurersjunge, der gerade von dem Geschäfte kam, grub mit seinem Zweispitz in den Stein, auf den der Herzog gefallen war, ein Kreuz ein, das noch zu sehen ist. Später, ungefähr in meinem zwölften Jahre, dichtete ich folgende Verse auf dieses Ereignis.


»Als der gute Ludwig hoch vom Pferde
Tot gesunken auf die harte Erde,
Nahet trauernd sich ein Maurersjunge:
Er will klagen, doch es stockt die Zunge,
Aber schnelle bauen seine Hände
Ihm das schönste aller Monumente,
Denn sie hauen in den Pflasterstein
Fromm des Kreuzes heilig Bildnis ein.«

[31] Die Gutmütigkeit und der fromme Glaube des Herzogs Ludwig wurden übrigens oft mißbraucht. Hievon nur ein sehr buntes Beispiel: Ein alter versoffener Schuhmacher aus der Stadt, lutherischer Konfession, kam auf den Gedanken, Buße zu tun und ein frommer Einsiedler zu werden. Zu diesem Behufe brach er sich in dem Steinbruch vor dem Tore, das nach Eglosheim führt, ein geräumiges Loch und richtete sich in demselben eine Einsiedlershütte ein; diese schmückte er mit einem Kreuze und Marienbilde, einer brennenden Öllampe und einigen katholischen Gebetbüchern aus. Es fand bald dahin ein großer Zulauf von Neugierigen statt; ja, es gab sogar manche, die sich an dieser Erscheinung erbauten.

Bald wurde die Sache auch am Hofe bekannt. Einige alte fromme Hofdamen wallfahrteten hin; diese erzählten der Frau Herzogin Wunder von dem frommen Büßer, seinen inbrünstigen Gebeten, seinen Kasteiungen. Gerührt davon, entschloß sie sich (es hieß in Begleitung des Herzogs?), selbst einen Besuch in der Einsiedlershütte zu machen. Erbaut von den frommen Äußerungen und der Buße des Mannes, wurden die Besuche öfters wiederholt, wobei jedesmal ein reichliches Almosen hinterlassen wurde; ja, die Herzogin beschickte den Darbenden oftmals mit Speisen aus der Hofküche. Die Täuschung dauerte mehrere Wochen lang, bis der fromme Einsiedler den versoffenen Schuhmacher in sich nicht mehr länger unterdrücken konnte. Er fing von der gesammelten Barschaft wieder nach alter Weise zu saufen an, worauf mein Vater von Polizei wegen durch seine Entfernung aus dem Steinbruche und seine Aufhebung im Armenhause der Sache ein Ende machte.

[32] Meine Voreltern

Ich kehre zu meiner Familie zurück. Meine Voreltern, wie aus dem Stammbaume meines Vaters erhellt, waren im romantischen Kärnten angesiedelt; wir haben aber nur noch nähere Nachricht von denen, die dort kurz vor und zu den Zeiten der Reformation lebten. Der älteste Kerner, von dem wir Nachricht haben, hieß Michael, und war Rat und Finanzbeamter des Kaisers Maximilian, der ihn seiner Verdienste wegen nobilitierte und ihm das noch von der Familie gebrauchte Wappen erteilte.

Die Nachkommen, unbegütert und meistens im Dienste der Kirche und des Staats, machten von dieser kaiserlichen Gnade keinen Gebrauch. Michaels beide Söhne, von denen der ältere Michael, der jüngere Balthasar hieß, hatten sich dem geistlichen Stande gewidmet, aber das Licht der Reformation lockte sie zu Luther nach Wittenberg. In ihr Vaterland zurückgekehrt, suchten sie den lutherischen Katechismus einzuführen, wurden aber von da vertrieben, flohen nach Württemberg, und der ältere, Michael, von dessen Linie wir stammen, wurde Prediger und Rektor zu Schwäbisch Hall, der jüngere Bruder Prediger am Münster zu Ulm, wo ihm ein Sohn im Amte nachfolgte, der aber keine Kinder hinterließ.

Mein Großvater (geb. im Jahre 1704) war in seiner Jugend Rat zu Hechingen. Als nach dem unerwarteten Tode des Fürsten dessen Maitresse die Schätze des Landes über die Grenze bringen wollte, ließ er sie arretieren.

Er entzweite sich darüber mit dem gewissenlosen Administrator und wurde gewalttätig auf die Feste Hohentwiel verwiesen, aber nach einigen Monaten von dem aus Wien zurückgekehrten Sukzessor befreit, gerechtfertigt und, durch seine Empfehlung an den württembergischen Hof, zum Oberamtmann in Göppingen ernannt, [33] in welcher Stadt mein Vater im Jahre 1744 geboren wurde.

Im Jahre 1730 wurde mein Großvater Vogt (oder Oberamtmann, wie man es später hieß) in Ludwigsburg.

Bekanntlich wurde diese Stadt vom Herzog Eberhard Ludwig in einer Gegend erbaut, in der er sich öfter der Jagd wegen aufhielt. Die zahlreichen Nachtigallen, die sich in ihr befanden, erfreuten ihn so, daß er sich in einem Hofe, der in dieser Gegend auf einer vom Walde umgebenen Wiese stand, dem Erbachhofe, einige Zimmer zum Übernachten einrichten ließ, woraus später ein Jagdschloß und nachher diese Stadt entstand. Sie war zu meines Großvaters Zeit noch ganz in ihrem Werden begriffen und bestand erst aus wenig Häusern und Einwohnern; desto mehr mußte er sich mit ihrer Vergrößerung beschäftigen. Ein herzoglicher Befehl hatte allen Städten und Ämtern des Landes auferlegt, ein Haus auf ihre Kosten in dieser neu erstehenden Stadt erbauen zu lassen. Stadt und Amt Weinsberg hatte das Los getroffen, das Oberamtei-Gebäude daselbst bauen zu müssen, – das Haus meiner Wiege. So verlieh mir Weinsberg unbewußt den Platz zur Wiege – wie es mir bald den zum Sarge geben wird.

Meinem Großvater folgte nach seinem Tode in einem sehr jugendlichen Alter mein Vater im Amte. Das Amt eines Oberamtmanns war in damaliger Zeit, wo die Justiz mit der Regierungsverwaltung verbunden war, von einer wichtigeren Bedeutung als jetzt.

Es lag in den Händen eines solchen eine ziemliche Vollmacht, welche jedoch mein Vater nie mißbrauchte, obschon er in seinem Amte zwar gesetzmäßige Strenge beobachtete, aber durchaus Unparteilichkeit übte und unbestechlich blieb. Er erwarb sich daher auch eine solche Liebe der Bürger Ludwigsburgs, daß diese, als er im Jahre 1795 darauf bestand, das Kloster-Oberamt Maulbronn [34] zu übernehmen, sich in Scharen zum Herzog ins Schloß begaben, um ihn zu bitten, diesen Beamten nicht aus ihren Mauern zu lassen. Mein ältester Bruder Georg schrieb von ihm: »Unvergeßlich bleibt mir sein hohes Bild, voll Kraft und Leben, sein schwarzes Auge voll Feuer, seine Gesichtsbildung, die eines Römers auf dem Kapitol, seine männliche Stimme, würdig von einer solchen Höhe herab zu donnern, sein ganzer Körper derb und gewandt, wenn gleich zuletzt zu einem Übermaße von Stärke sich hinneigend, die keine Lebensdauer verhieß.« – Dennoch war er immer tätig, immer beweglich, er schrieb bei seinen vielen Arbeiten fast gar nichts selbst, sondern diktierte alles, während er im Zimmer umherging, seinem Schreiber in die Feder. Er hatte einen und denselben Schreiber von Anfang seines Amtes bis an seinen Tod. Ein Amtsgenosse schrieb von ihm: »Er war allgemein geachtet als ein sehr rechtlicher, gewissenhafter und äußerst tätiger Mann und Beamter. Alle Morgen mußte aufgeräumt sein, es durfte außer den größern Untersuchungen nichts für den folgenden Tag liegen bleiben. Streng war er übrigens auch, und es konnte geschehen, daß, wenn in einer Ausfertigung in der Amtsschreiberei gefehlt wurde, er den Konzipienten, von dem der Fehler gemacht wurde, kommen ließ, ihn belehrte, ihn zugleich aber auch tüchtig abzankte und mit ein paar Ohrfeigen bedachte.«

Wie er in seinem Amte Strenge übte, so übte er solche auch in der Führung seines Haushaltes und namentlich in der Erziehung seiner drei ältern Söhne, und es mag daher kommen, daß sein ältester Sohn Georg sich ihm dadurch mehr entfremdete und eine Laufbahn ergriff, die den Gesinnungen des Vaters geradezu entgegen war. Ich glaube, daß der Vater später selbst diese Strenge in der Erziehung seiner Söhne bereute; denn ich, als der jüngst geborene, hatte von ihr vielleicht nur zu wenig zu fühlen; [35] ich wurde sein Liebling, unverdienterweise, aber auch seine große Sorge noch auf seinem Sterbelager.

Meine Mutter war von kleiner Gestalt, zarter Natur und in ihrer Jugend von nicht gewöhnlicher Schönheit. Schubart besang sie in einem Gelegenheitsgedichte bei ihrer Ankunft als Braut in Ludwigsburg:


»Dir winken schon die schlanken Linden
Im neuen grünen Frühlingskleid;
Du wirst die Anmut doppelt finden,
Die jede Linde von sich streut.
Dir wehet ihr Geruch entgegen,
Die Nachtigall singt froh dazu,
Und wirbelt unter grünen Bögen:
Wie schön bist Du! wie schön bist Du!«

Es waren durch ihr ganzes Leben Demut und Gehorsam gegen ihren Eheherrn, ja selbst Furcht vor ihm, Hauptzüge ihres Charakters. Sein Wille war ihr strenges Gebot, und ihr ganzes Dichten und Trachten ging nur dahin, ihn bei gutem Mute zu erhalten und alles Unangenehme von ihm zu entfernen. So verbarg sie ihm manches, was besonders unter den Söhnen vorfiel, teils seine Strenge fürchtend, teils aus Sorge, ihn zu beunruhigen. Ihre Liebe und Verehrung, ihre hohe Meinung von ihm, hatten keine Grenzen. Auf seinem Totenbette, wo er die Hostie nicht mehr verschlingen konnte, sondern sie wieder mit der Zunge auf die Lippen zurückbrachte, nahm sie dieselbe von den kalten Lippen und verschlang sie in seinem Namen unter Gebet und Tränen.

Die Wiege meiner Mutter war die schöne, vom Bande des Neckars umschlungene Felseninsel Laufen.
Der Dichter Hölderlin, dessen Geburtsort auchLaufen war, singt von dieser Insel:

»Heilig ist mir der Ort, an beiden Ufern, der Fels auch, Der mit Garten und Haus grün aus den Wellen sich hebt.«

[36] Es ist diese Felseninsel im Neckar, der hier kristallhell und rieselnd dahinzieht, mit ihrem alten Turme, an den sich das Haus, in dem meine Mutter geboren war (das Oberamteigebäude), lehnt, mit der ihr gegenüber liegenden Kirche und alten Kapelle der heiligen Regiswindis, einer der schönsten Punkte unseres Vaterlandes.

Ihr Vater war hier im Jahre 1751 Oberamtmann, er hieß Stockmayer (geb. 1729), und verwaltete (nachdem er vorher noch Oberamtmann in Besigheim und Stadtoberamtmann in Stuttgart geworden war) die Stelle eines Kammerprokurators, der seinen Sitz in Stuttgart hatte.

Es kamen auf mich noch einige Blätter eines von ihm geschriebenen Tagebuchs, dessen Verlust auch für die Geschichte der damaligen Zeit Württembergs recht zu bedauern ist. Selbst diese wenigen Blätter sind Zeugen von seinem vielseitigen Geschäftskreise und großen Fleiße. Als damaliger Stadtoberamtmann in Stuttgart machte ihm, bei dem bunten Hofe, Militär und Schauspiel, die Verwaltung der Polizei viel zu schaffen, und er führt davon merkwürdige Beispiele in seinem Tagebuche an. Als im Jahre 1762 ein Brand im Schlosse zu Stuttgart ausbrach, traf er alle möglichen Anstalten zur Rettung des Lusthauses und der Kasernen. Es war dieses Lusthaus ein merkwürdiger Bau, an dem der berühmte Baumeister Schickhardt noch als Anfänger Teil hatte. In ihm war seit 1750 das Opernhaus eingerichtet. Schade, daß dieses Altertum in der neuesten Zeit bei einem Neubau des Theaters gänzlich zerstört werden mußte. Auch zur Verschönerung Stuttgarts trug er während seiner Amtsverwaltung bei. So erzählt er z.B. in dem noch vorhandenen Fragmente seiner Lebensgeschichte: »Da die öffentlichen Spaziergänge und Gärten in Stuttgart meistens eingegangen, so war ich darauf bedacht, wie diese in möglichster Kürze der Residenz verschafft[37] werden möchten. Ich erwählte hiezu nach meinem eigenen Einfall den Platz vor dem Büchsentore, der vorher alleinig für die Schweine und den großen Kutter destiniert und ein wüster und unebener Platz war. Die Stadt ließ solchen planieren. Serenissimus geruhten auf meinen Bericht ein Stück von den herrschaftlichen Seegassen-Wiesen hiezu verabfolgen zu lassen. Die hiesigen Honoratioren stifteten auf meine Requisition hiezu die meisten wilden Kastanien- und Lindenbäume, und solcher Gestalt wurde aus einem wüsten Platze eine Allee von Linden- und Kastanienbäumen angelegt, die bisher wohl reüssiert hat.« –

Die Pflanzung der Bäume geschah von ihm im Jahre 1764. Als Kammerprokurator hatte er bei den damaligen vielen Finanz-Verlegenheiten des Herzogs über manche schwere Geschäfte zu klagen und wurde zu vielseitigen diplomatischen Sendungen gebraucht. Man wird nicht sagen können, daß mein Glaube an Besessensein und Heilung durch Gebet ein Familien-Erbgut sei, wenn ich aus den Fragmenten seines Tagebuchs ein Urteil über die damaligen so berühmten Heilungen des Exorzisten Gaßner wörtlich anführe:

»Den 26. Martius 1775 bin ich mit dem Herrn Reichsprälaten (es war von Neresheim aus, wo er in einer finanziellen Angelegenheit zu dem daselbst regierenden Reichsprälaten geschickt worden war) und dem Regierungsrat Stieger nach Ellwangen gefahren, um den Herrn Pater Gaßner daselbst, der wegen Austreibung der Teufel und Heilung derer Kranken alleinigst mittelst Anrufung des heiligen Namens Jesu so viel und großes Aufsehen gemacht hat, zu sprechen, und seine Wunderkuren mit anzusehen. Ich habe mich allda zwei Tage aufgehalten, und den Kuren, die er vorgenommen hat, genau zugesehen, dabei aber die große Macht des Aberglaubens beobachtet und bewundert.«

[38] Er starb vor meiner Geburt, aber mein ältester Bruder Georg erlebte ihn noch als Knabe und schreibt von ihm:

»Ich sah ihn nur, als ich noch ein kleiner Knabe war, aber noch lebt sein Bild in meiner Seele. Er war ein Mann von unbeschreiblich sanftem Gemüte, voll unaussprechlicher Liebe für die Seinen. Sein Haus, sein Garten, die Freuden, die ich da genoß, prägten sich meiner kindlichen Seele tief ein. Aus dem Ziehbrunnen im Hofe, sagte man mir, werden die Kinder geholt. Auf der Hausflur waren Hirschgeweihe, die mich sehr ergötzten. Vornen prangte das Haus mit einem Erker, der mir es schon von weitem bemerklich machte, hinter dem Hause war ein schöner, großer Garten, wo in den Buchsbaumhecken mich mehrmals die Ostereier von Glas und Zuckerwerk, mit neuen Kreuzern gefüllt, erfreuten.

Mein Großvater liebte mich ungemein, und ich verlebte jedesmal bei ihm goldene Zeit. Leider war diese Wonne von kurzer Dauer. Die treffliche Konstitution dieses Elternvaters erlag unter seinen Geschäften, er wurde den Seinigen plötzlich durch einen Schlaganfall entrissen. Ich sah ihn nun in den unteren Zimmern des Hauses in der Bahre, eingehüllt in das weiße Leichentuch, eine Zitrone in den gefalteten Händen, auf dem Kopfe eine weiße Mütze mit Schleifen. Sein Gesicht war so fromm, so unentstellt, ich weinte die bittersten Tränen.« –

Das Haus wurde an den Regierungsrat Griesinger verkauft. Er hinterließ zwei Töchter, von denen meine Mutter die älteste war. Söhne hatte er keine, und die anderen in Württemberg lebenden Stockmayer müssen in keiner nähern Verwandtschaft mit ihm gestanden sein.

Eheliches Glück kann er nur kurz genossen haben: denn noch während der Kindheit ihrer Töchter verfiel die Mutter in Wahnsinn, und blieb es bis zum Tode.

[39] Die zweite Tochter verheiratete sich mit dem ehemaligen Erlangenschen Professor, nachherigen Stuttgarter Regierungsrate Elsäßer, verfiel aber bald auch in eine Melancholie. Sie soll sehr geistreich gewesen sein und Anlage zur Dichtkunst gezeigt haben. Sie gebar einen Sohn, Namens Christian, der in der Karls-Akademie erzogen werden sollte, aber wahnsinnig wurde und es bis ins Mannesalter, wo ihn der Tod erlöste, blieb. Ein zweiter Sohn, den sie gebar, legte sich auf die Heilkunde und wurde ein sehr geschätzter Arzt und Schriftsteller im Fache der Augenheilkunde. Die Stunden seiner Muße benutzte er für das ihm angeborene Talent zur Landschaftsmalerei. Er starb, geschätzt und bedauert von allen, die ihn kennen lernten, im Jahre 1813 zu Neustadt an der Linde, wo noch gegenwärtig ein Sohn von ihm die Zierde der vaterländischen Ärzte, besonders auch im Fache der medizinischen Literatur, ist. Neben diesen Söhnen gebar sie noch eine Tochter, die sich durch Geist und Bildung auszeichnete, und sich zu Stuttgart an den Sekretär Hauff verheiratete. Diese war in ihren früheren Jahren Nachtwandlerin, und der als Dichter bekannteWilhelm Hauff ist ihr Sohn. Die jüngste Schwester meiner Mutter blieb unverheiratet, denn auch sie wurde wahnsinnig und starb in meinem elterlichen Hause zu Ludwigsburg.

Ich führe diese psychischen Zustände einzelner Glieder meiner Familie auch besonders deshalb an, weil daraus hervorgeht, wie Wahnsinn, Somnambulismus und Dichtkunst mit einander verwandt sind, und oft eins aus dem andern hervorgeht. Das Gefühlsleben herrschte bei meiner Mutter durchaus vor, aber nie erlitt sie eine Störung des Geistes, es erzeugte sich in ihr kein Wahnsinn, aber, wenn man mich so nennen will, doch in ihr ein Poete, und so war es auch bei Wilhelm Hauffs Mutter.

[40] Meine Eltern hatten, wie schon angeführt, außer mir noch drei Söhne, von denen zwei in ihrer frühesten Jugend in die Akademie nach Stuttgart gebracht wurden, der ältere zum Studium der Medizin und Chirurgie, der jüngere zum Studium der Militärwissenschaften. Der zweitälteste Sohn durchlief die in Württemberg gewöhnliche theologische Laufbahn.

Mein Bruder Georg

Ich darf ihm wohl mit Fug eine Reihe von Blättern in der Geschichte meiner Jugend weihen, besonders da die Hauptepoche seines vielbewegten Lebens in dieselbe fiel, und ich auch schon als Knabe den innigsten Anteil an seinen Schicksalen nahm.

Er war im April 1770 (auch in der Oberamtei zu Ludwigsburg) geboren. Er kam unzeitig, schon am Ende des siebenten Monats der mütterlichen Schwangerschaft, zur Welt. Der Vater konnte ihn mit den Fingern spannen, und sein Gewicht entsprach dieser Länge. Die Mutter hatte Kindszeug zurechtgemacht, sie mußte Puppenzeug nehmen, so klein war er. Eine kräftige Amme zog ihn auf. Es sind noch einige Blätter vorhanden, die den Anfang seiner Lebensgeschichte enthalten, die er seinem Sohne hinterlassen wollte; leider überraschte ihn aber damals der Tod. Er muß sein baldiges Herannahen gefühlt haben, denn er schrieb in der Vorrede an seinen Sohn:

»Du bist 14 Monate alt, ich bald zweiundvierzig Jahre, wir werden uns schwerlich kennen lernen. Ein hartes Zeitalter kürzte meine Existenz, ein besseres wirst Du erleben. Weile dann bei der Asche Deines Vaters, ehre durch eigene Tugend das Andenken deiner Eltern und [41] Voreltern, und empfange als Vermächtnis einzelne Bruchstücke aus meinem Leben, so weit als mein Gedächtnis hinreicht, unterstützt durch die Trümmer meiner Tagebücher; benütze, mein teures Kind, die von mir oft teuer bezahlten Erfahrungen und erblicke in diesem Geschenk einen Beweis meiner väterlichen Liebe. O, mein Sohn! warum muß ich an das Grab denken, jetzt, wo ich dich noch auf meinem Schoße trage? Doch so will es das Geschick, und es frommte zu nichts, gegen seine Ratschläge zu murren.« – Aber auch diese seine Lebensgeschichte zu schreiben war ihm nicht mehr vergönnt; er brachte sie nur auf wenige Blätter, und seine Tagebücher wurden ein Raub schon eines früheren Brandes zu Hamburg, im Herbste 1822.

Aus wenigen von ihm geschriebenen Blättern und Erinnerungen seiner Freunde und Zeitgenossen sind von ihm folgende Erzählungen zu machen:

Er war von einer außerordentlichen Beweglichkeit und Lebendigkeit des Geistes und des Körpers. Von dem Vater erhielt er eine sehr strenge Erziehung, und er klagte noch in späterer Zeit über die harten körperlichen Züchtigungen, die er von ihm erleiden mußte.

Wie sein späteres Leben bei dieser Lebendigkeit des Geistes und Körpers einen furchtlosen entschlossenen Charakter zeigte, so bewies er solchen schon in früher Jugend, wovon gleichfalls folgende Züge Beweise sind:

Wir hatten zu Ludwigsburg ein ausgemauertes Familienbegräbnis. Als die Mutter meines Vaters starb, gab mein Vater dem dazumal ungefähr zehnjährigen Knaben auf, auf den Kirchhof zu gehen und dem gerade am Grabe beschäftigten Totengräber irgend etwas in Hinsicht auf die Begräbnisstunde auszurichten. Der Knabe kam im Augenblicke an, wo der Totengräber den Kopf unseres Großvaters ausgrub. Da nahm der Knabe sogleich den [42] Kopf wie einen freudigen Fund, und in der Meinung, dem Vater dadurch das größte Vergnügen zu machen, überraschte er denselben in der Schreibstube damit. Es ist natürlich, daß der Vater ihn mit demselben nach vorangegangenen starkem Verweise und Belehrung zur Ruhestätte zurückschickte, dem Knaben aber blieb unbegreiflich, warum der Vater keine Freude an dem Kopfe seines Vaters gehabt hatte.

Schon damals befand er sich in der Akademie, in welche er bereits in seinem achten Jahre kam. Als ein siebzehnjähriger Jüngling aus der Akademie in die Vakanz gekommen, bestieg er bei einem ganz im Brande stehenden Hause eine Leiter, auf die sich kein Mensch mehr wagen wollte, und brachte mit höchster Gefahr seines Lebens ein Kind, einen Knaben, aus den Flammen hernieder. Es ist merkwürdig und traurig, daß derselbe Knabe, zum Manne gereift, einen schauerlichen Mord beging und zu Ludwigsburg mit dem Schwerte hingerichtet wurde.

Schon mehrere Jahre vor meiner Geburt hatte mein Bruder Georg die Karlsakademie in Stuttgart bezogen, die damals in ihrer schönsten Blüte war; sie wurde der Gegenstand seines sehnlichsten Verlangens, indem er der strengen väterlichen Erziehung müde war. Sein beweglicher Geist hatte ihn zum Militärstande bestimmt, allein dies war gegen des Vaters Willen, der aus ihm einen praktisch tüchtigen Mediziner und Chirurgen bilden wollte, und nach dessen Wunsche mußte er auch seine Studien in der Akademie einrichten, oft aber durchbrach sein freier Sinn den strengen militärischen Charakter dieser Anstalt.

Einer seiner Lieblingsgedanken war, sich nach Vollendung seiner Studien als Arzt auf ein die Welt umsegelndes Schiff zu begeben, auch schwebte ihm immer Surinam als der Ort seines künftigen Wirkungskreises vor. In [43] dieser Hoffnung hatte er schon früher seinen Körper auf alle Weise abgehärtet und sich jeder Entbehrung unterworfen, und ich erinnere mich, daß er in den Vakanzen, in denen er in das väterliche Haus zurückkam, sich nie einer Bettlade bediente, sondern immer in einer Hängmatte schlief, die er an der Decke seines Zimmers aufgehängt hatte. Die französische Revolution, die so vieles änderte, gab auch ihm eine andere Richtung.

Mit ihm befanden sich zu gleicher Zeit der nachherige Professor Pfaff (jetzt noch in Kiel lebend) undReinhold, nachheriger holländischer Diplomat, in dieser Anstalt; besonders schloß er hier mit letzterem ein Freundschaftsbündnis, das nie und durch nichts gestört ward, obgleich beide noch Knaben waren, als sie sich trennten, er 14 Jahre, Reinhold 13 Jahre. Reinhold verließ die Akademie im Jahre 1784, und sie sahen sich erst wieder im Jahre 1795 in Hamburg 1.

Meines Georgs Freund Pfaff schrieb aus den Zeiten der Karlsakademie Nachstehendes von ihm:

»Ich lernte Kerner erst, seitdem er Chevalier – Ritter eines akademischen Ordens, der den Ausgezeichnetsten in ihren Studien erteilt war, kennen. Er war eine Lehrabteilung vor mir voraus. Hier knüpfte sich bald ein inniges Band der Freundschaft. Er zeichnete sich schon damals durch seine große praktische Tendenz und Tatkraft aus. Müßige theoretische Untersuchungen waren nicht seine Sache. Er war schon einglücklicher und berufener praktischer Arzt, als er kaum ein Jahr Medizin studiert hatte. Er wollte sogleich seine Kenntnisse zum [44] Nutzen seiner Mitmenschen anwenden. Feinere Anatomie, ferner Chemie, Botanik kümmerten ihn wenig, aber wohl interessierte ihn z.B. die gewöhnliche Apotheken-Chemie, wie sie zum richtigen Aufschreiben von Rezepten notwendig ist. Seine außerordentliche Lebendigkeit und Unruhe machten ihm den praktischen Wirkungskreis zum Bedürfnis. Den größten Einfluß auf seine Studien äußerte indes die französische Revolution. Geschichte war es, was ihn am meisten anzog. Alles bezog er von nun an auf die Ausbreitung und Realisierung der großen Grundsätze, welche die französische Revolution aufgestellt hatte, in allen Verhältnissen. Dadurch wurden freilich seine eigentlichen medizinischen Studien noch mehr gestört, doch seine medizinische Praxis nicht, da er auf Menschen zu wirken keine bessere Gelegenheit kannte. Die Geschichte seiner Promotion 1791 ist interessant. Er hatte weder Zeit noch Lust, eine Dissertation zu schreiben; seine Freunde übernahmen diese Mühe. Es wurden einige dreißig Paragraphen über Metastasen zusammen fabriziert und ungefähr drei oder vier Krankengeschichten als Beilage erdichtet, und der Zweck so vollkommen erreicht, als wenn Boerhaave oder Haller selbst die Feder geführt hätten. Nach geschehener Promotion hielt der feurige Republikaner eine deutsche Rede zum Abschiede, was ganz ungewöhnlich war, in welcher er einen Überblick der Geschichte gab und die großen Ereignisse verkündigte, die Europa bevorständen.

Aus unserm Zusammenleben als Chevaliers verdient noch eine Maskenvorstellung auf einer großen öffentlichen Maskerade Erwähnung, in welcher von vier gleichgesinnten Jünglingen in Gegenwart der vielen emigrierten Adeligen, die sich damals in Stuttgart befanden und namentlich auch der Grafen von Artois – der Brüder des jetzigen Königs – der Prinzen von Bourbon usw. die [45] Abschaffung des Adels pantomimisch dargestellt wurde. Einer von uns, selbst ein Edelmann (Herr v. Marschall), jetzt erster Minister eines angesehenen deutschen Fürsten (Nassau), repräsentierte den Adel und hatte zu Emblemen einen großen Stammbaum, eine Menge Wappen, mit denen er behängt war. Kerner, ein junger Schweizer, Peters, und ich stellten, mit den drei Nationalbändern geschmückt, die französische Nation vor, und beraubten unter manchen komischen Szenen den Edelmann aller seiner Wappen, zerrissen seinen Stammbaum und jagten den Kahlen endlich aus dem Saal. Diese Maskenvorstellung machte so viel Aufsehen, daß eine Erwähnung davon in den französischen Zeitungen geschah.

Die genannten Verbündeten hatten den Scherz ausgeführt, ohne ihre Kameraden vorher davon zu unterrichten, was einige darunter so sehr verdroß, daß sie beschlossen, ihn zu überbieten. Kurz vor der Ausführung erfuhr Kerner noch davon und ließ nun nicht nach mit Bitten, bis ihm gestattet ward, daran teilzunehmen. An dem dazu bestimmten Abende erschien im Redoutensaal eine Maske, die Zeit vorstellend, eine Urne im Arm, die durch ihre Schönheit allgemeines Aufsehen erregte. Stumm durchschritt sie den Saal und setzte sich endlich während des Tanzes auf eine Seitenbank. Kerner setzte sich zu ihr, und lehnte, indem er dem Tanz zusah, den Arm auf die Urne, die die Maske neben sich gestellt hatte. Plötzlich stand diese auf, ohne jene mitzunehmen, und verließ den Saal. Als Kerner sie in Sicherheit wußte, stand auch er auf, und stieß wie aus Ungeschicklichkeit die Urne um. Kaum fiel sie auf den Boden, so entrollten ihr eine Anzahl Zettel, die Menge strömte herbei, jedes erhaschte davon; sie enthielten die ärgsten Freiheitslehren, wie sie damals die französischen Zeitungen gaben, besonders Angriffe gegen die damals in Stuttgart anwesenden Prinzen. Diese eilten zum Herzog und beschwerten [46] sich bitter. Alle Ausgänge wurden augenblicklich geschlossen; vergeblich, es zeigte sich keine Spur von der Maske. Polizeidiener durchsuchten die Stadt, selbst die Häuser nach ihr – sie blieb verschwunden. Tags darauf ward bei allen Handwerkern nachgeforscht, welche etwa bei der Verfertigung der Maske geholfen; nichts kam ans Licht. – Danneker und Koch 2, beide in der Akademie, waren die Verfertiger, und rühmten sich dessen in spätern Jahren noch mit Entzücken. Unter den Verschworenen, treu und vorsichtig, fand sich kein Verräter.« – Reinhold schrieb von ihm:

»Die schönste Epoche seines Lebens war die seiner Begeisterung für Ideen, welche eine Wiedergeburt der Menschheit zu begründen schienen, und die sich viel leicht in keinem Gemüte reiner ausgesprochen hat. Diese Begeisterung war überhaupt der hervorragende Zug seines Charakters, die sich in so vielen Handlungen der Aufopferung und Selbstverleugnung aussprach, welche sein Leben vorzüglich in jener Zeit auszeichneten. Die kindliche Hingebung, die all sein Tun begleitete, gewann ihm alle Herzen. Gegen die Revolution verhielt er sich wie Saïde gegen Mahomed, er gehörte ihr ganz an, so lange er sie für tugendhaft ansah, von ihren Ausartungen hat sich keiner tapferer losgerissen, und er war mehr als einmal nahe dabei, ihr Opfer zu werden.

So wie in jedem Menschen sich ein Teil der Tendenzen seiner Zeit darstellt, so hat sich in ihm ihr edelstes Streben geoffenbart. Glühende Liebe für das Schöne umgab seine Jugend mit dem strahlendsten Glanze, glühender Haß für das Schlechte adelte sein männliches Alter, aber trug zugleich dazu bei, die Keime seines Lebens zu zerstören. Die Natur hatte ihm ausgezeichnet schöne Gesichtszüge verliehen. In seinen Jünglingsjahren glaubten [47] viele in seinen Gesichtszügen die eines Christuskopfes zu erkennen, wie die veredelnde Tradition ihn dargestellt, später wurde ihm eine große Ähnlichkeit mit Bonaparte beigelegt, ehe die Züge des Letztern sich vergröbert hatten.«

Schon von der Akademie aus hatte er im Jahre 1790 Straßburg heimlicherweise mehrmals besucht, namentlich in Begleitung seines Freundes Marschall, auch eines Zöglings der Akademie, der nachher Staatsminister in Diensten des Herzogs von Nassau wurde, und wie Pfaff erzählt, auch damals bei jener demokratischen Maskenszene figuriert hatte.

Als er nun im Jahre 1791 die Akademie verließ, drang er in seinen Vater, ihn auf die UniversitätStraßburg zu lassen, die dazumal, besonders für Medizin und Chirurgie, in großem Rufe stand; der Vater willigte nicht darein, weil er die freien Gesinnungen seines Sohnes kannte, die in der Nähe des damals ausgebrochenen Vulkanes der französischen Revolution, wie vorauszusehen war, nur mehr Nahrung erhalten mußten. Gegen den väterlichen Willen aber ging sein Zug dahin. Erst als von den Professoren daselbst, namentlich von Sömmering, unterzeichnet vom MaireDieterich, Zeugnisse einliefen, daß er seinen medizinischen Studien mit Fleiß obliege, stellte sich der Vater zufriedener, und erhielt er auch eine herzogliche Unterstützung. Zu Straßburg lernte er Adam Lux, den nachherigen Verteidiger der Charlotte Corday, kennen, den er später in Paris wieder traf. Mit ihm besuchte er die revolutionären Clubs, und war einer der Ersten, die damals hier für eine Republik predigten; die Folge war, daß er die herzogliche Unterstützung und alle Unterstützung vom Vater verlor. Von nun an wurde er in den Strudel der französischen Politik gerissen.

Er ging fast ohne alle Barschaft zu Fuß nach Paris, war [48] zuerst für eine Republik, dann Konstitutioneller und Girondist, und kam durch seine treue Anhänglichkeit an den konstitutionellen König am 10. August 1792 in die augenscheinlichste Lebensgefahr.

Eine geistreiche Landsmännin, eine Jugendfreundin Schillers, die sich der Kunst wegen zu Paris aufhielt, Fräulein Ludovike Reichenbach, nachher verehelichte Simanowitz, kam damals öfters in Paris mit ihm zusammen, und ich erhielt von ihrer Feder über sein damaliges Leben folgende Notiz:

»Georg Kerner kam von Straßburg mit Empfehlungen von den dortigen Jakobinern zu Fuß nach Paris. Wohl keinen Gulden trug er in der Tasche, und lebte unterwegs wie auch eine Zeit lang in Paris deswegen nur immer von Milch. In Chalons hielt er eine Rede in der Jakobiner-Versammlung, ebenso in Paris. Die Jakobiner der Hauptstadt lachten über seinen Akzent, denn er behielt den schwäbischen Dialekt in der französischen Sprache, selbst als er ihrer ganz mächtig war, bei; hatten aber eine Freude an seiner Kraft und Begeisterung, und nahmen ihn als Mitglied auf. Er war ganz von der Revolution ergriffen, und oft setzte ich ihn zur Rede, daß er seinen medizinischen Studien nicht mehr nachgehe. Es ging ihm die große Sache der Menschheit über alles. Aber eben deswegen konnte er der zum blinden Fanatismus gewordenen Politik der Jakobiner nicht mehr beipflichten, er wurde ihr eifrigster Widersacher. In den Tagen, wo der König sich in höchster Lebensgefahr befand, ging Kerner in seiner National-Uniform in die Tuilerien mit festem Vorsatz, den König zu beschützen. Mehrere Tage ließ er den König nicht aus den Augen, und hätte alles um sein Leben gewagt.

Der damalige Maire von Straßburg, Dieterich, den Kerner sehr achtete, ließ einen Anschlag gegen die Jakobiner drucken, aber kein Mensch wagte in der völlig aufgestandenen [49] wütenden Hauptstadt diese Zettel anzuschlagen. Kerner machte Pappe, nahm eine große Schüssel mit derselben in eine Hand, in die andere die Anschläge, in den Mund aber einen Säbel, sich sogleich damit zu verteidigen, und heftete, rings vom Gesindel verfolgt, zum Schauer seiner Freunde, die Zettel an alle ausgezeichneten Straßenecken an.

Delaveau, ein gefährlicher Jakobiner, begegnete ihm einst und sagte zu ihm: ›die Guillotine ist permanent.‹ Überall war er als Abtrünniger der Jakobiner bekannt, allein er hatte durchaus keine Furcht und sagte mir oft, er glaube, daß er bald werde guillotiniert werden. Einst ging ich mit ihm nahe bei der National-Versammlung au quai des feuillants spazieren, wo sich das Volk immer versammelt hielt; sie schrieen: Sehet den kleinen Aristokraten, werft ihn in das nächste Bassin! Ich hatte erstaunlich bange, ihn aber rührte das nicht.

Der Maire von Straßburg ward ins Gefängnis geschleppt. Kerner wollte ihn besuchen. Man stellte ihm vor, warum er zu einem Verräter wolle? er aber sagte kühn: der Verräter ist mein Freund. Dies frappierte die Umstehenden und er wurde zu ihm gelassen.

Als einst ein Deputierter, dessen Name mir entfallen ist, sich des bekannten Generals Lafayette annahm, und sich unter dem Volk blicken ließ, so sprang alles wütend herbei, und wollte ihn töten, aber Kerner drang noch wütender in den nächsten Volkshaufen ein, ergriff den Deputierten und rettete ihn in eine Wachstube mit der größten Gefahr seines eigenen Lebens. Dieser Deputierte wurde in der Folge sein eifriger Freund.

Am 9. August abends ging Kerner in Uniform in die Tuilerien aus Anhänglichkeit an den König, und wachte die Nacht dort. Man weiß, wie es damals ergangen; Kerner wäre mit aller Gewißheit umgekommen, hätte ihn nicht glücklicherweise ein alter Paß von den Jakobinern [50] in Straßburg, der sich noch zufällig in seiner Tasche befand, gerettet. Er war genötigt, sich vom 10. zum 11. August in einer Wachtstube, unter einer Pritsche liegend, die von einer Menge Sansculottes umgeben war, mit Anhaltung jedes stärkeren Atemzuges, versteckt zu halten. Seine Freunde suchten ihn auf, seine Hausleute weinten um ihn und sagten: Kerner ist nun tot, denn alle Männer, die noch leben, sind gekommen, er allein nicht. Am 11. früh, als die Wachtstube von den Sansculottes sich entleerte, ging Kerner zu einem Freunde, nahe an dem Schlosse, unterwegs aber wurde er ergriffen, und nur der erwähnte Paß war seine Rettung.

Nicht allein das damalige Leben der politischen Welt, auch andere Bilder erschienen seiner lebendigen Phantasie im herrlichsten Lichte. In einem lutherischen Lande geboren und erzogen, erschien ihm ein Frauenkloster als ein besonders anziehendes Rätsel, als ein höchst romantisches Bild. Wir gingen einmal zusammen, Herr Rheinwald, sein Freund, war mit uns, auf dem Montmartre spazieren. Auf diesem Berge war ein schönes Fräuleinkloster, die Damen waren noch beisammen, jedoch durfte man hinein. Kerner hatte ein großes Verlangen, wenigstens eine Nonne zu sehen. Er stellte sich die reizendsten Frauen vor, die nur beten und singen und in Heiligkeit leben. Wir kamen zum Sprachgitter; Kerner klopfte an, und gerade trat eine schöne junge Dame ans Fenster und frug, was wir wollten? Kerner, außer sich, trat vor und sagte: Madame, je suis ravi de vous voir. Die Dame, ganz betroffen, zog eilig den Umhang vor und verschwand. So war er mit Herrn Rheinwald in einer Kirche, die Nonnen sangen, aber ungesehen, zusammen. Kerner war ganz begeistert über die himmlischen Stimmen, ›das müssen Engel sein und schön und jung!‹ Rheinwald sagte: ›Nein, lauter alte neidische zahnlose Dirnen! hören Sie nicht, wie die Stimmen schettern?‹ Kerner [51] wurde wütend: ›Nein, sage ich, schön und jung und unschuldig wie die Engel!‹

Immer war er auch bei dem äußersten Mangel, der ihn öfters traf, da er von den Seinigen keine Unterstützung hoffen durfte, heiter und voll Lebendigkeit, und alle Menschen, die ihn kennen lernten, liebten ihn.« –

Mit ihm befand sich damals der vor einigen Jahren zu Stuttgart als Pädagogarch gestorbene ProfessorKammerer in Paris, und von ihm ist folgende Mitteilung:

»So sehr Kerner mit ganzer Seele der Freiheit anhing, das Glück derselben über die ganze Welt verbreiten zu können wünschte, so fand er doch jetzt, da er sich in der Nähe des Vulkans befand, von dem die Erschütterung ausging, bald den Boden ganz anders, als er sich in der Ferne vorgestellt hatte. Er lernte einige von den Revolutionsmännern und die geheimen Triebfedern und Leidenschaften, die sie beseelten, näher kennen, er hörte das wütende Geschrei, und die rasenden, alles menschliche Gefühl empörenden Vorschläge, die von der Jakobiner-Tribüne ausgingen, und sah die schändlichen Mittel, die man zu ihrer Ausführung anwendete. Sein gerader, auf Menschenrecht und Menschenglück gerichteter Sinn ertrug es nicht, diesem Unwesen zuzusehen. So sehr er daher als erklärter Clubs-Freund nach Paris gekommen war, so entschieden erklärte er sich nun dagegen, ohne deswegen seine Wünsche für Freiheit und eine wohleingerichtete Verfassung aufzugeben.

Kerner hatte sich nach und nach eine kleine medizinische Praxis erworben, wozu neben seiner Geschicklichkeit besonders auch seine Uneigennützigkeit nicht wenig beitrug. Außerdem hatte er seit dem Herbst 1792 den Auftrag erhalten, für die Hamburgische Zeitung (Adreßcomptoir-Nachrichten), die damals auf Kosten des dortigen Handelsmannes Klopstock, eines Bruders des Dichters, herauskam, wöchentliche Nachrichten aus [52] Paris einzuschicken. Auf diese Art konnte er bei seiner Genügsamkeit sich recht gut fortbringen und selbst seiner Neigung, wohltätig zu sein, noch hie und da freien Lauf lassen; denn Gutmütigkeit, Edelmut, Biedersinn waren die Hauptzüge in seinem Charakter, und aus dieser reinen Quelle floß sein Enthusiasmus für Freiheit, die ihm anfänglich in goldenem Lichte entgegenglänzte. Dennoch war er nicht so blind und schwach, daß er sich so leicht durch Heuchler hätte täuschen lassen, ebenso wenig im gemeinen Leben, als in öffentlichen Angelegenheiten. Ich erinnere mich, ihn einst auf einem Spaziergange begleitet zu haben; es näherte sich uns ein in Lumpen gehüllter, elend und schwarzgelb aussehender Bettler. Kerner war im Begriff, ihm etwas zu reichen, plötzlich aber ergriff er die Hand des Bettlers, spie darein, rieb sie an seinem Rock ab – und siehe da, die schwarzgelbe Farbe, womit der Betrüger, Mitleid zu erregen, sich beschmiert hatte, ging ab, und er wurde mit einem derben Verweis entlassen.

Seine edlen Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte aussprachen, erwarben ihm immer mehr Bekannte und Freunde. Ohne besondere Adressen nach Paris zu haben, wurde er bald, besonders seinen württembergischen Landsleuten bekannt, wovon ihn immer wieder einer dem andern zuführte, und unter diesen wurde die Bekanntschaft mit GrafReinhard für ihn die folgenreichste. Alle waren ihm mit der innigsten Anhänglichkeit und Liebe zugetan, die er auch in hohem Grade verdiente; aber auch unter andern in Paris lebenden Deutschen und unter den Franzosen selbst wußte er sich Liebe und Wohlwollen zu erwerben; sogar Männer von der Regierung behandelten ihn mit Achtung und ließen seinen Grundsätzen Gerechtigkeit widerfahren. Kosciusko, Schlabrendorf, Oelsner, Ebel, Reinhard, Lux waren seine innigsten Freunde.«

[53] In nachstehendem Briefe vom 30. Dez. 1792 an seinen Freund Reinhold, erzählt er selbst einen Teil seiner Erlebnisse zu Paris während der sturmvollsten Zeit der Revolution.

A Monsieur Jean Gotthardt Reinhold, Lieutenant dans le II. Bataillon du Regiment Nassau à Bois le Duc.

Paris, le 30. Dec. 1792. An I. de la R.

Gott verdamme mich, wenn ich so verschiedener Meinung von Dir wäre, als Du in Deinem Briefe, den ich so eben, abends um 6 Uhr, erhalte und um 7 Uhr beantworte, zu glauben scheinst. Ja mein Bester, man muß in meiner Lage sein, um die Verschiedenheit meiner beiden Briefe einzusehen. Stelle Dir alle die schmerzhaften Gefühle vor, die die Begebenheiten des Augusts und Septembers in mir erzeugten; stelle Dir eine gewisse Art der Verzweiflung vor, die all' diese Szenen in mir hervorriefen, und Du wirst nicht zweifeln, wie unendlich begierig ich war, an dem ersten glücklich scheinenden Umstande mich festzuhalten, der sich mir darbot, und dieser Umstand, ich gestehe es, war der glückliche Fortgang der französischen Waffen und der so günstige Einfluß, den derselbe, wie ich hoffte, auf die innere Lage Frankreichs und auf die Lage Deutschlands haben sollte.

Ich vergaß auf einen Augenblick den fressenden Krebs, der den französischen Staatskörper zugrunde richtet, ich vergaß auf einen Augenblick tausend Dinge, die ich nicht hätte vergessen sollen. Auf einige Augenblicke sage ich! – denn das Tagebuch des National-Konvents, die Namen der gemordeten Bürger, die grenzenlosen Betrügereien, die überall verübt wurden, die schrecklichen Verirrungen des Freiheits-Fanatismus, die überhandnehmenden Bedürfnisse des Staats und der geringe Eifer, ihm auf eine reelle Art zu Hülfe zu kommen, die überall sich äußernden Symptome der Verdorbenheit oder der Unwissenheit, jene Schwäche verratende Prahlerei [54] und jener allzu sichtbare Mangel an Tugend, rief mich frühe genug aus meinen Träumen zurück. Ich fand, daß die Tugend der französischen Miliz so gering, die schändlichen Handlungen, die einzelne Teile derselben ausübten, so groß waren, daß die Anarchie, an der sie krank lag, so beträchtlich war, daß die Beispiele, die sie gab, die Nationen eher von Verbindungen abschreckten, als sie dazu einluden.

In Deutschland, hoffte ich, sollte die Freiheit einen günstigen Boden finden, diese Freiheit, die auf immer aus Europa verbannt zu sein scheint. England allein bietet noch einigermaßen ein erfreuliches Schauspiel dar; die strenge Behauptung einer Verfassung, die selbst bei ihren Mängeln dennoch das Nationalglück befördert und persönliche und Eigentumssicherheit begünstigt, diese strenge Behauptung, die selbst sonst entgegengesetzte Parteien zu einem Zweck, zur Erhaltung der Verfassung, vereinigt, ist in der Tat ein erhebendes, ich möchte beinahe sagen, rührendes Schauspiel; die nachdrückliche Sprache Englands kann vielleicht Einfluß auf Ludwigs Schicksal haben, seine Verteidigung von Desèze, Tronchet und Malesherbes ist vortrefflich, und wäre man in den Departementen minder Ochsenkopf und minder fanatisch, so müßten ihnen endlich wohl die Augen geöffnet werden. In dem National-Konvent scheint die Majorität der Redner gegen die Todesstrafe und für den Appell an das Volk, andere für die Verbannung, andere für die Gefangenschaft zu sein. Robespierre ist, wie Du Dir leicht vorstellen kannst, für die Todesstrafe. Das sonderbarste in seiner Rede ist, daß er aus dem Grundsatze, der tugendhafteste Teil der Menschheit ist immer der kleinste, den Schluß machte, daß die kannibalenartige Minorität des Konvents der bessere Teil sei.

Du fragst mich nach der Sittlichkeit mehrerer Mitglieder? Robespierre war von jeher ein Narr – Manuel, der [55] sich den ehrenwerten Haß der Pariser Unruhköpfe zugezogen hat, war bei der ehemaligen Polizei angestellt, wo nur wenige ehrliche Leute sich gebrauchen ließen; Condorcets unedler Charakter erhellt aus seiner Undankbarkeit gegen die Familie Rochefoucauld und aus seinem Betragen bei der legislativen Versammlung – der ganze National-Konvent enthält nur wenige ehrliche Leute; der eine Teil predigte Unordnung und Gesetzlosigkeit, bis er seinen Zweck er reicht hatte, und predigt jetzt Ordnung und Gesetzmäßigkeit, um sich in dem errungenen Vorteil zu erhalten; der andere Teil fährt fort die Anarchie zu begünstigen, weil ihm die gehofften Früchte nicht zu Teil wurden, und er noch nicht die Hoffnung, sie zu erringen, aufgegeben hat. Ich mag nicht weiter von diesen Leuten reden, die sich eher Rippenstöße, als ihrem Vaterlande weise Gesetze zu geben verstehen; die kommenden Zeiten werden sie noch strenger als ihre jetzt lebenden und erbittertsten Feinde richten. Was die kommenden Begebenheiten des folgenden Jahres sein werden, so wage ich nicht irgend eine Mutmaßung mitzuteilen; die Wirkungen des Fanatismus waren von jeher fürchterlich – Krieg scheint für Frankreich, bei dem gestörten innern und äußern Handel, bei den wenigen Reizen, die Künste und Wissenschaften darbieten, und der Menge darbender Einwohner, jetzt je mehr und mehr Bedürfnis zu werden, und ich ahne noch immer, daß die französische Revolution größere Umwälzungen in Europa zur Folge haben wird.

Seit dem Monat August befand ich mich niemals vollkommen wohl; nach den blutigen Szenen des Septembers war ich einige Tage krank, erholte mich, wiewohl nur unvollkommen; seit dem Monat November war ich zweimal schon sehr krank, daß man an meiner Genesung zweifelte. Ein fürchterliches Fieber hatte mich zum Gerippe [56] abgezehrt; alle meine Geschäfte legte ich bei Seite und besorgte nur die Hamburger Korrespondenz, wobei mir einer meiner Landsleute in den heftigsten Tagen meiner Krankheit hülfreiche Hand leistete. Ein schleichendes Fieber machte mich beinahe zu allen Geschäften unfähig, und nur die Freude, die Dein unverhoffter Brief bei mir erregte, gibt mir hinlängliche Kraft, ihn sogleich zu beantworten.

In Rücksicht meiner bisherigen Schicksale schreibe ich Dir noch folgendes: Am 10. August war ich auf der Wache in den Tuilerien, und ich weiß nicht, zu was mich das Schicksal noch aufbehalten hat; genug, ein Wunder erhielt mir das Leben. Ich stand an einem Seitenhofe des Schlosses (die Posten wurden immer durch das Los ausgeteilt), als die Gefahr dringend wurde, verließ uns die Kanone, die wir hatten, mit den Kanoniers und mehr denn drei Vierteil unserer Mannschaft, etwa zwanzig warfen sich in das kleine Wachthaus und erklärten, sich hier totschlagen zu lassen. (Wohl zu bemerken, daß uns ein Munizipal-Offizier, Namens Borie, vorher die Artikel des Gesetzes vorgelesen, die uns zur Behauptung unseres Postens verpflichteten. Eine Kompagnie Schweizer war auch gegenwärtig, man zog aber diese gleich nachher in den innern Schloßhof zurück.) Kaum brüllte der erste Donner, so nahm die zusammengeschmolzene Garnison Reißaus. Ich war wie betäubt, tausend Bilder von den schrecklichen Folgen, die diese Blutszenen haben würden, drängten sich mir nacheinander mit Gewalt vor; ich konnte mich nicht zur Flucht entschließen, und da saß ich allein in meiner Wachstube. Plötzlich fliegen einige Flintenkugeln an die Fensterrahmen. Vermutlich wurden sie nicht gerade geflissentlich dahin abgeschickt und sollten an den hervorragenden Teil des Schlosses gehen. Das Wachthaus stand in dem sogenannten Cour de Marsan. Jetzt fing ich an, an meine [57] Selbsterhaltung zu denken und einen Zufluchtsort zu suchen, ich fand denselben unter dem Feldbett, oder der hölzernen Bank, auf die man sich legt. Kaum war ich unten, und alle Augenblicke glaubte ich, die Bank stürze über mir zusammen, so drängte ein Haufen von Leuten in die Wachtstube, an deren entblößten Füßen ich sah, daß sie keine Hofherren waren. Sie fanden einen guten Vorrat geladener Flinten, suchten überall über mir in den Strohsäcken und sahen zu allem Glück nicht unter das Lager. Ich hielt in diesem Augenblick meinen Tod für gewiß, übrigens behielt ich die größte Geistesruhe bei. Kaum war dieser Haufe hinaus, so verließ ich meinen Winkel, ging gerade zum Wachthaus hinaus und geriet mitten in einen Haufen von Sansculottes, die zum gegenüber befindlichen Tor herein kamen. Ich nahm eine gleichgültige Miene an, und mein Gang war so unbekümmert, daß sie mich für einen der Ihrigen hielten, und so gelangte ich in einem naheliegenden Café an, nachdem ich noch vorher hart an einem gemordeten Schweizer vorüber mußte. Kaum war ich in diesem Café angelangt, so malten sich auf meinem Gesichte alle Empfindungen, die diese schreckliche Szene auf mich hervorbringen mußte, ich eilte nach Hause, wurde unterwegs zweimal angehalten, indem ich zu zweienmalen auf an mich gerichtete Fragen antworten mußte und man aus meinem deutsch-französischen Akzent schloß, daß ich ein verkleideter Schweizer sei, mein Brevet half mir glücklich durch bis zur Wohnung eines Freundes. Ich hatte drei Nächte nicht geschlafen, das erste, was ich tat, war, mich aufs Bett zu werfen, wo ich 14 Stunden ununterbrochen fortschlief. Morgens um 6 Uhr am 10. August wußte ich schon, daß es übel mit dem Schloß aussehen würde; die kriechenden Schmeicheleien einiger Nationalgarden, die den König gleichsam führten, ihr Geschrei: »Es lebe der König!« und ihr Stillschweigen, als [58] man rief: »Es lebe die Nation!« brachte gleich eine beträchtliche Spaltung unter der Garnison hervor; ferner brauchten die Feinde, um die Harmonie, die unter der Garnison herrschte, zu stören, eine Kriegslist, die mir augenblicklich von den wichtigsten Folgen zu sein schien; es langte nämlich gegen 6 Uhr ein ganzes Heer Sansculottes, unter dem Vorwand, die Garnison zu verstärken, an, und das war sogleich das Signal einer gänzlichen Konfusion. Die Unentschlossenheit Ludwigs, die überhandnehmende Gefahr und seine endliche Entfernung in die Nationalversammlung, brachte dieselbe auf den höchsten Grad. Die Kommandanten verloren den Kopf, man gab keine Befehle, machte keine Anordnungen mehr, und der gemeine Soldat war auf diese Art ganz sich selbst überlassen. Die Menge der Chevaliers und die Hof-Kamarille, die die Nacht über in das Schloß kam, um vermutlich von den Fenstern aus zu schießen, hatten ebenfalls viel zum unglücklichen Ausgang dieses Tages beigetragen. – Am 21. September drohte mir ein heftiger Patriot meiner Sektion, in der ich als Royalist verschrieen war, und da es in diesen Tagen der Anarchie genug war, von einem Menschen bedroht zu sein, so machte ich mich in eine andere Gegend der Stadt, blieb etwa 4 Tage bei einem guten Freunde, und kaum waren die Barrieren wieder geöffnet, so begab ich mich aufs Land, wo ich einen Monat blieb.

In meiner Sektion gebot mir die Klugheit, noch nicht wieder zu erscheinen, da sie ohnehin eine der tollsten von Paris ist. Ungeachtet aller dieser Mißgeschicke und Verfolgungen wollte ich gern mein Leben geben, wenn nur das Massaker vom 2. September nicht stattgehabt und man sich am 10. August minder kannibalisch betragen hätte. Du fragst mich, wie es mit meiner Wissenschaft geht? Ich werde vermutlich nächstens die hiesige schwedische Infirmerie übernehmen; zwar trägt sie nur 400 [59] Livres jährlich ein, allein ich habe hier Gelegenheit, meine Wissenschaft auszuüben, und dadurch vielleicht nach und nach eine kleine Praxis zu erlangen, im Falle ich hier bleibe, denn ein reizendes Anerbieten, das mir wiederholtemalen gemacht wurde, könnte mich wohl 150 Stunden weiter von Dir entfernen. Du wirst Dich aus den öffentlichen Blättern erinnern, daß an dem Tage, da man Lafayettes Sache in der National-Versammlung diskutierte und man das vorgeschlagene Anklage-Dekret verwarf, mehrere Deputierte nach geendigter Sitzung von dem Pöbel verfolgt wurden. Ungefähr sechzig Nationalgarden hatten sich das Wort gegeben, in den Volksbühnen an diesem Tage zu erscheinen, und durch die tiefste Ruhe das anwesende Volk zur Nachahmung zu bewegen; sechs kamen, und um nicht ohne von allen Seiten begafft zu werden, saßen wir mitten in einer der Volksbühnen. Die Sitzung war geendigt, kaum war ich unten auf der Straße, so sah ich einen der Deputierten von einigen wütenden Weibern und Kerls verfolgt – man warf ihm vor, für Lafayette gestimmt zu haben. Er ging unbekümmert seinen Gang fort, der mit jedem Augenblick gefährlicher wurde. Ich sah nicht so bald seine Gefahr, als ich mich ganz nahe hinter ihn machte und ihm zuflüsterte: Soyez tranquil, s'il le faut, je perirai en vous defendant; ich nahm auch meinen Säbel unter den Arm. Der zuströmende Haufen wurde jetzt immer größer, denn die Kerls riefen: un voleur! und wir konnten nicht weiter fort. Zum Glück war der Rücken des Deputierten durch eine Mauer geschützt und ich haranguierte so gut ich konnte das Volk, beschwor es, sich nicht an seinen Gesetzgebern zu vergreifen, unterdessen, da ich so einigermaßen Ruhe herstellte, kamen mehrere Nationalgarden, wir nahmen den Deputierten hierauf in unsere Mitte, fielen in die Hände von Marseillner, flüchteten glücklich in ein Wachthaus und wurden hier belagert; [60] fünf Deputierte hatten sich schon früher dahin geflüchtet, unter andern Dumontard, dessen Stellung hinter einem Tisch, auf welchem eine Trommel stand, die seinen Kopf dem Auge verbarg, ich niemals vergessen werde. Die Belagerung wurde mit jeder Minute ernstlicher, die Wache war auf dem Punkt forciert zu werden – ich stand mit bloßem Säbel unter der Tür – als ich plötzlich niemand mehr in der Stube gewahr wurde; alle hatten durch ein hinteres Fenster salus in fuga gesucht.

Jetzt lag mir nichts mehr an den Stürmern, sie konnten jetzt wohl eindringen, ich eilte durch die nämliche Öffnung den Deputierten nach, von denen Dumontard noch einmal in Feindes Gewalt geriet, woraus ich ihn wieder befreien half. Der erste Deputierte heißt Fourrier, aus dem Departement hautes Pyrenées, wir sind jetzt die besten Freunde, und seine Freundschaft ist mir um so schätzbarer, da er ein edler, aufgeklärter Mann ist. Er kehrt zu Ende des folgenden Monats in sein Departement zurück und schlägt mir vor, bei ihm als Freund und Bruder zu leben. Ich habe mich nicht entschließen können aus Gründen, die Du Dir einbilden kannst, jedoch bin ich im Ganzen genommen noch unschlüssig. Lailhassoi, den Du aus den öffentlichen Blättern kennen wirst, und der auch Mitglied der Nationalversammlung war und aus Toulouse ist, hat mich ebenfalls eingeladen; ich hatte auf dieser Reise das Glück, diesen würdigen Mann wieder umarmen zu können.

Vor einigen Tagen ist Wolzogen hier angekommen, ich glaube, er hat Aufträge an das hiesige Gouvernement von dem Herzog. Daß Du Marschall gesehen hast, freut mich, ich beneide Dich in der Tat wegen dieses Glückes. Grüße mir ihn tausendmal und sage ihm: daß ich ihm verzeihen wolle Fürstendiener zu sein, wenn er seinen Einfluß auf seinen Fürsten dazu verwenden werde, die [61] kleine Zahl der Untertanen desselben glücklich zu machen.

Deine Nachricht von St. Sernin freut mich. Du scheinst mir das Mitleiden, das ich über ihn äußerte, übel genommen zu haben – es tut mir leid – mein Mitleid erstreckt sich aber auf alle Emigrierten, die nicht feindlich gegen ihr Vaterland gehandelt haben – die übrigen verdienen alle den Galgen. Die französischen Prinzen handeln schändlich, das Schicksal des unglücklichen Königs ist besonders ihnen zuzuschreiben. Einige Sektionen, namentlich die von Luxembourg, und Theatre français oder jetzt Marseille, und die Sektion de l'Abbaye (die meinige) haben einen Eid geschworen, daß, im Fall der Konvent den unglücklichen Monarchen nicht zum Tode verdammen sollte, sie ihn selbst daniederstechen würden. So sehr groß ist die Anarchie, daß ein Haufe verrückter Kerls im Angesicht der Gesetzgeber sich über alle Gesetze erhebt. Sie träumen, eine unsterbliche Handlung zu begehen, sie sprechen von Brutus und Cäsar – gleich als fände eine Ähnlichkeit zwischen Ludwig und Cäsar statt, wovon jener in einer drückenden Gefangenschaft schmachtet, während dieser am Morgen seines Todestages mit einem Wort noch eine halbe Welt zittern machen konnte! Der Unterschied ist unendlich, und diese Elenden, statt an die Seite eines Brutus sich zu schwingen, werden unter die unterste Klasse gemeiner Mörder zurücksinken. Allein diese Leute sind der Überlegung unfähig, durch ihre Leidenschaften verblendet, glauben sie in die Fußstapfen der größten Söhne Roms zu treten und gehen den Weg gewöhnlicher Banditen – Adieu Republik, Adieu Freiheit! – wenn diese Leute nicht bald als Narren erklärt werden. Vorgestern wollte man eine kleine Wiederholung der Szene vom 2. September machen, allein man traf die nötigen Anstalten, um den teuflischen Projekten dieser Republikaner zuvorzukommen. [62] Sie wollten die Sturmglocke läuten, Santerre und der Kommandant des hier befindlichen Marseiller Bataillons rüsteten sich aber zum Widerstand. Einige Sektionen, besonders die der Gardes français, haben diesen Entschluß laut mißbilligt; der Gemeinderat scheint aber nicht mit dieser Mißbilligung zufrieden zu sein; derselbe hat auch gestern den Schluß gefaßt, daß die Tempel-Kommissärs nichts mehr in ihren Berichten von der königlichen Familie erwähnen sollten, insofern es das öffentliche Mitleiden erregen könnte.

Schreibe Marschall, daß ich oft an ihn denke, und er mir doch auch einmal einige Linien schicken soll. Er wird darüber nicht in Ungnade fallen, wenn er nach Paris einen Brief schickt. Gib ihm so einen kleinen Auszug aus meinem Brief, und versichere ihn meiner aufrichtigsten Freundschaft.

Jetzt Adieu! mein liebster, mein bester Reinhold! Ich hoffe Dir in meinem nächsten Brief bessere Nachrichten von meiner Gesundheit geben zu können, die jedoch bei meinen tausend Bedrängnissen nicht so bald vollkommen hergestellt sein wird.

Weißt Du nichts von van de Velden? Grüße mir St. Sernin, wenn er bei Dir ist, unbekannterweise. Petif, Vellnagel, Dertinger, was machen sie? Lebe wohl! Ewig Dein Freund

G. Kerner.

Fußnoten

1 Im Herbste 1799 ging Reinhold nach Berlin als Gesandter. Nach der Einverleibung Hollands lebte er in Paris als Privatmann, im Jahre 1813 war er Gesandter in Florenz, darauf Gesandter in Rom, wo er das Konkordat bis zum Abschluß vorbereitete. Das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten wurde ihm angetragen, er nahm es aber nie definitiv an. Zuletzt ward er Gesandter in der Schweiz. Er privatisierte dann in Hamburg, wo er im August 1838 starb.

2 Beide nachher berühmte Künstler: Danneker Bildhauer, Koch Maler.

Freundschaftliches Verhältnis meines Bruders mit Adam Lux

Unter diejenigen seiner Freunde in dieser Schreckenszeit zu Paris, deren Ermordung er am tiefsten betrauerte, gehörte neben dem Straßburger Maire Dieterich besonders [63] auch Adam Lux aus Mainz, ein junger Mann, der wie er, nur von Gesinnungen für reine bürgerliche Freiheit beseelt, sich mit Abscheu von dem Terrorismus eines Marat und anderer Volkstyrannen abwandte, und als mutiger Verteidiger der heldenmütigen Charlotte Corday auf dem Schafotte fiel, wie auch ihm, in Verteidigung seines Freundes, des Maire Dieterich, fast das gleiche Schicksal geworden wäre.

In Briefen, die er im Jahre 1795 in der Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte »der Clio« abdrucken ließ, widmete er seinem edlen Freunde Lux einige Gedächtnisblätter, die er damals im Manuskripte in die Heimat sandte und die ich in späteren Jahren, obgleich noch ein Knabe, mit Teilnahme las. Ich hörte ihn oftmals behaupten: es hätten diese seine Blätter über Lux Jean Paul zur Basis seines bekannten herrlichen Aufsatzes über Lux und Charlotte Gorday gedient. In diesen Briefen schrieb er also: »Adam Lux ist aus der Gegend von Mainz, lebte daselbst im Zirkel seiner Gattin und seiner Kinder als begüterter Landmann und als kenntnisreicher Philosoph. Sein vorzüglichstes Vergnügen war das Studium der Alten. Ein reifer Verstand, eine für alles Erhabene empfängliche Seele, ein fester und gesunder Körperbau waren die unschätzbaren Eigenschaften, die er, was so selten ist, vereinigt besaß. Die Geschichte der griechischen und römischen Republiken fesselte ihn mit Allmacht, und Catos Seele schien in die seinige überzufließen. Als die fränkischen Fahnen auf den Wällen von Mainz wehten, als sich in Mainz die Abgeordneten der eroberten Rheingegenden einfanden und die rheinischdeutsche Konvention formierten, da trat auchLux als Mitglied in diese Versammlung, von der er, als sie für die Vereinigung mit Frankreich votierte, nebst Potocky und dem berühmten für die Freiheit und die Wissenschaften zu früh dahingeschiedenenForster nach Paris an den [64] National-Konvent abgeschickt wurde. Die Mainzer Deputation kam gerade in einer Epoche an, wo der Kampf zwischen der Girondistenpartei und der Bergpartei schon so weit gekommen war, daß die konspirierende Pariser Munizipalität mit Hülfe einiger Häupter der letztern die erstere Partei mit einer beispiellosen Wut bekämpfte. Man kann sich leicht denken, an welchen der beiden TeileLux' Wünsche sich anschlossen.

In sich selbst verschlossen, entfernt von der Gesellschaft, kehrte er meistens nur abends bei Eröffnung des Schauspiels in dieselbe zurück, den übrigen Tag brachte er auf einsamen Spaziergängen, besonders in dem Gehölze von Boulogne zu, wo er, unter dem erquickenden Schirme einer Eiche, bald in den Briefen des Brutus an den Cicero, bald in andern alten Schriftstellern sich mit den großen Republikanern des Altertums vertraut machte, und von ihren heiligen Schatten umringt, in tiefe Betrachtungen versunken, die Größe der Vorzeit, die schimpfliche Lage seines Vaterlandes und den damaligen Stand der Dinge in Frankreich berechnete. Ich traf ihn mehrmals auf seinen Spaziergängen. Seine Stirne war faltenlos, seine Stimme ruhig wie die eines denkenden Mannes: der ernste Blick seines Auges schien mitten in einer Art von glänzender Heiterkeit, dem Gepräge seiner Seelenruhe zu schwimmen. Die Revolution vom 31. Mai erschien, und die Erfüllung aller der furchtbaren Ahnungen, gegen die er sich bisher zu waffnen suchte, – begann. Einige seiner Freunde trugen die Trümmer der Republik mit sich in das Gefängnis, andere irrten mit denselben in den Departements umher und suchten Männermut, republikanische Tugenden und Hülfe gegen den siegenden Despotismus. Schon waffnete sich der Mittag und in dem Westen schien das Gewitter in eben dem Augenblick auf das Haupt der Verbrecher herabstürzen zu wollen – als die Verräterei, sinnreicher als die [65] Tugend, den drohenden Blitz von sich abwenden und auf das Haupt derer zurückfallen machte, die ihn der Freiheit und der Republik zu Gunsten hervorgerufen hatten.

Mitten unter den Zurüstungen der Departements entschloß sich ein Mädchen, die zu Boden getretene Freiheit zu rächen – zwischen ihrem Entschlusse und der Ausführung war nur der Weg, den sie von Caen nach Paris zurückzulegen hatte. Kaum hatte ihr Auge den Ort erblickt, wo die große Freveltat, die Ermordung der Freiheit, sich ereignet hatte – so stieß schon ihr rächender Arm den rächenden Dolch in Marats verbrecherische Brust. – Darf man sich noch wundern, daß sie gerade ihn wählte, ihn, der weit entfernt, gleich einem Pache seine scheußliche Seele zu verbergen, sie ebenso wie seine ekelhafte Figur zu Hülfe rief, zur Schau stellte, und so zum sichtbaren Mittelpunkte alles desjenigen machte, was sich zu Verbrechen und Greueltaten fähig fühlte. Seine Mordepisteln waren ihr bekannt, er mußte also fallen.

Lux, der sich gerade in der Honoréstraße befand, als eine ungewöhnliche Bewegung auf den Straßen seine Aufmerksamkeit erregte, fragte nach der Ursache derselben. Man antwortete ihm, daß man die Mörderin Marats soeben zum Schafott führe – das heißt, das große Opfer einer bessern Welt übergebe.Lux blieb unter den Zuschauern. Charlotte Corday erschien, ihr Auge war mit einem Gemisch von Größe und Mitleiden auf die Volksmenge geheftet. – Lux las in ihren Zügen, was nur wenigen zu lesen vorbehalten war – sein Blick begegnete dem ihrigen – mehr bedurfte es nicht, um in dem Innersten ihrer Seele zu lesen und jene Harmonie entdecken zu können, die große Herzen in einem Moment auf Ewigkeiten verschwistert. – Man hatte ihm von einer aristokratischen Fanatikerin gesprochen; er fand eine Republikanerin,[66] die, nachdem sie dem Rache fordernden Vaterland den hohen Tribut gebracht hatte, die Gesetze zu versöhnen, mit jenem Blick dem Tode entgegenging, die ihrem Wesen noch drei Schritte vor dem Schafott jene verklärte Gestalt zu geben schien, die ihr erst jenseits desselben zuteil werden sollte: man hatte ihm von einer alten Betschwester gesprochen, und er fand ein Mädchen in der vollkommensten Jugendblüte, ein Mädchen, dem die nahe Gegenwart des Todes keine der Rosen rauben konnte, die ihre Wangen schmückten – dem die jungfräuliche Sittsamkeit, gepaart mit Heldenmut und Schönheit, jenen unaussprechlichen Reiz gab, dem selbst der stupideste Fanatismus durch ein plötzliches Unterbrechen seines wilden Gebrülls und das Verbrechen durch eine dem schwachen Überrest von Menschlichkeit entschlüpfte Träne huldigen mußte. Lux folgte Charlotten bis an das Schafott, sein gut organisiertes ungeschwächtes Auge erblickte die kleinste ihrer Bewegungen, die Art, womit sie sich dem Schafott näherte und das Totengerüst bestieg, die sanfte Schamröte, die selbst das drohende Beil nicht zurückschrecken konnte, als die Blutknechte ihr den jungfräulichen Busen entblößten – nichts entging seinem spähenden Blicke: das Eisen fiel – sprachlos und wie vom Donner gerührt, stand er neben dem Trauergerüste und riß sich endlich nur mit Mühe von dem schrecklichen Schauspiel los. Noch ein Blick auf den enthaupteten Leichnam – und in eben dem Augenblick schlägt eine wilde Bestie das blutende Haupt ins Gesicht.

Die blutgierige Menge entrüstet sich selbst mitten in ihrer Blutgierde über die abscheuliche Freveltat –Lux teilt diese Entrüstung – sie erleichtert seine von Empfindungen bestürmte Seele und gibt ihm Stärke genug, seine Wohnung zu erreichen, wo er sich gänzlich dem Übermaße seines Schmerzes preisgab – und die empörende [67] und seelenerschütternde Szene, der er beigewohnt hatte, tausendmal sich zurückrief, um tausendmal die nämlichen Martern zu fühlen. Jetzt war Schweigen in seinen Augen ein Verbrechen: er glaubte Frankreich und seinen Kommittenten eine getreue Darstellung der Dinge schuldig zu sein. Er wollte der Wahrheit ein Opfer bringen, das, wenn es auch für den Augenblick verloren ging, ein zu erhabenes Beispiel von erfüllter Bürgerpflicht war, um nicht von der Zukunft mit Nutzen aufgefaßt zu werden.

Während ganz Paris höchstens nur in dem Innern der Häuser von dieser Szene sprach und sie ebenso schnell vergaß, als es dieselbe gesehen hatte – stillschweigend die Heldin bewunderte oder laut sie verdammte – schrieb Lux eine Lobrede auf die erhabene Republikanerin und eine zweite Schrift über die Gegenrevolution am 31. Mai, deren Urheber er laut verabscheute, laut als Feinde der Freiheit, als Verräter der Republik verfluchte. Er entschloß sich, für die Wahrheit auf dem nämlichen Schafott zu bluten, woCorday von Vaterlandsliebe entflammt ihren Geist aufgegeben hatte. Er entschloß sich, dem Despotismus auf eine des republikanischen Bürgers würdige Art zu entfliehen und durch seinen hohen Mut die Ehre derer zu retten, die ihn durch eine ehrenvolle Mission noch näher an die Sache der Freiheit selbst gefesselt hatten. – Zur nämlichen Zeit, als seine beiden Schriften erschienen, hatte man schon so sehr in Paris dem neuen Despotismus gehuldigt, daß beinahe jedermann den Namen Lux für einen fingierten Namen, das Ganze für das Werk eines Unbekannten hielt. Als man endlich erfuhr, daß dieser Lux wirklich existiere, so hielten ihn die meisten für einen Mann, dem die Liebe den Kopf verrückt habe, die meisten erwähnten der Sache mit Achselzucken und nur eine kleine Zahl von Republikanern fühlte den ganzen großen Umfang dieser [68] Handlung, die um so größer ist, als damals, wo Lux gegen den 31. Mai schrieb, alle Federn in Paris dem Tyrannen huldigten, und alle Bürger, teils durch wirkliche nähere oder entferntere Teilnahme, teils durch ein strafbares Stillschweigen die Begebenheiten und die Folgen vom 31. Mai zu verantworten hatten. Kaum hatte ich die beiden Schriften erhalten, so eilte ich zu Lux. – Ich fand ihn in seiner Wohnung, in dem Hotel der holländischen Patrioten, in der Straße Desmoulins. – Er schien, als er mich sah, zu erschrecken – ich ließ ihm keine Zeit, mich um die Ursache meines Besuchs zu fragen – an seinem Halse weinend fluchte ich dem Schicksale, das eine solche Zernichtung der schönsten Hoffnungen und Aussichten zugeben konnte. Lux drang in mich, ihn zu verlassen, indem er jeden Augenblick seine Verhaftung erwarte und schlechterdings keinen seiner Freunde der geringsten Gefahr, dem geringsten Verdachte aussetzen wolle.

Als seine erste Schrift unter der Presse lag und das Manuskript der zweiten schon dem Buchdrucker übergeben ward, schrieb er folgenden Brief an einen seiner Landsleute, dessen Weise, die damaligen politischen Ereignisse anzuschauen, von der seinigen in etwas abwich, der aber vorzüglich insofern von ihm verschieden dachte, als er behauptete, daß für die Mainzer Deputation vollkommene Neutralität Pflicht wäre. Dieser Brief beweist zur Genüge, wie sehr er von aller Überspannung entfernt war, und gleichsam in dem Schoße der Seelenruhe den Umfang seiner Pflichten maß. Hier die Abschrift oder vielmehr die Übersetzung seines Briefes, der in fränkischer Sprache geschrieben ist.

An .....

Mein teurer Freund und Mitbürger!

Da eine Schrift, die ich ohne Ihr Wissen verfaßte und dem Drucke übergab, im Publikum erscheinen wird; da [69] mich die Verfolgungen, die dieselbe mir zuziehen wird, in Ungewißheit über den Augenblick meiner Verhaftnehmung lassen, so komme ich jedem Ereignisse zuvor, um Ihnen ein Lebewohl in diesen Zeilen zu sagen. Ich erkläre Ihnen hierin förmlich, daß ich meine Betrachtungen ohne Ihr Wissen niedergeschrieben habe, ich erkläre dieses nicht sowohl, um Ihnen einen Streit über die Art, womit ich unsere politische Lage ansehe, und die von der Ihrigen abweicht, zu ersparen, sondern vorzüglich deswegen, weil ich die Erbitterung der Inquisitoren kenne und niemanden als mich selbst der Gefahr aussetzen will.

Glauben Sie ja nicht, daß ich Tor genug sei, um nicht das Schicksal vorauszusehen, das mir eine Schrift bereitet, die die Machthaber um so mehr verwundern muß, da sie mich nicht persönlich beleidigt haben. Allein mein Grundsatz ist, daß man, was es auch kosten möge, laut der gerechten Partei folgen müsse. Meine Uneigennützigkeit und mein Gewissen werden mich, wie ich hoffe, für dies Schicksal entschädigen können, das meiner wartet. Ich bin sehr vergnügt darüber, mit Ihnen während unserer Verbannung gelebt zu haben – ich danke Ihnen für alle mir erwiesenen Freundschaftsdienste und umarme Sie von Herzen. Leben Sie wohl.

Adam Lux.


Dieser Brief, in einer ruhigen Sprache geschrieben, legt die Motive der Handlung selbst in dem ungeschmücktesten Stile dar und trägt zu gleicher Zeit das vollkommenste Gepräge eines festen Charakters. Forster, der in dem nämlichen Hause mit Lux wohnte, erfuhr den Schritt des letzteren erst dann, als die erste Schrift schon dem Druck übergeben war, und las die zweite, bevor Lux dieselbe dem Buchdrucker zugeschickt hatte. Bekannt mit der damaligen Lage der Dinge, sah er wohl ein, daß die zweite Schrift von noch größerem Belang als die erste sei [70] und unvermeidlich unangenehme Folgen für Lux nach sich ziehen müsse. Er bot daher, allein vergebens, alle Mittel zur Überredung auf, um seinen Freund wenigstens zur Unterdrückung der letzteren zu bewegen: – Lux beharrte standhaft auf seinem einmal gefaßten Entschlusse – ›wenn die Wahrheit, erwiderte er, wenn die Gerechtigkeit unterliegen soll, so will ich wenigstens mit unterliegen.‹ Die Schrift wurde abgeschickt und, wie Sie wissen, gedruckt.

Was man erwartet hatte, geschah. Lux wurde in Verhaft genommen: ein Kommissär des Revolutions-Ausschusses der Sektion erschien mit der Wache, das heißt mit ein paar bewaffneten Bürgern, die sich frei glaubten und meistens unwissende Instrumente der Tyrannei waren. Er fragte Lux, ob er der Verfasser der beiden erschienenen Schriften sei. – ›Ja Kamerad, antwortete Lux, ich bin der Verfasser, und hier ist das einzige Exemplar, das ich noch davon besitze.‹ – Während der Kommissär mit dem Protokoll beschäftigt war, frühstückte Lux mit der größten Gelassenheit, und weit entfernt, daß der Gedanke, in den Händen der Inquisition zu sein, seinen Appetit verminderte, schien derselbe vielmehr dadurch vermehrt worden zu sein.

Man führte ihn in einer Kutsche vor den allergemeinsten Sicherheitsausschuß des National-Konvents. Nachdem man ihn lange genug in einem Vorzimmer hatte warten lassen, wurde er endlich zu den Inquisitoren eingelassen.

Der Kapuziner Chabot (der nämliche, der sich mit einem österreichischen Fräulein verheiratet hat) präsidierte damals das hohe Inquisitionstribunal der fränkischen Republik oder vielmehr der Bergfaktion. – Republikanischer Stolz, edle Entrüstung, die endlich in einen gerechten, allein gemessenen Zorn überging, dies waren die Antworten, die der deutsche Mann dem fränkischen [71] Lumpen gab. Chabot und seine Kollegen hatten nicht Lust, länger mit einem solchen Mann in Gesellschaft zu bleiben. Lux wurde ungesäumt in die Force abgeführt. Er lebte in dem Gefängnisse zum erstenmale in Gesellschaft, er traf hier Miranda, Montanié 1 und einige andere edle Republikaner an. In der Folge kamen Vergniaud, Valazé und einige andere dem Tode geweihte Deputierte hinzu.

Lux widmete, wie die meisten der anderen Gefangenen, den Vormittag der Lektüre. Vor dem Mittagessen versammelten sich alle in dem mit Alleen gezierten inneren Hof des Gefängnisses; man unterhielt sich hier mit vieler Freimütigkeit über die Zeitgeschichte und die Ereignisse des Tages, und hier war es, wo ich – Dank sei es dem Zufall, der mich begünstigte – mehr denn einmal in der Gesellschaft der edelsten Republikaner, die so zu sagen schon den Giftbecher von ferne sahen, ganze Stunden zubrachte.

Lux war von seinen Unglücksgefährten geschätzt und bewundert, das heißt er war schon auf Erden für dasjenige schadlos gehalten, was man im gewöhnlichen Leben Unglück nennt. Die Kerkermeister, die Gefängniswärter selbst waren über seinen stoischen Mut betroffen – keine Klage entschlüpfte seinem Munde, und jedes Verlangen, jede Forderung war von einer Würde begleitet, deren der freie Mann am wenigsten dann vergessen darf, wenn ihn die Sklaven in Fesseln halten.

Um einen Gefangenen besuchen zu können, mußte man von dem Revolutions-Ausschuß seiner Sektion einen Erlaubnisschein haben, den man alsdann auf dem Sicherheits-Ausschuß der Gemeinde unterzeichnen lassen mußte: – ich war damals schon wegen starker Verbrechen [72] als Feuillant von den einen, als Girondist von andern Dummköpfen denunziert – ich hütete mich also wohl, weder in die eine, noch in die andere dieser Banditenhöhlen zu gehen. Meine abgeschnittenen Haare, meine langen Hosen und meine Jacke waren, verbunden mit meinem jugendlichen Aussehen, hinreichend, um wenigstens nicht gleich von den Gefängniswärtern (die immer damit anfingen, den Erlaubnisschein zu fordern) zurückgewiesen zu werden. Als ich den Namen Lux nannte, verwandelten sich die finstern Züge des Concierge, und die hundert Riegel sprangen vor mir auf. Eines Tages fand ichLux mit dem Journal de la Montagne in der Hand sehr bewegt und beinahe entrüstet auf- und niedergehen. Ich wußte schon zum Voraus die Ursache. – Einer seiner Mitbürger, der durchaus Luxen aus dem Gefängnis retten wollte (G. Wedekind), hatte Lavaux, den Verfasser des Journals, dahin bewogen, einen Artikel in dasselbe zu Gunsten Luxens einzurücken. Man schilderte in demselben seine Verdienste um die Freiheit, schrieb seine große Handlung der Liebe fürCharlotte Gorday zu, die ihm den Kopf verrückt habe, suchte ihn also als einen Narren, der zur Zeit, als er seinen vollkommenen Verstand besaß, sich um die Republik verdient gemacht habe, aus dem Gefängnis zu befreien.

Lux verwarf mit Unwillen die Maske, weil Frankreich sich Republik nannte, weil er erklärter Republikaner war: was Brutus zu den Zeiten des Königtums für erlaubt hielt, würde er nicht mehr zu den Zeiten der Republik für erlaubt gehalten haben.

Montanié, Vergniaud und Miranda bestürmtenLux in meiner Gegenwart, die günstige Gelegenheit zu benutzen, und sich für bessere Zeiten aufzusparen – allein ihr Zureden war vergebens – Lux verwarf das Mittel und forderte Lavaux zum schnellen Widerruf auf – Lavaux [73] tat, was seine Pflicht war – er widerrief. In den letzten Monaten seiner Gefangenschaft wurden die Maßregeln so scharf, daß die Gefangenwärter ohne Erlaubnis durchaus niemand mehr einlassen durften – die Erlaubnisscheine selbst wurden äußerst selten erteilt. Ein günstiger Zufall machte es uns endlich möglich, einander Nachrichten von unserer Lage und Umständen zu geben. Lux schickte mir Briefe an seine Gattin und seinen Freund Vogt: er schickte sie mir oft; so wie ich sie bekam, gab ich sie nachher unserem gemeinschaftlichen Freund Forster, der eher als ich Gelegenheit hatte, sie an ihre Adresse zu senden. Aus dem Brief an den Professor Vogt erinnere ich mich noch einer Stelle, worin er seinen würdigen Freund bat, den Koadjutor von Dalberg seiner Achtung zu versichern – da ich nicht weiß, ob diese Briefe in einer Zeit, wo die Posten unter Aufsicht von 48000 Inquisitionsausschüssen standen, an ihre Adresse gekommen sind – so habe ich eine Sache nicht vergessen wollen, deren großen Wert die Philosophie des Herrn von Dalberg wird zu schätzen wissen. Der Brief an seine Gemahlin trug in jedem Wort das Gepräge der zärtlichsten Liebe des Gatten und – des Vaters.

Zehn bis vierzehn Tage waren vorüber, ohne daß ich Nachricht von Lux erhalten hatte: eines Tages las ich wie gewöhnlich das Abend-Journal, ich fand am Ende desselben den Artikel: Revolutions-Tribunal. Dieser Artikel enthielt diesmal die fürchterlichen Worte – Lux, Deputierter des rheinisch-deutschen Konvents ist um drei Uhr vor dem Tribunal erschienen – auf die Frage, ob er Verfasser der Schrift gegen die Revolution vom 31. Mai sei, antwortete er mit – Ja. Das Tribunal verdammte ihn als einen gegen dieFreiheit, das Volk und die eine und unzertrennliche Republik Verschworenen – zum Tod: Um fünf Uhr wurde der Mordspruch auf dem Revolutionsplatz vollzogen.

[74] In einer der in den letzten Dekaden herausgekommenen Schriften, die die Gefängnisgeschichte eines jungen Republikaners ist, finde ich folgende Stelle, die den braven Lux betrifft:

Adam Lux, merkwürdig wegen seines Charakters eines Deputierten der Stadt Mainz und seiner Bewunderung der außerordentlichen Corday, sah dem Tod mit dem höchsten Grad stoischer Ruhe entgegen. Er sprach gerade mit uns über die Gefahr der Leidenschaften und den Mangel der Beurteilungskraft, der eine feurige und unverdorbene Seele beständig über das Ziel hinausreißt, als man ihn rief, um ihm seinen Anklage-Akt zuzustellen: – er las ihn mit Kaltblütigkeit und steckte ihn mit Achselzucken in die Tasche.

›Hier‹, sagte er zu uns, ›mein Todesurteil. Dieses Gewebe von Abgeschmacktheit führt den Repräsentanten einer Stadt auf das Schafott, die mich abgeschickt hat, um Euer zu werden. Ich endige im 28. Jahr meines Alters ein elendes Leben; – morgen werde ich kalt wie dieser Stein sein! Allein sagt denen, die Euch von mir sprechen werden, daß wenn ich den Tod verdient habe, es nicht unter den Franken war, wo ich ihn empfangen sollte – sagt ihnen, daß ich seine Annäherung mit Ruhe und Verachtung gesehen habe.‹ – Er brachte die Nacht mit Schreiben zu, frühstückte mit Appetit, gab seinen Mantel einem unglücklichen Gefangenen, erschien um 3 Uhr vor dem Tribunal und war um 6 Uhr nicht mehr.

Im Original heißt es um 9 Uhr und 3 Uhr – allein es ist ein Fehler.

Ein braver Jüngling, der als 17jähriger Knabe der Bataille von Jemappe beigewohnt hatte, der Sohn meines Hausherrn, begegnete Luxen gerade, als er am Louvre vorüberfuhr – er kannte unsere Verbindung, und da er mich erst einige Minuten zuvor ununterrichtet von dem, was vorging, gesehen hatte, so folgte erLuxen bis an das [75] Schafott, und eilte, mir dann die schreckliche Nachricht mit allem, was er selbst gesehen hatte, zu überbringen.

Der Wagen fuhr diesmal, nicht wie sonst zu geschehen pflegte, durch die Honoré-Straße, sondern längs der Seine und der Mauer vom Garten der Tuilerien. Ich weiß nicht, ob, weil es schon spät war, oder weil die Mörder das Scheußliche ihrer Handlung zu sehr fühlten, um das große Opfer, das sie dem Despotismus brachten, zu sehr den Augen des betrogenen Haufens auszusetzen.

Mit Lux fuhr eine Frau. Er sprach ihr Mut bei, und hörte nicht auf, den Wenigen, die er auf seinem Wege antraf, den Namen der Volkstyrannen zu nennen. Er bestieg das Schafott wie eine Rednerbühne.«

Fußnoten

1 Miranda (General), einer der edelsten Republikaner Frankreichs, – man kann von ihm sagen: in utrumque paratus; Montanié, Präsident des ersten Revolutionstribunals.

Rückkehr meines Bruders Georg nach Ludwigsburg

Rückkehr meines Bruders Georg nach Ludwigsburg über die Schweiz

Um diese Zeit, wo der Kampf zwischen den Girondisten und den Bergmännern oder vielmehr dem Gemeinderat in Paris begann, warf sich mein Bruder Georg mit jugendlichem Ungestüm nach der Seite der Ersteren. Die Türen des Gefängnisses waren für ihn gleichsam schon geöffnet, als es ihm noch gelang, sich als Arzt des dänischen Krankenhauses halb und halb unter den Schutz der dänischen Gesandtschaft zu stellen. Als aber in den folgenden Monaten nach Camilles und Dantons Hinrichtung der Sturm ohne Schonung raste, erhielt er mit Hülfe des dänischen Predigers und eines Freundes, (den er in einem Schreiben an Reinhold »unsern ältern Bruder« nennt,) des nachmaligen Grafen Reinhard, Sohnes des württembergischen Dekans zu Balingen, einen Paß für die Schweiz. Reinhard, mit dem er später in die [76] innigsten Verhältnisse trat, war durch eine Reihe außerordentlicher Zufälle in das Departement der auswärtigen Angelegenheiten als Chef de Bureau geworfen worden. Mit Reinhards Paß kam er nun binnen drei Tagen beinahe nackt und entblößt von allem Geld in der Schweiz an, von Reinhard, der die Schweiz unter sich hatte, an Bacher und Barthelemy, die französischen Geschäftsträger, empfohlen. Er fand, wie er sich ausdrückte, hier Gelegenheit, der Sache der Freiheit auf fremdem Boden zu dienen, während sie im Innern Frankreichs von den wildesten Tollköpfen täglich gemordet wurde.

Es wurde ihm aber sein Aufenthalt in der Schweiz durch die Parteisucht, die auch hier schon wütete, sehr unangenehm gemacht. Freund der republikanischen Freiheit, wurde er auch hier von den Aristokraten aufs Bitterste verfolgt, und Feind der Bluthunde, war er von den wilden Demokraten eben nicht geliebt. Die Zahl der gemäßigt Denkenden war auch in der Schweiz klein und sie waren überdies noch furchtsam und schwach. Als einen Proskribierten könnten ihnBacher und Barthelemy nur schwach beschützen.

So durfte er nur wenige Tage in Basel verbleiben. Zu Zürich erhielt er mit Mühe die Erlaubnis, auf drei Monate in einem Privathause sich aufzuhalten. InWinterthur begehrte man auf Anstiften von Züricher Aristokraten einen württembergischen Paß von ihm.

Dazumal war der 10. Thermidor schon vorüber, die französischen Heere flogen von einem Siege zum andern. Freunde drangen in ihn, nach Württemberg zu reisen, und auch er hatte die allen Württembergern eigene Sehnsucht nach seinem Vaterlande, die ihn wohl noch stärker dahin trieb, als der Gedanke, den er sich immer vorspiegelte, auch hier der Sache der Freiheit dienen zu können. Zu Fuße, mit höchst beschränkten[77] Mitteln, unternahm er nun die Reise nach Ludwigsburg. Der Vater empfing ihn, wie zu erwarten war, sehr kalt. Dagegen fand er, selbst bei einigen Räten des Herzogs, Wohlwollen und Gehör, was Eifersucht und Argwohn erregte. Mit Vorwissen des Herzogs empfing ihn der Geheimsekretär desselben, HerrSchwab, der bei dem Herzog als ein sehr rechtschaffener Mann viel Gewicht hatte, und besprach sich mit ihm, als einem Wohlunterrichteten, über die Zustände Frankreichs, die Folgen seiner Revolution usw. Da er aber zum Anschlusse an Frankreich riet, und auf die Frage: »ob es denn nicht möglich sei, daß der Konvent an die Stelle Ludwigs XVI. seinen Sohn als Ludwig XVII. auf den Thron setzen könne?« lachte, und auf die Sonne deutete und fragte: ob diese sich wohl freiwillig in den Mond verwandeln würde? erkannte man allerdings mit Schrecken, woher er kam, und wie weit es mit diesem ehemaligen Ludwigsburger gekommen.

Demgemäß erschien auch schon nachmittags nach dieser Unterredung im Auftrag des Herzogs eine Emigrantin, die Gräfin Malchewska (die öfter Botschafterstelle beim guten Herzog vertrat), bei meinem Vater und brachte ihm bei, daß der Herzog nur aus Schonung für ihn seinem Sohne im Stillen den Befehl erteilen lasse, so bald als möglich wieder über die Grenze zu gehen. Es erfolgte kein Abschied von dem Vater mehr.

Kaum gewann meine Mutter noch Zeit, dem Sohn Kleider und Weißzeug auszubessern. Mit einer kleinen Summe Geldes, das die Mutter ihm ohne Wissen des Vaters zusteckte, trat er die Fußreise gegen die Schweiz an, aber als er nach Aldingen, in die Gegend von Balingen kam, befand sich dort ein österreichischer Kordon, welchem er verdächtig erschien. Dieser nahm ihm seine Papiere ab, die allerdings von der Art waren, daß sie seine Lage sehr erschwerten. Er wurde nun ins Gefängnis [78] gebracht, wahrscheinlich zu einem schmählichen Tode bestimmt, da erschien in der Mitternacht der Schultheiß des Orts, er hieß Meßner, im Gefängnis. Er hatte Kleider eines Mädchens aus derBaar, blauen Rock, rote Strümpfe und eine Haube für ihn mitgebracht, gab ihm einen Korb auf den Kopf und hieß ihn so aus dem Gefängnis mit nach Hause gehen. In diesem Anzug setzte er noch vor Tagesanbruch in Begleitung eines Knechts des Schultheißen seine Reise durch die österreichischen Truppen bis zu einem benachbarten Orte, wohin sie sich nicht mehr erstreckten, fort, und so kam er nun bald über die deutsche Grenze in die Schweiz. Nach kurzem Aufenthalt daselbst kam er zu Anfang Januars wieder in Paris an.

Korrespondenzen, die er nach Hamburg und in Usteris politische Monatsschrift einschickte, beschäftigten und unterhielten ihn. Er wohnte den bekannten Bewegungen bei, die im Frühling und Sommeranfang statthatten. Am 1. Prärial fiel er beinahe unter dem Mordstahl eines irregeleiteten Volkshaufens und entrann nur mit Mühe der Gefahr. – Von seinen späteren Schicksalen wird noch die Rede sein. Die hier erzählten fielen in mein frühes Knabenalter, in die Zeit wo ich oft, im Schlafzimmer meiner Eltern liegend, sie noch in stiller Nacht mit Sorge von diesem meinem der Heimat ungetreuen Bruder reden hörte, dessen Schicksale sich meiner jugendlichen Phantasie in bunten Farben einprägten.

Mein Bruder Louis

Das Wesen meines zweitältesten Bruders Louis war eine unsägliche Gutmütigkeit. Er war wie der Bruder Georg, [79] schnell aufbrausend, aber sein Feuer zündete nicht, er war zu gutmütig und zu ängstlich. Er hatte das Gemüt der Mutter seiner eigentlichen Natur nach. Mit diesem wollte er am schlüpfrigen Freiheitsbaume der neunziger Jahre hinauf, aber es fehlte ihm die Leichtigkeit des Bruders Georg, er glitt bald wieder herunter, was oft komische Szenen veranlaßte. Er war klein wie der Bruder Georg und die Mutter, war aber bei seiner Kleinheit korpulent und hatte nicht Georgs feine Vogelknochen, auch nicht dessen Flügel zum Aus- und Aufflug.

Es trieb ihn immer eine innere Unruhe und Unzufriedenheit, aber er konnte nichts zur eigentlichen Ausführung bringen. In eine Schreckenszeit taugte er nicht, und doch trieb es ihn immer zu ihr hin, wie den Schmetterling zum versengenden Lichte. Er hatte das Studium der Theologie kaum im Stifte zu Tübingen angetreten, als es ihm beifiel, der Stand eines Kaufmanns sei doch ein glücklicherer, freierer, als der eines Pfarrers, und so erklärte er in der ersten Vakanz dem Vater in Ludwigsburg, er wolle Kaufmann werden.

Nun ja, sagte mein Vater, ich will dich die Probe machen lassen, und unser braver Nachbar und geschickter Kaufmann, Herr Sprößer, soll dich mit in die große Handelsstadt Frankfurt nehmen, wohin er jetzt zur Osterzeit auf die Messe reiset; da beschau dir denn auch vorher das Leben eines kaufmännischen Lehrlings, denn damit mußt du doch erst den Anfang machen; gefällt dir solches, kannst du sogleich dort bleiben. Herr Sprößer nahm nun den Bruder Louis um diese Zeit mit sich nach Frankfurt. Die Reise gefiel ihm gar sehr und auch die Stadt Frankfurt. Nun führte aber Herr Sprößer, welcher die geheimen Gesinnungen meines Vaters in dieser Sache wohl wußte, ihn in eine enge finstere Gasse. Dort stand ein kleines Haus, das am Fenster im Erdgeschosse heraushängende Heringe und Tabacksrollen als die Wohnung [80] eines Spezereihändlers bezeichneten. Hier müssen wir hinein, lieber Herr Louis, sagte Herr Sprößer: denn da wird, wie ich so eben im Gasthofe zum Weidenbusch im Frankfurter Anzeiger las, ein tüchtiger junger Mensch in die Lehre gesucht. Und da gehe ich nicht hinein, sagte Louis. Nun, es ist kein Muß, daß Sie dann bleiben sollen, erwiderte Sprößer, sehen Sie sich die Sache nur einmal an; ich habe mit dem Herrn ein kleines Geschäft abzumachen, er hat auch einen Lehrling aus Ludwigsburg, den ich ihm vor einem Jahr zusandte und der bald aus der Lehre treten wird; es ist ein junger Blaufelder, den Sie ja wohl noch kennen werden, und da unterhalten Sie sich mit ihm, bis das Geschäft abgetan ist. Hat Herr Speck noch nicht zu Mittag gegessen, so speisen wir mit ihm.

Dem guten Louis war da der Mut, den Stand eines freien Kaufmanns zu wählen, schon sehr gefallen, aber er fiel bald noch tiefer. Herr Speck war gerade im Begriff zu Tische zu gehen und lud Herrn Sprößer und seinen Schützling dazu ein. Da kam auch der Lehrling Blaufelder, ein alter Schulkamerad desLouis, aber nicht als Tischgenosse, sondern er stellte sich demütig hinter den Sessel des Herrn Prinzipals und servierte in aller Unterwürfigkeit, hatte auch nicht das Herz in Louis seinen alten Kameraden zu begrüßen, – das geschah erst, nachdem das Essen vorüber, die Herren sich entfernt und er das Speisegeräte wieder abgetragen und den Tisch in Ordnung gebracht hatte. Da erfuhr nun auch Louis von ihm, wie hart seine Lage, und sah es an den hochaufgeschwollenen, roten, mit offenen Frostbeulen besetzten Händen, und als er ihm des Herrn Speck lackierte Stiefel zeigte, die er jeden Morgen zu glätten, und die Salz- und Farbfässer, die er auszuklopfen hatte, – so nahm der guteLouis, noch während Herr Sprößer sein kleines Geschäft mit Herrn Speck im Komtoir abmachte, den Reißaus, wanderte über die Mainbrücke ohne Sack und Pack mit [81] ein paar Gulden in der Hosentasche, und kam zwei Tage früher als Herr Sprößer zu Fuß und ganz erschöpft, unter den Arkaden zu Ludwigsburg an. Den ersten Hunger ließ er sich von dem Hökerweibe, das immer der Oberamtei vis à vis an der Bischöfischen Apotheke mit Bäckerwaren und Obst saß, auf Rechnung der Mutter stillen, und wollte lange sich vor dem Vater nicht zeigen, als ihn die vorübergehende Frau Bürgermeister Kommerell erblickte, ihn über seine Reise verhörte und die ganze Geschichte nun eilends dem Vater hinterbrachte, der über den Erfolg, den er bezweckt hatte, sehr froh war und nur den Herrn Sprößer bedauerte, von dem schon ein lamentabler Brief vorausgeeilt war, mit der Nachricht, daß ihm der Herr Louis in Frankfurt auf einmal entkommen sei.

Die Vakanz war gerade aus, und Louis kehrte mit den besten Vorsätzen wieder in das Stift nach Tübingen zurück. Von da an sprach er auch nicht mehr davon, das Studium der Theologie verlassen zu wollen, bis durch die immer größer werdende Aufreizung, die die französische Revolution dazumal in alle Gemüter, besonders auch in die der Jugend brachte, ein neuer Aufruhr in ihm entstand.

Er war von Bewunderung seines Bruders Georg stets durchdrungen, staunte ihn hoch an und wünschte nur immer, auch ein freier Weltbürger werden zu können. Er schrieb ihm oft nach Paris und klagte über den Vater, der den Geist der Zeit nicht zu fassen wisse. »Hier im Stift (schrieb er ihm) wird die ganze Größe der französischen Revolution schon lang begriffen. ›Die Erde rauche von Tyrannenblut‹, das ist aller Losung; in dreifarbigen Kokarden reisen wir in die Vakanz, und ›vive la liberté!‹ ruft der eine, begegnet er dem Freunde, und dieser antwortet: ›vive la Nation!‹« Dem Vater aber schrieb er: »In dem Kerker dieses theologischen Stiftes schmachte ich nicht [82] länger mehr. Die Zeit ist herangekommen, wo ein jeder ein freier Weltbürger ist. Ich habe mir einen Büchsenranzen gekauft, in diesen werde ich Kants Schriften packen und mit ihnen nach Paris wandern. Haben Sie was dagegen, so verstehen Sie den Zeitgeist nicht. Vive la liberté, vive la Nation!«

Die Antwort des Vaters war: »Du bist ein lächerlicher Junge. In Paris würde es Dir ergehen, würdest Du die Köpfmaschine sehen, wie es Dir in Frankfurt erging, als Du Herrn Specks schmutziges Ölfaß sahest. Jedenfalls meine ich, Du solltest, ehe Du inParis einziehest, auch noch etwas mehr Französisch lernen als: vive la liberté, vive la Nation! und dabei würde ich den Kant lieber zu Hause vornehmen: denn in Paris möchten sie Dir keine Zeit dazu lassen und Dir Deinen leeren Kopf noch, ehe er sich mit HerrnKant angefüllt, herunterschlagen. Du bist ein fauler Geselle, der keine harte Bretter bohren will. Den Büchsenranzen, den Du erkauft, will ich bezahlen, lege Dir ihn jetzt nur beim Studieren als das fehlende Sitzleder unter.« Das war eine Abkühlung, deren der gute Louis aber nicht bedurft hätte, denn es war mit der Wanderung nach Paris nicht so ernst. Noch ehe der väterliche Brief an ihn kam, hatte ihn die gute Mutter bereits wieder durch eine Sendung Kuchen fürs schwäbische Vaterland gewonnen. Wie er sich durch das Älterwerden abkühlte und ein sanfter Hirte christlicher Herden wurde, auch geliebt von allen, die ihn kennen lernten, wird man später erfahren.

[83] Mein Bruder Karl

Mein Bruder Karl, geboren den 7. März 1775, kam in seinem zwölften Jahr in die Karlsakademie und zwar zum Studium der Militärwissenschaften bestimmt, bei welchem er fest und treu verblieb. Er war von großem schlanken Körperbau mit einem schönen Ebenmaß im Gesichte und einer Würde ohne Steifheit in seinem ganzen Betragen. Sein fleißiges Studium der Militärwissenschaften, besonders aber der Mathematik, gab ihm mehr Ruhe, Ernst und Besonnenheit. Wie bei den meisten Schülern der Karlsakademie, bemerkte man auch an ihm vielseitige Bildung.

Wie die Mathematik in alles Wissen eingreift, so ging er auch an ihrem Faden allem Wissen nach, und so bildete er sich nicht bloß zum Kriegsmanne, sondern auch zum Mechaniker, zum Bergmanne, zum Ökonomen und zum Staatsmanne aus, worauf ich später zurückkomme. Nach dem Tode Herzog Karls löste sich die Karlsakademie auf, denn sie konnte auch nur durch und mit ihrem Schöpfer bestehen, der mit Leib und Seele ihr eigener Direktor war. Die Lehrsäle wurden Stallungen und: »Olim musis nunc mulis!« schrieb ein Satiriker an ihre Tore.

Die Zöglinge, die sich bei ihrer Aufhebung noch in ihr befunden hatten, wie mein Bruder Karl, zerstreuten sich nun in alle Welt, und mein Bruder kam zur Fortsetzung seiner militärischen Studien nach Darmstadt, wo er den Unterricht alter erprobter Ingenieure genoß. Am 1. Oktober 1794 trat er als Unterleutnant in die herzoglich-württembergische Artillerie. – So viel von meinen Brüdern aus den Jahren neunzig und etlich und neunzig.

Die französischen Emigranten in Ludwigsburg

[84] Die französischen Emigranten in Ludwigsburg und mein weiteres Knabenleben daselbst

Bald nach Herzog Ludwigs Tode wurde Ludwigsburg eine Zeit lang durch eine Menge französischer Ausgewanderter wieder lebhaft. Es befanden sich unter ihnen viele in ihrem Vaterlande einst hochgestellte Männer und Frauen.

Nach und nach erschienen in Ludwigsburg und in Stuttgart Prinz Condé, Prinz Conti Duc de Bourbon, Duc d'Enghien (der im Jahre 1804 in Ettenheim verhaftet und in Vincennes erschossen wurde), eine Duchesse de Liancourt, eine Äbtissin von Nemiremont, ein himmellanger Mann, von dem es hieß, er sei der Erzbischof von Paris, mit einem Zuge von Geistlichen und Pfaffen, Graf Artois, Comte Castelneau. Dieser lebte lange in Ludwigsburg und kehrte nach Zernichtung der Emigrantenliste in sein Vaterland zurück. Charles Droullin, der unter dem Namen Jonque Unterricht in der französischen Sprache erteilte, GrafGroßorti, ein Mann von ausgezeichneter Schönheit, der im österreichischen Regimente Hohenzollern Kürassierdienste nahm, Abbé Colle und Abbé Noussel aus Metz und Nancy, die die Ludwigsburger Jugend auch in der französischen Sprache unterrichteten.

Im April (1793) logierte Philipp Egalité der Jüngere (Exkönig Philipp) mit General Dumouriez einige Tage zu Ludwigsburg im Gasthofe zur Kanne. Alles lief dahin sie zu sehen. Sie wollten den Herzog zu Hohenheim besuchen, der sie aber aus Furcht vor den damaligen Machthabern Frankreichs nicht annahm. Mein Vater hatte mit ihnen, da er der französischen Sprache sehr mächtig war, besonders aber auch als Oberbeamter, vielen Umgang.

[85] Ich erinnere mich noch mancher schönen Frauengestalt aus jener Zeit, die unser Haus besuchte, die freundlich gegen mich, den Knaben war, deren Mienen wohl, aber deren Sprache ich nicht verstand.

Vor allem blieb mir ein Mädchen von ungefähr sieben Jahren im Gedächtnis, das die feinsten Züge an sich trug, immer ganz weiß gekleidet war und ein schwarzes Samtkäppchen auf den blonden Haaren trug. Eine schwarz gekleidete Dame war seine Begleiterin. Ich wurde öfters zu ihnen geschickt, sie aus dem Gasthofe, in dem sie wohnten, ins elterliche Haus zu rufen, was mir immer Freude machte. Aber bald durfte ich dieses nicht mehr. Das Mädchen war vom Scharlachfieber befallen worden und in wenigen Tagen eine Leiche. Meine Betrübnis war sehr groß, und ich blickte den Blumen, die die Mutter ihm zu seinem Sarge sandte, mit Tränen nach, weil man mich nicht mit ihnen gehen ließ.

Dieses weiße Mädchen ist mir oft später noch in Träumen ganz wie es lebte vorgekommen, und hat für mich heute noch etwas mysteriöses Heiliges. Noch erinnere ich mich einer Gräfin Bouaclareau. Diese wohnte in dem väterlichen Hause unseres Dichters Eduard Mörike, der Kanne gegenüber, spielte die Harfe und begleitete sie oft noch in stiller Nacht mit den Tönen eines klagenden, tief eindringenden Gesanges. Da war unser Dichter noch nicht geboren, mich aber zog damals als Kind die romantische Erscheinung dieser Frau und ihres Gesanges oft zum Hause seiner Geburt hin. Die Emigranten hatten ein eigenes Spiel mitgebracht, das bald in ganz Ludwigsburg und Stuttgart zur Mode wurde; das waren die sogenannten Joujous, Rädchen, die durch eine geschickte Schwingung an einer seidnen Schnur auf und ab liefen. Auf allen Spaziergängen begegnete man Herren und Damen, die dieses Spiel trieben, ja, selbst aus den Fenstern der Häuser rollten diese Rädchen auf und nieder. [86] Man sah sie von Holz, von Elfenbein, von Stahl; und es wurde sogar zuletzt ein Luxus mit in sie eingelegten Steinen und andern Verzierungen getrieben. Dies war nun auch ein erwünschtes Spiel für uns Kinder und blieb mir eine so liebe Erinnerung, daß ich noch jetzt im 60. Jahre einen Joujou mit Vergnügen auf und nieder treibe. Der Aufenthalt vieler reicher Emigrés zog damals auch manche Schauspieler und Künstler, wie z.B. auch Seiltänzer, englische Reiter und einen Besitzer komödiespielender Hunde herbei. Diesem Manne wurde das Theater im Schlosse eingeräumt, und wir Kinder vergnügten uns am Spiele dieser Tiere natürlich viel mehr, als an dem der belobtesten Schauspieler; ja, es kam durch die lange Anwesenheit dieser Hundekünstler so weit, daß die Kinder zu Hause und unter den Arkaden des Marktplatzes und in den Alleen wie jene Hunde gingen, tanzten und bellten, und ihnen noch lange diese Unart, trotz aller Rüge der Eltern und Schullehrer, blieb. Ein Fremder, der damals nach Ludwigsburg kam, ohne die Veranlassung zu solcher Gewohnheit der Kinder zu wissen, muß geglaubt haben, es bewohne diese Stadt ein Völklein von ganz eigener Abstammung.

Auch Aventuriers versuchten in jener Zeit in dieser Stadt ihr Glück – und es ist jetzt unbegreiflich, aber gewiß, daß einmal ein solcher mit der Annonce erschien: er werde auf den Abend im Schloßtheater ein Kanonenkonzert geben. So viel ich mich erinnere, spiegelte er vor: durch Losschießen kleiner Kanonen von verschiedenem Kaliber Melodien hervorzubringen. – Alles strömte in das Theater, und der Künstler sammelte ein gutes Entrée ein. Als man ins Parterre und in die Logen trat, war natürlich der Vorhang noch gefallen, allein er zog sich nie auf; der Betrüger war mit der Kasse bereits über die Mauern der Stadt, bevor die Menge einsah, daß sie wirklich betrogen worden. Ein redlicherer Unterhalter des Publikums war [87] damals ein Herr Enslin, welcher seine kunstreichen Automaten aufs Theater brachte und in dem Schloßgarten Ritter auf Rossen und eine ganze wilde Jagd von Tieren und Jägern sich in die Luft erheben und unter den Wolken verschwinden ließ. Noch erinnere ich mich auch aus dieser Zeit eines armen Emigrierten, welcher nebst andern Kunstgebilden, die er selbst verfertigte, eine Dose vorzeigte, unter deren überglastem Deckel zwei sich bewegende, ganz wie lebendige, Figürchen sich befanden; es war ein junges Mädchen, welches von dem weißen Barte eines alten Einsiedlers herabspann. Das Bildchen sah unsäglich fromm aus und blieb mir bis heute noch ganz farbig im Gedächtnisse.

Weiteres Leben um jene Zeit

Meine drei Brüder, die sich nun alle auswärts befanden, sah ich wenig mehr, dagegen war meine jüngste Schwester Wilhelmine, die aber auch einige Jahre älter war als ich, meine Gespielin und Teilnehmerin an meinem Unterricht. Den Unterricht in der deutschen Sprache gab uns ein langer alter Schullehrer. Er hieß Wetzel und erteilte auch damals unserm jetzigen König und seinem Bruder, dem Herzog Paul, den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben.

Ich erinnere mich noch lebhaft seines schwarzlackierten hohen Stockes mit silbernem Knopfe und langer schwarzer Quaste, und von dem Weine, den man ihm jede Stunde in einem mit Brot bedeckten Glase auf den Tisch stellte, habe ich noch jetzt den Geruch, wie aber der Geist seines Unterrichts war, weiß ich nicht mehr.

Ein alter Oberforstmeister von Stetinkh bewohnte in einem, eine halbe Stunde von Ludwigsburg gelegenen [88] Lustwalde, dem sogenannten Osterholze, ein Forsthaus.

Dahin machten wir öfters in Begleitung meiner Eltern Spaziergänge. Er hatte eine Tochter vom gleichen Alter meiner jüngsten Schwester, die mit ihr innige Freundschaft hielt. Da sie keine Mutter mehr hatte (dieselbe lebte getrennt von ihrem Manne), blieb sie oft Wochen lang bei uns. Von diesem Osterholze ist mir noch eine Begebenheit erinnerlich, die ich meinen Vater öfters erzählen hörte:

Ein Oberst von Dedell war unser Nachbar und pflegte oft mit meinem Vater Spaziergänge zu machen.

Einmal ging er mit ihm in Begleitung jenes Forstmeisters im Osterholze spazieren, der Forstmeister wollte ihnen eine besonders schöne Buche zeigen, die Tags darauf gefällt werden sollte. Bedeutungsvoll blickte Herr von Dedell an dem Baume auf und nieder, und sprach mit einem besondern Ausdruck: »Schade, daß dieser Baum fallen muß!«

Der Forstmeister und mein Vater vertieften sich hierauf im Weitergehen in ein Gespräch, und vermißten ihren Begleiter nicht, bis sie einen Schuß vernahmen. Er hatte sich ohnweit jenes Baumes im Dickicht des Waldes eine Kugel vor den Kopf geschossen. Sein Anblick war herzzerreißend. Der Grund seines Selbstmordes soll hauptsächlich Vermögenszerrüttung gewesen sein.

So oft ich mit meiner Schwester und dem Fräulein vom Osterholze (so nannte man die Tochter des Oberforstmeisters) in jenem Walde spielte oder Blumen suchte, gingen wir mit Schauder schnell an jener Stelle vorüber, wo der Unglückliche den Tod fand, die ein Baum, in den ein Kreuz geschnitten war, bezeichnete.

Es hatte aber auch diese Waldanlage ohnedies etwas Unheimliches, Schauderhaftes. Mitten in ihr, in großer Verlassenheit, steht ein Schlößchen, das schon damals in [89] seinem Innern sehr öde und zerfallen war. Wir öffneten seine Türen stets mit Schauern. Gemeiniglich von Fledermäusen und Eulen zurückgeschreckt, verließen wir es schnell wieder und befürchteten, es folge uns etwas Gespenstisches aus ihm nach.

Von dem Osterholze aus besuchte ich auch oft mit meinem Vater und meinen Schwestern die Feste Asperg.

Das Merkwürdigste war mir daselbst des Dichters Schubart Gefängnis. Es stand auf dem höchsten Punkte dieses Berges 1128 Fuß über der Meeresfläche und heißt das Belvedere, denn die Aussicht auf ihm ist prachtvoll. Der größte Teil Württembergs, besonders die Gefilde des untern Neckars mit ihren Städten, Dörfern und Burgen liegen hier im schönsten Lichte ausgebreitet. Der arme Sänger saß tief unten in einem kleinen Gewölbe, wo nur wenig Licht und Luft, jedenfalls keine Aussicht ins Freie war.

Welche Tantalusqual müssen für ihn die Ausbrüche von Bewunderung und Freude der Besucher dieses Belvederes über ihm beim Anblick dieser schönen Natur gewesen sein, drangen sie zu ihm hinab in den dunkeln verlassenen Kerker, in welchem er so viele Jahre lang saß.

Der nachherige König Friedrich (damaliger Erbprinz) bewohnte ein eigenes Palais in Ludwigsburg, das nun das Museums-Gebäude ist. Seine zwei Söhne, Wilhelm und Paul, wurden bei und von ihm erzogen, und er schien gegen sie ein so strenger Vater gewesen zu sein, als der meinige gegen meine ältern Brüder war.

Meinen Vater schätzte er als Mensch und Beamten sehr, und ich wurde öfters als Gespiele zu den Prinzen in den Garten an ihrem Palais gerufen. Ich erinnere mich, daß ich im Spiele mit ihnen öfters, wie sie auch, bald den Kutscher bald das Pferd machte.

Das von Mauclersche Haus und das meiner Eltern stand damals auch in Freundschaft mit einander. Der ältere [90] Sohn war schon bei Errichtung der jungen Landmiliz manchmal mein Exerziermeister gewesen. Lange konnte ich nicht begreifen, was rechts und links sei, bis er mir, um es mir recht ins Gedächtnis zu prägen, von meinen Spielsachen ein Dächlein auf den rechten Arm und ein Häuslein auf den linken band.

Es war dies der nachmalige Minister-Präsident. Seinen jüngern Bruder traf ich zu Tübingen wieder. Er hielt sich damals als junger Forstbeamter zu Bebenhausen auf, war ein gemütlicher herzlicher Mensch, dessen trauriges Verhängnis und Tod mir große Schmerzen machte.

Wie es eines besondern Mittels bedurfte mir einzuprägen, was links und rechts sei, so war auch alles Lernen für mich in früherer Jugend sehr schwer, und immer überwog das Gemütsleben das Intellektuelle in mir. Auch sonderbare Vorurteile, die der Verstand leicht hätte bezwingen können, prägten sich mir oft lange und fest ein. So hatte ich einen Kameraden, den ich herzlich liebte; er war der Sohn eines Malers Perneaux aus der herzoglichen Porzellanfabrik. Ich kam oft in seine Wohnung, die nächst der Oberamtei war. Die Verfertigung der nachher so berühmt gewordenen Porzellanfigürchen, mit deren Modellierung und Malerei sein Vater und seine Brüder sich beschäftigten, bannte mich oft Tage lang in sein Zimmer; aber hätte ich daselbst auch den größten – Hunger und Durst erlitten: ehe ich etwas aus diesem Hause getrunken oder gegessen hätte, wäre ich lieber gestorben; denn ich wußte, daß die Leute katholisch waren, worunter ich mir etwas ganz besonderes dachte, ohne daß ich von meinen Eltern je gelernt hätte ein solches Vorurteil zu hegen. Und doch war mir nichts anziehender als die katholische Kirche im Schlosse, die sich oft besuchte und es immer darauf einzurichten wußte, daß mich der Geistliche im Vorübergehen gewiß mit dem Wasser des Weihwedels besprengte, obgleich [91] ich das Wasser in jenem katholischen Hause nicht trinken wollte.

Einen langen alten Sprach- und Fechtmeister, einen katholischen Franzosen, Namens Martel, der in der Stadt kein Fortkommen mehr fand, hatte mein Vater mit Sack und Pack ins Haus aufgenommen. Er war einst Leibgardist unter Ludwig XV. Meinen Brüdern erteilte er in den Vakanzen Unterricht im Fechten und in der französischen Sprache. Er wurde bald sehr elend und altersschwach. Nächtlich verfiel er oft in Träume aus seiner vergangenen Zeit, stand als schlafwach auf, kleidete sich an, nahm seinen Degen und postierte sich mit solchem, im grauen Schlafrocke, hoher Zipfelkappe, eine lange, abgezehrte graubärtige Gestalt, wachestehend vor die Türe seines Zimmers; wie er es in vergangener Zeit im Schlosse zu Versailles tun mußte, und so fand man ihn eines Morgens mit dem Degen in der Hand, vor der Türe tot.

Mein Vater ließ auf seinen Sarg seinen Degen und zwei Lilien aus unserm Garten legen, und wohl erinnere ich mich seines Leichenbegängnisses nach damaliger Weise, bei der Nacht mit Fackeln.

An den Lehrern der lateinischen Sprache, die damals in Ludwigsburg waren, konnte man wenig Lust haben (Schillers Lehrer, Jahn, unterrichtete damals nur ältere Knaben), sie waren höchst pedantische Menschen, mit schmutzigen baumwollenen Kappen und langen Haselnußstöcken, deren Bemeisterung ich durch Lug und Trug zu entgehen suchte. Dabei wurde natürlich wenig gelernt. Mein Vater wußte das wohl, aber seine Strenge schien sich an meinen Brüdern gebrochen zu haben, er übte gegen mich keine mehr, liebkoste mich und seufzte. An den Abenden, wo uns das Christgeschenk zuteil wurde, das oft sehr reichlich in seiner hellen Beleuchtung ausfiel, wo alles sich der Freude hingab, setzte sich mein [92] Vater gemeiniglich im einsamen Zimmer in seinen Lehnstuhl und war sehr traurig. Es ist eigen, daß mich das gleiche Gefühl an den Freuden desselben Abends, durch mein ganzes Leben immer auch befiel. Mein Vater war Freimaurer und hielt auf diese Verbrüderung. Es war in unserem Hause ein eigenes Zimmer, das zur Freimaurer-Loge bestimmt war, man hielt es vor uns Kindern immer sehr verschlossen. Ich merkte aber bald eine Heimlichkeit und sah oft durch das Schlüsselloch und die Spalten der Türe; da sah ich Meublen, wie wir sie sonst nicht im Hause hatten. Es waren weißlackierte Sessel mit Armen, sie waren mit himmelblauer Seide gepolstert und hatten goldne Borten und Franzen. In der Mitte des Zimmers stand ein runder weißer Tisch mit schwarzer Marmorplatte, worauf ein Totenkopf und ein Winkelmaß lag, auch einen besondern Sitz, ebenfalls himmelblau, über den eine himmelblaue Draperie mit goldnen Franzen hing, bemerkte ich. An der Wand sah ich ein Schurzfell von weißem Leder, worauf allerlei schwarze Zeichen gemalt waren.

So mysteriös, wie dieses Zimmer, doch ganz feenartig und wunderbar, kam mir als Kind das damals noch stehende, aber ganz verlassene und verschlossene ungeheure Opernhaus vor, das Herzog Karl mit unsäglichen Kosten und in ungeheurer Eile zu seinen großen Opern und Festzügen, in welchen ganze Regimenter zu Pferd über die Bühne zogen, dahin erbauen ließ, wo in den sogenannten Anlagen hinter dem Schlosse jetzt der Spielplatz ist. Es ist bekannt, daß dieses wohl das größte Opernhaus in Deutschland war. Es war in seinem ganzen Innern völlig mit Spiegelgläsern ausgekleidet, alle Wände, alle Logen mit ihren Säulen waren von Spiegelgläsern. Man kann sich den Effekt eines solchen Hauses im Glanze der vielen hundert Lichter wohl kaum denken. Ich sah es natürlich nie in seiner Beleuchtung, sondern [93] geradezu immer nur bei verschlossenen Türen und Läden, wo aber seine Wirkung für die Phantasie eines Knaben gewiß noch viel wunderbarer und zauberhafter war.

Trat man hinein, so sah man sich, wenn auch im Dämmerlichte, viel hundertmal wieder und man glaubte auf einmal das ganze Theater von seinem eigenen Ich bevölkert zu sehen. Oft drang nach dem Zuge der Wolken von außen wieder ein heller Sonnenstrahl durch die Ritzen und Spalten der Türen und Läden; dann widerstrahlte das Haus oft in Farben des Regenbogens oder entstand sonst eine magische Beleuchtung.

Dabei standen noch aus alter Zeit halbzertrümmerte Bilder von Ritterrossen, Elephanten und Löwen umher. Oft flohen wir, durch all diese Erscheinungen im Innern dieses Zauberhauses fast zur Verwirrung gebracht, schnell hinaus an den hellen klaren Tag. – Ich glaube, daß es das Jahr 1800 war, wo dieses Riesengebäude seiner Größe und Baufälligkeit wegen völlig abgebrochen wurde und später die jetzigen Anlagen (königliche Schloßgärten) seine Stelle einnahmen.

Mein Vater war ein großer Freund der Baumzucht. Abends nach des Tages Mühe und Last eilte er meistens in seine Gärten. Ein kleiner Garten war hinter der Oberamtei, in welchem ich auch ein Plätzchen zum Anbau bekam. Ich erinnere mich aber nicht, daß ich es mit Blumen bepflanzte, sondern immer mit Salat. Einen großen Garten als Eigentum besaß mein Vater eine Viertelstunde vor der Stadt, vor dem Tore, das auf die Solitude führt, in dem sogenannten Lerchenholze. Dahin wanderte ich oft abends zwischen den herzoglichen Gewächshäusern und dem See hin, und hielt mich da oft, während der Vater vorausging, nach den Orangebäumen und Blüten durch die Fenster schauend, zurück, oder sah ich dem in dem See schwimmenden Geflügel zu.

[94] Der Garten war mit einer großen Mauer umgeben und enthielt Baumschulen und Bienenhäuser.

Sobald mein Vater da ankam, legte er Hut und Stock in dem kleinen Gartenhause nieder, zog seinen Rock aus und eilte mit Messer und Säge versehen zu seiner lieben Baumpflanzung. Hier wurde nun alles aufs genaueste in Ordnung gebracht, gebunden und mit großer Strenge beschnitten. Bäume, die im Wachstum sich krümmen wollten, waren ihm ein Greuel, alles mußte aufrecht und in gerader Linie stehen. Man sah in diesem Tun und Lassen, in diesen Pflanzungen ganz seine Liebe zur Ordnung und strengen Zucht. Durch Inokulation und Impfung veredelte er die wilden Stämme, die er meistens selbst aus den Kernen zog, und führte über alles Kataloge. Ich habe auch kein üppigeres Obst mehr gesehen, als ich damals sah. Pfirsiche, Kirschen, Birnen und Äpfel waren in den seltensten größten Arten vorhanden. Kirschen hatte er vom Mai bis in den September, und nie sah ich die sauern Weichsel mehr in dieser Größe und Vollkommenheit wieder. Es wurden, besonders mit letzteren, an Freunde und an die Tafel des Herzogs öfters Geschenke gemacht.

Man pflegte Kirsche um Kirsche mit etwas abgeschnittenem Stiele, der nach innen gekehrt sein mußte, in einen großen blechernen Trichter zu legen, den man, war er bis zum Rande gefüllt, auf einen mit Weinlaub bedeckten Teller umstürzte, worauf auf dem Teller eine Pyramide von Kirschen stand. Solche Teller wurden dann zur Kirschenzeit in Menge in befreundete Häuser geschickt, denn es waren Sorten, die sonst selten zu finden waren. Auch der schwarze Maulbeer war ein Lieblingsbaum meines Vaters, und vom Gemüsegarten pflegte er besonders die Artischocken und Spargeln. Außer meinem Vater war auch damals in Ludwigsburg sein Neffe, der Amtsschreiber Heuglin, ein großer Beförderer der [95] Obstzucht, und diesen zwei Männern verdankt Ludwigsburg noch heute seinen Ruhm von ausgezeichnetem Obste. Auch der Vater Schillers arbeitete in Ludwigsburg schon in noch früherer Zeit für die Baumkultur.

Die Mutter meines Vaters lebte längere Zeit als Witwe in einem besondern Hause der Stadt. Das Alter vermochte nicht in ihren Zügen das Bild weiblicher Hoheit zu tilgen. Sie wurde blind und unterwarf sich einer Operation ohne Erfolg. Was von ihr erzählt wurde, spricht von einem ungewöhnlichen Geiste.

In der Nacht ihres Blindseins hatte sich ihr Ahnungsvermögen aufs äußerste geschärft, sie hatte voraussagende Träume und soll, besonders was die nach Jahren folgende französische Revolution betrifft, vieles überraschend vorausgesagt haben. Sie setzte einen großen Genuß darein, Familienfreuden zu bereiten, und bei ihrem ausgezeichneten Verstande und vielseitiger Erfahrung wurde sie nicht nur als das Orakel in der Familie verehrt, sondern in mancherlei Angelegenheiten von einem großen Teil des Publikums in und bei Ludwigsburg konsultiert. Ich hatte sie nicht mehr kennen gelernt. Ihr zweiter Sohn, jünger als mein Vater, lebte ebenfalls in Ludwigsburg, zuerst als Advokat, nachher als Bürgermeister der Stadt, und zuletzt als Landschafts-Konsulent in Stuttgart. Sein Eifer für die Rechte des Volks und die Bewachung der Verfassung sind bekannt. Kaum vor Auflösung derselben starb er mitten in der Versammlung der Landstände und wurde tot aus ihrem Saale getragen. Neben diesem Bruder wohnten noch zwei Schwestern meines Vaters in Ludwigsburg, wovon die eine dem Diakonus Mutschler daselbst zum Gatten hatte. Sie war eine sehr verständige aber mit ganz sonderbaren Eigenheiten und Glauben begabte Frau. So gab sie z.B. nie zu, daß in Krankheiten ein Arzt in ihrem Hause zu Rat [96] gezogen wurde, und selbst bei ihren Enkelkindern suchte sie dies auf alle Weise zu verhüten. Ich weiß aus späteren Zeiten von ihr, daß, als einmal einer ihrer Enkel in einem Erziehungshause am Scharlachfieber erkrankte, sie eilend dahin abreiste und Tag und Nacht an seinem Bette sitzen blieb, bloß um zu verhüten, daß keine Medikamente ihm gereicht würden, nur Wasser; das war schon 40 Jahre und länger, bevor der Gräfenberger Wasserarzt sich erhob. Es war aber auch wirklich, daß nur durch ihre Pflege und Wasser Kinder und Enkel von ihr in sehr harten Krankheiten genasen. Eine zweite Schwester meines Vaters war mit einem herzoglichen Stallmeister, Namens Müller, verheiratet. Diese Ehe war nicht ganz glücklich; die Frau starb in Melancholie und hinterließ 4 Töchter, von denen zwei ebenfalls in Ludwigsburg verheiratet waren, die eine an den Amtsschreiber Heuglin, ausgezeichnet durch Gemüt und Verstand, die andere an den Stadtschreiber Schönleber. Sie muß in ihrer Jugend von hoher Schönheit gewesen sein. Ihr Charakter war edel und streng. Sie trug die Bürde des Lebens mit Mut und starb in einem hohen Alter. Die dritte war an den zu Lustnau verstorbenen DekanMayer, früher Professor zu Maulbronn, verehelicht, und ihrer wird in diesen Blättern später mehr erwähnt. Die jüngste hatte den Dekan Uhland von Brackenheim (den Oheim des Dichters) zum Gatten.

Und nun komme ich wieder auf den Garten, von dem ich früher sprach. Hinter dem Rathaus in Ludwigsburg, das der Stadtschreiber Schönleber, Neffe meines Vaters, bewohnte, war ein sehr großer Hof, in dessen Mitte zwei prachtvolle alte Nußbäume standen. Hier war gar oft der Platz unserer Spiele. Schönleber hatte mehrere Kinder im Alter mir nahe und namentlich zwei Söhne, Georg und August, letzterer nachheriger Besitzer der Ludwigsburger Tuchfabrik. Sein ältester Sohn, Namens Friedrich, [97] ein Mann vom gediegensten rechtschaffensten Charakter, älter als ich, starb kürzlich zu Stuttgart als Archivar der Landstände.

In der ersten Sitzung derselben (im Januar 1848) wurde seinen Verdiensten von dem Präsidenten das würdige Lob erteilt, welchem alle Repräsentanten durch Erhebung von ihren Sitzen Beifall zustimmten.

Nach diesem Hofe des Stadtschreibers kam man in seinen für Kinderaugen ungeheuer großen Garten, der mit den prächtigsten Obstbäumen aller Art besetzt war. Hier gab es im Herbste wahre Lustgelage für die Jugend – die Bäume standen meistens in großen Grasplätzen und bogen ihre früchteschweren Äste in manchem Herbste tief zu den Blumen des Grases nieder. Welche Lust, auf einen solchen Baum steigen, das lachende Obst brechen zu dürfen! Welche Freude, an einem andern zu schütteln, bis er rings herum das Gras mit seinen duftenden Früchten bedeckt hatte. An diesen Garten stieß der Garten, der zu dem Palais des Prinzen Friedrich (nachherigen Königs) gehörte. Die Bäume, deren Äste über die diese Gärten trennende Mauer ragten, ließen oft ihre Früchte in den prinzlichen Garten fallen. Als wir einmal so einen Baum mit Mostbirnen geschüttelt hatten, tat es dem Stadtschreiber sehr leid um die in den prinzlichen Garten gefallenen Birnen, und er konnte nicht umhin, seinen Schreiber zum Hausmeister des Prinzen zu senden, sich die Erlaubnis, diese Birnen holen lassen zu dürfen, auszuwirken; da begegnete aber der Prinz selbst dem Schreiber unter dem Tore des Palais und fragte ihn, was er begehre. Darob kam der Schreiber in großen Schrecken und stotterte heraus: »Der Herr Stadtschreiber läßt fragen: ob er nicht die in den Garten gefallenen Birnen dürfe untertänigst auflesen?« Der Prinz lächelte und sprach: »Ja! ja! er soll sie nur gnädigst nehmen.« – Zur Osterzeit legte in dem angebauten Teile dieses Gartens in [98] den mit Buchsbaum umgebenen Blumenländern der Hase ein, worin die bunten Eier den Kindern zum Suchen versteckt waren, ja, diese Freude erstreckte sich noch in einen benachbarten Garten des schon früher berührten Dekans Zilling. Dieser Dekan Zilling gehörte unter die damaligen Originale Ludwigsburgs, daher wohl von ihm noch einiges angeführt werden darf.

Er war ein Freund der Kinder und hatte auch der kleinen Landmiliz zu einer Fahne verholfen; er war aber ein strenger Eiferer auf der Kanzel, auf die er auch Privatverhältnisse brachte, und sich dadurch manche Feinde zuzog, worunter, wie bekannt ist, auch Schubart gehörte, den er besonders verfolgte, weil dessen Orgelspiel lieber gehört wurde als seine Predigten.

Der Geist seiner Predigten ist aus folgendem wörtlichen Eingange einer derselben, mit dem er ihren Inhalt ankündigte, zu entnehmen.

»Geliebte in Ihme! Adam und Eva unsere ersten Eltern im Paradiese. Die Arglist der Schlange. Die Bosheit der Schlange. Die Verführungskunst der Schlange. Der Baum mit der verbotenen Frucht im Paradies. Der Genuß der Frucht vom verbotenen Baum. Der erste Sündenfall. Der Engel mit dem Racheschwert im Paradies. Marsch'naus zum Paradies, marsch! marsch! marsch!«

Gegen den Prinzen Friedrich übte er in den Predigten diesem mißfallende Schmeicheleien aus, er verbeugte sich zum Exempel tief gegen ihn von der Kanzel mitten in der Predigt und sagte: »Ja! Ludwigsburg verehrt wirklich was großes in seinen Mauern!« Der Prinz ärgerte sich darüber und besuchte die Kirche von dort an selten mehr, wie er denn auch das Abendmahl nicht mehr von Zilling, sondern von dem Pfarrer in Schwieberdingen nahm.

Mit dem Militär, gegen dessen Sitten er oft in Predigten zu Felde zog, lag er immer im Kriege, und die damaligen [99] jungen Offiziere spielten ihm manchen Streich, von denen einer so derb war, daß er nicht wieder zu erzählen ist. Er nahm seine Rache an ihnen aber auch, wo und wie er konnte, oft auf der Straße ohne Rückhalt.

Einsmal begegnete er drei jungen Leutnants; sogleich machten diese vor ihm Front und sprachen mit erhabenem spöttischen Tone: ah! votres serviteurs très humbles! Ja wohl, drei Simpel! versetzte er. Die Offiziere mußten beschämt weiter gehen. Mit gleichem Witze bezahlte ihn aber einmal der betrunkene Weinzieher Degler. Dieser taumelte im vollen Rausche an Zillings Haus vorüber, Zilling bemerkte ihn und rief heraus: »Ei! ei! Degler! wer wird sich so besaufen?!« Degler lallte hinauf: »O ihr Dignität! ih hau au scho viel bei Ihne abeg'schlaucht, aber no kein wieder uffe.«

Wenn er am Martini in die Schulen kam, um die Visitationen vorzunehmen, begrüßte er jedesmal die Lehrer mit folgendem nach den Rangstufen abgeteilten Morgengruß:


»Wünsch' wohl geruht zu haben,
Herr Oberpräzeptor Winter!
Gleichfalls, Herr Präzeptor Herold!
Empfehl' mich Ihnen, Herr Präzeptor Elsäser!
Guten Morgen Schulmeister!
Bon jour, ihr Provisor!
Grüß' euch Gott, liebe Kinder!
Ist man auch da, Mäule?«
(Mäule war der Schuleinheizer.)

Sein Bruder war der Meßner (Küster) der Kirche, und mußte ihm jeden Sonntag mit Bekomplimentierungen den Kirchenrock anziehen. Herren, die ohne schwarzen Mantel zum Abendmahl kamen, wie z.B. der Amtsschreiber Heuglin und der Chemiker Staudenmayer, wies er vor der ganzen Gemeinde vom Altar zurück.

Als er einmal während der Predigt einen Hund in der [100] Kirche bemerkte, rief er von der Kanzel herab: »Meßner, bring' er diesen Hund hinaus! Wer diesen Hund in die Kirche gebracht, ist unvernünftiger als dieses unvernünftige Tier.« Auf diese Rede sah man einen Hofrat sich erheben und aus der Kirche gehen, dem nun natürlich alles nachsah.

Auf der andern Seite hatte er aber doch auch wieder vielen kindlichen Sinn und liebte die Kinder, wie ich schon bemerkte. Viele seiner Schwachheiten konnte man auch wohl auf Rechnung seines Alters schreiben. Den Konfirmationsunterricht erteilte er den Kindern auf eine allerdings mehr kindische als kindliche Weise und verirrte sich dabei oft in die Erd- und Himmelskunde, z.E. (ganz nach seinen Worten):

»Unsere Erde glaubet er, se steh auf steinerne Pfeiler, oder se sei an einer langa eiserna Kette, daß se nit runter fallt, und was glaubet er von dem blauen Himmel, wenn er ihn so sehat? Glaubet er, das sei a großes blaues Tuch, das da ausgekramt sei und die Sternle seiet silberne Nägele mit dem's angenägelt sei, daß nit runter fall?« –

Der Kapellmeister Poli

Ein italienischer Musiker aus der Kapelle des Herzogs Karl, Namens Poli, hatte auch seine Wohnung in den Arkaden des Marktplatzes in Ludwigsburg. Er verstand die deutsche Sprache nur wenig und stellte sich Fremden mit den Worten vor: »Ik bin die großePoli, Kapellmeister vom Herzog Karle.« Ich sah ihn oft in einem roten Rocke, mit einem Haarbeutel, kleinem dreieckigem Hütchen, einen Hängkorb am Arme, auf den Gemüsemarkt gehen und in seinem gebrochenen Deutsch mit den Hökerweibern um Kraut handeln. Er hatte eine [101] durchaus nicht schöne Frau, auch aus der Musikschule des Herzogs. Aus Eifersucht hatte er sie immer ins Zimmer verschlossen, und sie kam nur selten ins Freie.

Dieses Original war besonders auch von uns Kindern sehr gefürchtet; denn, wie der andere Italiener, wurde auch er oft, ging er in seinem roten Röcklein und Bordenhute auf dem Markte umher, von uns bösen Buben geneckt und war daher immer mit einem großen spanischen Rohre gegen uns zum Schlage gerüstet. Es war auch wirklich kein kleines Wagestück, den Zorn eines solchen Italieners heraus zu fordern, der keine Rücksichten nahm und sich leicht der tollsten Wut und Rache überließ. Dieser Italiener wurde einmal von Kolikschmerzen gequält, in welchen er immer ausrief: lo Speciale! lo Speciale! – Die deutsche Magd, die nicht anders glaubte, als ihr Herr begehre noch vor dem Tode den Geistlichen, den Spezial, hatte nichts schnelleres zu tun, als zu dem SpezialZilling zu springen und ihm zu sagen, ihr sterbender Herr rufe immerdar nach ihm, sie bitte ihn um Gottes Willen eilig zu kommen. Zilling war schnell bereit; denn er glaubte, der Italiener habe einen lutherischen Geistlichen nur darum begehrt, um sich vor seinem Tode noch in den Schoß dieser Kirche zu begeben. Aber wie erstaunte er, als ihm, vor seinem Bette angekommen, der Italiener einen gewissen Teil seines Körpers zum Klystieren hinstreckte, von Gebet und Bekehrung aber nichts wissen wollte. Die Irrung kam daher, daß im Italienischen lo Speciale der Apotheker heißt, und daß in Italien die Apotheker das Geschäft des Klystierens, wie bei uns die Chirurgen, über sich nehmen. Es ist dies eine Anekdote, die auch sonst oft erzählt wird, die aber die hier genannten Personen wirklich betraf und ihren Ursprung einzig in Ludwigsburg hat.

[102] Der Bürgermeister Kommerell

Nächst der Oberamtei wohnte auch ein alter Bürgermeister, Namens Kommerell. Es war ein Mann noch dicker als mein Vater, er trug gewöhnlich eine gepuderte Perücke, hinten mit einem breiten Haarbeutel mit großen schwarzen Maschen, und auf den Seiten über die Ohren hatte die Perücke Bouclen von Horn. Kam er vom Rathaus zurück, so legte er die Perücke ab. Haarbeutel und Bouclen wurden abgeschnallt, und letztere dienten mir oft zum Spiele; ja, ich lernte sogar nach und nach Töne wie aus einer Pfeife aus ihnen hervorbringen. Ob er gleich ein gestrenger Herr und gegen Bürger und Bauern sehr grob war, so mußte er doch meinem Vater untergeben sein, und so durfte auch ich bisweilen auf seinen Sammethosen reiten, und oft trug er mich noch auf den Armen, wenn er schon den roten Rock und die weiße seidene Pattenweste anhatte, um auf das Rathaus zur versammelten Bürgerschaft zu gehen. Zu diesem Gange drückte er gemeiniglich ein kleines dreieckiges Hütchen, in welchem auch ich manchmal herumstolzierte, während ich auf seinem spanischen Rohre mit goldenem Knopfe ritt, tief in die Stirne herein. Am lebendigsten steht er mir noch vor Augen, wenn er, auf der großen steinernen Treppe des Rathauses stehend, bei Huldigungen oder sonstigen festlichen Anlässen eine Rede an die Bürger hielt, und an dem Schlusse derselben mit dem Rufe: »Vivat unser allerdurchlauchtigster Herzog und Herr!« das Hütchen dreimal in die Luft warf und dreimal wieder geschickt mit den Händen auffing. Das war ein Jubel für uns Kinder, und des Bürgermeister Kommerells Hütchen steht gewiß noch im Gedächtnis manches Ludwigsburgers von meinem Alter.

Als General Dumouriez mit dem nachherigen König [103] Philipp im Gasthofe zur Kanne in Ludwigsburg angekommen war, warf sich der BürgermeisterKommerell auch in seinen Amtsstaat, dem vornehmen Herrn die Aufwartung zu machen, aber als sie ihn ansprachen, verstand er nicht zu antworten. Da schrie er zum Fenster der Kanne hinaus mit brüllender Amtsstimme nach dem Stadtpatrouillanten Eberle, er solle sogleich seine Tochter holen, die Rike, die Französisch verstehe. Diese zog der Vater an den Haaren herbei. Der Herr Bürgermeister befahl ihr Französisch zu sprechen, sie brachte aber nichts heraus als: Oui, Monsieur General, je suis été – – welche Worte der Bürgermeister nachsprach, womit er lange gefoppt wurde.

Der Rathausdiener Michel

Einen Kontrast gegen diesen Bürgermeister machte sein Stadtdiener, der mit der Blechkapsel unter dem Arme jeden Morgen aus- und einging, auch den Herrn Bürgermeister bei seinem Gange auf das Rathaus, in geziemender Entfernung, die Akten in der Kapsel tragend, begleitete. Dies war eine ganz kleine zwergartige Gestalt, mit einem fast zu einem Rade gebogenen Rücken, über welchen von dem sehr haarlosen Kopfe ein, mehrere Ellen langer dünner Haarzopf in Wellenlinien sich herabbog. Das Männlein mit gutmütigem Blicke, etwas dicker aufgestülpter Nase, sehr großem Munde und ganz feinem Stimmlein, war die Demut und Dienstfertigkeit selbst, so daß es, wie der Herr Bürgermeister auf Stock und Sammethosen, mich oftmals unter den Arkaden auf seinem Rücken reiten ließ, wobei ich mich seines langen Haarzopfes als Leitseil und Peitsche bediente.

[104] Der Oberamtsdiener Vogel

Die amtliche Bedienung meines Vaters war ein alter, gewesener Tambourmajor, der ein Alter von mindestens 90 Jahren erreicht haben muß. Er hatte im siebenjährigen Kriege zuerst eine Schanze bestiegen und dadurch diesen Ehrendienst erlangt. Er hieß Vogel und war eine hagere hohe Gestalt mit langem Zopfe und sehr aufrechter militärischer Haltung. Er bediente zugleich auch meines Vaters Rappen, der meinen Vater und mich oft nach Neckarweihingen an den Neckar zum Bade führte. Dieses Reit- und Chaisenpferd gehörte eigentlich auch ganz zur Familie. Wir liebten es alle wegen seiner Zahmheit und Kraft. Wenn mein Vater des Nachts von Stuttgart zurückkehrte, hing er gemeiniglich um zu schlafen das Leitseil über den Arm, und das treue Tier geleitete ihn sicher, allen andern Gefährten von selbst ausweichend, bis vor das Ludwigsburger Tor. Auch meine Mutter fuhr oft ganz allein mit ihm, ohne Kutscher. Mein Vater ließ es oftmals abmalen.

Jener alte Amtsdiener hatte den Tag über meistens seinen Sitz in den Arkaden auf einer grünen Bank vor der Türe der Oberamtei. Nachmittags fand man ihn da oftmals ganz aufrecht schlafend sitzen und im Schlafe auf seinen gelben ledernen Hosen trommeln, dann mit einem Pfiffe erwachen und verwundert um sich schauen; denn er vermeinte sich im Traume noch bei seinen Trommlern. Wenn wir ihn so schlafend dasitzen sahen und das Trommeln seiner Finger auf den Hosen anfing, so holten wir Knaben einander oft leise herbei, sahen ihm lange zu und weckten ihn endlich durch einen Zug am langen Zopfe, von dem er dann erwacht, uns Hiebe austeilte.

Sonst ergötzte er uns Kinder besonders durch seine Kunst in Holz zu schnitzeln, und wir quälten ihn um[105] manches Kunststück von seiner Hand. Vortrefflich verstand er die Kunst Pfeile zu schnitzen und Bögen dazu zu verfertigen, die wir dann auf dem Marktplatze in die Höhe und in die Weite schossen, ja, sogar manchmal damit die schwarzen Lederhosen verletzten, die der Turmwächter Faber, der zugleich Seckler war, an dem eisernen Geländer des gelben Stadtkirchenturms, seiner Wohnung, zum Trocknen aufgehängt hatte.

Die Rakete auf dem Küchenherde

Ein gefährlicheres Spiel war für mich das Feuerwerk. Meine alte Kindsmagd hatte einen Feuerwerker geheiratet, in dessen Stube ich oft Stunden lang zubrachte; er lehrte mich das Füllen und Stampfen von Patronen zu Schwärmern und Raketen, bei deren Abbrennung in den Gärten ich meine Mutter oft in Sorge und Angst versetzte. Ja, einmal als mein Vater sich auf einem Amtsorte in Geschäften befand, legte ich um die Mittagszeit in der Küche eine Rakete geradezu zwischen die Fleischtöpfe ins Feuer, welche auch alsbald ihren Zug durchs Kamin nahm, so daß über demselben noch die Funken in die Luft stoben, und Bürgermeister Kommerell in Begleitung seiner Frau und des hinter ihm nachschießenden Amtsdieners, ohne Perücke und Stock, in die Oberamtei sprang.

Ein Brandunglück war nicht geschehen, wie die Nachbarn vermuteten, aber das Mittagessen war für die Skribenten, die, wenn mein Vater nicht bei Tische war, mit besonderem Appetit aßen, verdorben. Die größte Sorge meiner Mutter war nun, diesen Vorfall meinem Vater zu verbergen, um mir eine Strafe zu ersparen; aber es konnte nicht geschehen, die Frau Bürgermeisterin verriet [106] es. Meine Strafe war, daß ich einige Stunden in Arrest in einen ziemlich engen Raum mußte, welchen eine Türe mit einer von ihr ungefähr eine Elle abstehenden andern Türe bildete. In meinen größten Schmerzen erblickte ich in diesem Dunkel auf einmal eine mir ganz wunderbare Erscheinung, die ich nie gesehen hatte. Auf der vor mir stehenden Türe sah ich mit Verwundern in kleiner Figur die Fenster und Vorhänge des Zimmers, die Blumenstöcke, die auf den Simsen standen und die Menschen, die im Zimmer hin und her gingen; aber alles verkehrt. Meine Einsperrung ward mir nun zu großer Unterhaltung; ich fühlte mehr Freude als Schmerz, und wünschte nimmer aus Langweile heraus, sondern nur, um bald untersuchen zu können, wie und was das sei.

Nach meiner Befreiung, wo der Vater wieder liebreicher war, mußte auch er sich hineinsperren lassen, um diese Erscheinung zu sehen; auch die Mutter und die Schwestern.

Das Ganze war nichts, als daß ein Löchlein, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, durch die erste Türe gebohrt war, und die zweite Türe zufällig in der Entfernung stand, daß gerade das Licht so auf sie einfallen konnte, daß sich hier die Gegenstände des innern Zimmers als in einer Camera obscura abbildeten.

Von dieser Zeit an gab ich mich immer mit den optischen Erscheinungen einer Camera obscura ab. In allen Wohnungen, wo ich längere Zeit mich aufhielt, machte ich in den Zimmern eine Camera obscura zur Betrachtung der Vorübergehenden und der Gegend; und in Tübingen im Jahr 1805, als ich bei Kielmayer die Vorlesungen über Chemie hörte, gab ich mir alle Mühe, vermittelst Hornsilber die aufs Papier gefallenen Lichtbilder zu fixieren, wie in späterer Zeit Daguerre durch das Jodin mit glücklicherem Erfolg tat.

Die Frau Bürgermeisterin dachte ich ihres Verrates wegen [107] doch auch mit etwas zu beschweren, wobei ich zugleich auch auf die Wehen, die sie mir verursacht, einen Genuß hätte. Nach ein paar Tagen ging ich morgens zu ihr und sagte: da sie so gute Zwiebelkuchen backe, so habe meine Mutter geäußert, mir werde sie es wohl zu lieb tun, wenn ich ihr sagen würde, daß sie so sehr wünsche, sie möchte meinem Vater ein paar Zwiebelkuchen backen; aber sie solle ja nichts davon sagen, daß die Mutter das gewünscht habe; denn sie wisse ja, daß er oft recht zornig werden könne. Die Bürgermeisterin, und noch mehr der Herr Bürgermeister, waren sehr erfreut die Ehre zu haben, dem Herrn Regierungsrat und Oberamtmann Kuchen backen zu dürfen; und am andern Morgen erschienen auch wirklich zwei, durch die ganzen Arkaden duftende vortreffliche Zwiebelkuchen, die mein Vater, um nicht ungefällig zu sein, annehmen mußte, und von welchen auch ich mein gutes Stück erhielt. Aber die Frau Bürgermeisterin konnte meine fingierte Botschaft nur ein paar Tage lang auf dem Herzen behalten, sie erzählte dem Vater, der sie etwas mit der Zwiebelsendung aufzog, wie sie nicht gewagt hätte, das zu tun, wäre sie nicht dazu aufgefordert worden.

Ich wurde von ihm ins Verhör genommen und bekannte alles, meinem Vater aber mochten die Zwiebelkuchen zu gut geschmeckt haben, ich erhielt bloß den Titel eines infamen Buben.

Des Vaters Humor

Obgleich mein Vater im Durchschnitt und besonders wo es sein Amt galt, einen strengen und ernsthaften Charakter hatte, so war er doch wieder ein großer[108] Freund vom Scherze, besonders mit Frauen, in deren Gesellschaft er immer am aufgeheitertsten war.

In Ludwigsburg lebte ein Hauptmann, namens Seyffertiz, der eine Frau von schon ziemlich vorgeschrittenem Alter und eine ganze Sammlung von alten Jungfern, Schwägerinnen und Basen bei sich hatte. Mit diesen wurde oftmals Scherz getrieben, mein Vater schickte ihnen komische Verse zu, lud sie zum Tarokspiele ein, führte sie in seinem Chaischen mit dem alten Rappen in seinen Garten, und einsmals als er von einem Amtsorte hereinritt und die alte Frau Hauptmännin ihm vor dem Tore begegnete, lud er sie ein sich zu ihm auf den Gaul zu setzen; nur einige Schritte solle sie es versuchen, bis zum Tore. Sie ließ es sich gefallen, aber mit den Worten: »Aber das sag ich Ihm, am Tore muß Er mich absetzen.« (Sie pflegten sich immer scherzhaft per Er und Sie anzusprechen.) »Das glaub Sie«, versetzte er; aber am Tore angekommen, gab er dem Pferde die Sporen und ritt mit ihr durch die ganze Stadt bis an die Oberamtei. Dies konnte dazumal, ohne Spektakel zu erregen, ein Oberamtmann tun; man denke sich aber einen Auftritt der Art in jetziger Zeit.

Auch bei der Unterhaltung meines Vaters mit jüngern Frauen kam in das gute ihm ganz ergebene Herz meiner Mutter nie das Gefühl der Eifersucht; sie erschwerte ihm keinen Besuch, keine Einladung. Oft wurden im Hause kleine Feste gegeben, die schon seine amtliche Stellung, sein vieler Umgang mit Militär und Adel, erforderten. Das Tarokspiel liebte er, und es fanden sich dazu kleine Spieltische im Hause; auch ein Billard war vorhanden, welches Spiel mein Vater meisterhaft verstand, und fast täglich nach dem Mittagessen mit dem Hauptmann Seyffertiz, dem Oberforstmeister Stettink, oder dem Franzosen Martel übte. Meine Mutter, die immer in Zittern und Furcht lebte, hatte einmal große Sorge, als [109] mein Vater eine Reise auf 14 Tage nach Erlangen machen mußte. »Gott«, sagte sie, »da kannst Du umkommen, und ich erhalt keine Nachricht von Dir!« – »O«, versetzte er, »heilig versprech ich Dir, alle Tage sollst Du pünktlich einen Brief von mir erhalten.« Vor seiner Abreise setzte er sich noch eine Stunde hin und schrieb 14 Briefe voll der erfreulichsten Nachrichten von ihm, diese übergab er dem Postmeister, der alle Tage einen an die erfreute Mutter sandte. Mit großem Vergnügen wies sie der Frau Bürgermeisterin und anderen Frauen die Briefe des Getreuen. Als er nach 14 Tagen wieder kam, und sie sogleich ihre Freude über die vielen Briefe äußerte, sagte er: »Weil ich nun glücklich wieder da bin, so muß ich Dir gestehen, daß ich die Briefe alle vorher geschrieben; aber ich denke, sie hat mir mein guter Genius alle vorher diktiert, der wohl wußte, wie es mit mir gehen würde, und mein Versprechen, daß Du bestimmt jeden Tag einen Brief bekommen werdest, habe ich ja getreulich gelöst.« Diese Täuschung machte die gute Mutter nicht böse; sie war nur erfreut ihren Geliebten wieder glücklich bei sich zu sehen.

Die Öde Ludwigsburgs nach dem Tode Herzog Ludwigs

Schon nach dem Tode Herzog Karls und noch mehr nach dem Herzog Ludwigs, wurde Ludwigsburg durch Abzug des Hofes und eines Teils vom Militär sehr verödet, – Bevölkerung und Gewerbe waren ohnedies klein, und desto auffallender die Menschenleere in den langen, weitgebauten Straßen. Ich erinnere mich noch mancher Sonntage, wo nachmittags der große Marktplatz vor unserm Hause so still war, daß man auf demselben [110] fast die Perpendikel der benachbarten Turmuhr gehen hörte. In den Arkaden waren oft die einzige Bevölkerung die Hühner des ItalienersMenoni, und nur das Krähen derselben unterbrach die Stille, die oft rings herum herrschte. Eine auf die Hauptwache ziehende Schildwache, ein in der Ferne durch die Straßen eilender Perückenmacher waren oft Stunden lang die einzigen Figuren, die man von den Fenstern der Oberamtei in dem großen Raume erblickte, außer der stehenden steinernen Figur des Herzogs Eberhard Ludwig, des Erbauers dieser Stadt, die mitten auf dem Markte auf dem Brunnen stand. Es war in Wahrheit so, wie ich in meinen Reiseschatten anführte, wo die Stadt Ludwigsburg unter dem Namen Grasburg vorkommt, weil aus dem unbetretenen Pflaster mancher Straßen und Plätze hohes Gras wuchs.

Besondere Gefühle von Verlassenheit und Trauer wandelten einen in den vielen langen und menschenleeren Alleen der Stadt an. So hatten auch die großen verlassenen Räume des Schlosses und namentlich die Gegend des Corps de Logis etwas Unheimliches, Gespensterhaftes. Im Corps de Logis war das Gemach, in welchem Herzog Karl Alexander starb, von dessen Tode allerlei unheimliche Sagen gingen. Hier war es auch, wo in späteren Jahren die Schildwachen in der Nachtzeit mehrmals wie von einer unsichtbaren gewaltigen Hand gepackt und über die Balustrade am Schlosse geworfen wurden. Auch waren mehrmals diese Wachen genötigt die Posten zu verlassen, um auf der Schloßwache Anzeige zu machen von Lärmen und Tönen, als gingen Menschen die Treppen und Gänge auf und ab, wobei sie Schlüssel rasseln und Türen auf und zu gehen hörten. Es wurden mir diese Vorfälle von einem damals wachhabenden Offiziere, der im Augenblick in Begleitung seiner ganzen Mannschaft Untersuchung darüber anstellte, [111] selbst erzählt und versichert, daß er weder einen Betrug gefunden, noch eine natürliche Ursache erforscht habe, woher das von ihm angehörte nächtliche Unwesen hatte kommen können. Einen Soldaten, der auf seinem Posten dort einmal nächtlich gepackt und über die Balustrade gegen die Gruft hinabgeworfen wurde, sprach ich selbst einmal über diesen Vorfall. In diesen gespenstisch gewesenen Teil des Schlosses wurden in späterer Zeit die Geschäftszimmer aufgeklärter Regierungsherren verlegt, wo wohl bald sieghaft deren Geist diesen abergläubischen Spuk zum Wohle der Aufklärung vertrieb.

In Ludwigsburg war um diese Zeit kein Stadt- und kein Landleben mehr; ja, es hatte durch das, was noch vom Hofe und Militär übrig geblieben, noch mehr Drückendes, besonders für den Beamten. Der Aufwand für einen solchen war auch in Ludwigsburg größer als in einer Landstadt, obgleich das Einkommen der Oberamtei Ludwigsburg sehr klein war. Mein Vater, überdies ein großer Freund der Natur, wünschte sehr eine Stelle zu erhalten, die, wenn sie ihn auch mit größeren Arbeiten belastete, ihm doch eine freiere Bewegung, als die Stelle in einer Residenz, gab.

Als nun die wohldotierte Oberamtei Maulbronn im Jahr 1795 frei wurde, meldete er sich um dieselbe und erhielt sie auch, trotz des Widerstrebens der Bürger der Stadt und des Amtes von Ludwigsburg, die ihn aufs herzlichste liebten und ehrten, und ihn um keinen Preis von sich scheiden lassen wollten. Während seiner Amtsführung hatte er in Stadt und Land das Gemeindewesen in die beste Ordnung gebracht, und viele Einrichtungen, die er traf, sind noch jetzt ein Muster für andere.

[112] Abschied von Ludwigsburg und Zug nach Maulbronn im Jahre 1795

Es wurde nun von Ludwigsburg Abschied genommen. Wie jedem Knaben Veränderung und Lärmen im Haus Freude macht, so war es auch bei mir. Es wurden von meinen Eltern in einem Stadtwagen, in welchen auch ich einsteigen durfte, von Haus zu Haus Abschiedsbesuche gemacht. Als es aber an das wirkliche Abziehen ging, brach mir trotz der Freuden, die ich mir im künftigen Aufenthalte vorspiegelte, doch das Herz. Als ich von meinen Kameraden Abschied nahm, zerfloß ich in Tränen; auch konnte ich sie lange nicht vergessen, ja eigentlich nie; während ich doch bald Beweise hatte, daß sie sich um mich weiter gar nicht bekümmerten, und mich bald ganz vergaßen. Dies war meine erste trübe Erfahrung auf dem Felde der Freundschaft, die ich in meinem späteren Leben leider sehr oft wieder machen mußte.

Der Zug ging nun in mehreren Wagen dem neuen Bestimmungsorte zu; ich erinnere mich von demselben nichts Bestimmtes mehr, als daß in dem ersten Orte des Oberamtsbezirkes Maulbronn, Lienzingen, ein ehrwürdiger freundlicher Pfarrer, Namens Siegel, meinen Vater mit dem Magistrate des Orts und vielen Bürgern empfing und ihm auf grünes Papier geschriebene Verse übergab, während ihm die Kinder des Pfarrers Blumen streuten. Es waren wohlgemeinte Worte, Verse nach dem damaligen Stile, die ich noch besitze und deren Anfang ich hierher setze:


Mann! des Geist einst Karl der Weise schätzte,
Dessen Herz den milden Louis ergötzte,
Und dem Beifall winkt vom Fürstenthron
Vater Friedrich und sein großer Sohn.
[113][116]
Mann! begleitet von der Hauptstadt Tränen,
Wie ein Vater von verwaisten Söhnen,
Weil' mit Vaterblick auf meinen Kindern,
Laß sie Dich an Deiner Eile hindern,
Wenn sie, unsre Wege Dir zu weihn,
Zwar nicht Nelken, doch Kornblumen streun. usw.

Mein Leben zu Maulbronn

Mein Leben zu Maulbronn. Seine Lehrer, seine Kreuzgänge und Klosterkirche

Zwischen Ludwigsburg und Maulbronn war nun eine große Verschiedenheit; dort die langen, weiten, lichten Straßen, die künstlichen Alleen, Schloßgebäude und Soldaten, alles in neuem Stile, kaum etwas über 60 Jahre alt. Nun ein Kloster aus dem 12. Jahrhundert, rings umgeben mit hohen Mauern, einem Zwinger, über den eine Zugbrücke in dunkle Torgewölbe führte, in den Räumen innerhalb der Mauer selbst gar keine Wohnung, als die der Beamten und das Prälaturgebäude, an welches das Kloster selbst, das nun die Wohnung junger theologischer Zöglinge war, grenzte. Statt der Ludwigsburger weiß und gelb angestrichenen, wie von einem Schreiner gemachten Kirchen und Türme, – erblickte man hier vom Alter schwarzgraue Kreuzgänge und eine Kirche, die in ihrem Innern, besonders für die Phantasie eines Knaben, große Rätsel darbot.

Merkwürdig war bei jedesmaligem Geläute der Turm, der auf dieser in Form eines Kreuzes gebauten Kirche sich schlank und leicht aus dem Dache erhob und durch die Erschütterung der Glocken sichtbar hin und her wankte. Baumeister gaben diese Erscheinung als einen [116] Beweis seines kunstreichen festen Baues an. 1 Wohl sah man in diesem Kloster und seinen Gängen keine Zisterzienser, wie in seiner Vorzeit, mit weißen und schwarzen Kutten mehr, aber viele, oft durchaus nicht klösterlich aussehende, lebenslustige Jünglinge, jedoch auch nach alter klösterlicher Weise mit langen schwarzen Kutten bekleidet.

Um in Wälder und Felder zu kommen, hatte man nicht mehr lange Gassen und Alleen zu durchgehen; das Kloster war in einen engen Grund gebaut, und über ihm ragten schöne Berge mit Weinreben und üppigen Wäldern. In seinem Umkreise befanden sich etliche und 30 Seen, reich an Fischen und Geflügel aller Art.

Ich hatte nun das 9. Jahr erreicht, mein Wachstum war sehr schnell, mein Körper sehr zart gebaut und nervös. Bald nach unserer Ankunft traf mich auch ein großer Unfall. Es war für mich alles neu, und so auch die Bereitung des Weines. Es war Herbst, die Trauben wurden von den nahen Bergen in die Klosterkelter gebracht, ich ging dahin, um diesem Geschäft zuzusehen, wollte auch die Maschine der Presse näher betrachten und stieg verwegenerweise und auch von niemand gewarnt auf den sehr hochliegenden Kelterbaum.

Wie es geschah, weiß ich nicht, ich stürzte herunter und blieb ohne Bewußtsein auf dem Boden liegen. Ein herbeigeeilter Arbeiter trug mich für tot nach Hause; die Mutter legte mich zu Bett, machte mir kalte Umschläge auf den Kopf, alles hinter dem Vater. Des andern Morgens kam ich wieder in einen bessern Zustand, aber nicht zu einem klaren Bewußtsein, sprang aus dem Bette [117] durch alle Zimmer, stellte mich dort jedesmal vor den Spiegel und rief: wer bin ich? wo bin ich? was bin ich? Dieser Zustand dauerte acht Tage lang an. Ich glaube nicht, daß man mir einen Arzt gebrauchte. Damals waren Ärzte nicht so in der Mode, und der Klosterarzt hatte seinen Sitz mehrere Stunden vom Orte in Vaihingen. Es wurde bloß ein Chirurg zur Hülfe gezogen und ich mehr noch der Kraft der Natur überlassen, die mich auch bald wieder zu meinem völligen Bewußtsein aus der Hirnerschütterung, die ich erlitten, brachte.

Hier waren der Gegenstände zu viele, es war das Neue dieser alten Klosterräume, die vielen Seen mit ihren Fischen, die nahen Weinberge mit ihren Trauben, der das Kloster umgebende Zwinger, der zur Oberamtei gehörte – als daß meine Phantasie sich nicht mächtig nach außen hätte beschäftigen sollen. Der Zwang der Schule war auch weg. Es befand sich für mich keine Schule im Kloster, ich erhielt den Unterricht in alten Sprachen, Geographie, Geschichte usw. von den ausgezeichnetsten der ältern Zöglinge des Klosters, und unter denselben waren auch wirklich vortreffliche Jünglinge. Ich nenne von denselben die Theologen Pregizer, Klaiber (nachherigen Prälaten und Konsistorialrat), Kratz usw. Auch der alte Professor Maier, der eine Nichte meines Vaters zur Frau hatte, gab mir neben diesen Unterricht in der lateinischen und griechischen Sprache.

Mein Vater selbst war in seinen Erholungsstunden, die er sich dadurch in Wahrheit wieder zu einem neuen Geschäft machte, sehr bemüht, mich in der Geographie und Arithmetik weiter zu bringen. Es ist zu bedauern, daß hauptsächlich die Sprachen meiner Phantasie Langeweile machten, daß ich nicht aus innerer eigener Lust mitarbeitete, wie es später mehr geschah, und daß ich diese Lehrstunden lange Zeit nur als einen lästigen Zwang betrachtete. Dadurch machte ich meinem guten [118] Vater manche Sorge und Verlegenheit. In unserem Haushalte waren nun auch im Vergleich mit Ludwigsburg große Veränderungen eingetreten. Mein Vater mußte eine große Ökonomie fuhren und hatte von dem vorigen Beamten, Hofrat Rümelin, einen Stall voll Schweizerkühe, zwei Pferde und einen großen Garten, eine halbe Stunde vom Kloster gelegen, übernommen. Seine Lieblingsbeschäftigung in freien Stunden, die Baumkultur, wurde nun in größerem Stile fortgesetzt. Dazu gab ein rings um das Kloster gelegenes Gut die beste Gelegenheit.

Fußnoten

1 Dieses Schwanken des Turmes wurde in späteren Jahren, besonders nachdem eine schwere Glocke eingesetzt worden war, immer stärker und bedenklicher, bis es durch die Fürsorge des Herrn KreisbauratsAbel, des verdienstvollen Konservateurs dieses merkwürdigen Klostergebäudes, gehoben wurde.

Der Klosterzwinger

Dies war ein auf beiden Seiten mit Mauern eingefaßter tief gelegener, das ganze Kloster umgebender sogenannter Zwinger. Der Eingang in denselben war wenig Schritte von den Ökonomie-Gebäuden durch ein großes, mit schwerem Riegel versehenes Tor der Mauer. Nicht weit von ihm stand in diesem Garten die Ruine eines Turmes, vielleicht eines ehemaligen Gefängnisses, der aber jetzt zum friedlichen Geschäfte eines Dörr-Ofens für das Obst eingerichtet war, und in Wahrheit, man bedurfte auch einer solchen ökonomischen Vorrichtung; denn der ganze lange Zwinger war mit den schönsten Obstbäumen aller Art ausgesetzt, die in den damaligen Jahren Obst in Menge lieferten. In der Umgebung jenes Turmes, etwas tiefer gelegen, war ein kleiner Blumengarten angelegt. An diesen reiheten sich Beete für alle möglichen Gemüsearten, und die Mauern, die gegen Kälte und Wind schützten, gaben vielen Frühbeeten und Spalieren einen passenden Aufenthalt. Noch befand sich hier ein kleiner ausgemauerter See, dem es an [119] Fischen und Geflügel nie fehlte. Selbst der Versuch, wilde Enten hier aufzuziehen, von denen es auf den großen Seen oft wimmelte, wurde hier öfters gemacht, aber meistens mit dem Erfolge, daß die Enten, sobald sie flügge geworden, in die Luft sich erhoben und nicht wieder kamen. Über diesem Zwinger befand sich ein großer See, genannt der tiefe See, welcher ausgezeichnet fischreich war. Durch unsern Garten ging sein Ablauf, aus welchem ich oftmals herrliche Karpfen als gute Beute herauszog. Im Frühjahr, wo durch Schneewasser von den Bergen dieser See sehr anschwoll, bildete er eine große Kaskade, die mit furchtbarem Geräusche in den Zwinger herabstürzte und wirklich dann mehrere Wochen lang einen imposanten Anblick gewährte.

Was ich in Ludwigsburg noch nicht kannte, die Liebe zu Pflanzen und Blüten, erwachte hier in mir auf einmal. Anpflanzen von Blumenbeeten, Ziehen von Blumen in Töpfen, gewährte mir nun die größte Freude; auch zog es mich, Waldpflanzen zu suchen, in die Wälder, und ich brachte auch manche Stunde in denselben zu, um die Ofris insectifera (eine Pflanze deren Blüte wie eine Biene aussieht) aufzusuchen und zu Hause in Töpfen aufzustellen. Malven, Levkoyen, Nelken pflanzte ich teils selbst, teils suchte ich sie, wo ich nur konnte, für meine Pflanzungen zu erhalten.

Freund Gottfried und seine Eltern

Ich hatte hierin einen gleichstrebenden Freund, den Sohn des Professor Maier, Namens Gottfried.

Er war älter als ich; ein gutmütiger, aber sonst sehr prosaischer Mensch. Er war Hospes im Kloster und sollte die Theologie studieren. Oft rief ihm sein Vater zu, [120] wenn er ihn bei mir erblickte: »Büble, Büble! Hebräisch mußt du lernen, Hebräisch! nur dadurch kann man ein Mensch werden.« Das Hebräische soll die Hauptforce dieses Professors gewesen sein, und wenn er glaubte, das Hebräisch habe ihn zu einem Menschen gemacht, so machte es ihn wenigstens zu einem ganz sonderbaren, komischen Menschen und Sonderling. Seine Frau, wie schon öfters bemerkt, Nichte meines Vaters, war aber ebenfalls ganz eigener Art, aber von ihrem Manne ganz und gar verschieden. Er und seine Gattin sprachen durch ihr ganzes Leben mit einander per Sie. Ich kann ihn mir kaum anders denken, als in einer weißen baumwollenen Kappe, mit grauem Härchen, rotem rundem Gesicht, einem runden Bäuchlein, kurz und dick steckend in einem meist schmutzigen, mit Schnupftabak verunreinigten Schlafrocke, an dessen Gürtel ein großes Bund Schlüssel hing. Es waren dies nicht nur die Schlüssel zu Speisekammer und Keller, sondern auch zu den Gelassen der Studenten, dem sogenannten Dormente. Seine Frau dagegen war immer schneeweiß gekleidet, ihr Gesicht bleich, etwas aufgedunsen, von freundlichem doch ernstem Aussehen. Sie war schwärmerisch in religiösen Dingen, die Reinlichkeit in ihrem Haushalte trieb sie bis zur quälendsten Pedanterie. Auf die Reinheit ihrer Stubenböden drang sie so sehr, daß nicht nur das Gesinde, sogar oft die Besucher, mit ausgezogenen Schuhen in den Strümpfen gehen mußten; daß sie dadurch, besonders mit ihrem, die Reinlichkeit gar nicht liebenden Ehegemahl in starken Konflikt kam, war nicht zu verwundern.

Oft bediente sich der Professor eines Pferdes meines Vaters zum Spazierritt, in meiner Begleitung. Das Pferd war ein sehr hoher Rappe auf welchen ihn jedesmal beim Aufsteigen der Amtsdiener hob. Bei solchem Ritte trug er immer einen langen schwarzen Frack, dessen [121] Flügel links und rechts bis auf die Schuhe reichten, die mit breiten silbernen Schnallen prangten. Das runde Bäuchlein bedeckte eine schwarze Pattenweste. Auf dem Kopfe hatte er einen kleinen spitzigen dreieckigen Hut und in der Hand einen braunlackierten Stock.

Eines der Pferde meines Vaters hatte die Eigenheit, daß es das Rauschen von Papier nicht leiden konnte. Als ich nun einsmals mit dem Professor solch einen Ritt machte, begegnete uns der Ortsbote. Diesem forderte der Professor die Zeitungen ab, um sie gemächlich auf dem Pferde zu lesen; aber kaum hatte er sie entfaltet und das Pferd das Rauschen des Papiers vernommen, so kehrte es in vollem Laufe um. Der Professor klemmte seine kurzen Füße wie Krebsscheren in den Gaul ein, es entfielen ihm Hut und Stock, er hielt sich mit den Händen am Sattelknopfe und schrie mit verzweifelter Stimme: »Holet den Gaul ein!« Das Pferd rannte mit ihm durch das Tor, das meinige mit mir hinten nach über den Klosterplatz dem Oberamtei-Hofe zu. Man glaubte, es kommen Feuerreiter angesprengt, alles sah aus den Fenstern und sprang herbei, doch ging die Kavalkade noch glücklich vorüber. Das Pferd hielt, vor dem Stalle angekommen, auf einmal stille. Der Professor hatte sich noch konvulsivisch auf demselben erhalten, wurde aber totenbleich und fast besinnungslos von demselben herabgenommen und in unsere Wohnung gebracht. Er wußte lange nicht, wo er war, und sprach von Elias und seinem feurigen Wagen, auf dem er gefahren, ganz in der Irre. Seine Ehehälfte, Therese, die auch herbeigesprungen war, suchte ihn durch kalte Umschläge im Lehnsessel meines Vaters zurecht zu bringen. Er sprach aber immer von Elias, und daß er seinen Mantel verloren. »Sie haben keinen Mantel angehabt und keinen verloren«, beschwichtigte ihn die Frau, »und Sie fuhren auch auf keinem Wagen, sondern ritten auf dem Rappen, der mit Ihnen durchgegangen, [122] und ein Professor sollte eben nicht reiten.« – »Wie? ich ritt?« sagte er – »ja, ja, ich besinne mich, auf dem Rappen, es ist mir ganz schwarz vor den Augen; vorher war es mir wie Feuer. Sie haben Recht, Therese, ich werde nicht wieder reiten, ich will lieber zu Fuße gehen.« »Aber nicht bei schmutzigem Boden«, fiel Therese ein, »weil Sie Ihre Schuhe nie vor dem Zimmer ausziehen wollen.« Die kalten Umschläge und ein Aderlaß, die man dem Professor zu Hause applizierte, heilten ihn bald völlig von Erschütterung und Schrecken; aber auf den Rappen kam er von da an nicht mehr.

Basen und Schwestern

Außer einem Sohne hatten diese von einander so verschiedenen Eheleute noch zwei Töchter, von denen die jüngere nahe meinem Alter war. Sie hatte die Sanftmut und Ordnungsliebe der Mutter, ein rundes niedliches Gesichtchen, und ein ganz schwarzes und ein ganz blaues Auge. Mit ihrem Bruder und meinen Schwestern, die aber älter als sie waren, waren diese Mädchen oft meine Unterhaltung und Begleitung in den Gärten und auf den Spaziergängen. Meine älteste Schwester Ludovike war sehr lebendig und reizbar. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig und schön, und es verglichen sie schon in Ludwigsburg Emigranten und auch einmal der Herzog Ludwig mit der unglücklichen Königin Marie Antoinette. Ihr Gemüt war äußerst gut, und sie hätte Hab und Gut verschenkt, hätte man ihr viel zugelassen. Ein Jammer war, daß sie für das einfache, stille, sorgliche Wesen der Mutter oft zu exzentrisch war, weswegen sich diese beiden oft nicht verstanden.

Sie wurde während unseres Aufenthaltes in Maulbronn [123] an einen braven Geistlichen (Pfarrer Zeller zu Wiernsheim) verheiratet und starb zu Derdingen, nachdem sie einem schon erwachsenen Sohn geistlichen Standes, der an einem ansteckenden Nervenfieber darniederlag, mit treuer Mutterliebe Tag und Nacht abgewartet hatte, wie er, ein Opfer desselben. Drei ihrer Söhne leben noch, von denen einer ein tätiger Kaufmann im Vaterlande ist, der andere als Direktor der Landwirtschaft im Großherzogtum Hessen-Darmstadt sehr würdig vorsteht. Der dritte widmete sich dem Militärstande. Während die Mutter mit diesem guter Hoffnung war, befand sich die schon erwähnte Tochter des Professors Maier, die ein schwarzes und ein blaues Auge hatte, oft um sie, welches Naturspiel dadurch auch auf diesen ihren Sohn überging: auch er erhielt ein ganz schwarzes und ein ganz blaues Auge.

Die jüngere Schwester Wilhelmine war von ruhigem gesetztem Wesen. Sie hatte den Verstand und das Rechtlichkeitsgefühl des Vaters geerbt. Mein Vater gebrauchte sie oft zu seinem Sekretär, auch kam sie meiner Mutter in der großen Ökonomie sehr zu statten.

Obgleich älter als ich, gab sie sich doch oft auch meinen Zerstreuungen hin, und ich erinnere mich noch jetzt oft mit Vergnügen der Stunden, wo wir mit Stroharbeiten beschäftigt, mit welchen wir die Eltern überraschen wollten, auf dem Heu der nahen Tenne verborgen saßen. Aber auch an meinem Unterrichte in der Geographie, der Geschichte usw. nahm sie teil, und wir lasen manches Buch Geschichten und Lieder mit einander. Ich erinnere mich oft eines Spieles, das wir damals häufig trieben, und das, wäre ich intellektueller gewesen, mich zur Erfindung der Dampfwagen hätte bringen können. So oft nämlich meine Schwester morgens die Kaffeetassen in heißem Wasser reinigte, kehrte ich sie, so lange sie noch innen vom Wasser dampften, schnell auf den glatten [124] Tisch um, und da spazierten sie, vom Dampfe innen getrieben, von selbst den Tisch entlang, was ich sie oft, auch zum Vergnügen meiner Schwester, wiederholen ließ. Die Dampfwagen in meinen späteren Jahren brachten mir dieses Spiel wieder in Erinnerung.

Der Kutscher Matthias

Nebst den Pferden, Kühen und Gärten hatte mein Vater von seinem Vorfahren im Amte auch einen alten Kutscher übernommen, der Matthias hieß und von komischem Wesen war. Er war wie der Polichinell im Marionettenspiele, wie ein Hofnarr, dem man seine auch oft derben Späße nicht übel nahm. Als einmal ein großes Gastessen im Hause war, entfiel ihm vor der Tür die volle Suppenschüssel. Er ließ sich aber dadurch nicht aus der Fassung bringen, öffnete die Tür und sagte zu den Versammelten: »Meine Herrschaften, die Suppe wurde hier außen angerichtet, nehmen Sie die Löffel mit!«

Wir hatten ein naives junges Bauernmädchen von der Alb in Diensten; an dieser übte der Alte oft seine komischen Launen. Er hatte von der vorigen Herrschaft einen Guéridon aufgegabelt, der einen Mohren mit einer Krone auf dem Kopfe vorstellte. Diesen legte er einmal in ein weißes Hemde gekleidet dem Mädchen, ehe es in die Kammer kam, ins Bett, worauf es mit einem entsetzlichen Geschrei: »Der Teufel! der Teufel! der Teufel ist in meinem Bett!« die Treppe herab sprang und das ganze Haus in Alarm versetzte und aus den Betten brachte.

Einmal kutschierte er meine Mutter und die Frau des Prälaten mit dem Rappen auf einer Wiese, auf der viele Schlüsselblumen sproßten. Da fing er auf einmal mit matter Stimme zu sagen an: »Mir wird's grün und gelb [125] vor den Augen«, so daß die Frauen, welche glaubten, es befalle ihn eine Ohnmacht, einen Vorübergehenden um Hülfe riefen und ihn baten das Leitseil zu fassen, ehe ihr Kutscher herunterfalle. Er aber lachte ihrer Angst, ihm sei es ganz wohl, aber wie ihnen gewiß auch hier grün und gelb vor den Augen.

Außer dem Humor eines Lustigmachers und der Kunst eines guten Pferdelenkers hatte aber der alte Matthias noch eine gute Eigenschaft, er war ein vortrefflicher Jäger, was in dieser Gegend, so reich an wildem Geflügel, sehr erwünscht war. Mit wilden Enten, Wasserhühnern, Schnepfen usw. versorgte er gar oft und reichlich unsere Küche.

Marder und Iltisse gab es in den alten Gängen und Mauern des Klosters in Menge; auch diese wußte er geschickt zu fangen und sich ihres Pelzes zu bemeistern. Weniger ließ er sich zum Fangen unedler Tiere, namentlich der Ratten, bewegen, und ich weiß Mondscheinnächte, wo man diese Tiere aus einem Kellerloche des Oberamteigebäudes in einer langen schwarzen Prozession, eine hinter der andern, über die Straße zu den benachbarten Brunnen, dort zu saufen, langsam ziehen sah. Matthias hatte vor solchen einen wahren Respekt, er wollte nie gegen sie zu Felde ziehen oder Fallen stellen, und gab zu verstehen, hinter ihnen könnte doch der Teufel stecken, sie seien noch von den alten Klosterzeiten her und könnten gar verwünschte Mönche sein. Mir gab der komische Gesell viele Veranlassung zur Hintanstellung der Bücher durch Verlockungen zu Spazierritten, zum Laufen an die Seen, und durch Herbeischaffung von Vögeln aller Art, von Hunden, Rehen, Kaninchen, Eichhörnchen, Eidechsen, lebendigen Ottern und Schlangen.

[126] Die Klostermauer und ihre Ameisenlöwen

Das Oberamteigebäude stand an der Klostermauer und war hinten, durch ein vom zweiten Stock heraus über den Zwinger laufendes Zugbrückchen mit dem nahen Berge in Verbindung gesetzt. So war man sogleich im Freien; die Klostermauer aber, die ein bedecktes Dach hatte, lief wie der Zwinger rings um alle Klostergebäude herum, so daß man auf ihr trockenen Fußes überall hin, auch in das Innere der Klostergebäude kommen konnte.

In feinem Sande, der sich auf dem Gange dieser Mauer vorfand, bemerkte ich einmal mir sonderbar scheinende kleine Trichterchen. Mein Auge hatte sich an Beobachtungen in der Natur durch Betrachtung von Blumen und Schmetterlingen, Insekten, Steinchen usw. gewöhnt und geschärft; es konnte mir das Insekt nicht entgehen, das in dem Grunde der Spitze jedes solchen Sandtrichterchens saß, und nahte sich dem Rande desselben eine Fliege, eine Ameise, sogleich ein Bombardement von heraufgespritzten Sandkörnchen auf dasselbe begann, bis es in die Tiefe des Trichterchens sank und seine Beute wurde. Das waren die sogenannten Ameisenlöwen, für mich eine neue Freude und Beobachtung. Nun wurde mir mein Schreibsand auf einmal sehr lieb, ich füllte Schächtelchen mit ihm, brachte diese Insekten in solche, wo sie dann sogleich die Arbeit ihres trichterförmigen Festungsbaues begannen, und ich ihr Treiben und ihre Verwandlung in Nymphen beobachten konnte.

Dieses Insekt blieb mir von dort an merkwürdig, eine liebe Erinnerung an jene Klostermauern, und noch in späterem Alter, wo ich nur hinkam, suchte ich mir auf eine Zeitlang wieder dieses Insekt zur Beobachtung und zur Erinnerung an meine Knabenzeit zu verschaffen.

[127] Die Oberamtei

Die Oberamtei hatte zwei Erker (kleine Türmchen) an jedem Ende. In dem Erker, der gegen das Fronhaus hinschaute (ein langes Gebäude, in welchem sich mehrere Familien von Kloster-Insassen, Weingärtner usw. befanden), war mir mein Aufenthalt angewiesen. Rings an den Wänden befanden sich Bücherständer, die mir mein Vater meistens mit naturhistorischen Werken, mit geographischen und mit Reisebeschreibungen aus seiner großen Bibliothek, die im untern Stock des Hauses eingerichtet war, gefüllt hatte. Bonnets Betrachtungen der Natur, Hallers, Reimarus Werke verschlang ich und las eine Menge Reisebeschreibungen. Es gab damals eine aus dem Französischen übersetzte Reisebeschreibung in mehr als 30 Bänden (Delabordes Reisen), die fast die ganze Welt umfing; von dieser führte ich lange Zeit immer einen Band mit mir, und las in demselben auf dem Heuboden, im Garten, im Walde und in den Klostergängen. Ein altes Werk über die Eroberung und Geschichte Mexikos in Quart mußte mir auch oft als Begleiter in Wälder und Felder dienen. Da schwärmte ich in der romantischen Geschichte der Inkas, träumte von Sonnenjungfrauen und Tempeln von Gold und zürnte ihren habsüchtigen Eroberern. Länger konnte ich nie in meinem Erkerkäfig ruhig bleiben, als die verschiedenen Stunden meines Unterrichts dauerten. Die vielen Tiere, die mein eigen waren, ließen mich auch nicht ruhen. Hatte ich aber nur einen Vogel, einen Hund bei mir in meinem Käfig, so vertiefte ich mich neben ihm schon auch gerne in ein Buch und las in demselben bis zum Ende fort. Vor den Fenstern meines Erkers standen in Töpfen meine Blumen, und meine gute Schwester Wilhelmine half mir in deren[128] Pflege. Oft kam auch der ältere Freund Gottfried hinter sie mit prüfendem Blicke, und ordnete deren Beschneidung, Versetzung und Aufbindung usw. an. Das mittlere Zimmer des Oberamteigebäudes war zum Staatszimmer bestimmt, und mein Vater hatte in dasselbe seine Gemäldesammlung gebracht, die er schon in Ludwigsburg besaß. Es waren meistens Ölgemälde, Landschaften von Harper, historische Darstellungen, Nachtstücke, Seestücke, Blumen- und Tierstücke, Kopien und Originalien, deren Meister mir nicht bekannt wurden.

Durch sie ward in mir die erste Lust, in Öl zu malen erweckt, die ich in späteren Jahren ausübte. Die lebensgroße Darstellung eines Greisen im Kerker (Cimons) dem, um ihn vom Hungertode, zu dem er verdammt war, zu retten, seine Tochter die Brust reichte, war wohl das schönste Bild der Sammlung.

In demselben Zimmer befand sich auch ein sehr schöner Heiland am Kreuze, von Bronze und vergoldet, auf einem Piedestal von schwarzem Marmor, ein altes Familienstück, das nachher meinem Bruder Louis als Geistlichem zufiel, und später in die Hände der frommen Gräfin von Maldeghem kam.

Auch ein anderes plastisches Kunstwerk zierte dieses Zimmer; es waren zwei Pferde von Bronze in steigender Stellung, sehr kunstreich und lebendig. Sie stammten von meinem Großvater Stockmayer und deuteten auf das Wappen von Stuttgart, ein Ehrengeschenk dasiger Bürger. Sie kamen später meinem ältesten Bruder, Georg, zu, und befinden sich jetzt in Hamburg.

Im untern Stock der Oberamtei befanden sich die Amtszimmer, und rechts beim Eintritt das Bibliothekzimmer meines Vaters, da wo ehemals die mit Stein belegte Schlachtstube des Wildes war; denn dieses Gebäude diente früher dem Herzog Christoph zu einem Jagdschlösse [129] [132]und war von dem berühmten Baumeister Schickhardt gebaut.

Der Oberamtei gegenüber stand das große Prälaturgebäude, und vor der ersteren auf einem freien Platze ein schöner lebendiger Brunnen mit vielen Röhren, die ihre Wasserstrahlen in bronzene große Schalen ergossen. Es war ein Kunstwerk alter Zeit.

Die Kreuzgänge

Durch die Prälatur kam man in den Kreuzgang des Klosters, der, wie gewöhnlich die Kreuzgänge, einen kleinen Garten umschloß, der durch die hohen gotischen Fenster desselben sichtbar war. Man beklagte noch die prachtvollen Glasgemälde, die einst die Fenster dieses Kreuzganges schmückten, die aber Herzog Karl herausnehmen ließ, und bedauerlicher Weise zu neuen Bauten in Hohenheim usw. verwendete. Fußböden und Wände des Kreuzganges waren mit steinernen Grabmonumenten längst verstorbener Äbte und Mönche ausgelegt, und an manchen Stellen der Fußboden selbst eingesunken.

Durch diese Gänge ging ich selbst oft in Nächten allein mit einem Laternchen, es führte der nächste Weg durch sie von meinem Freund Gottfried in meines Vaters Wohnung. Auch im Mondschein ohne Laterne ging ich oft hindurch und wünschte mir sehnlich die Begegnung eines Mönchsgeistes in schwarz und weißer Kutte mit langem Barte.

Da entstanden einige meiner ersten Verse, von denen ich nur noch diese Strophen weiß:


»Würde wahrlich nicht erschauern,
Schwebtet ihr aus Grabesmauern
In den Kutten, schwarzen, weißen,
[132]
In den Bärten, langen, greisen,
Im Gesichte Geistertrauern.
Schläfer! auf zum Rebentale!
Dort im bunt bemalten Saale
Warten euer die Pokale,
Warten auf dem Eichentische
Wildpret und gebackne Fische.
Jetzt in hellem Mondenscheine
Glänzen licht die bunten Fenster
Und es heben die Gespenster
Ihrer Gräber morsche Steine« usw.

Oft aber stellten wir uns auf die Probe, versteckten und neckten uns in diesen doch immer etwas unheimlichen Gängen, und da kam es manchmal, daß ich trotz meiner kühnen Herausforderungen in Prosa und Versen, von Angst ergriffen und in meiner Phantasie von einem fliegenden Mönche verfolgt durch diese Gänge stürzte und atemlos und geisterbleich in der Oberamtei ankam.

Mein Schauer dauerte aber immer nur kurz, ich kehrte bald wieder in die Gänge zurück und wünschte mir eine Erscheinung; denn ich glaubte schon damals an die Existenz von Geistern, und mein naturforscherischer Trieb, der früh in mir auftauchte, ließ mich schon da genauere Erforschung wünschen.

Wie den Ameisenlöwen in ihren Sandgruben, den dicken unbehülflichen wanzenähnlichen Geschöpfen, die sich in leichte, schlanke Sylphiden verwandeln, so wünschte ich auch der geistigen und leiblichen Verwandlung dieser Äbte und Mönche in ihren Gräbern nachforschen zu können.

Bei allem vorherrschenden Gemüts- und Phantasieleben blieb doch in mir Besonnenheit und Verstand, ein Trieb zur klaren Forschung, die mich das Wahre vom Unwahren, sagte auch letzteres meiner Phantasie noch so sehr zu, unterscheiden ließen. Aber durch Behauptungen und [133] [136]Vorurteile anderer ließ ich mich nie abschrecken; ich hörte ihre Beweise und Dafürhalten an, folgte aber, hielten sie mir nicht Stich, meinem eigenen Scharfsinne und einem Ahnungsvermögen, das die Natur schon frühe in mein Innerstes gelegt hatte.

Jene Verse bezogen sich hauptsächlich darauf, daß diese Mönche über der Ruhestätte ihrer Brüder einst nicht bloß mit Gebeten wandelten, daß über ihnen nicht einzig Gesang und Glocken zur Andacht tönten, sondern auch die Becher der Mönche bei vollen Mahlen. Zu solchem hatte die Natur hier ja alles gegeben, Wein der Berge, Fische und Geflügel der Wasser, Wild der Wälder.

In der Mitte des Kreuzganges befand sich eine kapellenartige Rotunde eingebaut mit den schönsten Fenstern in gotischem Stile, während die andern Fenster des Kreuzganges die Kraft und Zierlichkeit der Übergangsperiode des Rundbogens in den Spitzbogenstil zeigten. In der Mitte dieser weiten und hohen Rotunde stand auf steinernem Fuß eine runde Schale von Stein, in der die Mönche in heißer Sommerszeit ihre Weine in Eiswasser kühlten; denn dieser Rotunde gegenüber lag das sogenannte Rebental, der sehr geräumige Gast- und Speisesaal der Mönche. Von einem Walde schlanker Säulen war dessen Spitzbogengewölbe unterstützt. Es brannten Säulen, Wände und Gewölbe einst in den lebendigsten noch jetzt sichtbaren Farben, rot, blau und golden.

Die Bogen des Kreuzganges hatten die mannigfaltigsten Verzierungen. Lange betrachtete ich oft an einer Säule einen als Kapitäl ausgehauenen kleinen nackten Mönch, mit der Tonsur, der eine Traube verzehrte, während er auf einer andern ritt.

Durchging man von der Oberamtei und Prälatur aus diese Kreuzgänge, so kam man endlich auf einen mit [136] alten Linden besetzten Platz, auf dem ein Rohrbrunnen stand und dem die Kirche ihre Front bot, an das hellere Tageslicht.

Die Sommerkirche

Der Vorhof der Kirche bestand wieder in einer schönen hohen Säulenhalle mit hochgesprengten gotischen Fenstern.

Oben am Gewölbe erblickte man Kunstgebilde in Stein und in Farben, unter anderem ein Gemälde, in dem die Mönche sich naiverweise, wie im Bilde jenes auf einer Traube reitenden Klosterbruders, selbst persifliert zu haben scheinen.

Es war auf das Gewölbe das Bild einer Gans gemalt, an welcher eine Flasche, eine Bratwurst, ein Bratspieß usw. hingen, neben einer Fuge mit unterlegtem Texte, gleichwohl nur mit den Anfangsbuchstaben: A.V.K.L.W.H. All voll, Keine leer, Wein her!

In dem Schiffe der schönen echt gotischen Kirche war uns immer das 14 Fuß hohe Kreuz merkwürdig, das aus einem einzigen Stein gehauen war, aber sehr täuschend von Holz zu sein schien. Es blieb der würdige obgleich schmerzensreiche Ausdruck im Gesichte seines Christusbildes mir lange im Gedächtnisse. Am liebsten aber verweilte ich mit meinen Gespielen im Chor der Kirche. Durch das viele Bildwerk der Chorstühle, auf deren Boden man, entstanden durch das viele Knien der Mönche im Gebete, ausgeschliffene Vertiefungen bemerkte, durch die vielen Grabmonumente und Gemälde auf dem Boden und an den Wänden wurde unsere Phantasie immer reichlich beschäftigt.

Da war an den Chorstühlen in schönster Schnitzarbeit [137] das Opfer Kains, die Trunkenheit Noahs, Isaaks Opfer, Davids Tanz vor der Bundeslade, Moses vor dem feurigen Busche, Símsons Kampf mit dem Löwen usw. zu erblicken.

Ein großer Teil der alten biblischen Geschichte prägte sich mir durch die Bilder dieser Chorstühle lebendig ein. Merkwürdig, aber zu bedauern war, daß sich in dieser Kirche unter den tausenden von Bildern in Stein und Holz auch nicht ein einziges Bild eines Menschen befand, das noch eine Nase hatte. Wir suchten oft nach einem solchen, fanden aber nie eines. Die Schweden hatten in dem dreißigjährigen Kriege diesen Vandalismus ausgeübt. Auch einen schönen Hochaltar mit vielen Bildern und der heiligen Jungfrau enthielt dieser Chor.

Von den Seiten sahen große Steinbilder der Stifter dieses Klosters, der Bischof Günther und der edle Ritter Walther, uns an.

Über all diese Gebilde gossen die mit den schönen Glasgemälden erfüllten riesigen Fenster des Chores, eine oft zauberhafte Beleuchtung. Welche Lust aber, über all diesen Bildern, den Chorstühlen, dem Hochaltar, in dem magischen Schimmer, leicht, wie zum Vogel verzaubert, zu schweben! und dies geschah oft, und auf eine, für den ältern Zuschauer höchst beängstigende Weise. Wir umwanden uns nämlich oft mit den Glockenseilen, die von dem hohen Chorgewölbe hernieder hingen, den Leib und ließen uns durch Kameraden vermittelst anderer an diese Glockenstränge befestigten Seile, zuerst langsam, dann immer stärker und stärker, hin und her schwingen, bis wir zuletzt durch den ganzen Chor, ja! fast bis an das Gewölbe desselben, über all die Wunder da unten dahinflogen und aus unsern seligen Träumen, wir seien fliegende Engel, nur dann erst erwachten, wenn wir unter uns auf einmal die Schlüssel und die Stimme des in Zipfelkappe und Schlafrock herbeigekommenen [138] Professors Maier hörten, der durch die Türe des Dormentes ins Chor der Kirche auf unser Lärmen stieg, und seinen Gottfried und mich unter dem Rufe: »Hebräisch! Büble! hebräisch! und Sie Christel! (so nannte man mich) lateinisch!« aus unserem Himmel auf seine Stube im Dormente, zum Lernen transportierte.

Das Dorment und seine Bewohner

Aus dem Chor der Kirche kam man auf hohen steinernen Treppen und einem Tore auf das sogenannte Dorment, den eigentlichen Aufenthalt der Klosterzöglinge, deren es gemeiniglich 20 an der Zahl waren. Sie kamen in ihrem 16. Jahre von der niederen Klosterschule Denkendorf und blieben zu Maulbronn bis in ihr 18. Jahr. Das Dorment bildete einen weiten und langen Platz oder Gang, auf dessen beiden Seiten viele kleinere und größere Zimmer sich befanden.

Sommers hatte jeder ein kleines Stübchen, eine Zelle für sich allein, winters waren mehrere auf einem größern Zimmer zusammen. Die Zimmer und Zellen standen auf den Kreuzgängen, und sahen teils in das Kreuzgärtchen, teils in den Garten der Prälatur und den Platz vor der Oberamtei. Inmitten des Dormentes hing das Seil eines Glöckchens nieder, das die Klosterzöglinge zu ihren Lektionen und in ihren Speisesaal rief, der im untern Stocke eines eigenen an das Kloster stoßenden Neubaues war. Er schaute auf jenen Platz vor der Kirche, auf dem ein Rohrbrunnen quoll, und alte Linden ihre Schatten warfen.

Über diesem Speisesaale war die Wohnung des Professors Maier und das Dachstübchen meines Gottfrieds.

Die Klosterzöglinge waren den Tag über in ihr Dorment [139] eingeschlossen, und durften es nur verlassen, gingen sie in den Speisesaal oder abends auf Spaziergänge.

Zum Ärger des Professors und des noch strengeren Prälaten, schlich ich mich aber oft auch außer der erlaubten Zeit aufs Dorment und in die Zellen der kleinen evangelischen Mönche (sie waren damals, wie schon bemerkt, mit schwarzen Kutten bekleidet, jedoch ohne Kapuzen, mit etwas neuerem Zuschnitte) und störte sie in ihren Studien durch meine Spiele und Wünsche.

Obgleich sie sieben Jahre älter, als ich waren, hing ich doch an manchem mit großer Liebe und zog auch manche zu meiner kindischen Phantasie hin, so daß sie oft auf dem weiten Dormente Spiele mit mir spielten, die sonst nur meinem Alter gewöhnlich waren.

Kam aber von der Prälatur her durch den langen Gang der Herr Prälat Mieg, ein sehr gestrenger Herr, mit goldener Tabaksdose in der Hand geschritten, so stoben wir mitten in unsern Spielen auseinander, und ich verbarg mich in irgend einem Winkel des Dormentes, bis diese schwarze Wolke vorüber war.Maier, im Schlafrocke und der Zipfelkappe, wurde weniger gefürchtet.

Zu Streichen, die den Professoren, dem Famulus usw. galten, half ich ihnen auch oft mit.

Wenn zu einer Lektion geläutet werden sollte, und der Famulus nicht gleich erschien, so kam oftmals Professor Maier selbst aus seiner Klause und zog den Strang des Dormentglöckchens. Da gingen sie mich einmal an, weil ich mit Knaben des Famulus öfters unter das Dach des Dormentes geriet, ich solle das Seil des Glöckchens so weit hinaufziehen, daß es der kurze Professor nicht mehr erlangen könne. Als die Stunde zum Läuten kam, paßten wir Anstifter in einem Winkel auf. Der kurze Professor erschien, wußte sich aber wohl zu helfen; er nahm einen Stuhl, stieg auf solchen, und erreichte glücklich das Seil [140] zum Läuten. Wir im Verstecke verrieten uns fast durch Lachen ob der komischen Figur, die der Professor machte, als er in seinem Schlafrocke mit der Zipfelkappe und einem Hängebauche auf dem Stuhle stand und den Strang des Klosterglöckleins mit saurer Miene zog.

Meinen Eifer, die Natur zu erforschen, unterstützte mancher dieser Freunde von gesetzterem Alter. Ich lernte welche kennen, die sich mit Botanik, mit Physik beschäftigten, ich schloß mich an solche mit großer Liebe an, und sie eröffneten meinem Forschungsgeiste neue Felder.

Ein lieber Mensch, er hieß Amandus Günzler, (starb später als Dekan zu Leonberg) legte sich in der Physik besonders auf die Erscheinungen der Elektrizität.

Er hatte sich sinnreiche, elektrische Apparate selbst geschaffen. Diese Arbeiten verrichtete er meistens unter meinen Augen. Er erklärte mir spielend das Wesen der Elektrizität, ihr Entstehen, ihre Wirkungen.

Ich freute mich seiner Maschinen, des Blitzes, den er in ein Häuschen schlagen ließ, der Glöckchen, die er durch Elektrizität in Bewegung setzte, der durch diese Materie in tanzender Bewegung gehaltenen Figürchen von Pappe.

Oft war ich auch der Begleiter dieser Freunde auf ihren Spaziergängen um die Seen und in die Wälder.

In einem herrlichen Buchenwalde, eine halbe Stunde vom Kloster, hatten diese jungen Leute Anlagen, Rasenbänke und natürliche Lauben geschaffen. Man nannte den Ort das Kapuzinerbrünnlein, von einem Brünnlein, das dort aus Felsen entsprang und einen kleinen See bildete, der rings von hohem Schilf und überhängenden Buchen beschattet war. An dessen Strande nisteten häufig wilde Enten, und ich erblickte da einmal einen Vogel, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, eine Rohrdommel, die mir aus dem Alten Testamente bekannt und [141] merkwürdig war. Auf jedem Besuche dieser Waldgegend fand ich neue Wunder, mir noch unbekannt gewesene Pflanzen, Muscheln und Reptilien.

Die alte Stiftungstafel des Klosters

Kamen Fremde in unser Haus, so wollten sie die Merkwürdigkeiten des Klosters sehen; und mein Vater, müde des Herumgehens, gab meine Schwestern, oft aber auch mich, ihnen zum Führer mit auf den Weg.

Als gewandter Cicerone führte ich sie meistens zuerst dahin, wo die Stiftungstafel des Klosters hing, deren Bilder mir auch jetzt noch auf dem dunklen Grunde der Vergangenheit, leicht und bunt, wie die Bilder einer laterna magica, im Gedächtnisse stehen.

Aus dem Schlüsselbunde des kurzen Professors wurde einer der schwersten Schlüssel geholt, und dieser öffnete die Türe zur Klosterbibliothek, in welche man auf dem Dormente, nach dem Tore, durch das man von dem Chore auf dasselbe kam, einging.

Es war eine hochgewölbte, übrigens nicht große Zelle, deren Bücherschatz von keiner Bedeutung gewesen sein soll.

Derselbe wurde aber auch in meiner Phantasie schon ohne weitere Betrachtung von jener alten Tafel überboten, die an den Wänden jener Zelle hing und in Bildern und in Versen, in Mönchslatein, in goldenen Lettern, Stiftung und Geschichte des Klosters enthielt.

Die Tafel hatte zwei Seitentüren, wie eine Altartafel. Auf der rechten nach außen war eine Waldwildnis abgebildet; in solcher erblickte man Räuber, die Wanderer plünderten und mit Schwertern und Dolchen niederstießen. Auf der linken Seitentüre nach außen sah man [142] Zisterzienser in schwarz und weißen Kutten, als Bauleute beschäftigt.

Einige behauten Steine und Balken, andere trugen Holz und Kalk herbei, noch andere waren in Aufführung einer Kirche begriffen. Diese als Maurer und Steinhauer schaffenden Mönche erweckten in mir immer eine große Teilnahme, und ich wünschte mir stets, ich hätte mit ihnen auch so mitschaffen können.

Auf der innern Seite der rechten Türe hielten ein Bischof und ein Ritter (Bischof Günther und RitterWalther von Lomersheim) die Klosterkirche, ganz im Bilde, wie sie noch ist, der ob ihnen schwebenden Jungfrau Maria hin. Darüber standen die Worte:

»Laß dir dieses Opfer gnädiglich befohlen sein.«

Im Innern der linken Türe kniete der erste Abt des Klosters (Diether 1148), und aus seinem Munde gingen die Worte:

»O! Mutter Gottes, laß dir dieses Opfer empfohlen sein.«

Die goldene Schrift auf der Tafel selbst erzählte in Mönchslatein, (das ich auf Anleitung des Professors einmal ins Deutsche, mein armer Gottfried aber ins Griechische und Hebräische übersetzen mußte), wie diese Gegend, in der nun das Kloster steht, vordem in großer Waldwildnis lag, nur von Räubern bewohnt, so daß in ihr kein Friede war, keine Glocke erklang, nur Schwertergeklirr und Notruf der Beraubten und Halberschlagenen. Da faßte der edle Ritter Walther von Lomersheim den Entschluß, gerade in diese Wildnis ein Kloster zu bauen. Der Klang von Glocken, der Gesang aus Klosterhallen werde die Räuber ferne halten, verwilderte Herzen erweichen und Gottes Frieden in diese Gegend bringen. Mit Geldsäcken zum Baue des Klosters beluden der Ritter und Bischof Günther von Speyer einen Esel mit dem Entschlusse, daß auf der Stelle, wo [143] das Tier in jener Wildnis seine Last nicht weiter tragen könne, der Bau des Gotteshauses unternommen werden sollte. Dies geschah an der Stelle, wo der sogenannte Salzbach entspringt.

Ich betrachtete noch oft den viereckigen Turm, unter dem man gleichsam wie unter einem Triumphbogen hindurchfahren mußte, und der über seinem Eingange den am Bach oder Brunnen (Maulbronn) mit seinen Geldsäcken niedergefallenen Esel in Stein gehauen zum Wahrzeichen hatte.

Nun wurde diese Stelle der Wildnis zum Klosterbaue erkoren. Licht wurde in sie durch Ausrottung der Wälder gebracht; man legte Wege an, führte mächtige Quadersteine, den Felsen entrissen, herbei. Die schönen Kreuzgänge hatten sich schon gewölbt, Mönche waren herbeigeströmt, und schon legte man den ersten Stein zum Baue der Kirche – da erschienen auf einmal die Räuber, begehrten Stillstand des Baues und erklärten den Mönchen, sie seien fest entschlossen, wenn sie nicht mit dem Baue aufhörten, alles bisher von ihnen Gebaute niederzureißen.

Da trat ein schlauer Mönch zu ihnen, und sprach, sie freundlich anblickend: O! gebt euch doch keine Mühe mit dem Niederreißen; wir selbst wollen euch geloben, das Kloster nicht auszubauen. Darauf ließen sich die Räuber einen Eid geben und ließen die Mönche inzwischen in Ruhe. Aber die Mönche bauten an der Kirche fort, als wäre nichts geschehen, und ließen nur im Schiffe der Kirche an einer Mauer links einen Quaderstein uneingesetzt und legten ihn zu Füßen der Mauer.

Nun klangen die Klosterglocken weit durch die Wildnis und die Räuber, zornentbrannt, kehrten um, Rache an den eidbrüchigen Mönchen zu nehmen; diese führten sie aber an jene Stelle ihrer schönen Kirche, wo der Stein am Boden lag und oben noch einer fehlte, und sprachen zu [144] ihnen: »Ihr sehet, die Kirche wartet noch jetzt auf ihre Vollendung und soll auf sie warten bis auf den jüngsten Tag.« So sahen sich die Räuber von der List der Mönche bezwungen, sie konnten sie keines Eidbruches beschuldigen, wurden auch von der Schönheit des Baues ergriffen und bedachten sich auch wohl, daß ohne starke Beschützer all dies von ihnen nicht hätte geschaffen werden können; man sahe sie von nun an in diesen Wäldern nicht mehr.

Jener Stein am Fuße der Mauer, links von dem großen Altarkreuze, liegt noch da, und oben auf der Mauer, wo er hätte eingesetzt werden sollen, erblickt man eine zum Schwur aufgehobene Hand von Stein, unter welcher Insignien der Baukunst: Kelle, Winkelmaß und Spaten eingehauen sind.

Die Klosterprediger

In dieser großen gotischen Kirche wurde nur zur Sommerszeit Gottesdienst gehalten; für die andere Jahreszeit war eine andere Kirche vorhanden, die aber nur wie eine Art von Betsaal aussah und zwischen dem Dormente und dem Hause lag, in dem der Speisesaal der Klosterzöglinge sich befand. Es war aber eine schlechte Erbauung in beiden. Jener Betsaal hieß die Sommerkirche. Der Gottesdienst begann meistens mit der Zeremonie, daß der Primus der Promotion (der Erste der Zöglinge) sich erhob, nach dem Stuhle, in dem die Frau Prälatin saß, schritt und ihr mit tiefem Bücklinge das Gesangbuch mit dem Gesange, der vorgeschrieben war, darreichte, wobei der gegenübersitzende Herr Prälat seine Schritte wohlgefällig verfolgte.

Die Frau Prälatin hatte ganz den Kopf und die Augen [145] einer Eule, war gegen Untergebene und den Herrn Gemahl sehr herrschsüchtig, gegen uns aber ziemlich bescheiden: denn wir kannten sie schon von Ludwigsburg her, wo sie eine andere Rolle als Häushälterin im Forsthause des Osterholzes spielte.

Außer dem Professor Maier befand sich damals zu Maulbronn noch ein Professor Namens Hiller, ein alter, frommer, stiller Mann, mit einem gar zarten Stimmchen. Er war hauptsächlich Mathematiker. Auch er war, wie Maier, zugleich Prediger, und sein Vortrag so, daß man bald schlafen mußte, welche Wirkung Maiers Vortrag nicht hatte. Dieser war sehr eindringend und erweckend, denn er tönte fast ganz so wie ein Kamm, wenn man mit ihm auf einer Fensterscheibe auf- und abfährt.

Maier hatte eine sehr gelehrte Schrift in lateinischer Sprache, betitelt: historia diaboli geschrieben, und predigte viel vom Teufel; der sanfte Hiller aber mehr von den Engeln, ihrer und der Menschen Erschaffung und von dem Alter der Welt und der Erzväter, wobei er lange Berechnungen anstellte.

Auch der Herr Prälat predigte zuweilen, soll aber nach Älterer Urteil, auch wenn er predigte, eigentlich gar nichts gepredigt haben, wie ich mich auch durchaus nicht mehr erinnere, was er denn einmal predigte. Außer der Kirche predigte er mir oft (und diese seine Predigten behielt ich), wenn ich mit meinen Kameraden die Stille der Kreuzgänge in der alten Kirche und den Fleiß der Zöglinge auf dem Dormente durch laute Spiele zu sehr störte. Da schuf er mir starken Zank beim Vater, kam aber darüber oft mit seiner Ehehälfte in einen noch stärkern.

[146] Die Prälatin mit dem Eulenkopfe

Ich war nämlich ihr Liebling noch vom Osterholz her und konnte sie wohl leiden, weil sie wie eine Eule aussah, was mir wegen meiner Vögelliebe merkwürdig war, und weswegen ich sie immer sehr begierig ansah. Mein Vater versäumte nicht, so oft wir eine gebratene Gans verspeisten, ihr ihr Lieblingsstück, das spitze fette Hinterteil, durch mich zu übersenden, welches Geschäft ich auch so freudig, wie das Füttern eines Vogels verrichtete.

Meinem Vater, dessen Ernst sich im Umgange, besonders mit Frauen, gern verlor, gab sie manche Veranlassung zu Scherzen. Oft noch im Mondenschein, wenn sie mit ihrem Eulengesichte aus dem Erker der vis à vis von uns stehenden alten Prälatur sah und herüberrief, entspann sich zwischen beiden ein scherzhaftes Zwiegespräch durch die Fenster im Geplätscher des untenstehenden Brunnens. Wenn aber die Prälatin auch manchmal einsam und nur von mir bemerkt im Mondenschein aus den alten Mauern heraussah, und zugleich die Ratten aus dem Keller der Oberamtei ihre Prozession über den Platz nach dem Brunnen angetreten hatten, so kam das mir wie ein Märchen vor.

Die Prälaturgänge und die Klosterkutsche mit dem Prälaten Weiland

Unheimlicher, als in den Kreuzgängen, war es mir in den Gängen der Prälatur, und ich wollte nächtlich nur ungern Bestellungen dahin bringen; denn, wenn ich mir in den Kreuzgängen die Erscheinung eines Abtes oder [147] Mönches gewünscht hätte, so wäre mir die Erscheinung eines Herrn Prälaten und einer Frau Prälatin der neuen Zeit in den Gängen der Prälatur doch sehr unheimlich gewesen.

Matthias, unser Kutscher, ließ es sich auch nicht nehmen, es gehe in diesen Gängen der verstorbene Prälat Weiland, und er sei ihm einmal bei einer nächtlichen Sendung in die Prälatur begegnet, wie er in einem weißen Fracke mit schwarzen Bärtchen an ihm die Treppe herabgestiegen sei und sich dann unten in die Prälaturkutsche gesetzt habe. Diese alte Prälaturkutsche, die unten in einem Seitengewölbe verwahrt wurde, war für uns Kinder sehr merkwürdig. Sie erbte sich von Prälat auf Prälat, hatte die Größe eines kleinen Gartenhauses, und ich meinte, es könnte wohl schon Abt Entenfuß mit Dr. Faust in ihr gefahren sein. Sie wurde nur ein paarmal des Jahres herausgezogen, wenn der Prälat auf den Landtag nach Stuttgart fuhr, oder dem katholischen Prälaten zu Bruchsal einen Besuch abstattete, wozu er jedes Jahr einmal das Recht hatte. Die übrige Zeit war sie der Aufenthalt von Fledermäusen und Katzen, besonders einer alten schwarzen Katze ohne Schwanz, die ich oft aus ihr schleichen sah.

Ging eine solche Fahrt an, so wurde dies Gartenhaus mit vier Pferden bespannt, die dazu vom Klostermüller geliefert werden mußten.

Diesen voran ritt ein Vorreiter, für den auch von langen Jahren her eine Livrée in Bereitschaft war, in die er sich stecken mußte, war er klein oder groß, dürr oder dick, was den Zuschauern oft einen possierlichen Anblick verschaffte.

Jener Prälat Weiland, den Matthias gesehen haben wollte, wie er sich als Gespenst in die Prälatenkutsche setzte, hatte sich zu seinem jährlichen Besuche des Prälaten von Bruchsal eine eigene Kleidung machen lassen, und zwar, [148] wie sie Matthias am Gespenste gesehen haben wollte, einen weißen Frack mit schwarzen Borten (wohl auf die ehemalige Tracht der Zisterzienser deutend).

Als das Kleid fertig war, befiel ihn eine Krankheit, und er konnte in demselben nicht mehr die Prälatenkutsche besteigen. Er ließ sich nun das Kleid an sein Bett aufhängen, so daß er es immer im Auge haben konnte, und mit innigem Lächeln hielt er seine Augen, auch als sie schon im Tode brachen, noch fest auf das Kleid gerichtet, bis er verschied. Sein Gehen nach dem Tode in jenem Kleide nach der Prälaturkutsche fände in dieser letzten Szene seines Lebens eine Erklärung.

Der alte Geisterspuk in der Prälatur

In diesen Gängen der Prälatur, unter ihrem Dache, in ihren Zimmern und auf den Treppen, besonders der Wendeltreppe, die ins Dorment führte, herrschte im Jahre 1659 bis 60 ein so gewaltiges Spuken, daß jenes Prälaten W. einfacher Geistergang nach der Prälaturkutsche dagegen eine Kleinigkeit war.

Alles, was unter dem Dache und in den Zimmern nur beweglich war, wurde, wie von unsichtbaren Händen erhoben und spazierte zum Teil durch die Fenster hinaus in den Prälaturgarten oder in den Hof hinab.

Dabei sah man es im Garten oder dem Hofraume nicht niederfallen, sondern die Gegenstände schwebten langsam zur Erde, als würden sie vermittelst eines Seiles oder sie noch immer haltender Hände niedergelassen. Oft entstand in den verschlossenen Zimmern ein entsetzliches Gerumpel, als würde ein Arm voll Holz an die Türe geworfen; eröffnete man aber das Zimmer, so bemerkte [149] man nichts in ihm als eine schwarze Katze, die sich aber immer während der Verfolgung verlor.

Oft lief es nächtlich die Schneckentreppe hinauf, nicht anders, als ginge jemand in großen weiten Pantoffeln. Als man meinte, es werde nun oben erscheinen, hörte und erblickte man nichts mehr, dagegen warf es nun unten im Gange die Feuereimer, die dort hingen, teils unter einander, teils stellte es sie aufrecht in eine Reihe hin.

Der Prälat, er hieß Schlotterbek, verließ die Prälatur und zog in eine andere Wohnung.

Auf seine Klagen sandte die Regierung eine Abteilung Soldaten, die Tag und Nacht in der nun menschenleeren Prälatur Wache halten mußte. Früher hatten Bürger in ihr gewacht, aber, wie sie, wurden auch die Soldaten von dem Unwesen nur gefoppt und kamen auf keinen Grund.

Ebensowenig brachten fürstliche Räte, die zur Untersuchung gesandt wurden, durch weitläufige Verhöre etwas heraus. Den 15. August nachts kam es in die Stube und dann in die Nebenstube und an das Bette, in dem der Offizier der Wache schlief, und schüttelte und rüttelte die Bettlade, so daß er vermeinte, mit derselben in die Höhe gehoben zu werden. Ein Hund, der mit ihm im Zimmer lag, sprang zum Zimmer, als würde er gejagt, hinaus.

Am 17. nachts sah einer von der Wache bei völliger Windstille zum Laden hinaus, kaum aber hatte er den Kopf wieder hereingezogen, schlug es den Laden wieder mit solcher Gewalt zu, daß er in Stücke zersprang.

In einer andern Nacht zwischen 12 und 1 Uhr entstand in mehreren Gemächern der Prälatur ein furchtbares Gepolter. Der auf der Wache stehende SoldatBrinkh eröffnete das Gemach, von wo aus die heftigsten Töne gingen; da war es ihm aber, als fahre etwas mit großem [150] Ungestüme zum Zimmer hinaus, und es fing auf einmal ein solches Poltern und Krachen an, als würde ein großes Stück vom Dache abgehoben und in den Garten hinabgeworfen. Als man morgens das Dach untersuchte, fand man an ihm nichts verletzt, auch nichts im Garten liegen.

Von einer andern Nacht gab einer der wachhabenden Soldaten an:

Als er vor des Prälaten Gemach Wache gehabt, sei etwas die Schneckenstiege heraufgerauscht; er habe nun nachgesehen, was es sei. Da habe er ein langes, weißes Ding (so war sein Ausdruck) erblickt.

Als er der Schneckenstiege zugegangen, und es genau habe visitieren wollen, sei es auf einmal zu einer runden Kugel geworden, die in die Stiege hinabgefahren.

Oft legte es sich auf die Soldaten im Schlafe, ging schwer, und es war ihnen, als drückte ihnen eine schwarze Gestalt mit beiden Daumen fest aufs Herz.

Am öftesten neckte es die Soldaten und auch die andern Bewohner unter der Gestalt einer schwarzen Katze, die aber größer, als eine gewöhnliche Katze und hinten höher als vorn war.

Die Regierung setzte einen Preis von 40 Fl. auf die Habhaftwerdung dieses gespenstigen Tiers, aber nie konnte es gelingen, immer entwischte es. Diese Geisterkatze wurde meistens, nachdem irgend so ein Spuk geschehen war, sogleich gesehen.

Doktor Faust und sein Freund Prälat Entenfuß

In einer Ecke des Gartens, der hinter der Prälatur und den Kreuzgängen lag, war an die Klostermauer ein Turm angebaut, den man den Fauststurm hieß; denn er diente [151] einst dem berühmten Dr. Faust zum Laboratorium und Aufenthaltsorte.

Der Abt Johannes Entenfuß war ein besonderer Freund Fausts und räumte ihm bei Besuchen diesen Turm zur Wohnung ein; daß war im Jahr 1516.

Entenfuß und Faust waren in dem nahen Städtchen Knittlingen geboren. Ein Zeugnis, daß Fausts Geburtsort Knittlingen war, gab Melanchthon in seinen Tischreden mit den Worten:

»Ich habe einen gekannt, mit Namen Faust vonKnittlingen, einer Stadt in der Nähe meiner Vaterstadt (Bretten). Er hatte auf der Schule zu Krakau die Magie gelernt, schweifte überall herum und lernte viele Geheimnisse.

Er wollte sich zu Venedig sehen lassen und sagte: er wolle gen Himmel fliegen.

Der Teufel aber zog ihn herab und gab ihm einen solchen Stoß, daß er auf die Erde stürzte und fast gestorben wäre; doch starb er nicht.

Vor wenigen Jahren saß dieser Johannes Faust abends gar traurig in einem Dorfe. Der Wirt fragte ihn: warum er gegen seine sonstige Art und Weise so traurig sei. Er sagte: Laß dich heute Nacht nicht erschrecken. Um Mitternacht nun bekam das Haus einen Stoß. Als morgens Faust nicht aufstand und es fast schon Mittag war, ging der Wirt in sein Zimmer und fand ihn neben dem Bette auf dem Gesichte liegen; und so hatte ihn der Teufel getötet. Er hatte, so lange er lebte, einen Hund bei sich, welcher ein Teufel war.« –

Es ist schade, daß Melanchthon das Dorf nicht benannte, in dem Faust sein tragisches Ende gefunden haben soll. Zu Maulbronn sagte man nicht anders, als daß ihn der Teufel auch in jenem Turme seines Freundes, des Abts Johannes Entenfuß, geholt habe.

[152] Mein Aufenthalt in Knittlingen

Die Stille des Klosters wurde nun oftmals durch Töne unterbrochen, die in seinen Mauern wohl schon lange nicht mehr gehört wurden. Geschütze und Pontons zogen ganze Nächte lang auf der Straße vor dem Kloster vorüber, an den benachbarten Rhein; und bald ertönte von daher der Donner österreichischer und französischer Kanonen. Bald sprach man von Siegen der Franken, bald von denen der österreichischen Truppen.

Die Gefahr feindlichen Einbruches schien nahe zu sein, doch ging sie wieder auf kurze Zeit vorüber.

Mein Vater erkannte wohl, daß in Maulbronn mein Unterricht zu vielen Unterbrechungen ausgesetzt war, und daß – würde ich von all den Zerstreuungen im Hause entfernt und einem einzelnen Manne zur steten Beaufsichtigung übergeben, – daraus mehr Gewinn für mein Wissen und meine Erziehung erwachsen würde. In dem zwei Stunden von Maulbronn entfernten Knittlingen (eben dem Geburtsorte Fausts) befand sich damals ein lateinischer Lehrer (Präzeptor), Namens Braun. Er war in dem Rufe eines guten Lateiners und strengen Erziehers, wenigstens seiner eigenen Kinder.

Ich mußte dahin.

Mit großer Trauer schied ich von meinen Blumen und meinen Tieren; doch wurde mir das Versprechen gemacht, ich dürfe jeden Samstag über den Sonntag wiederkehren, wozu Matthias mir die Rappen bringe.

Letzterer versprach mir auch für meine Tiere zu sorgen, meine Schwester für meine Blumen, und meine Mutter versicherte mich, was sie auch treulich hielt, mir so oft als möglich Schachteln voll Obst zu senden.

Das Haus des Präzeptors zu Knittlingen hatte, hinter einer Kirche versteckt, eine sehr fatale Lage. Es war kein [153] freier Platz vor ihm, wie vor dem Hause zu Maulbronn; und statt des schönen lebendigen Brunnens war vor ihm eine Miststätte, wegen welcher der Präzeptor mit seinem Nachbar, dem Schulmeister, immer im Streite lag.

Der Präzeptor war ein langer, hagerer Mann, mit ganz schneller, fast stotternder Aussprache.

Aus Rücksichten für meinen Vater, und aus Furcht, ich möchte ihm nicht lange gut tun, war er zwar gegen mich nicht heftig, aber gegen seine Kinder, und namentlich gegen seine 3 Knaben, die so ziemlich in meinem Alter waren, so strenge und tyrannisch, daß er sie bei den kleinsten Vergehen barbarisch schlug, ja sie oft noch dabei auf den Boden warf und mit den Füßen auf ihnen herumtrappte. Dieses Schicksal traf besonders oft seinen 2. Sohn, Namens Gottlieb, der in spätern Jahren in Karlsruhe der Verleger meiner ersten Schriften, meiner Reiseschatten, meines Musenalmanachs, der Geschichte zweier Somnambulen und noch anderer Schriften von mir wurde.

Dieser hatte den gutmütigsten Charakter von allen, sah aber immer kränklich aus, wogegen der ältere,Friedrich, wie das Leben blühte. Diesen, mehrere Jahre älter als ich, traf ich später in der Tuchfabrik zu Ludwigsburg wieder. Er hatte sich in sieben Sprachen geübt, machte als Kaufmann eine schöne Laufbahn, auch durch gute Verheiratung, ergab sich aber dem Trunke und endete sehr elend, wogegen Gottlieb bis zu seinem Tode die Stütze der übrigen Geschwister blieb.

Unter diesen befand sich ein damals noch kleines Mädchen, das, zur Jungfrau herangereift, eine der größten weiblichen Schönheiten wurde. Auf eine bedauernswürdige Weise wurde sie an einen als Kaufmann auf den Messen herumziehenden Italiener verheiratet, bei dem sie ein höchst trauriges Los traf. Sie erkrankte und wurde geschieden; da nahm sie der Bruder Gottlieb, jetzt Buchhändler [154] in Karlsruhe, auf. Hier lernte sie der Dichter Ludwig Robert, Rahels Bruder, kennen, und nahm sie, von ihrer Schönheit bezwungen, zur Gattin. Er und sie starben bald nach einander. – Varnhagen stiftete ihr in seinen Biographien ein schönes Monument, und Heine dichtete auf sie mehrere Sonette, in denen er sie aufrief, aus dem Sande von Berlin nach Indien zu ziehen, und gewiß, sie war eine wahrhaft indische Schönheit, eine Sakontala.

Die Mutter war eine sanfte und gutmütige Frau, hatte aber durch den schweren Haushalt und den Jähzorn ihres Mannes viel zu ertragen. Ihre Sorge für mich war mütterlich.

Die Veränderung, die ich hier gegen mein voriges Leben fand, war der Art, daß mich wohl ein starkes Heimweh hätte ergreifen können, was aber doch nicht der Fall war. Wo die Jugend nur wieder in ihrer Phantasie sich mit etwas Neuem beschäftigen kann, da ist sie schon zufrieden.

Meine neue Ausstattung in Kleidern, Waschgeräte, einem Koffer, einem Stiefelzieher, war aller Trost und Ersatz, und ich fühle, – denke ich diesem Stiefelzieher nach, – jetzt noch im Alter, ein Wohltun um die Herzgrube herum, das ich damals durch ihn gefühlt haben muß.

Die Freude auf den Tag, an dem der Bote mit der mütterlichen Schachtel ankam, das Rechnen und das Sichfreuen auf den Samstag, wo der alte Matthias mit den Rappen erschien und der Ritt ins Kloster angetreten wurde, ließ kein eigentliches Heimweh aufkommen, wurde auch dadurch die Sehnsucht nach der Heimat nicht unterdrückt.

Der Unterricht in der lateinischen und in der griechischen Sprache war nun allerdings geregelter, und die älteren Söhne des Präzeptors hatten schon schöne Fortschritte gemacht, denen ich nacheiferte.

[155] Der Religionsunterricht bestand leider meistens nur im Lesen und in abenteuerlicher Erklärung der Offenbarung Johannis und begann meistens mit der Warnung: »Buben! wenn ihr euch nicht vor dem NamenJesu beugt, so oft dieser Name vorkommt, so schlag ich euch den Stecken um die Füße herum.«

Auf eine schöne Handschrift sah der neue Lehrer besonders. Die seiner Söhne war sehr schön. Sie schrieben in den verschiedensten Formen von Buchstaben, und selbst in großer Mönchsschrift mit Farben.

Die Zubereitung solcher farbigen Dinten, meistens vegetabilische Säfte, führte uns zur Sammlung von Blättern, Blüten und Beeren in Felder und Wälder.

Der Durchzug österreichischer Truppen und das Gespräch Älterer vom Kriege brachte uns auf kriegerische Spiele mit den anderen Knaben des Städtchens, bei welchen ich als ehemaliger Kommandant der kleinen Landmiliz von Ludwigsburg meistens die Hauptrolle spielte.

Der Sturm des Krieges brach aber nun immer ernster und näher herein. Die Franzosen waren mit großer Heeresmacht über den Rhein gebrochen und näherten sich der Pfalz und der württembergschen Grenze. Tag und Nacht ertönte Kanonendonner.

Rückkehr nach Maulbronn beim Erscheinen der Franzosen

Die sorgliche Mutter hielt mich zu Knittlingen, das der Pfalz so nahe war, nicht mehr für sicher, und ich wurde auf ihre Veranlassung von dem Postmeister zu Knittlingen in eine Chaise gepackt und fuhr unter den hellen Tönen eines Posthorns nach einigen Stunden in den [156] Klostermauern ein. Das waren dort gar seltene Klänge, und alles lief dem Gefährte nach; denn man glaubte nichts Geringeres, als es sei der kommandierende General aus dem französischen Hauptquartiere angekommen. Ich glaube, dasselbe stand dazumal unter Dessaix in der Gegend von Pforzheim. Mein Vater hatte sich dahin begeben, um von Dessaix Schutz und Sicherheit für Kloster und Oberamt zu erhalten, aber noch ehe er angekommen war, hatten sich die weiten Räume des Klosters mit leichten französischen Chasseurs zu Pferde (einem Streifkorps) angefüllt, die vor denjenigen Wohnungen, die ihnen den reichsten Inhalt zu haben schienen, abstiegen und sich in ihnen zu Gast baten.

Der Professor im Kamine

Der gute Professor Maier hatte nicht mehr Zeit, seine weiße Zipfelkappe und Schlafrock mit dem schwarzen Magisterkäppchen und Frack zu vertauschen; sie überraschten ihn gerade in der Küche, als er sich mit seiner Ehehälfte Therese um die Schlüssel zur Speisekammer stritt, weil er aus dem Kamine die Schinken, die er dort nicht mehr für sicher hielt, in die Speisekammer bringen wollte, wozu er schon eine Leiter auf den unter dem Kamin stehenden Herd aufgepflanzt hatte. Als er aber nun durchs Küchenfenster die herannahenden Franzosen erblickte, warf er schnell den Schlüssel der Speisekammer in eine Wasserkufe, stieg in Angst und Verlegenheit, so schnell er nur konnte, auf der Leiter ins Kamin empor und rief noch mit halbgebrochener Stimme hernieder: »Sie nehmen mich als Geißel mit, darum kommen sie. Therese, ich sag Ihnen, verraten Sie mich nicht!« »Wie?« rief sie hinauf, »steigen Sie sogleich herunter, ich gehe [157] nicht aus der Küche ohne Sie!« Da waren die Chasseurs schon in der Küche, sahen die Leiter auf dem Herde und fragten in gebrochenem Deutsch, was das bedeute, während einer an der Leiter zu rütteln anfing. Die Professorin gab zu verstehen, das sei, um ihnen Würste und Fleisch aus dem Rauche zu holen, rief auch ihrem sich zitternd an der Leiter haltenden Manne zu: »Kommen Sie nur mit den Schinken und Würsten herunter!« Da kam der kurze Professor in Zipfelkappe und Schlafrock auch langsam hernieder, indem er die Schinken und Würste (gleichsam als Fürsprecher für sich) vor sich voraus geworfen hatte. Die komische Gestalt des Herabsteigenden machte das lustige französische Blut laut auflachen, sie hoben ihn auf ihre Arme, trugen ihn ins offen stehende Zimmer und setzten ihn unter Umarmungen und Verbeugungen in seinen Armsessel, den sie dann mit ihm an den Tisch trugen, und ihm, sowie der freundlich am Arme des Offiziers herbeigekommenen Ehehälfte zu verstehen gaben, daß sie gute Freunde seien und nichts mehr begehrten, als nur Wein zu den Würsten. Frau Therese brachte aber nun nicht nur diesen, sondern sie fischte auch den Speisekammerschlüssel wieder aus der Wasserkufe, ließ ein Feuer auf dem Herde anzünden und bereitete in Eile die Schinken und Würste und anderes den Gästen zum fetten Mahle. Die Professorin spendete auch sonst immer gern mit reichen Händen zum Jammer ihres Ehegemahls, und sie beklagte nie den Verlust aus Kamin und Speisekammer, sondern nur den Verlust der Reinheit ihrer Stubenböden oder ihres Tischweißzeuges, was auch jetzt allein ihr sehr schmerzlich war.

[158] Die Franzosen in der Oberamtei

Weniger Störung verursachten die Franzosen in der Prälatur. Es stiegen bei 24 Chasseurs vor derselben ab, sprangen die Treppen hinauf, kamen aber eben so bald wieder, wie von einem Schreckbilde verscheucht, zurück.

Die Frau Prälatin mit dem Eulenkopfe hatte sie auf der Treppe empfangen, da suchten sie schnell wieder das Freie; nur wenige blieben, und der größte Teil wandte sich nach der der Prälatur gegenüberstehenden Oberamtei, wo aus den Erkern junge Mädchen schauten, die großen Kellertüren ihnen reichlichen Wein und der rauchende Schornstein ihnen Speise zu verkünden schienen.

Hier waren auch schon in Küche und Keller alle Hände in Tätigkeit. Meine ängstliche Mutter war bereit alles zu geben, nachdem sie aber doch vieles versteckt hatte, was ihre Angst und Bereitwilligkeit zu geben nur wieder vermehrte. Wir hatten sogar von einem Straßburger adeligen Gutsbesitzer, einem Herrn von Türkheim, Kisten voll reicher Effekten, die er über den Rhein zu uns rettete, im untern Stocke des Hauses in Verwahrung.

Doch man sah bald, daß es hier auf kein Plündern abgesehen war, und meine lebhafte Schwester Ludovike, nachdem sie sich in Herbeischaffung von Speise und Trank erschöpft hatte, kam auf den Einfall: es wäre ganz schön und würde dem Bruder in Paris sicher wohlgefallen, ja! könnte ihm dort von Nutzen sein, würde die Mutter einen Ballen roten wollenen Zeuges, den sie zu Sesselüberzügen bestimmt, den guten Franzosen zu Kappen austeilen, das würde sie so erfreuen, daß sie gewiß nach dem Versteckten nicht fragen würden.

Die beängstigte Mutter willigte ein. Schnell ward das gute Stück roten Wollenzeuges zu Kappen verschnitten, [159] am Ende des Mahls an die trunkenen Gäste, die voll Jubel waren, ausgeteilt, während schon unten der Trompeter zum Abmarsch blies.

Flugs waren sie alle versammelt und wieder zu Pferde und verließen mit ihren anderen Kameraden in schnellem Galopp das Kloster zur großen Beruhigung meiner Mutter und des Professors Maier, aber zu meinem Leide; denn diese neue Erscheinung hatte mich in der Seele erfreut.

Die Sauvegarde

Die Sauvegarde. Meine und meines Vaters Gesinnungen gegen die Franzosen. Mein Bruder Karl

Mein Vater kam am andern Tage mit einer Sauvegarde, mehreren Chasseurs, und den besten Versprechungen vom General Dessaix, daß das Kloster geschont und geschützt werde, aus dem französischen Hauptquartier zurück.

Ich hatte damals, obgleich schon 10 Jahre alt, für Politik noch gar keinen Verstand. Und geschah es, daß ich den Franzosen mehr anhing, als den Österreichern, so kam dies nur daher, weil mein BruderGeorg in und für Frankreich lebte; auch waren die Franzosen mir wieder etwas Neues. Die Österreicher in den immer weißen Röcken waren mir nach und nach langweilig geworden.

Es kamen mir die Franzosen in ihrem gebrochenen Deutsch, mit dem sie sich bemühten, sich mir zu verständigen, während ich ihnen nachhelfen durfte, auch kindlicher und zutulicher vor; es machte mich bald vertraut mit ihnen.

Um ihr politisches Wollen kümmerte ich mich nicht. So [160] kam es, daß die Chasseurs, die mehrere Wochen lang in der Oberamtei und sonst im Kloster als Sauvegarde einquartiert blieben, mir zu großer Freude und Zeitversäumnis wurden, und ich nur mit Tränen von ihnen schied.

Ich habe von einem derselben noch Jahre lang geträumt. Es war ein junger Mann von etlich und zwanzig Jahren mit langem schwarzem Knebelbart, bleichem Aussehen, kohlschwarzen feurigen Augen, schwarzen Haaren, immer lebendig, voll Feuer und dennoch voll Sanftmut, und mitspielend wie ein Kind. Auf welchem Schlachtfelde bleichen wohl seine Gebeine?

Mein Vater zeigte sich zwar gegen jeden einzelnen Franzosen immer ernst, aber gefällig, nie mißlaunisch, gehässig; ihre Lebendigkeit gefiel ihm, aber die Nation und ihr politisches Treiben war ihm ein Greuel, wie der Aufenthalt seines Sohnes Georg unter ihnen. Ich besitze noch das Fragment eines Briefes, den er in dieser Zeit an ihn nach Paris schrieb, in dem es heißt: »Die Franzosen sind nun aus hiesiger Gegend entfernt. Heute die ganze Nacht durch hat es ihnen gegolten, man hörte hier den Kanonendonner. Die Neckarschanze bei Mannheim ist schon in den Händen der Deutschen. Clerfait ist bei Oppenheim über den Rhein und schon bis Alzey vorgedrungen, wobei die Franzosen ein Merkliches einbüßten.

Überhaupt: Friede! Friede ist das Beste! Die französische Republik ist gar zu sehr auf Blut gebaut, und dieser Fluß von Blut wird noch so stark, daß all die Freiheit in ihm ertrinkt. Es wird am Ende euch all dies selbst wie ein böser Traum werden, den ihr träumtet. Mein Sohn! bewahre doch in diesem Lande der Chimären Dein deutsches Blut!«

In einem andern väterlichen Schreiben an ihn heißt es: »Deine Vaterstadt Ludwigsburg kann nicht von der gepriesenen Tapferkeit Deiner französischen Freunde zeugen, [161] wohl aber von deutscher. Eine Handvoll sächsischer Jäger und leichter Reiter überfielen die Franzosen in Ludwigsburg (1796), der französische General Frimont versteckte sich in unseren ehemaligen Schweinstall (in der Oberamtei). Ein sächsischer Schütze nahm in der Kanne einen ganzen Tisch voll Franzosen gefangen, indem er die Büchse am Backen in das Zimmer trat und ihnen zurief: Ihr seid alle Prisoniers! In der Rose erwischte ein Dragoner einen Kriegskommissär mit einer Kasse von 30000 Franks.« –

Die entgegengesetzte Richtung seines Sohnes Karl gereichte auf der andern Seite aber zu jener Zeit meinem Vater zu großer Freude. Dieser setzte in der herzoglichen Artillerie, in der er als Unterleutnant stand, seine militärische Ausbildung tätig fort. Als die französischen Truppen am 24. Junius 1796 über den Rhein zogen, marschierte er zum erstenmal gegen den Feind. Die auf den befestigten Punkten des Kniebis und zu Freudenstadt verteilten Geschütze gerieten, da sie keine eigene Bespannung hatten, in große Gefahr genommen zu werden. General St. Cyr nahm am 2. Julius die Schanze auf dem Kniebis, worauf ein eiliger Rückzug der Reichstruppen erfolgte. Den mutvoll getroffenen raschen und zweckmäßigen Veranstaltungen des jungen Leutnants war es zu verdanken, daß jene Geschütze samt Munitionswagen dem Vaterlande gerettet wurden.

Mein Erkranken

Mein Vater war im Begriffe, mich in eine größere Stadt zur Erziehung zu geben, da er mich nach Knittlingen nicht wieder zurück zu bringen wünschte: denn der wundersame Präzeptor Braun daselbst vertiefte sich immer [162] mehr in die Erklärung der Offenbarung Johannis, wodurch dessen psychischer Zustand meinem Vater immer verdächtiger wurde, als eine Krankheit meinen Körper befiel, die mit großer Hartnäckigkeit, fast ein Jahr andauerte. Mein Wachstum ging äußerst schnell vor sich, und wahrscheinlich als Entwicklungskrankheit trat eine außerordentliche Reizbarkeit der Nerven meines Magens ein, so, daß ich alles, was ich aß und trank, oft sogleich, oft nach einer Stunde wieder erbrechen mußte. Es wurden viele Ärzte gebraucht, deren Kunst an diesem hartnäckigen Übel scheiterte. Es ist mir noch unbegreiflich, daß ich nicht den oft ganz unsinnigen Mitteln dieser Heilkünstler erlag, und vielleicht geschah es nur daher, daß ihre Mixturen, Pulver, Latwergen und Pillen von meinem Magen ohne allen Respekt sogleich wieder weggeworfen wurden, und sie nicht durch längeres Verweilen in ihm ihre Wunder verrichten konnten.

Einer dieser Äskulape machte die Verordnung, man solle mich, so lange es nur möglich sei, gar nichts mehr von Speise durch den Mund nehmen lassen, sondern mir täglich nur Gerstenschleim durch ein Klisma, statt der Speise beibringen.

Es waren lamentable Tage dieses Versuches, in welchen ich, wenn sich die andern zu Tische setzten, zur Entschädigung und um das Essen zu vergessen mit dem Matthias auf einen Spazierritt geschickt wurde. Die Marter war um so größer, da ich beständigen Hunger hatte, so daß ich im Reiten oft heimlich Laub von den Bäumen streifte und aß. Ich weiß nicht wie viele Tage lang man diese Kur an mir versuchte, aber ich wurde dadurch natürlich fast zum Hungertode gebracht, konnte auf dem Rappen mich nicht mehr halten, und verfiel in Ohnmachten und Krämpfe, in denen jener Äskulap der erste war, der nach Suppe und weichen Eiern sprang und sie mir auf dem alten naturgemäßen Wege beibrachte.

[163] Aufenthalt in Brackenheim

Besonders geschickt zur Heilung meines Leidens hielt man einen damals zu Brackenheim, 5 Stunden von Maulbronn, wohnenden Arzt, und da sich daselbst gerade auch ein sehr tüchtiger Lehrer der alten Sprachen befand, und der Dekan des Orts, Uhland, (Oheim des Dichters) der Neffe meines Vaters war, so brachte man mich auf mehrere Monate dahin.

Bei all diesem körperlichen Jammer hatte ich meine Elastizität und Munterkeit beibehalten, denn mein Leiden war nie der Art, so bleich und mager es mich auch machte, daß ich zu Bett liegen mußte. Es war in mir kein fieberhafter Zustand, der mich verzehrte, es war nur der zu wenige Nahrungsstoff, der in mir haften blieb, was mich bleich und mager machte.

Der Frühling war da, ich hatte meine Blumenbeete aufs beste angesäet und bepflanzt, als ich nach Brackenheim abgeschickt wurde. Die abermalige Trennung fiel schwer, aber der Aufenthalt im Hause des Dekan Uhland ward mir durch freundliche Behandlung und den Umgang mit dem Sohne, der mit mir in fast gleichem Alter stand, erleichtert. Er hieß Ernst, und paarte mit äußerm Ernste und Trockenheit ein sehr gemütliches und joviales inneres Wesen. Wir fanden uns später zu Tübingen auf der Universität wieder, wo wir miteinander im sogenannten Neuenbau wohnten. Er war der redlichste, offenste, treueste Mensch der Welt. Zum Jammer aller die ihn kannten starb er schon im frühern Mannesalter, als geschätzter Mensch und Arzt, in meiner Geburtsstadt Ludwigsburg.

Die Fortschritte in meiner Gesundheit durch die Mittel des Brackenheimer Äskulaps waren nur scheinbar oder nichts, das Übel blieb wie es war; bessere Fortschritte [164] machte ich aber hier in Erlernung der alten Sprachen, denn dieser Lehrer gehörte unter die besten jungen Schulmänner der damaligen Zeit. Er paarte Strenge mit Wohlwollen. Er war oftmals unser Führer auf den Spaziergängen und beim Bade in den frischen Wellen der Zaber, das mir meiner Gesundheit wegen vorgeschrieben war. Eine Ohrfeige, die ich einmal von ihm erhielt, bleibt mir noch jetzt schmerzlich im Gedächtnis. Es geschah mir damals fast wie dem Knaben der: »vox populi, vox Dei«, mit den Worten: »die Stimme der Pappel, die Stimme Gottes« übersetzte, und dieser hatte doch gewiß recht.

Der St. Michaelsberg

Die Gegend von Brackenheim bot viele romantische Punkte zu Spaziergängen und Wanderungen dar, und oft machten wir zum Ziel derselben den Michaelsberg mit seiner alten dem Erzengel Michael geweihten Kirche und seinem Kapuzinerhospize. Die Aussicht auf diesem Berge erstreckt sich besonders gegen die Gaue des Neckars und die lange Reihe der schwäbischen Alb.

Hier erblickt man eine Menge von Städten, Dörfern und Burgen; aber noch mehr als diese Fernsicht, erfreuten mich immer die zwei alten langbärtigen Kapuziner in ihren kleinen, mit Blumen und Bildern geschmückten Zellen, oder in ihrem Klostergärtchen, wo sie die schönsten Blumen anpflanzten, die mir ein Heimweh nach meinen im Kloster Maulbronn zurückgelassenen Blumen erregten. Das Innere der Kirche zeugte von hohem Alter: denn es fanden sich mehrere Säulen in ihr, deren Kapitäle römischen Ursprung verrieten; ja sie soll ein [165] Tempel der Luna gewesen sein; denn man will in ihrer Nähe früher einen Mondaltar gefunden haben.

Die Kapuziner aber waren lustige Brüder, wozu ihnen der rebenreiche Berg wohl Veranlassung gab, auch die vielen frohen Gesellschaften, die von nah und fern bei schöner Frühlingszeit, statt der ehemaligen frommen Wallfahrten, auf diesen Berg wanderten und auf seiner Höhe sich mit Spielen und Tanzen, Essen und Trinken belustigten. Die Kapuziner mit den grauen Bärten und braunen Kutten machten da oft wacker mit, so daß der Hirtenknabe im Tale wohl füglich hinaufsingen konnte:


»Dort oben auf dem Hügel,
Wo die Nachtigall singt,
Da tanzt der Einsiedel,
Daß die Kutt' in die Höh' ihm springt.«

Man sagt, auf diesem Berge habe der heilige Bonifatius mit dem Teufel einen Zweikampf gehabt, in welchem ihm der Engel Michael zu Hülfe gekommen; dabei habe der Engel eine Feder aus seinem Flügel fallen lassen, dieser habe der Heilige dann eine Kirche hier gestiftet und zu Ehren Michaels eingeweiht. Die Feder, die lange Zeit in der Kirche bewahrt wurde, soll zur Zeit der Reformation von da weggekommen sein; man sagte, es habe sie ein alter Stadtschreiber aus Stuttgart, der von der katholischen zur lutherischen Kirche übergegangen, heimlich an sich gezogen. Vergebens baten die Mönche des Berges bei Herzog Ulrich um die Bestrafung des Stadtschreibers und Zurückgabe der heiligen Feder; sie erhielten keine Genugtuung. Darob im Zorn entbrannt habe der Erzengel Michael die Strafe der Vielschreiberei überWürttemberg ausgeschüttet.

In spätern Jahren, als Student, besuchte ich einmal mit meinem Freunde, dem Dichter Ludwig Uhland, diesen Berg.

Es waren schöne Herbsttage, und Uhland rief mich[166] damals in einem Briefe mit folgenden Worten aus Stube und Haus: »Welch herrliches Herbstwetter! es ist als riefe der Gott des Jahres uns zu: kommt herbei, die ihr nicht genossen des Frühlings, des Sommers arkadische Freuden, denen umsonst der Baum geblüht, die Rose geduftet! Die Halle meiner Freuden soll euch nicht ganz verschlossen werden, bevor auch ihr euren Teil davongetragen. Noch einmal schlag ich auf meinen blauen Himmel! Noch einmal laß ich meine Sonne herrlich leuchten. Meine Trauben sind reif, meine Weingärten geöffnet! Eilet herbei, die Zeit ist kostbar! Ersetzet, was ihr versäumt! Die ihr im Mai nicht von Liebe gesprochen, sprechet jetzt. Auch euer Liebchen rufe ich noch einmal in den Garten. Mädchen und Jünglinge! lebet und liebet!«

Wir hatten von Ludwigsburg an miteinander die Wallfahrt nach dem Michaelsberge angetreten. Als wir uns dem rebenbekränzten Berge nahten, tönten uns aus den offenen Toren der Kirche Gesang und Orgelklang entgegen. Wir traten in sie in sehr frommer, romantischer Stimmung ein. Da hörten wir einen der Mönche das Evangelium in deutscher Sprache absingen. Mehrmals kamen in diesem Gesang die Worte vor: »und als sie aßen von den Früchten des Weinstocks«, allein der Mönch sang, so oft diese Worte vorkamen, immer statt »des Weinstockes«, »des Schweinstockes«. Dadurch wurden wir in aller romantischen Andacht gestört und brachen endlich in ein konvulsivisches Gelächter aus, das uns die Kirche eilends zu verlassen nötigte, um nicht die Andacht anderer zu stören.

Die romantischen Burgen von Stocksberg undNeipperg waren hier auch oft das Ziel unserer Wanderungen.

[167] Erste kindliche Naturforschung

Der Lehrer hatte uns auch Unterricht in der Botanik erteilt und suchte auf solchen Wanderungen unsere Kenntnisse zu erweitern; aber ich konnte lange solchen Namensbestimmungen und Einregistrierungen der Blüten und Kräuter keinen Geschmack abgewinnen, und mir waren die Blumen, deren Namen ich nicht kannte, viel wunderbarer und lieber, als solche, denen ich durch ihr Zergliedern und Zählen der Staubfäden einen Namen zu geben wußte, der mir ihr Wesen doch nicht bezeichnete. Ich gab den gesammelten Kräutern am liebsten Namen nach eigener Wahl, meistens nach mir bekannten Menschen. Der kurze Professor Maier, seine schneeweiße Theresia, der komische Kutscher Matthias, der steife PrälatMieg und seine Gattin mit dem Eulenkopfe, der grimmige Präzeptor Braun mit seinen Söhnen und Töchtern usw. fanden sich in meiner botanischen Sammlung je nach ihren Charakteren als Pflanzen verzeichnet, und selbst als Student in Kielmayers Vorlesungen, ja sogar im Examen, verwechselte ich noch manche dieser von mir geschaffenen Benennungen der Pflanzen mit denen, die ihnen Linné schuf.

Käfer und Schmetterlinge fing ich nie zu toten Sammlungen; sie waren mir nur ihrer Verwandlung wegen merkwürdig. Diese beobachtete ich genau, wodurch schon früh mir die Ahnung wurde, daß, wie zwischen der Raupe und dem Schmetterling noch ein Mittelzustand, der der Puppe liegt, dieses auch bei den Menschen nach dem Tode der Fall sein werde. Aus dieser Naturanschauung ging hauptsächlich der später von mir verteidigte Glaube eines Mittelreichs hervor, eines Zustandes, in dem der Mensch sich selbst anheimgestellt, wie die Raupe die Flügel zum Schmetterling, die Flügel einer [168] höhern Psyche erst entwickelt und zu solcher reif wird. – Aber auch das Unerbittliche (ich möchte sagen die Grausamkeit) der Natur lernte ich früh mit Trauer erkennen, als ich einen Käfer sah, der zufällig auf den Rücken gefallen war und sich nun nicht mehr auf die Beine bringen konnte, und den in dieser hülflosen Lage noch am Leben Ameisen aushöhlten. Der fiel mir als Arzt nachher oft bei armen hart leidenden Menschen ein.

Naturhistorische Schriften und Reisebeschreibungen wurden in den Stunden, die nicht für Erlernung der alten Sprachen bestimmt waren, auch hier mit Lust und Liebe gelesen, namentlich Bonnets, Bertuchs, Hallers Werke, ferner die Reisebeschreibungen von Campe, und das Entzücken aller Kinder – sein Robinson. Das Vergnügen, das mir damals das erste Lesen dieses Buches machte, hat bis auf den heutigen Tag das Lesen eines andern Buches noch nicht über stiegen. Neben diesem Buche standen Tausend und eine Nacht, Musäus Volksmärchen und all die alten Volksbücher, Heymonskinder, Magelone, Siegfried usw., die die Reutlinger Buchhändler auf den Jahrmarkt in das Städtchen sandten.

Die Reise nach Heilbronn und der Wunderdoktor

Mit meinen körperlichen Leiden blieb es, wie ich schon anführte, auch hier beinahe immer auf derselben Stufe. Ich war sehr abgemagert, bleich und hoch aufgeschossen, jedoch noch immer in keinem fieberhaften Zustande und nicht geschwächter, als früher. Nachdem man mich auch hier mit Arzneien überhäuft, sah man ein, daß auch der gerühmte Äskulap vonBrackenheim für [169] dieses Leiden kein Kräutlein finde. Dagegen wurde damals viel von den Wunderkuren des russischen Geheimerats Dr. Weickardt gesprochen, der sich zu Heilbronn aufhielt, Leibarzt der Kaiserin Katharina gewesen war und sich durch seine Schriften als gewaltiger Brownianer bekannt gemacht hatte. Unter dessen prüfende Augen sollte ich nun gestellt werden. Es kam zu diesem Zweck meine gute Mutter nach Brackenheim und fuhr eines Morgens im väterlichen Gefährt mit den Rappen unter Leitung des Matthias mit mir nach Heilbronn ab.

Wir stiegen auf dem Marktplatze bei der Mutter des Fräuleins vom Osterholz, (der Frau von Stetinkh, die hier getrennt von ihrem Manne lebte) ab. Es war bald Mittag als wir ankamen. Matthias holte mich sogleich auf den freien Platz vor dem Rathause, denn es war bald zwölf Uhr, wo die Böcke an der künstlichen Uhr des Rathauses zwölfmal gegen einander stoßen, und der Engel posaunt. Das war ein neuer Anblick, besonders für Matthias, der, als die Böcke mit dem Schlag zwölf Uhr zu stoßen anfingen, ihre Bewegungen nachmachend, mit dem Kopfe vorwärts stoßend einen mächtigen Satz machte, und einen vorübergehenden Herrn in einem roten Bordenrocke und einem Höcker dergestalt auf denselben stieß, daß derselbe unaufhaltbar unter einen dort stehenden Güterwagen fiel. Der Herr erhob sich zum Glücke unverletzt wieder und sah sich, einen Augenblick auf sein spanisches Rohr gestützt, nach der Ursache seines Falles um, aber Matthias hatte sich noch schneller als der Herr erhoben, unter die auf dem Markte stehende Menge gemacht, und ich blieb, nach dem so eben posaunenden Engel schauend, stehen, als bemerkte ich sonst nichts. Aber das bemerkten ich und Matthias, als wir nach Hause kehrten, zu unserer großen Verlegenheit, daß der Herr in dem roten Rock nun gerade auch [170] auf das Haus zulief, zu dem wir zurückkehrten, auf die Wohnung der Frau von Stetinkh, dort anläutete und nun fast zu gleicher Zeit mit uns die Treppe hinaufstieg, während er immer an seinem staubig gewordenen Rocke wischte. Ich wußte nicht, sollte ich umkehren: denn ich befürchtete er komme nur, uns seines Falles wegen zu verklagen; aber Matthias hatte Unverschämtheit genug und rief dem Herrn zu: »Erlaubens! Sie sind auf Ihrem Rücken ganz weiß wie ein Zuckerhut«, und klopfte ihm dabei unter Danksagung des Herrn den Höcker aus, auch reinigte er ihm noch vor dem Zimmer den bestäubten Hut, während ich in dasselbe mit großer Bangigkeit und Herzklopfen vorausgeeilt war. Der Herr trat ein und wurde von der Frau von Stetinkh als der Herr Geheimerat Weickardt bekomplimentiert, und ihm meine Mutter und ich als die Ursache vorgestellt, wegen der sie sich die Freiheit genommen, ihn zu sich zu bitten, denn die Frau Regierungsrätin sei von der Reise sehr ermüdet, und ihr Söhnlein, wie er sehe, äußerst angegriffen und erkrankt.

Ich stand in einer Ecke des Zimmers, mager und weißlichblau, wie eine Thermometerröhre, die man mit blauem Spiritus gefüllt hatte, und mußte nun auf den Ruf meiner Mutter: Christian, wo bist du? vor den auf dem Sofa platzgenommenen Geheimerat mich stellen. Es war eine kleine stark ausgewachsene Figur, mit hoher Frisur, blitzenden grauen Augen und sehr beweglichen Gesichtsmuskeln. Meine Mutter hatte ihm einen schweren Pack Rezepte der von mir früher gebrauchten Ärzte überreicht, die er flüchtig durchging, während er bald in den Ruf: entsetzlich! bald in den: verkehrt! bald in den: lächerlich! bald in den: tötlich! ausbrach, und endlich den Pack mit den Worten bei Seite legte: »Mich wundert nur, daß Ihr Herr Sohn noch lebt, ob er gleich in Wahrheit zum Gespenste herabgebracht worden zu sein [171] scheint!« Ich erwiderte: ich habe diese Sachen in dem Pack alsbald wieder herausgebrochen, und so konnten sie mich nicht töten! »Das war noch das Beste!« versetzte der Herr Geheimerat mit lautem Gelächter. »Nun, was ich Ihnen jetzt verordne«, sprach er weiter, »muß bei Ihnen bleiben.« Ach! dachte ich, nur das nicht, sonst muß ich sterben! – Das Männlein kam mir wie der gestiefelte Kater vor, der mir aus dem alten Märchen bekannt war; es war mir plötzlich, als hätte ich an ihm, als er am Wagen umgefallen war, auch einen Schwanz hinten bemerkt. Es wurde mir ganz märchenhaft und wunderbar zu Mute, als er nun seine Finger ausstreckte, die ziemlich große Nägel hatten, mir den Puls fühlte, und dann die Augenlider mir mit denselben auseinander zog, und mit seinen grauen blitzenden Augen tief in den Augenstern hineinsah, während er das Kinn auf dem goldenen Knopfe seines spanischen Rohres aufgestützt hielt. Ich bekam Herzklopfen, es kam mir vom Bauche kalt bis in die Stirne herauf, die Leute, die um mich waren, sah ich alle in Tiergestalt und fiel auf einmal bewußtlos zu Boden. »Das ist die erklärteste Asthenie (hörte ich den Herrn Geheimerat sagen, als ich von kölnischem Wasser duftend wieder zu mir kam) und da werden Hopelpobel und Pfefferkörner die zweckmäßigste Diät sein!« – Und ich werde sie sogleich wieder herausbrechen, daß ich nicht sterbe, dachte ich bei mir.

Der Herr Geheimerat verschrieb mir nun eine Mixtur zu stündlichem Gebrauch und eine Einreibung in den Magen, auch gab er eine lange diätetische Vorschrift, in welcher Hopelpobel und Pfefferkörner eine Hauptrolle spielten.

Hopelpobel war ein Getränk von Tee, Eigelb und Kirschengeist, echt russischer Art, wie wahrscheinlich auch der Name Hopelpobel. Pfefferkörner sollten nach jeder [172] Speise geschluckt werden, sagte der Herr Geheimerat zu meiner Mutter. »Furchtbare Asthenie durch zu schnelle Entwicklung ist es, sonst nichts«, sprach er, »und da müssen nur stärkende Mittel gereicht werden.«

Meine Mutter versprach, ihm in allem Folge zu leisten und ihm Nachricht von dem Erfolge seiner Mittel zu geben und sich seinen fernern Rat zu erbitten. Nach erhaltenem Honorar entfernte sich der Herr Geheimerat sehr freundlich, indem er mir strenge Diät und Folgsamkeit empfahl und gewisse Genesung versprach. Glauben Sie mir, liebe Freundin, sagte die Frau von Stetinkh zu meiner Mutter, die Heilungen dieses Mannes sind ganz entsetzlich, Menschen, die man begraben wollte, brachte er durch Hopelpobel wieder ins Leben, und ich bin versichert, daß der liebe Christian durch die Heilmittel dieses erstaunlichen Arztes in wenigen Wochen von seinem Übel befreit wird; aber sogleich werde ich ihm den Hopelpobel bereiten 1.

Fußnoten

1 Weickardt war zu Rönnehey im Fuldaischen im Jahre 1742 geboren. Er war ein geistreicher und aufgeklärter Mann, als Arzt aber zu einseitiger Brownianer. Er hatte sich nach der freien Reichsstadt Heilbronn begeben und tat dort den Armen sehr viel Gutes. Der Senat beleidigte ihn dadurch, daß er ihm als einem Fremden Einquartierung gab, und in Unmut verließ er nach einigen Jahren wieder diese Stadt.

Das amerikanische Nilpferd

Statt des Mittagessens mußte ich nun ein paar Tassen Hopelpobel trinken, die ich sogleich auch wieder von mir gab; doch blieb von dem geistigen Getränke noch so viel im Magen zurück, daß ich dadurch aufgeregt wurde und es nicht anders tat, als daß man mich abends mit Matthias auf den, eine halbe Stunde entfernten, sogenannten [173] nannten Wartberg spazieren ließ. Dem Matthias war es bei diesem Gange hauptsächlich darum zu tun, den berühmten Jäger Nast, der das Wirtschaftsgebäude auf diesem Berge bewohnte und den Wirt machte, kennen zu lernen. Nast hatte einen Hirsch zum Reiten und zu andern Künsten abgerichtet, einen Hasen die Trommel zu schlagen, und einen Esel wahr zu sagen gelehrt. Wir gingen zum sogenannten Sülmertor hinaus. Da begegnete uns bald ein Bauer mit einem stattlichen Pferde an einem Frachtwägelchen, der die gleiche Straße fuhr. »Ei!« schrie der Bauer, »daß wir uns hier begegnen, mein lieber Vetter Matthias!« Matthias erkannte in ihm einen nahen Verwandten, einen Frachtbauer aus der Gegend von Öhringen, und freute sich des Zusammentreffens. Aber als er von dem Jäger Nast und seinen Tieren auf dem Wartberg sprach, und daß er dahingehe diesen kennen zu lernen, da umwölkte sich des Vetters Stirn gewaltig, und er brach in Schimpfreden gegen den armen Jäger aus. »Nun«, sagte er, »dies gute Pferd und noch etwas Geld dazu habe ich freilich durch ihn gewonnen, aber den Schlag, den mir der undankbare Geselle mit der Fläche der Klinge seines Hirschfängers über die Schulter versetzte, und die Schimpfreden, die er mir gab, werde ich nie vergessen, und kommt ihr zu ihm, so sagt es ihm nur, und sagt nur aller Welt, daß das Tier, das er für ein amerikanisches Nilpferd zu Frankfurt ausgegeben, nichts als ein alter haarloser Karrengaul gewesen.« Matthias sprang vor Lachen hoch auf und sagte: »Das wäre doch ganz possierlich, und könntet Ihr es beweisen, wollte ich es aller Welt erzählen, auch euch für die erhaltenen Schläge rächen.« »Warum sollte ich es nicht beweisen können?« fragte der Bauer, »man frage nur den Scharfrichter zu Steinfurt bei Öhringen. Der Gaul hatte die Strengel, ich schüttete ihm vieles ein, allein es half nichts, bis der Scharfrichter ihm einen starken Trank von [174] Savenbaumzweigen gab; darauf verlor sich die Strengel, allein mit derselben verloren sich alle seine Haare, das Tier wurde ganz und gar haarlos und glatt wie ein Stiefel, selbst die Augenwimpern fielen ihm aus, und sein Schwanz wurde wie ein Aal. Da war es vor einem Jahre im Frühling, als ich den Gaul an meinem Wägele diese Straße hinfuhr, daß mir dieser Jäger Nast begegnete und den Gaul ansah; da schwatzte er mir vor, wie viel ich gewinnen könnte, würd' ich mit diesem Pferde unter seinem Schutze auf die Frankfurter Messe ziehen; denn da wollte er es dann mit seinen andern Tieren ums Geld sehen lassen, aber verschweigen müsse ich, daß es ein gewöhnlicher Gaul sei; man müsse es als eine ganz neue Tiergattung aus einem fremden Weltteile ausposaunen, und dafür solle ich nur ihn sorgen lassen. Unter solchem Zureden verfolgte er mich bis in den Gasthof zum Adler, wo ich meinen Gaul einstellte, setzte sich mit mir an den Wirtstisch und trank mir weidlich zu. Noch war an demselben Tische so ein junger Student von Heilbronn, der dem Nast wohlwollte, der mischte sich auch in unser Gespräch und redete mir sehr zu, doch mit dem Nast und dem Gaule nach Frankfurt zu ziehen; auch gab er den Rat, das Tier dort für einamerikanisches Nilpferd auszugeben, dann werde es Schaulustige genug finden, und krepiere es dort, werde es von den Herren Gelehrten in die Sammlung ausgestopfter seltner Tiere, die man dort habe, gewiß um schweres Geld erstanden.

Nach solchen Reden willigte ich ein, und nach ein paar Tagen waren wir in Frankfurt mit dem Gaul und den Tieren. Der Nast ritt dort auf seinem Hirsche umher und verkündigte: daß er neben einem trommelschlagenden Hasen und einem wahrsagenden Esel auch ein lebendiges amerikanisches Nilpferd besitze, was der Zeit in Europa noch nicht gesehen worden sei. Der Zulauf war sehr groß, und Nast sagte mir den dritten Teil der Einnahme [175] zu. Aber nach wenigen Tagen wurden wir uneins; Nast schien meiner Person überdrüssig zu werden, doch nicht des Nilpferdes, und als ich seinem wahrsagenden Esel, der nach mir geschlagen, einen Tritt versetzte, so zog er seinen Hirschfänger vom Leder und gab mir eine Fuchtel auf den Rücken, was mir zu grob war. Kurz wir trennten uns, und ich verkaufte das Pferd ganz ehrlich als ein altes haarloses Pferd an einen vornehmen Herrn, der mit Löwen und einem Elefanten reiste, um ein gutes Stück Geld, doch unter dem Versprechen, das Herkommen des Tieres wenigstens ein Jahr lang zu verschweigen.

Nun ist das Jahr vorüber und ich kann es nicht länger verschweigen, dem Nast zum Possen, der mir die Fuchtel gab.« »Man soll es erfahren und dafür laßt mich sorgen, lieber Vetter!« versetzte Matthias mit innerer Freude über den Spuk dieser zweien. »Es sind wohl viele Heilbronner da oben, da will ich es erzählen.« Nun wünschten sich Matthias und sein Vetter baldiges Wiedersehen. Der Fuhrmann fuhr die Straße nach Weinsberg hin, und wir lenkten links gegen den Wartberg ein.

Ein wunderlicher Tänzer

Während wir den weinbekränzten Berg hinanstiegen, begegneten uns viele schöngeputzte Damen und Herren, man sagte uns, es sei der Wochentag, an welchem auf diesem Berge große Konversation und Tanzbelustigung in dem weiten Saale des obenstehenden Gebäudes stattfinde. Als wir in den Saal traten, fanden wir ihn auch von Tanzenden erfüllt. Auf einmal stand alles still; eine hohe Mannsgestalt, den Leib nachlässig und malerisch nur mit einem Tuch umschlungen und auch das Haupt zur Hälfte in ein Tuch gehüllt, war eingetreten. Dieser [176] Mann war ein Wahnsinniger, wie man mir in späterer Zeit erklärte, man hieß ihn den »Salzburger«, auch den »Josephle«. Über seinem Herkommen und Schicksale lag ein Schleier, und man wußte nur so viel aus seinen irren Reden, daß er einmal eine hohe Stelle zu Salzburg oder im Salzburgischen bekleidete, daß er dort widrige Schicksale erfahren, namentlich Freundestreubruch, unglückliche Liebe, und daß er geisteszerrüttet nach Schwaben und in die Wälder des württembergischen Unterlandes geriet, in welchen er sich nun in einem irren halbwilden Zustande umhertrieb. Nachts und zur Winterzeit kam er in die Dörfer, wo er oftmals in den Backöfen, die vor den Ortschaften standen, übernachtete.

Hie und da ging er in ein Pfarrhaus, nahm aber nie Geldgeschenke, sondern notdürftig Nahrungsmittel an. Mit den Geistlichen sprach er lateinisch und griechisch und spielte auf dem Klavier wunderliche Phantasien. Sein Gang zeigte Grazie und Würde, so auch die Art, mit der er Haupt und Körper mit geschenkten Tüchern umhüllte und auch oft sich mit Blumen bekränzte. Wollte man ihn fragen über sein Herkommen, seine Schicksale, so wurde er einsilbig oder sprach in irren unverständlichen Reden. Ungezogene Knaben eines Dorfes, die ihn einmal verfolgten, hatten ihm ein Auge ausgeworfen, was er mit einem turbanartig um den Kopf gewundenen Tuche verdeckte.

Er suchte immer die tiefste Waldnacht, aus der ihn nur Hunger oder auch Musik, hörte er sie aus der Ferne, locken konnten. Es war eine Zeit, wo die Polizei derlei Menschen noch nicht auffing.

Es war auf diesem Berge eine Warte, ein hoher Turm mit einem Knopfe aus Eisenblech, in den man durch Treppen und ein Türchen eingehen konnte, und dieser Knopf war so groß, daß, wie man sagte, sieben Schneider [177] in ihm ungehindert arbeiten konnten. Sonst hatte der Turm kein Gemach und keine Bewohner. Schon seit mehreren Nächten hatte der Wahnsinnige in diesem Turmknopfe seine Schlafstätte genommen. Die Musik, die von dem Berge in den nahen Wald tönte, hatte ihn aus demselben gelockt. Er war in den Saal getreten in dem beschriebenen Aufzuge, den man schon an ihm gewohnt war. Alles hielt zu tanzen inne, er aber hatte sich einem sehr lieblich scheinenden Mädchen in blauem Kleide genähert, soll still vor sich hingesagt haben: »ja! ja, ein solches Kleid trug sie!« bot ihr den Arm zum Tanze, sie sträubte sich nicht, man kannte ihn schon, da tanzte er mit ihr voll Grazie und Rhythmus, während die ganze Gesellschaft das Paar umstand, ein paarmal auf und nieder, führte sie zur Mutter, von der er sie genommen, Dank murmelnd, und verschwand dann wieder so unerwartet und schnell aus dem Saale, als er herein gekommen war.

Der Magnetiseur Gmelin

Mir als Knaben kam durch dieses Mannes Aufzug mein Robinson in den Sinn, und ich wäre ihm gern bis in den Wald nachgegangen, hätte mich nicht Matthias fest gehalten und in ein Nebenzimmer des Saales geführt, wo ihm ein Herr, wie er sagte, einen Schoppen eingeschenkt, weil er ihm die Geschichte vom Nastischen Nilpferd erzählte und meine Krankheitsgeschichte.

Er kennt Ihren Herrn Vater, sagte er, und verlangt Sie zu sehen, es ist ein »gemeiner« Herr und Sie dürfen sich nicht fürchten. Inzwischen war auch der Jäger Nast herbeigekommen, der hier den Wirt machte. Er hatte der Gesellschaft ein Buch gebracht, das aus lauter Zeugnissen von [178] hohen Herrschaften bestand, die die Künste seiner Tiere mit Befriedigung gesehen hatten; auch fanden sich in ihm die Tiere in Abbildungen. Er erzählte, wie er erst kürzlich den Hirsch, der jetzt in der Brunft sei, wo sich kein Mensch ihm zu nähern wagen dürfe, nur mit Blicken, als er gerade auf ihn mit seinen Geweihen wie rasend zurennen wollte, zum Stehen und Gehorsam gebracht, sich auf ihn geschwungen und ihn geritten habe, während der Hase dazu einen Marsch getrommelt und »der Esel«, versetzte der Bekannte meines Vaters, (der mich zu sich gerufen hatte) »die Trompete blies, und das amerikanische Nilpferd! ha! ha! Herr Nast!« »Ach!« fuhr ihm Nast in die Rede, »schweigen Sie doch von diesem Tiere; ich habe es ja nicht mehr, es war ja nie mein Eigentum«, und damit entfernte er sich mit dem Buche schnell aus dem Saal. Der Herr, der mich an der Hand hielt und ein Bekannter meines Vaters war, war der als Arzt und Magnetiseur damals sehr berühmte Hofrat Dr. Gmelin von Heilbronn. Er sah mich immer sehr mitleidsvoll und liebreich an, und ich faßte ein großes Vertrauen zu ihm; aber noch schien ihn Matthias Erzählung vom Nastischen Nilpferd sehr zu beschäftigen; Matthias mußte die Aussage seines Vetters wiederholen, und tat das auf eine sehr possierliche Weise, daß alles in lautes Gelächter ausbrach.

»So geht es doch oft mit uns Gelehrten«, versetzteGmelin, »Blumenbach hielt eine Vorlesung über dieses Tier und erklärte es für keinen Betrug, sondern für eine höchst merkwürdige, bisher noch unbekannt gewesene Pferderasse; und erst kürzlich las ich in einem Berliner Blatte, daß das Tier dort um einen bedeutenden Preis verkauft wurde, und alle Naturforscher sich die Köpfe zerbrachen, was sie aus ihm machen sollten, und das seltsamste Zeug darüber aushecken.«

Einer der Herren hatte den Nast wieder herbeigerufen; [179] da foppten sie ihn alle gar gewaltig mit dem amerikanischen Nilpferd. Er leugnete aber die Sache nicht, sondern erzählte sie ganz gemütlich fast ganz so, wie der Bauer und Matthias sie erzählt hatten. »Nun ja«, sagte er zu Gmelin, »ich foppte damit nur etwas die Herren Gelehrten, und nun mögen sie mich auch foppen, sie foppen sich selbst damit; wie manchen foppten die Herrn Ärzte schon mit Mitteln, die sie für Heilmittel ausgaben und die es nicht waren!« »Ja, ja«, versetzte Gmelin, »da sage ich nichts dagegen!« Bei diesen Worten sah er mich inniger an und sagte dann leise zu mir: »Ja, liebes Kind, auch du wurdest von Ärzten schon sehr gefoppt! Komm mit mir einmal, ich schütte dir keine Arznei ein.« Er führte mich nun eine Treppe empor in ein kleines Zimmerchen von Nast, das an den Wänden mit vielen ausgestopften Vögeln verziert war, hieß mich auf einen Stuhl setzen, sah mir mit seinen schwarzen Augen fest ins Auge und fing mich mit seinen ausgereckten Händen vom Kopf bis in die Magengegend zu bestreichen an; er behauchte mir auch mehrmals die Herzgrube. Ich wurde ganz schläfrig und wußte endlich nichts mehr von mir. Ich mag lange schlafend gesessen sein, als ich erwachte und den Matthias vor mir sah; der Herr aber war nicht mehr da, und ich sah ihn in meinem Leben nicht mehr. Auch Matthias wußte nicht, was der Herr eigentlich mit mir getan; er hatte ihm nur im Weggehen gesagt, er hoffe, daß es sich mit meinem Leiden bessern werde, nur solle man mir keine Arzneien mehr geben. Dies erzählte mirMatthias und ich merkte es mir gar wohl für die Zukunft.

In spätern Jahren begriff ich, daß mich der Herr magnetisiert hatte. Nast war so gutmütig, daß er demMatthias die Erzählung vom amerikanischen Nilpferde wohl verzieh, oder hatte er vielleicht nicht gehört, daß solcher sie gemacht; denn er nahm uns noch sehr freundlich zu [180] seinen Tieren mit, nur den Hirsch, der gerade in der Brunft war, bekamen wir nicht zu sehen; dagegen trommelte uns der Hase und schoß eine Kanone los, der Esel kratzte auf Matthias Frage: »wie lange lebe ich noch?« nur einmal mit dem Fuße, was dem Matthias ein Jahr lang große Unruhe machte. War dies eine geflissentliche Veranstaltung Nasts, oder witterte der Esel in Matthias einen Verwandten jenes Frachtbauern, der in Frankfurt seinen Rücken bleute, und wollte er durch die Prophezeiung, daßMatthias nur noch ein Jahr lebte, an ihm Rache nehmen? wir müssen es unentschieden lassen.

Das Rosengärtchen am Kirchhofe

Auf dem Rückwege mußten wir ziemlich eilen, denn es zog ein starkes Gewitter am Himmel auf. Matthias schleppte mich durch enge Gängchen zwischen zwei Kirchhöfen hindurch, aus deren einem ein hohes Kreuz von Stein ragte, an das vom Sturme hin und her getriebene Trauerweiden schlugen. In seiner Nähe außer der Mauer setzte ich mich schlaftrunken auf einen Stein. Matthias fürchtete sich vor Gewittern und sagte im Scherze, er wolle mich da sitzen lassen; das brachte mich wieder auf die Beine. Wir waren an einem Gartentore vorübergegangen, über dasselbe war eine Rose, der die Blätter abfielen, eingegraben, und unten waren in lateinischer Sprache die Worte eingehauen: »Schaue mich an und denke dein!« In spätern Zeiten wurden diese Kirchhöfe vereinigt und es verschwanden die Gängchen zwischen ihnen. Dagegen sah man an ihrem Ende ein gar liebes Gärtchen, das ein Blumenfreund angelegt und vorzüglich mit Rosen aller Art bepflanzt hatte. Der Flieder an der Kirchhofmauer und die Rosen des Gärtchens [181] an ihr bogen ihre Häupter zu einander. Mitten im Gärtchen aber, versenkt unter den Rosen, war ein Bauer, in dem immer eine Amsel die Melodie sang: »Pflücket die Rosen, eh' sie verblühn!« – Ich hörte manchmal, wie die Melodie dieses Vogels sich mit dem Trauergesange über der Mauer vermischte.

Unter Blitzen, Donnerschlägen und strömendem Regen kehrten wir wieder zu den Frauen zurück.

Die magnetischen Träume und die allmählige Genesung

Die Frauen hatten nichts eiligeres zu tun, als mich auskleiden und ins Bett bringen zu lassen, wo man mir, noch ehe man mich allein ließ, ein paar Tassen Hopelpobel anzwang. Mein Bett stand nächst einem Fenster, das zu der schönen alten Kirche am Markte und ihrem künstlich erbauten vielfach durchbrochenen Turme, auf dessen Spitze ein Ritterbild stand, sah. Der Sturm hausete besonders von diesem Turme her in den sonderbarsten schauerlichsten Tönen; denn an verschiedenen Seiten des Turmes waren Schalllöcher angebracht, die, wenn der Sturm in sie blies, schauerliche Töne stoßweise über die ganze Stadt verbreiteten. Von Blitzen erleuchtet standen Turm und Kirche bald in Feuer, wie auf Goldgrund mit ihren schwarzen Umrissen; bald verschwanden sie wieder in die finsterste Nacht. Als aber die Wolken sich entleert hatten, trat der Mond an den reinen Himmel, und Kirche und Turm standen in einer Schönheit vor mir, wie ich Gebäude der Art noch nie sah. Lange verweilte mein Blick auf ihr und spielte meine Phantasie mit den schönen Umrissen des Turmes mit seinen Steingebilden, grotesken Köpfen von Tieren und [182] Menschenfratzen, die als Köpfe von Rinnen aus ihm ragten, und mit seiner künstlich durchbrochenen Wendeltreppe, die sich um ihn fast bis zu seiner Spitze mit dem auf ihm stehenden Ritterbilde schlang. Die vom Monde erhellten Kirchenfenster malte ich mir in Gedanken selbst mit den buntesten Bildern aus. Nach und nach gingen aber alle diese Bilder mit mir in Schlummer und Traum über. (Und nun sei mir erlaubt, hier das erstemal in diesen Blättern Dichtung mit Wahrheit zu verbinden und den Traum, den ich da von dem auf dem Turme stehenden altdeutschen Bilde, von meinem Bruder Georg und von den Bildern auf den Fenstern der Kirche hatte, und der mir in völliger Klarheit nicht mehr erinnerlich ist, so wieder zu träumen.)

Mir träumte: ich stand an der vor mir liegenden Kirche. Es war Mondschein, alles stumm und tot. Ich sah an dem Turm empor; da sah ich wie das Steinbild, das auf seiner Spitze steht, sich bewegte, ja wie es endlich einen Fuß über den Turm hinausstreckte, wie einst Kaiser Maximilian auf dem Kranze des Ulmer Münsters. Aber noch mehr erstaunte ich, als das Steinbild die durchbrochen daliegende Wendeltreppe des Turmes sichtbar und hörbar hinabstieg, immer näher nach unten kam, bis ich endlich seinen Gang durch die Kirche hörte. Die Türe der Kirche öffnete sich und da stand das Bild vor mir, war aber kein Steinbild mehr, nicht mehr der Ritter (ich hielt dieses Bild für den Ritter St. Georg), diesen sah ich wieder oben stehen, sondern es stand mein Bruder Georg vor mir, der noch lebte und sagte: »Siehe da auf die Uhr, die Böcke stoßen sich zwölfmal, der Hahn kräht und der Engel posaunet, da war meine Zeit um.«

(Mein Bruder Georg starb im Jahre 1812. Der Traum, der mir ihn auf der Spitze des Turmes in der Gestalt jenes Steinbildes, das den Fuß noch über den Turm hinausstreckte, figurierte, wollte wohl mit sein Leben andeuten, [183] in dem er so oft Wagnisse begann und auf schwindelnder Höhe über Abgründen stand.)

Der Traum ging aber noch weiter. Ich trat in die Kirche; sie war hell vom Monde beleuchtet, und besonders brannten die Glasgemälde ihrer Fenster in nie gesehener Farbenpracht. Die Bilder in den Gemälden, die ich auf ihnen erblickte, waren aber völlig lebend und bewegten sich. Wie Bilder einer Laterna magica kamen sie, je nachdem der Mond schien, mir völlig nahe und traten dann in Lebensgröße wie von den Fenstern heraus in die Kirche, bald schwebten sie wieder zurück und wurden klein, doch je kleiner je heller, lebendiger und beweglicher. Es waren aber diese Bilder keine Bilder von Heiligen, sondern von Menschen, die ich noch nie gesehen hatte, die aber in spätern Jahren meines Lebens und besonders in dieser Stadt mir vorkamen und tief in mein Leben eingriffen, was ich freilich jetzt noch nicht ahnte und nicht zu deuten wußte, was mir aber später in völliger Klarheit vor Augen trat. Oft gruppierten sich diese Bilder, und ich erblickte mich immer selbst unter ihnen, zu Darstellungen, die immer wieder wechselten, und später erkannte ich, daß diese Szenen aus meinem damals noch kommenden Leben gewesen.

Auf all den Fenstern und in all den Darstellungen erblickte ich unter andern Frauen- und Männergestalten immer eine Gestalt wieder, und diese leuchtete mir aus allen klar heraus, und schien sie mir zu verschwinden, wandelte mich eine Angst an, und ich suchte sie, bis ich sie wieder sah. Nachher erkannte ich in der treuen Gefährtin meines Lebens diese damals auf diesem Kirchenfenster im Traume gesehene Gestalt wieder. – Nach und nach verwandelten sich in diesem Traume Bilder, Kirche und Turm zu andern Gestalten, ich sah meinen Matthias und den bucklichten Geheimerat im roten Bordenrocke miteinander auf dem Hirsche des Jägers Nast [184] auf dem Marktplatze reiten und ihnen den Professor Maier auf dem amerikanischen Nilpferde nachjagen. Sie jagten immer in einem Kreise umher, wie von einem Wirbelwinde getrieben, der sie auch endlich, sie immer herumwirbelnd, hoch in die Lüfte hob, bis sie unter Wolken verschwanden, und ich mit einem Erbrechen des aufgedrungenen Hopelpopels erwachte.

So weit Dichtung mit Wahrheit – aber reine Wahrheit ist, daß ich von dieser Zeit an durch mein ganzes Leben voraussagende Träume behielt, die mir zu einer wahren Qual im Leben wurden, eine Qual, die ich keinem wünsche und die mich gleichsam praktisch kennen lehrte, welch ein Unglück es für den Menschen wäre, hätte ihm Gottes weise Hand die Zukunft nicht verschlossen. Diese voraussagenden Träume finden bei mir gegen Morgen statt, besonders wenn eine schlaflose Nacht mich erst gegen Morgen ruhen und in Schlaf sinken läßt. Sie kamen immer unter Bildern und symbolisch vor. Erscheinen von Licht bedeutet kommende Freude (ach! es erscheint mir solches in meinem Alter immer seltner!)

Nachdem mich diese Lichtträume lange als frohe Vorbedeutung durchs Leben begleitet, träumte mir einmal (es war im vorgeschrittenen Alter), ich sehe an den vier Ecken meines Hauses eine leuchtende Glut, die aber einer mit einem Zweispitz herauszuhauen trachtete. Ich konnte mir wachend den Traum nicht sogleich deuten, hoffte noch auf eine kommende Freude, aber später erkannte ich, daß mir durch diesen Traum symbolisch angedeutet wurde, es solle fortan mit jenen Lichterscheinungen (Freuden) aus sein, sie sollen gleichsam aus meinem Hause herausgehauen werden: denn von dort an hatte ich keinen Traum von Licht mehr und kam auch keine wahre Freude mehr in mich. Seit damals scheint mich auch meine Grundzahl verlassen zu haben, [185] die Zahl Sieben, in der mir immer etwas Freudiges wurde, während sie jetzt im Gegenteil immer nur Trauer bringt.

Zu den lichten Erscheinungen, als Freude bedeutend, gehört noch: daß mein verstorbener Tochtermann Dr. Niethammer zu Heilbronn sehr oft, wenn er wegen irgend eines Vorfalles in Kummer wachend im Bette lag, vor sich einen Stern im Zimmer sah, was ihm immer bedeutete, daß ihm bald wieder Freude werden würde, aber in seiner letzten fast ein Jahr lang andauernden Krankheit, von der er nicht mehr genas, geschah das nicht, er sah nie den Stern mehr. Wasser bedeutet bei mir Verdruß und Betrübnis; springendes Wasser keine Betrübnis, mehr Freude; Kot wüste Händel; Schnee und Eis Krankheit; so auch Essen von Trauben, schwarzen Beeren, auch andern Beeren, Krankheiten, letzteres besonders Krankheiten von Kindern; Blut bedeutet Verdruß mit Verwandten; fliegen im Traume deutet auf Kummer, den man gerade hat. Merkwürdig ist, und nach einer Erklärung wartend, daß nicht nur ich, sondern auch andere, die Bemerkung machten: daß, wenn sie von einem Zimmer träumten, welches das ihre sein sollte, es nie dasselbe war, es immer ganz anders gestaltet und möbliert war.

Diese voraussagenden Träume entstehen völlig von der Herzgrube, den Solarnervengeflechten aus, und kommen beim Erwachen einem zur Erinnerung nur so lange das völlig wach gewordene Gehirn noch nicht das Übergewicht über jenes erhielt. Will man erwacht mit dem Gehirn darüber nachdenken, so entstehen oft in der Herzgrube (dem Solargeflechte) Schmerzen, und man muß mit dem Gehirn zu denken aufhören.

Da ich auf das Eintreffen solcher voraussagenden Träume gewiß rechnen kann, so sind sie mir eine wahre Pein im Leben, besonders da ihre Erfüllung oft erst nach [186] drei Tagen stattfindet, doch meistens am gleichen Tage des Erwachens aus ihnen.

Bei meinem damals ohnedies vorherrschenden Gemütsleben hatte jene magnetische Manipulation, so kurz sie auch war, ein magnetisches Leben in mir erweckt, das mir von dort an jene voraussagenden Träume und Ahnungen gab und in mir später selbst eine Vorliebe für die Erscheinungen des Nachtlebens der Natur, für Magnetismus und Pneumatologie schuf. Von da an schien auch wirklich eine Abnahme meines körperlichen Leidens sich einzustellen. Ich wurde zwar sehr geplagt, die Vorschriften des Herrn Geheimerats Weickardt getreu zu befolgen; aber ich tat es nicht, nahm zwar dessen Arzneien von meinen Eltern ein, aber brach sie geflissentlich sogleich wieder; denn ich hatte das innere Gefühl, daß sie nur schaden würden. Darauf verschonte man mich mit denselben, und das Übel verschwand nach und nach, auch mit Aufhören des schnellen Wachstums.

Bis ins höhere Alter blieb mir aber die Eigenheit, daß in mir die der willkürlichen Bewegung sonst nicht unterworfenen Muskeln des Magens ganz meinem Willen sich unterordneten, daß ich ohne vorausgegangenes Wehsein, nach meinem Willen, was in den Magen gekommen, wieder aus demselben, wie aus einer Hand, werfen konnte. Auch die Bewegung der Regenbogenhaut meiner Augen (der Iris) blieb meinem Willen unterworfen, ich konnte ohne Einfluß des Lichts, bloß mit meinem Willen, das Sehloch meiner Augen erweitern oder verengen. Kanzler von Autenrieth und der alte Professor Plouquet in Tübingen stellten mit mir darüber bestätigende Versuche an. Dem zuletzt gebrauchten Arzte blieb der Sieg und Ruhm über die vielen früher gebrauchten, und meine gute Mutter konnte jedem Kranken die Wunder des Hopelpopels und der Pfefferkörner des Herrn Geheimerats Weickardt nicht genug anpreisen.

[187] Zurückkunft nach Maulbronn

Als wir in Maulbronn wieder angekommen waren, war mein erstes, nach meinem Garten zu sehen. Die Pflanzen, die ich, als ich Maulbronn im Frühjahr verließ, angesäet und gepflanzt hatte, standen nun im Herbste in voller Blüte oder waren schon verblüht. Die Beete bunter Aster, Nelken und Herbstrosen waren jetzt meine innige Freude. Damals wußte man noch nichts von Georginen, Azalien, Kamelien, Rhododendren usw., man begnügte sich mit Astern, Levkojen, Balsaminen, Nelken, Herbstrosen, Reseden, Veilchen, Lilien und Rosen, und diese Blüten meiner Jugend sind mir auch noch die liebsten im Alter; ihr Geruch führt mich immer in jene Tage meiner Kindheit, und besonders, wo ich auch bin, immer wieder in meinen lieben Garten im Kloster Maulbronn.

Mein Vater gab sich mit meinem Unterricht auch selbst viel in Liebe ab; ich blieb auch immer noch der Begleiter in seine Gärten, zu seinen Bäumen und Bienen, wo er mich das Inokulieren und Zweigen lehrte und mich zu andern kleinen Gartenarbeiten anhielt. Ich war auch hier wieder viel zerstreut, aber nie untätig. Zur Nachtzeit, wenn er in seinem Altvatersessel saß, nahm er mich oft zwischen seine Füße oder auf seinen Schoß und erzählte mir von fremden Ländern, ihren Menschen, Tieren und Pflanzen, auch Geschichten aus seiner Jugend, oder trat er mit mir vor das geöffnete Fenster und erklärte mir den gestirnten Himmel; auch von Meteoren und Mondsteinen sprach er. Ich erinnere mich, daß er mir da einmal den Bericht eines Dorfschulzen aus dem Oberamte Maulbronn aus früheren Zeiten vorlas, den er in seiner Registratur gefunden, welcher von einem feurigen Drachen berichtete, der im Angesicht der ganzen Gemeinde, abends hoch durch den Himmel gefahren, und aus seinem [188] Rachen mit furchtbarem Knall feurige Steine gespieen habe. Offenbar war dies eine Explosion von Meteorsteinen; mein Vater erklärte mir den Bericht auch auf diese Weise.

Mein weiterer Unterricht in Maulbronn wurde nun auch wieder wie früher durch den Professor Maier und durch die älteren Studierenden fortgesetzt, auch erteilte mir Professor Hiller Unterricht in der Geschichte, Geometrie usw.; aber es wurde nicht mehr der Ernst und die Strenge wie in Brackenheim eingehalten, auch hatte ich nicht mehr die Kameraden, denen ich nacheiferte, die ich dort hatte, und insofern wäre es besser gewesen, man hätte mich dort gelassen. Mir aber, der ich das nicht so ermaß, war natürlich der Aufenthalt im elterlichen Hause wieder sehr erwünscht; denn fern von meinen Eltern, Blumen und Tieren blieb mir, war ich auch noch so zerstreut, doch immer ein Heimweh im Herzen.

Die künftigen Verwandten

Bald als wir ankamen, wurde das Kloster von Fremden erfüllt; denn es stand eine Einlieferung von neuen Alumnen statt; sie kamen aus dem Kloster Denkendorf und wurden meistens von ihren Eltern und Pflegern begleitet, die in die Häuser der Professoren und Beamten nach eigner Wahl von diesen einquartiert wurden. Meinem Vater fiel unter ihnen ein Mann auf, der ein besonderes einnehmendes und redliches Aussehen hatte und für den er sogleich die größte Zuneigung fühlte; diesen erwählte er sich aus allen zum Gaste. Der Sohn, den er mitgebracht hatte, fiel mir darum auf, weil ich meinte, ich hätte ihn schon oftmals gesehen. Er selbst versicherte mich, daß wir uns gewiß noch nie gesehen, aber ich ließ [189] mirs nicht nehmen, dachte ihm immer nach, und auf einmal kam es mir, daß ich ihn in jener Traumnacht unter den Bildern auf den Fenstern der Kirche zu Heilbronn mehr als einmal sah, und zwar meistens in der Nähe jener Gestalt, die mir so oft auf ihnen erschien, und nach der mir immer ein Heimweh auch selbst unter meinen Blumen blieb. Jenen Mann aber, seinen Vater, den mein Vater so lieb gewonnen, erinnerte ich mich nie vorher je gesehen zu haben; auch in meinen spätern Jahren sah ich ihn nie wieder; aber er blieb mir mit seinem menschenfreundlichen Gesichte, silberweißen Haaren und lieben Wesen farbig und tief ins Gedächtnis eingeprägt, ob ich ihn gleich damals als Kind nur kurz und oberflächlich sah. Dieser Mann war der Professor Ehmann von Denkendorf, dessen Tochter Friederike, als ich sie zehn Jahre später zum erstenmal erblickte, die treue Gefährtin meines Lebens, so wie dieser ihr Bruder, auch in viel späteren Jahren, mein inniger Freund und Teilnehmer an vielen Jahren meines Lebens wurde.

Sie war mit mir in gleichem Alter, und die ersten der Studenten, die von Denkendorf nach Maulbronn promoviert wurden und mir in Maulbronn Unterricht erteilten, hatten vorher auch ihr Unterricht in Denkendorf erteilt. Nur in diesem Rapporte standen wir, hörten aber nie von einander, und sahen einander nie, als in jener spätern Zeit, wo wir uns auf ewig verbanden. Hätte mein Vater damals geahnt, welchen künftigen nahen Verwandten er sich zum Gaste auserwählt! Vielleicht war aber diese seine Wahl schon eine geheime Ahnung, die er nicht zu deuten wußte. Der Mann schied nach kurzem Aufenthalte auch ganz begeistert von meinem Vater. Sie sahen einander nie wieder.

[190] Der Bauer Rapp

Es hatte sich damals in Württemberg und besonders zahlreich im Oberamte Maulbronn eine Sekte gebildet, deren Anhänger sich Separatisten nannten. Sie waren ihren Grundsätzen nach Spiritualisten, Opposition gegen alle Kirche, mehrere sogar Pantheisten. Ihre politische Schwärmerei war nur Nebensache. Ihr Anführer, Namens Rapp, war aus dem Dorfe Iptingen, Oberamts Maulbronn, ein Mann noch von den besten Jahren, mit einem kräftigen Körper, hellem Verstand und festem, entschlossenem Charakter.

Obgleich mein Vater sich seinen Bestrebungen und der Verbreitung seiner Sekte als Beamter entgegenstellen mußte, suchte er doch alle Gewalt und Strenge, war sie ihm auch anempfohlen, gegen ihn und seine Brüder zu vermeiden.

Gegen ihre Grundsätze war es besonders, einen förmlichen Eid zu schwören, denn sie behaupteten: ein Manneswort müsse ohnedies heilig sein und dürfe nur in Ja und Nein bestehen, und deswegen wollten sie auch dem Herzoge keinen Huldigungseid leisten. Es sollte mit harten Strafen gegen sie eingeschritten werden; mein Vater aber machte zwischen ihnen und der Regierung den Vermittler, und um diese Zeit besuchte Rapp öfters unser Haus, und ich erinnere mich gar wohl noch seiner und seines langen schwarzen Bartes, mit dem der nachher so berühmt gewordene Bauer oftmals bei uns neben meinem Vater zu Tisch saß.

Es ist bekannt, daß er später nach dem Tode meines Vaters mit seinen Glaubensbrüdern nach Nordamerika zog und dort unter dem Namen »Harmonie« eine eigene Kolonie auf eine Mischung von theokratischpatriarchalischen und kommunistischen Prinzipien [191] gründete. Diese frühere Kolonie vertauschte er später mit einer andern, die er »Economie« benannte, und wo er in sehr hohem Alter am 7. August 1847 starb. Es freut mich, daß mein Vater das Ungewöhnliche, das in diesen Menschen lag, auch in seinem ersten Keime nicht mißkannte.

Mein Bruder Georg mit Reinhard in Maulbronn

Mein Bruder Georg hatte inzwischen, wie schon weitläufig erwähnt wurde, den Sturm der Revolution in Paris mitgemacht, Wunden erhalten und der Guillotine getrotzt.

Beruhigter wurden meine Eltern, als er, sich aus diesen Pariser Stürmen herausarbeitend, den gefahrloseren Weg der Diplomatie einschlug, eine Bahn, die er seinem Landsmanne, dem Württemberger Reinhard, nachherigen Grafen und Pair Frankreichs, zu verdanken hatte. Mit diesem schloß er schon damals einen Freundschaftsbund, der, obgleich seine politischen Gesinnungen oft sehr von denen Reinhards abwichen, fest bis an beider Ende dauerte.

Als Reinhard Gesandter in Hamburg wurde, begleitete er ihn als Privatsekretär dahin. Auf sein Zureden fand sich auch sein Freund Reinhold, der bisher in der holländischen Armee diente, in Hamburg ein und begann dort als Privatsekretär des holländischen Gesandten Abemar seine diplomatische Laufbahn. Beide Freunde lebten da vom Januar 1796 bis Ende Februar 1798 miteinander, nur einen Teil des Winters 1797 brachte mein Bruder Georg, von Reinhard dahin geschickt, in Paris zu. Reinholds spätere Laufbahn wurde schon berührt.

[192] Im Frühling 1798 reiste Reinhard in einer diplomatischen Sendung nach Italien und traf mit meinem Bruder unversehens in Maulbronn ein.

Die Freude des Wiedersehens nach all den Gefahren und Irrwegen war groß, und zähmte selbst die Strenge meines Vaters, der, ein fester Monarchist, den republikanischen Sohn demungeachtet mit Liebe wieder an sein väterliches Herz drückte.

Die ernste Würde Reinhards, dessen Aussehen gar nicht das eines leichten Republikaners war (schon damals hatte er das Aussehen eines Grafen und Pairs), das Lob, das er meinem Bruder erteilte, wie er sich in Paris Liebe und Ansehen verschafft, die Erzählungen von den Stürmen, in denen er gänzlich mit Aufopferung seiner selbst das Leben von Freunden und von Fremden verteidigt und gerettet, das alles erwärmte das väterliche Herz.

Reinhard hatte auch seine Gattin bei sich; es war die Tochter des bekannten Professors Reimarus in Hamburg. Reinhard, in seiner Jugend zum Theologen bestimmt, hatte auch einst die württembergischen Erziehungsanstalten für Theologen, die Klöster, durchlaufen, und es war ihm nun sehr angelegen, seiner Gattin all die klösterlichen Einrichtungen zu zeigen und mit ihr sich in diese Zeit seiner Jugend wieder zurück zu versetzen.

Leider waren die Klosterzöglinge gerade in der Vakanz. Um der Gesandtin einen Begriff von der Kleidung zu geben, die auch ihr Gatte in dieser Schule einst trug, ließ mich mein Vater in die Kuttentracht eines Klosterzöglings kleiden, in welcher ich unerwartet zur Türe hereintrat und der Frau Gesandtin einen Blumenstrauß überreichte. Der Besuch des Gesandten und seiner Gattin dauerte einige Tage, der meines Bruders, glaube ich, noch länger.

Es waren für mich vergnügte Tage, denen bald sehr traurige folgten.

[193] Meines Vaters Erkranken

Mein Bruder Georg fand das Aussehen des Vaters sehr verändert. Die so kräftig gewesene Gestalt schien ihm mehr zusammengefallen, das feurige schwarze Auge mehr erloschen, er äußerte gegen den BruderKarl seine Besorgnisse und war mit großem Herzeleid geschieden.

In der Tat hatte auch mein Vater schon seit einem Jahr zu kränkeln angefangen, und das Leiden stellte sich immer mehr heraus.

Es war ein chronisches Leiden des Magens, es bildete sich eine Verhärtung am Magenmunde, die bald keine Speise mehr in denselben ließ, wodurch auch häufiges Erbrechen stattfand. Meine Mutter war unermüdet in der Pflege ihres Gatten, und meine Schwester Wilhelmine wich auch wenig von seinem Lager, denn sie machte des Vaters Sekretär und Vorleser. Viele Ärzte wurden zu Rate gezogen, zuletzt auch wieder jener russische Arzt zu Heilbronn, der es abermals an Anraten seines Hopelpopels nicht fehlen ließ; allein es trat Zehrfieber und völlige Abmagerung ein. Es war für mich betrübend, nun allein zu meinen Blumen und zu des Vaters verlassenen Bäumen wandern zu müssen; im Hause und in den Gärten gestaltete sich alles trübe, die alten Rappen wurden verkauft und auch Matthias verlor seinen Mutwillen und Scherz; denn er glaubte nicht anders, als er werde nach jener Prophezeiung des Esels, gewiß in diesem Jahr auch ans Ende seines Lebens kommen.

Des Vaters Aussehen machte mich entsetzlich bange; ich fürchtete mich ihm zu nähern und sah nur oftmals von der nahen Klostermauer, die einen bedeckten Gang hatte, verstohlen in das Zimmer, wo sein Krankenlager [194] war, hinein. Von Arzneiflaschen umgeben, lag er da bleich und zum Gerippe abgemagert im Bette und meine Mutter oft an demselben knieend und betend.

Ein jeder neu ankommende Arzt machte mir nur Angst, und ich floh in den Klosterzwinger zu meinen Blumen oder den Bäumen meines Vaters, die mir aber auch bald wieder bange machten, so daß ich oft von ihnen wieder auf die Mauer zurückkehrte und heimlich in das Krankenzimmer blickte, zu sehen, was da vorging.

Als ich eines Abends so einmal (es war schon Dämmerung) von der Klostermauer in das Fenster des väterlichen Krankenzimmers sah, sah ich mich auf einmal ganz deutlich selbst im Zimmer. Ich sah mich knieend vor dem Bett des Vaters und hatte seine gelbe abgemagerte Hand in der meinigen. Ich blickte auf den Vater; sein schwarzes Auge sah mich verklärt an. Da faßte ich Mut, ich eilte wirklich zum Zimmer, ich fand meine Mutter vor des Vaters Bette im Gebete, meine Gestalt sah ich nicht mehr, aber nun kniete ich auch nieder und faßte seine Hand, und er blickte mich, wie ich es vorhin gesehen, verklärt an. Von da an trat ich öfters ins Krankenzimmer selbst, hatte meine Angst vor dem sterbenden Bilde überwunden, und mein Vater wurde auch freundlicher gegen mich, denn er hatte mein seltenes Erscheinen bald für Mangel an kindlicher Liebe gehalten, was es doch nicht war.

Mein Unterricht wurde, da die Aufsicht des Vaters fehlte, wieder lässiger betrieben, und ich fiel wieder mehr der Natur anheim. Damals aber legte sie ihre Sehnsucht, ihre Wehmut in mich, und mit ihnen die Poesie.

Während der Krankheit meines Vaters kam mein Bruder Karl öfters zu uns nach Maulbronn. Er war damals Leutenant unter der Artillerie des schwäbischen Kreises, die zu Ludwigsburg stationiert war. An Geist wie an [195] Körper war er zum liebenswürdigsten Jüngling herangewachsen, und durch den festen Charakter und die Besonnenheit, die er schon frühe zeigte, war er meinem Vater sehr teuer, und er ahnete mit Freuden in ihm schon damals die einstige Stütze seiner Hinterbliebenen, was er auch im vollsten Maße wurde.

Für diesen Bruder hegte ich auch schon damals große Achtung und Liebe, obgleich auch unser Wesen wieder sehr verschieden von einander war. Er war Verstand und Mathematik, ich bloß Gemüt ohne alle Berechnung. Meine poetischen Versuche traf schon damals oft sein Spott, und in solchem hieß er mich oft den Dichter Kotzebue, welcher Name zugleich eine Anspielung auf meine frühere Krankheit sein sollte. Aber er meinte es immer durchaus liebevoll und rechtschaffen, und ich folgte ihm auch in allem gern, selbst seinen Anmahnungen, mich auch hinter die Zahlen und geometrische Gleichungen zu machen, was mir gewiß sehr schwer fiel und gegen meine Natur war.

Des Vaters Tod

Die Kräfte meines Vaters schwanden immer mehr, und er machte sich bald selbst keine Hoffnung zu einem Aufkommen. Seinen Tochtermann, den PfarrerZeller, damals zu Wiernsheim, nicht weit von Maulbronn, hatte er öfters zu fernen Ärzten um Rat geschickt.

Wenige Wochen vor seinem Tode dachte er dafür einen freundlichen Dank für ihn aus. Er hatte (wie schon erwähnt) in seiner Gemäldesammlung ein sehr gut in Öl auf Holz gemaltes Kniestück, Lebensgröße; es stellte den Cimon im Kerker vor, wie er sich an der Brust seiner [196] Tochter nährte. Dieses sandte er dem Tochtermann mit folgenden Zeilen:

»Sie haben sich durch Ihre Gutmütigkeit bemühet mich aus der Gefangenschaft meines Krankenzimmers zu retten; empfangen Sie dafür zum Andenken dieses Sinnbild kindlicher Liebe. Bewahren Sie es und denken Sie dabei, was kindliche Liebe bei Ihnen nicht vermochte, vermochte endlich der erbarmende Engel des Todes.«

Wenige Tage vor seinem Tode diktierte er seinem Schreiber einen Abschied an Frau und Kinder. Es möge hier aus demselben nachstehendes Platz finden.

Liebste Ehefrau!

»Liebste Ehefrau!

Du hast mir in Deinem Leben viele Liebe erwiesen, auch an dem Rande des Grabes danke ich Dir. Ich bitte Dich, so sehr ich Dich bitten kann, betrübe Dich über meinen Tod nicht zu sehr, betrage Dich als eine vernünftige Christin und denke, daß Du der Vorsehung nicht widerstreben kannst. Es mußte so sein, und Gott nur weiß warum – und es wird gut sein.

Ich wünsche, daß Du nach meinem Tode wieder nach Ludwigsburg ziehest. Verwandte, Freunde und Bekannte werden Dir dort Deine Einsamkeit erträglicher machen.

Lebest Du sparsam, wie Du ja tun wirst, so hoffe ich, daß Du von dem noch vorhandenen Vermögen und dem Witwenkassengehalte werdest leben können. Man möge Sr. herzoglichen Durchlaucht um eine Pension für Dich bitten; denn ich diente 30 Jahre, und die Oberamteien sind nicht so beschaffen, daß ein Mann ohne großes Vermögen, der streng und uneigennützig handelt, [197] mit einer großen Familie, auf ihnen sich Vermögen schaffen könnte, der Ausgaben sind zu viele! 1

Ist mein Körper erblaßt, so kann man eine Sektion an ihm vornehmen, um meiner Kinder willen; sodann aber ist er ohne die mindeste Zierde eines Sterbekleides in den blauen Schlafrock einzukleiden, den ich ohnlängst von meiner lieben Frau erhalten. Der Sarg, in den man ihn legt, soll nur von Tannenholz sein, braun angestrichen. Man soll meine Chaise abdecken, den großen Bock aufschrauben, und meinen Sarg morgens 5 Uhr, wo mein Begräbnis veranstaltet werden soll, darauf legen.

Niemand soll mich zu Grabe geleiten als meine Söhne, mein Tochtermann und Herr Professor Maier. Zur Tragung des Sarges vom Kirchhoftore bis zum Grabe soll man acht arme Männer bestellen und belohnen. Keine Trauerrede soll man, weder in der Kirche, noch auf dem Grabe, halten, sondern einzig auf ihm ein stilles Vaterunser beten.

In der nächsten Amtsversammlung soll man den Amtsvorstehern und Bürgern, die mir während meiner Amtsführung ihr Vertrauen schenkten, dafür danken und sie versichern: daß meine Absicht immer gewesen, das Wohl des Amtes zu befördern, daß ich aber unter vorliegenden Umständen nur weniges Ersprießliches hätte ausrichten können.«

An jedes seiner Kinder richtete er in diesem Abschiede noch Worte der Belehrung und Liebe. Von mir heißt es:

»Du liegst mir schwer auf dem Herzen, daß ich nicht [198] mehr für Dich sorgen kann. Dein Oheim wird Vaterstelle an Dir vertreten; sei diesem und Deiner Mutter gehorsam. Dein Glück kannst Du in der Welt allein durch gute Aufführung und Fleiß in Deinen Studien machen. Wähle Dir einen Beruf, zu dem Du einmal Lust hast. Ich scheide mit schwerem Herzen von Dir! Gott segne Dich!« dann schloß er: »Meinen Geschwistern, Anverwandten, Freunden und Bekannten sage ich meinen innigsten Dank und empfehle ihnen meine liebe Frau und Kinder. Endlich empfehle ich meinen Geist in die Hand des allgütigen Gottes!«

Noch kurz vor der Stunde seines Todes empfing er in Gemeinschaft mit meiner Mutter das heilige Abendmahl. Er nahm die heilige Hostie, vermochte sie aber nicht mehr zu genießen; da nahm meine Mutter sie von seinem Munde und genoß sie für ihn unter Gebet und Tränen.

Sein Begräbnis wurde veranstaltet, wie er befohlen. Ein Fruchtbaum aus seiner Baumschule wurde ihm aufs Grab als Monument gesetzt. Darauf herrschte Totenstille im Hause. Ich floh zu den Bäumen meines Vaters und zu meinen Blumen. Die Trauer der Mutter machte mich noch trauriger; ich vermied sie, bis endlich der Verkauf der überflüssigen Hausgeräte und die Veranstaltung zur Abreise nach Ludwigsburg das jugendlich bewegliche Gemüt in Zerstreuung und in den Tumult des Lebens zurückbrachten. Ich hatte das 13. Jahr erreicht.

Fußnoten

1 Zur Zeit als mein Vater den Dienst als Oberamtmann zu Ludwigsburg antrat, mußte man für alle Dienste in die Privatkasse des Herzogs Karl eine Summe entrichten, mein Vater damals die beträchtliche Summe von 6500 F. Später verlor er noch 4000 F. durch Anlehen an Freunde. Meine Mutter kam nach seinem Tode um eine Pension ein, erhielt aber keine, und die Witwenkasse, es war die von Hanau, aus der für sie mein Vater etwas gehofft hatte, fallierte bald nachher.

Rückkehr nach Ludwigsburg

Wir kamen nun in meine Vaterstadt Ludwigsburg zurück, aber ohne den Vater. (Es war das Jahr 1799.)

Dadurch, daß Herzog Friedrich mit einem prächtigen [199] Hofstaate seine Sommerresidenz in Ludwigsburg genommen hatte, und mehr Militär als früher anwesend war, hatte Ludwigsburg ein etwas lebendigeres Ansehen gewonnen; aber es reichte auch dieses doch noch nicht hin, die langen Straßen und weiten Plätze wirklich zu beleben, und oft stand es, blickte man in eine solche Straße hinaus, längere Zeit an, bis man eine größere Anzahl von Menschen in ihr erscheinen sehen konnte; oft schwebte nur am äußersten Horizonte einer solchen Straße der Perückenmacher Fribolin oder der dicke Brunnenmacher Kämpf wie in einem Schattenspiele vorüber. Den glänzenden Hof und das Militär erblickte man mehr in den Alleen und Schloßräumen. Die Stadt, wenn sie auch an Leere etwas verlor, war beängstigender geworden.

Unsere Wohnung war wieder auf dem Marktplatze, in dem der Oberamtei gegenüberstehenden obern Viertel der Arkaden, wo jetzt mehrere Schulen eingerichtet sind. Da gab es nun viele schmerzliche Erinnerungen und Entbehrungen, besonders für meine gute Mutter. Ihre Haushaltung bestand nun nur noch aus meiner jüngeren Schwester Wilhelmine, aus mir und einer Magd; denn meine ältere Schwester Ludovika hatte sich noch zu Lebzeiten meines Vaters mit einem Geistlichen zu Wiernsheim im Oberamte Maulbronn, wie schon angeführt, verheiratet.

Kein Garten, keine Pferde, keine Hunde waren mehr vorhanden.

Der alte Kutscher Matthias war mit Betrübnis von uns geschieden; er hatte eine Anstellung als Waldschütze in den Wäldern bei Maulbronn erhalten.

Die schönen Ölgemälde des Vaters waren um einen Spottpreis verkauft worden.

Ein so stilles Leben wir nun in diesen Jahren führten, in einem um so unruhigeren trieben sich damals meine Brüder Karl und Georg in entgegengesetzten Richtungen [200] umher, was meiner so leicht beängstigten Mutter da oft zu großer Sorge gereichte.

Mein Bruder Karl im Jahre 1799 und meine Schuljahre

Mein Bruder Karl im Jahre 1799 und meine Schuljahre und Knabenzeit in diesem Jahre

Mein Bruder Karl hatte nach dem Tode des Vaters (1799) an der Grenze zwischen Sinsheim an mehreren Gefechten gegen die Franzosen als Leutnant bei einer Batterie lebhaften Anteil genommen und war nach Ludwigsburg zurückgekehrt, wo er ein eigenes Logis nahe dem Arsenal bewohnte.

Der Feldzug von 1800 aber ließ ihm keine Ruhe, er hatte denselben unter dem Reichskontingent mit den Österreichern mitzumachen, und es wurde ihm schon ein selbständiges Kommando, der Transport der Geschütze und Waffenvorräte auf der Donau, anvertraut. Es war seine Aufgabe, diesen Transport nach Maßgabe der Kriegsereignisse zu bewegen und die Sicherstellung der Vorräte zu bewirken.

»Wenn schon in frühern kleinern Vorfällen (schreibt ein Waffengefährte von ihm) sein richtiger Blick und sein reifes Urteil sich kund gaben, so traten diese Eigenschaften in Verbindung mit dem Schatze gründlicher Kenntnis während dieses Feldzuges in höherem Grade werktätig hervor. Er wurde im Verlauf derselben zum Oberleutnant bei der Artillerie ernannt.«

[201] Mein Bruder Georg in Italien

Die Jahre 1798 und 1799 hatte mein Bruder Georg in Italien zugebracht und war vom Minister Reinhardt zu vielen wichtigen Aufträgen und Sendungen verwendet worden. Als Kommissär des französischen Gouvernements hielt er sich längere Zeit in Florenz auf, wo sich seine Geschäfte auf die damaligen Angelegenheiten Toskanas bezogen. Bei einem Gefechte gegen die Insurgenten, das er nur aus Liebe für Gefahren mitmachte, erhielt er damals einen Säbelhieb über die Schulter.

Eine Sendung bekam er auch ins Hauptquartier des Generals Bonaparte, wo er von diesem zu Tisch geladen wurde. Es ist sehr merkwürdig, daß er nach der Zurückkunft von ihm in sein Tagebuch, was noch in solchem zu lesen ist, folgendes schrieb:

»Großer, von Europa und der Nachwelt besungener Held! Auch du bist worden nichts, und wirst werden nichts, als ein Mensch, der nicht getan hat, was er hätte tun können, und nicht geworden ist, was er der ganzen Menschheit hätte werden können!« –

Dennoch wäre er mit Bonaparte im Jahre 1798 gern nach Ägypten gezogen. Die Sache war auch bereits durch Bourienne oder General Championnet eingeleitet, und Bonaparte wollte ihn mitnehmen, als Reinhardt ihn bewog, den Gedanken aufzugeben.

Auf einer Reise durch Italien begleitete er Bonapartes Schwester, Pauline, damals noch GeneralinLeclerc.

Von seinem Aufenthalte in Italien vom Jahre 1799 schreibt sich nachfolgender Aufsatz von ihm:

[202] An den Ufern des Anio

Langsam zieht sich der Anio zu den Füßen von Tivoli hin, endlich bricht sich sein Bett, und ein Felsenbecken empfängt den stürzenden Fluß, der unter Donnergeräusch, in Wasserstaub aufgelöst, schäumend, als tobte in und unter ihm vulkanisches Feuer, von Felsen zu Felsen, von Abgrund zu Abgrund stürzt, durch gesprengte Massen, durch Höhlen, die sein tausendjähriger Strom bildet, sich in immer furchtbareren Wogen niederwälzt, bis er endlich eine ruhigere Bahn findet. Gegenüber von dem ersten Fall sind kleine Wasserfälle, die zu der Größe der Szene das Malerische hinzufügen. Über Felsenspitzen und Gestein hinweg an der moosbewachsenen Felsenwand stürzen sie sich in die wilden Fluten des Teverone.

Nach seinem ersten Falle geht der Strom durch Felsenritzen und über Felsengrund und strömt endlich in die Grotte Neptuns. Von diesem schwebenden Abgrund stürzt er auf ein Steinbette und vereinigt sich hier mit einer zweiten Wassermasse, die von der Höhe Tivolis aus einem engen Felsenschlund hervor, wie ein wilder Jüngling, in den Abgrund springt. Die Sonne schien gerade in die Kristallwolken von Wasserstaub, und zwischen diesen Gegenständen des hohen Entsetzens schwebte des Regenbogens sanfteres Bild.

Auf dem Felsenbette, umringt auf allen Seiten von schroffen Felsenwänden, bricht sich der wilde Sturz, und schon beginnt ein sanftes Hingleiten über den breiten abgeglätteten Steinboden, als ein neuer Fall auch neues Toben, neues Donnergeräusch erzeugt. Furchtbar wütet der Strom, seine Wogen scheinen vor dem Anblick des zweiten Abgrundes sich rückwärts gegen die Felsen zu bäumen, von denen sie herabgestürzt waren. Vergeblicher [203] Widerstand! Neptun schickt die folgende Woge, und der Strom stürzt in die Grotte der Sirenen und aus diesem Schlunde der Finsternis in felsichtes Bette, das zwischen den Gebirgen sich hinzieht.

Bei der Grotte der Sirenen, hart an dem Abgrund, maß mein erstauntes Auge bald die furchtbare Höhe, bald die hohe Felsenwand, die in dem Vordergrund an der Grotte Neptuns gegen Tivoli und dem Tempel der Vesta emporragt. Die ganze große Naturszene beherrscht dieser Tempel, den Göttern zum hohen Wohnsitze geschaffen, gemacht, um zur Anbetung zu stimmen, Gefühle hervorzurufen, die den Busen schwellen, das Herz mit Kraft erfüllen und die Seele zu verwegenem Fluge beflügeln.

Ein anderer Teil des Teverone, der um die Stadt geleitet wird, um Mühlen und Fabriken das nötige Wasser zu geben, stürzt nicht fern von der ehemaligen Villa Mäcens in silbernen Wasserbogen von italienischem Grün und den Reichtümern der Ceres umlagert, über bemooste Felsen mit sanfterem Geräusch herab und strömt zwischen Bäumen, Gebüsch und Wiesengrund, seine Melodien in den Gesang der Nachtigall mischend, dahin.

Wenige Schritte von dem Ponte Lupo bietet die Quelle der Blandusia dem ermüdeten Wanderer Labetrunk mit der Erinnerung an horazischen Gesang. Sie schützt nach oben ein Gewölbe, Reste eines der Nymphe geheiligten Tempels, vor den erwärmenden Strahlen der Sonne, von der Seite spiegelt dichtes Gebüsch sich in der zitternden Silberquelle. Alle diese hohen Szenen der Natur werden von dem malerisch liegenden Tivoli beherrscht, das hoch auf dem Gebirg in schönen Gruppen dem Auge frohen Genuß gewährt.

Der Weg von Tivoli an den Cascadellen vorüber nach dem Ponte Lupo fuhrt über die Trümmer der Villa von [204] Cicero, Cassius und Brutus, von Horazius, von Quintilius Varus. Gegenüber auf der andern Seite erheben sich noch stolz die Trümmer der Villa Mäcens. Da wo der Günstling Augusts einst horazischen Weihrauch atmete, tönt jetzt des Hammers schallender Schlag aus der Mühlen Klappergeräusch. Da wo einst Zyperwein aus goldenen Pokalen strömte, fließt jetzt des Werkmanns Schweiß unter der Arbeit Last. Hier wo jetzt die Pflugschar bemooste Steintrümmer in die Erde drückt, diesseits des Stromes, im Schoße der schönen Natur, stärkte sich Cicero zum Kampfe gegen Catilinarische Kühnheit. Hier auf dieser andern Stelle sangen Tibull und Catull. Hier lebte den Musen der vaterländische Horaz, und über diesen Trümmern erhob sich einst die Villa des Quintilius Varus, des Zeugen germanischer Kraft, als sie den Kaisersadler in seinem hohen Fluge ergriff und blutend zur Erde schleuderte, daß der furchtbare Fall aus dem Auge Augusts Tränen des Schmerzes erpreßte. Hier endlich wandelten bei nächtlichem Dunkel und Regenschauer Brutus und Cassius. Hier heiligte die letzte Flamme römischer Freiheit den Dolch, der Cäsars Brust durchbohrte.

Auf dieser der Geschichte geheiligten Stätte traf ich vor Jahren zuerst mit dem Helden zusammen, dessen Name mit allem Fuge auch der Geschichte dieses Landes angehört, dessen Charakter Roms schönsten Jahrhunderts würdig war, der, wie keiner der fränkischen Feldherrn, so viel Sinn für Vereinigung der italienischen Völker in eine unabhängige Nationalmasse hatte, mit Joubert, dem Unvergeßlichen. Im Austausch unserer Gefühle wandelten wir hier lange unter den Trümmern vergangener Größe dieses Volkes, aber schon damals glaubt' ich in ihm jene Züge zu erkennen, denen das Glück nur selten entgegenkommt. Es war eine beklagenswerte Leidenschaft, die Liebe seiner Schwester, die ihn in die militärische [205] Laufbahn warf. Die Unglückliche liebte ihn mit aller Glut verbotener Liebe, und als er sich geflissentlich von ihr entfernte, fiel sie in eine Krankheit und starb. Er suchte nun auf einer geschäfts- und geräuschvollen Bahn Zerstreuung und fand Ruhm und Lorbeeren. Schmerzvolle Eindrücke aber blieben stets in seiner Seele zurück, und nie durfte man in seiner Gegenwart von Liebe sprechen, ohne daß sich tiefe Melancholie seiner Seele bemächtigte. Schon zu Mantua sagte mir nach geraumer Zeit vor Jouberts Entlassung der General M.: »Joubert werde nicht lange mehr bei der Armee bleiben, das Direktorium könne sich nur mit Menschen vertragen, deren Raub- und Gewaltsucht mit feiger Unterwürfigkeit gepaart, den Herrschern ein Motiv der Sicherheit werde. Militärischer Ruf, mit Bürgersinn und Bürgertugend vereinigt, sei diesen Menschen ein Gegenstand des Mißtrauens oder der Furcht; Joubert werde sich nicht erhalten und schon arbeite man von Mailand und Paris aus gegen ihn.« Ich sah seine Äußerung für übertrieben an, und mußte mich am Tage, da Joubert seine Dimissionsannahme erhielt, nur allzusehr von ihrer Gründlichkeit überzeugen. Ich war gerade an diesem Trauertage bei Joubert. Er hatte dem Exdirektor Merlin in einem Schreiben seine Meinung frei und offen mitgeteilt; Merlin hatte ihn dazu eingeladen, ihm seinen Glauben an einen entschiedenen Einfluß des Auslandes auf die Verhandlungen des Direktoriums nicht verschwiegen und sich mit edelm Unwillen gegen die beispiellose Behandlung der italienischen Völker erklärt, gegen ihre anhaltende Beraubung, Isolierung, und gegen ihre Herabwürdigung durch verhaßte Prokonsuls. Man hatte ihm unumschränkte Vollmacht über seine Armee verheißen, und von dem Tage seiner Ankunft an arbeitete ihm Furcht, Neid und Eifersucht aus Paris entgegen. Da man ihn selbst nicht anzugreifen wagte, so wurden die Pfeile [206] gegen die Personen abgedrückt, die ihn umringten. Man verlangte Suchets Entfernung, den er als seinen Chef vom Generalstab für unentbehrlich hielt, dem er sein Zutrauen geschenkt hatte, und dessen Wert er besser beurteilen konnte, als dieses Direktorium auf seinen weichen Polstern im unseligen Palaste von Luxembourg. »Ich verlasse«, sagte er mir, »die Armee in einem Zustande, dem die Russen und Österreicher in mehreren Monaten noch nicht gewachsen sein können. Wenn einst die Zeit der Gefahr kommen sollte, bin ich bereit jedem Rufe zu folgen; jetzt trete ich mit der Überzeugung zurück, daß ein Land wie Frankreich Männer genug besitze, die noch bessere Dienste, denn ich zu leisten vermögen; anders zu denken wäre unverzeihliche Eitelkeit.« – Zu Reggio sagte er mir dies; dort sah ich ihn zum letztenmal, den großen Unvergeßlichen. – Am Tage der Schlacht von Novi hat er Wort gehalten. Auf den Ruf des bedrängten Vaterlandes war er dem Grabe entgegengeeilt, und der Tag seines Heldentodes war für die Feinde ein Sieg, blutig wie die blutigste Niederlage! – An dem Tage der Schlacht bei Novi floh der Genius der Freiheit von Frankreich.


Als Sieyes ins Direktorium eingetreten war, berief erReinhard zum Ministerium nach Paris. Dieser reiste nun in Begleitung meines Bruders dahin zurück, und zwar zur See; denn seine Gattin fürchtete die Landreise.

Auf dieser Fahrt schiffte in kleiner Ferne ein englisches Schiff an ihnen vorüber. Hier beging mein Bruder in seinem fanatischen Hasse gegen die Engländer die Tollkühnheit, daß er beim Anblick der englischen Flagge sogleich in den Schiffsraum eilte, und ohne gegen irgend jemand etwas zu erwähnen, eine Kanone gegen das [207] Schiff richtete, anzündete und die Kugel über die Flagge hinjagte.

Dieser jugendliche Übermut brachte nicht nur dem Gesandten vielen Verdruß, (denn es war, wenn ich nicht irre, Waffenstillstand zwischen Frankreich und England) sondern zog auch meinem Bruder eine Disziplinarstrafe zu.

In Toulon mußten sie Quarantäne halten, in deren Ruhe mein unruhiger Bruder oft verzweifeln wollte. Er schlug am Gestade des Meeres ein großes Zelt auf, in dem er zum Zeitvertreib Schauspiele und andere Festlichkeiten veranstaltete. In demselben Jahr wurde er von Reinhard von Paris nach Holland zu Brune ins Hauptquartier mit Aufträgen geschickt, wo er in seiner Lebendigkeit auch noch persönlich an einem Treffen der Franzosen gegen die Russen und Engländer, das während seiner Anwesenheit vorfiel, teilnahm und eine Verwundung durch eine Musketenkugel im Arm davon trug. Er hätte aber hier sein Leben noch auf eine andere Weise einbüßen können; denn als er nach seinem vollendeten Auftrage den kürzern Weg (die Kugel noch im Arme) zurückzunehmen gedachte, wäre er beinahe in den Dünen versunken.

Noch waren ihm in diesem und früheren Jahren mehrere Sendungen übertragen worden. Auf einem Blatte, das von seiner Hand beschrieben ist, finden sich noch flüchtige Notizen, aber ohne Jahrzahl; z.E. »Erste und zweite Reise nach Bremen ohne weitere Bemerkung.« »Kongreß von Hildesheim, wohin Reinhard mich sandte.« »Meine Sendung nach Berlin«, und hierbei steht:

»Unmittelbar nach Katharinas Tode sollte ich nach Rußland. Kaufleute von Hamburg interessierten sich dabei. Freier Verkehr zwischen russischen und französischen Häfen, durch Hanseaten betrieben, sollte der erste Schritt zur Versöhnung oder Annäherung zwischen [208] Rußland und Frankreich werden. Das französische Gouvernement nahm keinen direkten Anteil an dieser Sendung. Hamburger Kaufleute gaben die Fonds, Reinhard seine Zustimmung, allein Haugwitz keine Protektion. Ceillard, französischer Gesandter in Berlin, sah das Ganze als meinen Eingriff in seinen politischen Sprengel an.« –

Mein Bruder Louis und der Aufstand in Knittlingen

Während meine Brüder Georg und Karl in dieser Zeit vielseitiger Bewegung und Aufregung den Weg der Gefahr gingen, weilte mein Bruder Louis teils imBreisgau teils in Württemberg als Pfarrvikar. Mit dem Älterwerden hatte sich in ihm das republikanische Feuer gelegt. Es war bei ihm auch nur ein Strohfeuer; in meinem Bruder Georg, bei dem es ein echtes war, erlosch es bis zum Tode nicht.

Ungefähr um die Zeit unserer Rückkehr nach Ludwigsburg (1800) war mein Bruder Louis geistlicher Vikar in jenem Knittlingen bei Maulbronn. Ein vom Rhein heraufgekommener französischer Chasseur, der aber ein Württemberger, Namens Schwarz, von Osweil bei Ludwigsburg war, hatte revolutionäre Ideen unter die Bürger jenes Städtchens gebracht, hielt mit ihnen Zusammenkünfte in den Wirtshäusern, wo Reden gehalten wurden und die Republik auch für Württemberg ausgerufen werden sollte. Der Nachfolger meines Vaters zu Maulbronn, Oberamtmann Seubert, der sich zu Beschwichtigung der revolutionären Köpfe an Ort und Stelle begab, mußte sich nach einer an die Bürgerschaft gehaltenen Rede flüchtig machen; denn die Knittlinger [209] fielen ihn mit Knitteln an, 1 und er rettete sich nur noch in Bauernkleidung nachts mit einer Laterne durch die Wälder ins Kloster Maulbronn zurück.

Auf einmal aber erschien der Herzog selbst in Knittlingen mit militärischer Begleitung, besprach das aufrührerische Volk und legte den Sturm bald durch seine imposante Gestalt und Rede.

Meine Mutter war diese Zeit hindurch untröstlich, denn sie glaubte nichts anders, als es werde ihr guter, armer Louis auch Anteil an dieser revolutionären Bewegung haben und könne stündlich in Ketten auf die Feste Asperg geführt werden; allein sie kannte ihn nicht genug. Er war auch auf dem Platze, auf dem der Herzog zu dem Volke sprach, an dessen Aufstand er übrigens nicht den geringsten Anteil hatte; er stand nahe bei dem Herzog, aber je kräftiger, donnernder dieser sprach, je mehr zog er sich in der Stille zurück bis in seine Studierstube, wo er für den morgigen Sonntag sich eine sehr salbungsreiche Predigt nach dem Texte: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« einstudierte.

Bald darauf kam er auf den Asperg, aber nicht als Revolutionär, sondern als Garnisonprediger.

Fußnoten

1 Die Knittlinger führen einen Knittel im Wappen.

Mein Bruder Karl und die Arretierungen in Ludwigsburg

Fast um die gleiche Zeit kam meine gute Mutter in einen ähnlichen und beinahe noch größeren Jammer durch meinen gar nicht revolutionären Bruder Karl.

Es wurden damals mehrere Württemberger, selbst Freunde meines Bruders, z.E. ein Konsulent Bonz in[210] Ludwigsburg, ein Leutenant Pinasse, Landschaftskonsulent Batz, Hauptmann Bauer, der als geschätzter General im bayerischen Generalstabe starb und sich auch als militärischer Schriftsteller bekannt gemacht hatte, ferner Sekretär Hauff (Neffe meiner Mutter, Vater des Dichters) und mehrere andere, auf herzoglichen Befehl in der Nacht aufgehoben und auf die Feste Asperg abgeführt. Das österreichische Armee-Kommando in Württemberg hatte sie angegeben. Man hatte sie im Verdachte, in sträfliche Verbindungen mit den Franzosen zur Errichtung einer deutschen Republik getreten zu sein. Es wurde eine Staatskommission auf der Feste niedergesetzt, die die Gefangenen zu verhören hatte. Einer dieser, ein sehr feiger und schlechter Charakter, glaubte sich seine Sache zu erleichtern, wenn er auch vom Herzog sehr treu geglaubte Offiziere darein verwickelte, und so suchte er meinen Bruder auch schon durch die republikanischen Gesinnungen seines älteren Bruders, die dem Herzoge nur zu bekannt waren, zu verdächtigen. So kam es, daß mein Bruder eines Morgens auf einmal durch seinen Vorgesetzten, den General Kammerer, die Weisung erhielt, sich mit ihm auf Befehl des Herzogs sogleich auf die Feste Asperg zu begeben, um dort vor besagter Kommission ein Verhör zu erstehen. Man glaubte aber höhern Ortes so wenig an seine Schuld, daß ihm auch nicht einmal der Degen abgenommen wurde, er reiste mit seinem General wie zu seinem Geschäfte im Dienste nach der Feste Asperg ab.

Welch Herzeleid aber meine Mutter empfand, ist wohl zu erachten; auch wir Geschwister brachen in Klagen und Weinen aus.

Es hatte sich in Ludwigsburg unter den Familien eine allgemeine Angst verbreitet, und wer nur in etwas kein gutes Gewissen hatte, brachte die etwa verdächtig sein könnenden Papiere und Bücher auf die Seite, und Hunderte, [211] [214]die sich gegen die politischen Verhältnisse geäußert, erwarteten ihre Abführung auf die Feste.

Mein Bruder aber war an demselben Tage abends schon wieder von der Feste zurück, es konnte ihm nicht die mindeste Schuld beigemessen werden, und selbst bei einer Audienz, die er sogleich darauf beim Herzog begehrte, und in welcher er sich über den Vorfall beschwerte und nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit, forderte, wurde ihm alle Genugtuung.

Unser Vetter Hauff, auch Bonz wurden bald vom Asperg entlassen, und es erstreckte sich die Zahl der gefangen Gebliebenen nur noch auf sechs; denn es beruhte die Verhaftung bei einzelnen nur auf solchen Denunziationen und ungegründetem Verdacht, und die Persönlichkeit der gefangen Gebliebenen war gar nicht der Art, daß von ihnen eine Staatsumwälzung und Errichtung einer deutschen Republik zu erwarten gewesen wäre. Nur einem derselben, dem Landschaftskonsulenten Batz, ging es sehr übel; er wurde von den Österreichern lange herumgeschleppt, auf eine österreichische Festung gebracht und, wenn ich nicht irre, erst nach Jahren wieder in Freiheit gesetzt.

Hegels Schwester

Die Nichte meiner Mutter, die Gattin des SekretärsHauff, der dazumal zu Stuttgart seinen Wohnsitz hatte, kam in dieser Zeit oft in unser Haus, um ihrem auf dem Asperg gefangenen Gatten näher zu sein; auch hatte sie eine Freundin in Ludwigsburg, die gutmütig und entschlossen genug war, ihr Briefe an ihren Mann auf der Feste zu besorgen. Diese Freundin kleidete sich in Magdkleider, [214] brachte die Briefe in ein Gefäß mit doppeltem Boden, in dem man den Gefangenen, was erlaubt war, gekochtes Obst, Gelee usw. zusandte, das sie zu Fuß dann auf die Feste trug und gut an Mann brachte.

Diese Person war die Schwester des berühmten Philosophen Hegel, damals als Gouvernantin bei dem Landvogte Grafen von Berlichingen in Ludwigsburg angestellt. Sie war schon eine ziemlich bejahrte Jungfer, ungemein mager, bleich, mit glänzenden Augen und großer Lebendigkeit, so wie von ausnehmender Güte.

Ihre Gefälligkeit kam auch in anderer Weise oft auf die Probe, häufig dadurch, daß sie die eiserne Hand des alten Götz von Berlichingen unter ihrer Verwahrung hatte, die bald in jenes, bald in dieses Haus, zur Betrachtung für Einheimische und Fremde gewünscht wurde, und die sie immer gefällig selbst brachte und erklärte.

Die Arme aber verfiel nach und nach in Geisteskrankheit und bekam die fixe Idee: sie sei ein Päckchen, das man auf der Post verschicken wolle, welcher Gedanke des Verschicktwerdens sie immer in die größte Unruhe und Verzweiflung versetzte. Näherte sich ihr ein fremder Mensch, so fing sie an zu zittern, denn sie befürchtete, der komme sie mit Bindfaden zu umwickeln, zu versiegeln und auf die Post zu tragen. Diese Angst steigerte sich in ihr bis zur höchsten Schwermut, in welcher sie einen freiwilligen Tod in den Fluten der Nagold fand.

Schule und Schulkameraden

In Ludwigsburg fing nun für mich ein ernsterer Schulunterricht an.

Es war dort ein strenger aber guter Lehrer der klassischen [215] Sprachen, mit Namen Breitschwerdt, der, so viel als möglich war, alles aufbot, bei mir das früher Versäumte nachzuholen.

Es war ein Mann von steifer militärischer Haltung, in seinen Glanzstiefeln hatte er, wie in einem Köcher, Haselnußstecken verwahrt, mit denen er, zwar mich nicht, aber andere seiner Schüler, oft empfindlich durchschlug. Mit mir schien er, als einem ohne eigene Schuld Vernachlässigten, mehr Mitleiden zu haben.

In dieser Schule waren übrigens viele tüchtige junge Leute, denen ich, weil sie schon größere Fortschritte gemacht hatten, nacheifern mußte; sie hießen:Roser, Weigle, Ruoff, Burnitz usw., und jetzt, wo sie zu Männern herangereift sind, hat ihr Name im Vaterlande einen guten Klang. Weigle und Ruoff zeichnen sich in Ludwigsburg als Gewerbsmänner aus, Roser, jetzt Legationsrat in Stuttgart, ist neben treuer Erfüllung seiner Berufspflichten ein eifriger Naturforscher, besonders in der so merkwürdigen Welt der Insekten, und Burnitz, von dem ein älterer Bruder, den ich besonders zu meinen Jugendfreunden zu zählen hatte, frühe in Frankfurt als geschätzter Kaufmann starb, ist in Frankfurt einer der ausgezeichnetsten Baukünstler unserer Zeit, und was noch mehr, eine durchaus rechtliche, fromm denkende Seele.

Ein Knabe, Namens Pflüger, der immer einer der Ersten in dieser Schule war, ist Drehermeister in Ludwigsburg. Er war sehr stark in Verfertigung von Hexametern und gab mir zu solchen die erste Anweisung.

Ich hatte an den römischen Autoren große Freude. Sallust, Cäsar usw. wurden meine Lieblingsbücher, und als ich an die Dichter kam, namentlich an Ovids Verwandlungen, so erwachte in mir auch die Poesie immer mehr, und ich lieferte dem Lehrer häufig meine Übersetzungen in gebundener Sprache. Dabei wurde nun auch Italienisch [216] und Französisch geübt, und vieles von Metastasio, Petrarca usw. in Versen übersetzt. Aus dieser Zeit besitze ich noch die »Isola deserta« von Metastasio, von mir in Jamben übertragen. Weniger Fortschritte machte ich in der griechischen Sprache, ob mich gleich die Dichter Griechenlands sehr ansprachen, wobei ich aber immer die Übersetzungen zu Hülfe nahm; namentlich die Vossische Übersetzung beim Homer, die ich mit meiner Schwester Wilhelmine in einem Wäldchen bei Neckarweihingen, wohin wir dazumal im Frühling alle Abende wanderten, mit steigender Begeisterung las.

Es folgten dem bald eigene Nachbildungen und epische Versuche in Hexametern.

Der als Dichter bekannte Philipp Conz war dazumal Diakonus in Ludwigsburg. Er wurde der Beichtvater meiner Mutter und nahm sich meiner Fortschritte nicht nur in den toten, sondern auch in den lebenden Sprachen (namentlich auch im Italienischen) sehr an. Er war die Güte und Naivetät selbst.

Was ich in gebundener Rede verfertigte, brachte ich ihm; aber seine Dichterbildung war eine sehr klassische, und meine unklassischen Versuche veranlaßten ihn nicht, mich zum Dichten aufzumuntern, daher ich auch später, besonders als mich die deutsche Volkspoesie mehr als alles Klassische anzog, alle Verse ihm lieber verbarg.

Mein Bruder Karl mühte sich ab, mir Unterricht in der Mathematik zu geben; aber er konnte mich hier nicht weiter als zur sogenannten Eselsbrücke, dem pythagoräischen Lehrsatze bringen.

Er sagte oft zu mir: den allerdümmsten meiner Artilleristen kann ich in diesem Wissen weiter bringen als dich. Man mußte den Unterricht aufgeben, denn ich war und blieb für die Mathematik durchaus vernagelt.

In die damalige unschöne Literatur arbeitete ich mich durch die reichlich mit Kramerschen, Spießischen, Lafontaineschen [217] usw. Schriften versehene Lesebibliothek des Herrn Antiquar Nasts ein, welcher oft selbst die Auswahl leitete, damit nichts Verderbliches ins junge Blut übergehe; aber je abenteuerlicher Titel und Inhalt dieser Bücher waren, desto mehr drang ich in ihn, sie mir abzugeben.

Dagegen sorgte mir Conz für Schillers neueste Tragödien, für Klopstocks, Höltys, Matthissons, Salis Gedichte; Goethes Werke lernte ich erst etwas später kennen.

Mein Bruder Karl war ein großer Verehrer vonSeume, dessen Gedicht an Münchhausen:

»Freund trinkst du einst an

Deutschlands schönem Rheine« usw.

er immer im Munde führte; daß ich nun Seumes Gedichte auch mit Liebe las und Nachbildungen versuchte, konnte nicht fehlen.

In ästhetischen Dingen folgte ich in früher Jugend zu sehr oft fremdem Urteile und Dafürhalten. Ich stand auch zu gern jedem nach, wobei auch immer das Gefühl in mir vorherrschend war, ich würde einen andern betrüben, und betrüben wollte ich nie einen Menschen. So gab ich auch damals in ästhetischen Urteilen meinem Bruder Karl gerne nach, obgleich die Poesie seine schwache Seite so wie meine die Mathematik war.

Ich fand, daß oft gerade ein Dichter, der mir nicht zusagte, außerordentlich gepriesen wurde, und dies machte mich dann oft an mir selbst irre.

Anwesenheit der Franzosen und meines Bruders Georg

[218] Anwesenheit der Franzosen und meines Bruders Georg in Ludwigsburg

Viele Zerstreuung gewährte jetzt auch in Ludwigsburg, besonders der Jugend, der Einzug und die Beherbergung vieler französischer Truppen. Im Frühling 1801 musterte Moreau auf dem Felde neben dem Salon und den Alleen der Solitüde die 46. und 57. Halbbrigade, die dort unter dem Kommando des Generals Grandjean aufgestellt waren. Jene hieß in der Armee die tapfere (la brave), diese, die fürchterliche (la terrible).

Die 46., eines der schönsten Korps in der damaligen französischen Armee, führte das Herz des durch den Lanzenstoß eines österreichischen Ulanen bei Neuburg a.D. gefallenen ersten Grenadiers, Latour d'Auvergne, mit sich in einer goldenen Kapsel an der Fahne des ersten Bataillons angeheftet und mit einem schwarzen Flor umhängt, um es nach Frankreich zu bringen, wo es im Pantheon bewahrt werden sollte. Auf dem Flor war ein Herz in Gold gestickt, durch das eine Lanze ging. So oft die Grenadiere des ersten Bataillons verlesen wurden, so ward auch Latours Name durch den Sergeantmajor zuerst aufgerufen, worauf der in der Linie zuerst stehende Grenadier antwortete: Il est mort au champ d'honneur. Diesen Ruf hörte ich damals manchmal auf dem Marktplatze in Ludwigsburg, wo die Kompagnie aufgestellt war.

Moreau war bei seiner Musterung in Ludwigsburg von seiner Gemahlin und einem großen Gefolge begleitet. Nach der Musterung gingen sie im Schlosse, in den Gärten und in der Favorite umher, wo der General an dem Springbrunnen scherzhaft seine Frau zu bespritzen suchte, während sie in leichten Sprüngen auswich. Es war eine nette, freundliche, mehr kleine als große Frau [219] in einfachem weißem Kleide. Als sie von der Parade zurück in das Schloß gingen, bestiegen sie nicht die Treppen, sondern kletterten an der Terrasse hinauf, schnurgerade gegen das alte Schloß.Moreau war anfänglich ein paar Schritte vor seiner Frau voraus, welche aber in der Mitte der Höhe Kraft und Mut verlor und nicht mehr weiter konnte. Da kam ein großer plumper Kerl mit rotem Kopfe und hervorstechenden Augen, der Gartenportier M., die Terrasse im Eilschritt herab auf die zierliche Frau zu und wollte ihre Hand ergreifen, um sie empor zu ziehen, aber als sie ihm ihre Hand entzog, wollte er sie gar auf seine Arme heben und machte dazu ganz komische Gestikulationen, bis Moreau die Verlegenheit seiner Frau bemerkte und ihr nun selbst die Hand reichte.

Wie in Maulbronn einen französischen Chasseur, so hatte ich mir jetzt bald einen französischen Grenadier zum Freunde erwählt, an dem ich bald mit großer Liebe hing, und den ich überall aufsuchte.

Einst vermißte ich ihn zwei Tage lang und fragte und suchte nach ihm vergebens, als ich ihn endlich in einem Biergarten völlig besoffen liegend fand; da wurde mir dieser Sohn der Freiheit auf einmal zum Ekel, ich wandte mich von ihm und sah ihn nie wieder.

Mein Bruder Georg hatte im Jahre 1800–1, als Sekretär der französischen Gesandtschaft, den Gesandten Reinhard in die Schweiz begleitet, von wo aus er öfters wieder zu diplomatischen Versendungen nach Italien gebraucht wurde. Bei einer kurzen Versendung nach Mailand fügte es der Zufall, daß er mit der französischen Armee zugleich über den Bernhard ging. Er konnte nie genug die Großartigkeit dieses Zuges beschreiben, in welchem vierzigtausend Mann über Höhen und Abgründe dahinzogen, und die Schwierigkeiten, die sie beim Transporte des Geschützes zu überwinden hatten. Noch ergreifender [220] aber sei für ihn acht Tage später die tiefe Einsamkeit dieser Gegend gewesen, als er durch sie wieder seinen Rückweg nahm.

An meiner Erziehung nahm mein Bruder Georg auch von der Ferne aus Anteil und er drang in seinen Briefen an die Mutter immer darauf, mich mehr für den freien Stand eines Gewerbsmannes als eines Gelehrten oder Beamten ausbilden zu lassen.

Selbst wenn ich mich auch für einen der letztern Stände entscheiden sollte, meinte er, wäre es immer gut, ich würde dabei auch noch ein Handwerk lernen.

Zu unserer großen Freude kam er im Jahre 1801 von der Schweiz aus noch selbst nach Ludwigsburg, und da war es, wo er die Seinigen (mich ausgenommen) zum letztenmale sah. Schon am ersten Tage seiner Ankunft wurde ich von ihm bei einem Schreinermeister installiert, der mir täglich zwei Stunden Unterricht in seiner Kunst geben sollte; auch bezahlte er ihn dafür auf mehrere Monate voraus. Es konnte mir dies nur Unterhaltung und Freude gewähren; Hobeln und Sägen, so schwer es mir anfänglich fiel und oft stark verwundete Hände verursachte, ging doch bald gut von statten, und mein Lehrherr Bickelmann (so hieß der Schreinermeister) ließ mich bald wenigstens die gröbsten Möbel allein verfertigen, und diese waren die Särge, deren ich sehr viele schuf. In spätern Jahren fielen sie mir bei den Leichen meiner ärztlichen Praxis oft ein.

Meinem väterlichen Lehrer Conz konnte ich bald durch meine Kunst eine Freundlichkeit erweisen; sein lebhafter lieber Knabe Eduard, von dem unten die Rede ist, derselbe, der vom Teufel nichts erfahren sollte, 1 starb, und ich machte ihm den Sarg. Der Tisch, auf dem ich noch speise, wurde um jene Zeit auch von mir verfertigt. Noch auf eine andere Kunst brachte mich mein Bruder [221] Georg, auf das Spiel der Maultrommel. Es war sein Lieblingsspiel, und er hinterließ mir einige seiner kleinen Instrumente. Von da an übte ich mich auf der Maultrommel und brachte es auf diesem Instrumente so weit, daß ich auf demselben eigentümliche Töne und Weisen fand, womit ich durch mein ganzes nachfolgendes Leben hunderte von Menschen und mich selbst am meisten erfreute. Ich brachte es so weit, daß ich mein tiefstes Innere, mein ganzes Gemüt, meinen Kummer, jeden leisen ungeborenen Seufzer in die Töne dieses Instrumentes legen und in ihnen ausdrücken konnte. Es klang bei mir nicht wie die Weisen der Tiroler, nicht zitherartig, mehr wie die Töne einer Äolsharfe, die vor allen den tiefen Schmerz, der in der Natur liegt, ausdrücken. So konnte ich, wie die Natur in die Saiten der Äolsharfe, in die Zunge dieses Instrumentes all die Trauer meines Herzens legen.

Ich machte die Beobachtung, daß die Töne der Äolsharfe vor und bei einem Regen am ergreifendsten, schmerzvollsten sind, und so waren es auch die Töne meiner Maultrommel in den Stunden der Tränen, in stiller Nacht, mit mir allein.

Wie vielen Dank mußte ich dafür meinem BruderGeorg wissen, der dieses Instrument, freilich in andern Tönen, aber auch in denen seines Innern spielte: Kriegsmärsche und Lieder der Freiheit, in Klängen einer Zither der freien Höhen Tirols.

Auch für einen Künstler, der mir und meiner Schwester Wilhelmine im Malen Unterricht geben sollte, sorgte mein Bruder Georg. Er hieß Hofmann und war ein armer Teufel, der sich mehr mit Anstreichen als mit Malen beschäftigte. Es war eine kleine dürre Figur und hatte ein Haar, das wie ein Malerpinsel in die Höhe stand, auch mit allerhand Farben versehen war; denn er wischte Finger und Pinsel während des Malens geschwind in den [222] [224]Haaren ab. Da das Anstreichen seine Hauptforce war, so ließ er uns auch bald in Öl malen und wählte dazu als Originale kleine Kopien von Harper usw., die dann besonders ich in ungeheurer Vergrößerung wiedergeben mußte. Zwei solcher großen, von mir in damaliger Zeit gemalten, wahnsinnigen Ölstücke, Landschaften, gerieten ominöserweise in das Irrenhaus nach Winnenthal, wo sie sich noch befinden.

Zu diesen Gemälden, von denen eine Menge entstanden, die wir meistens sogleich an Freunde und Verwandte verschenkten, machte ich in meiner Werkstätte bei Schreiner Bickelmann die Rahmen, die ich nach damaliger Mode oft sogar mit Messingstäbchen verschönerte. Auch meine Schreinersarbeiten wurden immer bald verschenkt; denn mich konnte nur etwas freuen, was ich andern geben konnte, und da meine Mutter eben so fühlte, so verhinderte sie es nie.

Meine Malerkunst gebrauchte ich auch öfters dazu, um meinen strengen Professor Breitschwerdt, wenn er meine schlechtgelieferten Aufgaben durchlesen, an ihrem Ende noch etwas zu besänftigen. Ich machte zu diesem Zweck an ihr Ende ein kleines Landschäftchen, eine Burg, eine Mondbeleuchtung, und suchte ihm doch irgend eine Fertigkeit von mir vors Gemüt zu stellen. Er war aber hier billig, was sich in einem andern Falle zeigte. Er bekam einen jungen Menschen, er hieß Liomin, in Kost und Unterricht, der älter als wir alle war, aber weit unter uns in Hinsicht auf die toten Sprachen stand. Dagegen war er schon ein ausgezeichneter Klavierspieler. Diesen stellte er uns vor und sagte: »Ihr dürft diesen nicht verachten, weil er euch in den Sprachkenntnissen noch sehr nachsteht, ihr sollt wissen, daß er schon ein guter Klavierspieler ist, was ihr nicht seid!«

Fußnoten

1 Was unten erzählt werden wird.

[224] Knabenspiele im Winter

Ludwigsburg hatte damals noch keine Turnanstalt, aber der weite Marktplatz und die vielen Alleen gaben Raum genug zu sich selbst findenden Spielen und Leibesübungen der Jugend, und Winterszeit bot der große Stadtsee eine schöne Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen. Da war dieser See ein glänzender Belustigungsplatz für alle Stände; und noch erinnere ich mich eines jungen Mannes aus Philadelphia, ich meine, er hieß Gebhardt, der zum Besuche von Verwandten nach Ludwigsburg gekommen war, der sich durch seine Kunst im Schlittschuhlaufen (Klopstocks und Uhlands Lieblingsunterhaltung) damals vor Allen auszeichnete: denn er bildete in seinem Laufe nach Willkür die schönsten geometrischen Figuren, Ringe, Triangel, Oblonga, und diese wieder zu Arabesken und Blumenformen verschlungen, im Eise, gleich wie auf einer Glasfläche, durch Bestreichung mit einem Geigenbogen, hervorgerufene Schallfiguren.

Aber auch die Abhänge in den Alleen und die abschüssigen Straßen der Stadt lockten die Knaben vielseitig zu Fahrten auf Bergschlitten bis in die späte Nacht, oft noch im Mondenscheine, an.

Die abschüssige Straße, die von dem Holzmarkte bis zu dem Tor des Schloßgartens über die Chaussee, die nach Stuttgart führt, hinläuft, und die der Kaffeeberg heißt, war damals jeden Winter bei guter Schneebahn ein Tummelplatz von hunderten von Knaben auf Bergschlitten, die im unaufhaltsamen Laufe, wurden sie einmal oben am Holzmarkte angesetzt, bis vor das Tor und die Schildwache am Schloßgarten hinabschossen. In einem solchen Schusse war ich eines Abends auch einmal hier auf einem Bergschlitten begriffen, als ich zu meinem Schrecken auf einmal einen Herrn in steifester Hofkleidung [225] mit Orden, Degen und seidenen Strümpfen, dem mein Schlitten unaufhaltsam zwischen die Füße gefahren war, auf meinen Schoß auf den Schlitten bekam und mit ihm so noch eine gute Strecke bis zum Tore des Schloßgartens zur Ergötzung vieler Zuschauenden hinabschoß. Der Herr war, am Ziele angekommen, nicht weniger erstaunt als ich. Es war der damalige Hofmarschall von Bär, ein zu gutmütiger Mann, als daß die Sache weitere Folgen gehabt hätte; nur wurden von dort an diese Fahrten den Kaffeeberg herab verboten.

Die Camera obscura im Mondenscheine

Der Vater meiner Freunde Burnitz war Schloßkastellan, und hatte seine Wohnung im Corps de Logis des Schlosses, nicht weit von den Zimmern, in denen man den Herzog Karl Alexander eines unnatürlichen Todes sterben ließ, und auch nicht weit von der fürstlichen Gruft. Es war diese Gegend des Schlosses, wie ich schon erwähnte, noch zu Zeiten des Herzogs Ludwig der Platz unserer kindischen kriegerischen Spiele. Er hatte auch durch seine Stille und durch seine Geistersagen etwas Mysteriöses, Poetisches (das ihm wohl in neuerer Zeit durch die Einlogierung der Kreisregierung genommen worden sein mag). Auch damals wurde ich oft durch meine Freunde Burnitz dahingezogen. Sie hatten eine große tragbare Camera obscura, die da unser Lieblingsspiel war. Es war am Corps de Logis ein Plateau, das in die Gegend von Marbach und an das sogenannte Favoritenwäldchen mit seinem Schlößchen sah. Auf dieses trugen wir gemeiniglich die Camera obscura und unterhielten uns mit den Bildern, dem Favoritschlößchen, der Emichsburg und den Steinbildern auf den Dächern des[226] Schlosses, die sich ihr präsentierten. Einmal glaubten wir, es könne dies auch im Mondenscheine geschehen und würde da noch wundersamer sein. Nicht ohne Zagen trugen wir daher einmal die Camera obscura in die Mondnacht hinaus und setzten sie auf das Plateau des Schlosses nicht weit von der Gruft. Wir wagten lange nicht hinein zu sehen, faßten aber endlich den Mut, lüfteten den Vorhang, und sahen hinein; aber in demselben Augenblicke packte uns ein Schauer, wir ergriffen die Flucht, und jeder meinte etwas Entsetzliches gesehen zu haben.

Der Dichter Conz

Nun kam die Zeit meiner Konfirmation. Conz hatte mir den Religionsunterricht erteilt. Er ließ uns in demselben neben mündlichem Unterricht, auch religiöse Aufsätze ausarbeiten, aber es war ihm bei diesen um eine schöne Stilisierung mehr zu tun, als um den religiösen Inhalt.

Ein Theologe war er nicht, ob er gleich in der Stadtkirche zu predigen hatte, bei welchem Predigen aber der Übelstand war, daß er sehr undeutlich sprach. Er war von sehr fetter Leibeskonstitution und tat die Pfeife nur ungern, um zu sprechen, aus dem Munde. Seine Hauptstärke war die Philologie, und seine Gedichte trugen neben großer Korrektheit doch oft sehr die Farben und Töne der verschiedensten Dichter des Altertums und der Neuzeit, die er emsig las und vielfach kritisierte, an sich. Es war ein kindlicher Mensch, voll Herzensgüte und Naivetät. Er lebte immer in seiner Gedankenwelt, so daß es ihm oft geschehen konnte, an den einen Fuß einen Stiefel, an den andern einen Schuh anzuziehen. Sein häufigster Umgang war der Freund Schillers, Herr von [227] Hoven, der auch mit ihm die gleichen politischen Gesinnungen hegte.

Dieser erzählt von ihm in seiner Lebensgeschichte eine Anekdote, die ihn sehr charakterisiert: »Als Conz als Diakonus nach Ludwigsburg kam, hatte er nur ein einziges Kind, einen Knaben von fünf Jahren. Diesen Knaben zu einem vollkommen vorurteilslosen Menschen zu erziehen, war sein Hauptaugenmerk, und seine größte Sorge war, daß ihm über keinen Gegenstand falsche Begriffe beigebracht werden sollten, und besonders sollte er nie von dem Teufel etwas hören. Ich sagte ihm, daß dies unmöglich sei, und was insbesondere den Teufel betreffe, so dürfe er den Knaben nie aus dem Hause lassen, weil es täglich geschehen könnte, daß er auf der Straße den einen zu dem andern sagen höre: der Teufel solle ihn holen. Conz beharrte auf seinem Grundsatz, und als wir eines Tages wieder über dieses Thema sprachen, sprang der Knabe in das Zimmer und rief: Vater, ich habe den Teufel gesehen! Was? wo? rief ihm der Vater entgegen. In einem Buche, erwiderte der Knabe; aber der hat Hörner, größer als ein Bock, und einen Schwanz, länger als eine Kuh! Der Vater war so erstaunt, als ob der Knabe den Teufel leibhaftig gesehen hätte; ich konnte das Lachen nicht halten und sagte: Da sehen Sie, Freund, was das Hüten und Bewahren hilft, jetzt hat Ihr Eduard den wahren Begriff von dem Teufel.«

Conz war nur in seiner literarischen Welt zu Hause, in der gemeinen war er ein Fremdling, und weil er glaubte, alle Menschen seien so gut und kindlich, wie er, so verging selten ein Tag, wo er sich nicht in der guten Meinung von den Menschen betrogen sah. In religiöser Hinsicht schien damals Conz nur den Glauben seiner römischen und griechischen Klassiker zu haben und in ihm erst im späteren Leben das christliche Bewußtsein zu erwachen. Da sah man ihn, statt wie früher mit Ovids [228] Verwandlungen oder dem Anakreon in der Hand, nur mit dem griechischen neuen Testament in seinem Garten gehen.

Die Zeit meiner Konfirmation

Auch in mir war der christliche Glaube leider nicht stark geworden, und die kurze Antwort auf die kurze einzige, auf mich zufällig gefallene, Frage in der Kirche bei der feierlichen Konfirmationshandlung:

»Welches Glaubens bist du?« Antwort: »Ich bin ein Christ!« strafte mich Lügen; denn ich war noch gar kein Christ. Dennoch war ich nicht ohne Glauben. Ich glaubte an keine Vernichtung nach dem Tode, sondern an eine pythagoreische Seelenwanderung, die sich mir auch auf die Tiere, da ich sie so sehr liebte, erstreckte. Meine Beobachtung der Verwandlung der Insekten und das Lesen der Schriften dieser alten Philosophen brachte mich darauf.

Die größte Angelegenheit aber war mir, daß ich zur Konfirmationshandlung einen Frack anziehen sollte. Ich hatte in meinem Leben bisher noch nie einen Frack getragen, und ich tat es auch jetzt durchaus nicht, obgleich meine Mutter, um mich zu zwingen, ihren Kriegsvogt, meinen Oheim, den Landschaftskonsulenten Kerner, zu Hülfe zog. Es fruchtete nichts, ich kam zu dem feierlichen Akte in einem Überrock, zum Erstaunen der Stadt Ludwigsburg, in die Kirche.

Zum Glücke war der orthodoxe Spezial Zilling gestorben; denn dieser hätte mich ohne Frack und schwarzes Mäntelchen nicht konfirmiert.

Nun kam bald zur Sprache, was aus mir zu machen sei. Meine Mutter hatte sich ihres kleiner gewordenen Vermögens [229] wegen sehr einzuschränken, schon drei der Brüder hatten den Eltern durch höheres Studium große Kosten verursacht; da kam der Pfleger meiner Mutter, (der Amtsschreiber Heuglin) in aller Liebe auf den sinnigen Einfall, man solle einen Konditor aus mir machen, dieses Geschäft sei sehr profitabel, und da ich zeichnen und malen und auch Reime machen könne, so würde ich mich bald in Verfertigung und Erfindung von Bonbons und Zuckerfigürchen auszeichnen, welche der Konditor Bechtlin, so gut er für mich als Lehrer wäre, wegen seiner theosophischen Grübeleien bisher sehr vernachlässigt habe.

Dies sprach er meiner guten Mutter so lange vor, bis sie auch in mich drang, ich solle in diesen Plan eingehen. Voll Jammer wandte ich mich an meinem väterlichen Freund Conz in einem Briefe nach Tübingen, (er war inzwischen als Professor der Ästhetik dahin gekommen) und dieser schrieb: »Nein, Konditor sollen Sie mir nicht werden!« Ich bestand auch darauf, es nicht zu werden. Wäre ich auf den Plan eingegangen, so hätte ich wenigstens einen sehr originellen und nichts weniger als prosaischen Lehrherrn erhalten. Man hätte mich nämlich zu dem besagten Konditor Bechtlin in Ludwigsburg getan. Dieser Mann gehörte auch zu den Ludwigsburger Originalen damaliger Zeit. Er hatte sich eine eigene Theosophie geschaffen, sprach immer von dem Durchgange des Menschen durch die vier Elemente und seiner Vollendung durch seine Erweckung ins Licht, von dem Sitze Gottes in der Sonne und seiner Vermählung mit den Planeten, von den Sternen, als den künftigen Sitzen der ins Licht erweckten Menschen, die ihnen von Jesus Christus vermöge seines Quartiermeisteramtes angewiesen worden seien. Vielleicht wäre ich hier früher zu einem theosophischen Glauben gekommen, aber es sollte noch nicht sein.

[230] Ich hatte aber nichts dagegen, als man mir nun den Vorschlag machte, Kaufmann zu werden und mich auf das Komptoir der herzoglichen Tuchfabrik in Ludwigsburg, wo ich dann zugleich auch die Tuchfabrikation erlernen könnte, aufnehmen zu lassen.

Dies war nun ein großer Mißgriff; denn ich taugte zum Kaufmann so wenig als zum Mathematiker, und meine Neigung, lieber zu geben, als zu nehmen, befähigte mich auch nicht zum Kaufmanne; aber ich schickte mich besonders deswegen darein, weil ich meiner Mutter keine großen Kosten mehr machen wollte.

Mein Aufenthalt auf dem Komptoir der Tuchfabrik in Ludwigsburg

So wurde ich nun auf das Komptoir der damaligen herzoglichen Tuchfabrik in Ludwigsburg geschickt. Als ich hier als Lehrling eintrat, befanden sich daselbst schon mehrere ältere junge Leute als ich. Der älteste war ein Sohn meines ehemaligen Lehrers in Knittlingen, des Präzeptors Braun, namens Friedrich, dessen ich schon früher erwähnte. Er hatte sich bereits zum gewandten Komptoiristen und Reisenden gebildet und für die Fabrik, die mit ihren Waren die Messen von Bergamo und Sinigaglia damals häufig beschickte, schon mehrere Reisen in Italien gemacht. Von einer derselben brachte er aus Bergamo den Sohn eines reichen Kaufmanns, namens Gerosa mit, der zugleich in Ludwigsburg die deutsche Sprache erlernen sollte.

Noch befand sich auf diesem Komptoir auch der reiche Sohn eines Kaufmanns aus Lahr, namens Martin, und ein Stuttgarter, namens Müller. Unter all diesen jungen Leuten herrschte das höchste Verderben.Braun war ein sehr [231] schöner, junger Mann, gewandt in seinem Äußern wie auch in seinen Arbeiten als Kaufmann; er war vieler lebenden Sprachen, auch der neugriechischen, von der er später eine Grammatik in den Druck gab, mächtig und führte, wie ich schon früher bemerkte, eine ausgezeichnet schöne Handschrift. Bei Frauen und Mädchen spielte er den Galanten mit vielem Glück, uns aber unterhielt er meistens mit seinen, in Italien verlebten skandalösen Liebesgeschichten. Dem Weine war er sehr ergeben, und umsonst schrieb ihm sein Vater in jedem Briefe Bibelstellen, die gegen die Völlerei sprachen. Sein Leben war später durch diese Leidenschaft, nach einer Verheiratung, die sehr glücklich hätte sein können und ihm Glücksgüter zuführte, sehr unglücklich; er starb frühe.

Der Italiener Gerosa sah schmutzig gelb, wie aus Seife geschnitten, aus, auch viel älter, als er war, hatte pechschwarze Haare und eben solche Augen. Er war träge, weil sein Körper von Siechtum, das er wohl schon aus Italien mit sich gebracht hatte, aufgedunsen und schwerfällig war. Er war gutmütig, ließ man ihn ruhig, konnte aber, nur etwas gereizt, wie wütend auffahren und einen mit dem Federmesser oder der Schere, die gerade da lagen, durch das ganze Haus den Tod drohend verfolgen. In solcher Wut gaben seine Augen in den dunkeln Gängen oft Feuer, wie die einer Katze. Sein Siechtum nahm aber bald immer mehr zu, es brachen Geschwüre an seinem Halse und der Brust auf, er verließ noch vor mir das Komptoir und kehrte sehr zerrüttet nach Bergamo zurück.

Der junge Mann aus Lahr war eine ausgezeichnet langgestreckte, dürre Gestalt, sein Gesicht bleich, mit einer großen, vorn dicken Nase, die immer wie aufgeschwollen und mit roten Wärzchen besetzt war. Sein gelbes Haar hatte er in Locken frisiert und gepudert. Seinen [232] Anzug erhielt er immer sehr reinlich und galant, und man sah ihn bald in eine Liebschaft verwickelt, die oft zu possierlichen, aber auch skandalösen Auftritten die Veranlassung gab. Auch er sprach von nichts als von Liebe und Wein. Ich weiß nicht, was nachher aus ihm wurde.

Der dritte, Müller mit Namen, aus Stuttgart, war ein äußerst schwacher Mensch, aber dabei auch der Eitelkeit und der Sucht, Frauenzimmern gefallen zu wollen, ergeben. Seine schwarzen Haare frisierte er alle Tage künstlich in krause Locken, zu deren Erhaltung er immer einen Spiegel und ein Haareisen bei sich trug. Er diente zur Zielscheibe des Witzes der andern. Sie schrieben ihm oft Briefchen, als wären sie von Frauenzimmern, die ihn zu Zusammenkünften beriefen; er begab sich an den bestimmten Ort, da fand er keine, wohl aber die andern in Frauenzimmerkleidern, die ihn neckten und sich endlich ihm zu erkennen gaben. So lange ich noch auf diesem Komptoir war, kaufte er sich von seinem kleinen Vermögen ein Quantum dürrer Pflaumen, von deren Verkauf in Amerika er sich große Reichtümer versprach. Er begab sich auch wirklich in dies von ihm geträumte Pflaumeneldorado und soll dort im Elend gestorben sein.

Der Direktor der herzoglichen Tuchfabrik und Herr des Komptoirs war ein durchaus rechtschaffner Mann, streng religiös, und schien in Herrenhuterischen Grundsätzen erzogen worden zu sein; allein er war zu gutmütig, zu schwach, er sah wohl das Verderbnis der ihm Untergebenen ein, hatte aber nicht den Mut ihm abzuhelfen, besonders da ihm der erste KommisBraun der italienischen Geschäfte wegen unentbehrlich wurde; und von dem Italiener und dem von Lahr bezog er ein gutes Kostgeld, das ihm sehr wohl bekam.

Häuslicher Kummer drückte ihn oft sehr darnieder; es [233] wollte auch die Fabrik nicht den gehofften Aufschwung unter seiner Leitung nehmen, er wurde mißkannt, in Untersuchung gezogen und mußte erleben, daß die Direktion der Fabrik, während er noch bei ihr dienend beibehalten wurde, einem, den er als Kommis angenommen, (es war dies in spätern Jahren) übergeben wurde, welcher, allerdings klüger als er, endlich die ganze Fabrik als Eigentum an sich brachte und sich durch Umsicht und Tätigkeit ein Vermögen sammelte. Beide sind nun tot.

Unter diese oben bezeichneten Menschen nun wurde ich damals gebracht. Ich mußte meinen immerwährenden Aufenthalt, meinen Kosttisch, meine Schlafstätte unter ihnen nehmen. Ich mußte ihre stets unsittlichen faden Gespräche anhören; sie waren mir alle vorgesetzt, ich mußte mich von ihnen zu Geschäften anweisen lassen und durfte nie widersprechen.

Mein Hauptgeschäft im ersten Jahre bestand darin, daß ich von morgens bis in die Nacht, auf den letzten Sprossen einer Tuchleiter im Gewölbe sitzend, vor mir einen langen Tisch, auf welchem hohe Berge neu aus der Fabrik hergebrachter Tücher lagen, diesen Tüchern Säcke von farbiger Glanzleinwand zuschneiden und sie in dieselbe vermittelst Bindfadens und einer langen Nadel einnähen mußte. Hie und da wurde dieses Geschäft durch Verfertigung von Musterkarten und Kopieren der Briefe unterbrochen.

Es wäre mir diese Arbeit unerträglich geworden, (denn sie war nicht besser, als die Arbeit der benachbarten Züchtlinge; das Zuchthaus war auch mit dieser Tuchfabrik verbunden, so wie das Irrenhaus), hätte ich mich nicht bald daran gewöhnt, bei dieser Arbeit an was ganz anderes, als an sie, zu denken. Meine Hände machten sie mechanisch fort, während ich Poesien aller Art dichtete, die ich mit Bleistift auf unter den Tüchern versteckte [234] Blätter niederschrieb und in den Freistunden ins Reine brachte. So entstanden ganze Bücher mit Versen, die ich teils verschenkte, teils dem Feuer übergab. Es erhielten sich nur noch wenige dieser Verse meiner frühen Jugend. So schwach sie sind, so bleiben sie mir immer eine Erinnerung, wie sie mir die für mich sonst unerträglich gewesenen Tage erträglich, ja angenehm machten.

Wie aber gerade Schmerz und Gram, wie eine drückende Lage, zum Witze und Humor stimmen, so waren meine poetischen Produktionen hier sehr oft scherzhaft und satirisch. Unter solche gehörte ein ganzes Epos im Blumauerischen Stile, das auch zu mutwillig war, als daß ich es nicht bald dem Feuer übergeben hätte; auch von den andern Produktionen der Art existiert nichts mehr.

Aber auch in Prosa ließ ich Satire und Humor aus. So war ich der Verfasser einer Mystifikation, die noch im Vaterlande von Hand zu Hand läuft, und aus der gewisse Ausdrücke volkstümlich wurden. Sie wurde auch ohne mein Wissen und mit Beifügung eines Namens, den mein Original nicht enthielt, schon mehrmals gedruckt.

Diese Mystifikation bestand in einem angeblichen Schreiben eines verstorbenen sehr ehrenwerten Mannes, der einen absonderlichen Stil hatte, den ich aber in meiner Dichtung so viel als möglich zu überbieten suchte. Ich hielt es für Pflicht, mich als den Verfasser dieses Schreibens zu bekennen, da das Publikum noch immer der Meinung ist, jener Mann habe dasselbe wirklich verfaßt, und ich erkläre hiemit öffentlich, daß er nicht den mindesten Anteil an demselben hat, und daß dieses einzig, ein jugendlicher Mutwille von mir war. Es hieß:

»Kammerrat und Keller X zu H., de- und wehmütigst Bericht erstattend von einem auf ihn eigenst angesehen [235] gewesenen Tod- und Mordanschlag, als wie er nämlich von zwei oder zwölf verkappten und vermummten Unholden, das sogenannte Schweiß- vulgo Schwitzgäßlein herzoglicher Geschäfte halber nächtlich passierend, mit einem Stab, vulgo Pfahlstumpen, oder sonstigem vermummten Mordgewehr zu Boden gedrückt und wie ihm da der Amtsgemäß seidene Haar- oder Zopfbeutel mit einem vergifteten Messer meuchelmörderischer Weise vom Kopfe getrennt worden sei.

Euer herzoglichen Durchlaucht

habe ich Untertänigkeitswegen de- und wehmütigst, von einer mich eigenst anbelangenden, fast höchst traurig, schaurig ausgefallenen Fatalitas, eiligst und kürzlichst benachrichtigen sollen.

Gestern als am Tage Oculi (Augensonntage) passierte ich herzoglicher Geschäfte halber an nichts denkend, nächtlicher Weile das dasige Schweiß- vulgo Schwitzgäßlein, als plötzlich und pfeilschnell zwei oder zwölf vermummte und verkappte Unholden mit Stäben, vulgo Pfahlstumpen, oder sonstigen Mordgewehren aus den Schweinsbeerenstängeln der dasigen Wege (der, inclusive gesagt, auch einer Reparation bedürfte, da er schon Anno 1789 in dem damaligen kalten Winter von der eingestürzten steinernen Anno 1780 allhier verfertigten Weingartenmauer sehr ruiniert wurde) spitzbübisch, wie auch diebischer und höchst meuchelmörderischer Weise, eilends von hinten her auf mich losstürzend, mich Respekts-, Moralitäts- und Religionswidrig auf den Rücken puffend zu Boden prosternierend duckten, mit ihren vier schwer bestiefelten Füßen, wie auf eine Schweins- oder Rindsblase, die man verpuffen will, aus aller Macht, Leibes- und Lebenskraft bleischwer auf mich hüpften und mir meinen Amtsgemäß seidenen Haar- oder Zopfbeutel samt Zubehör, mit einer Schere, Sense, Sichel, Beil, Rasiermesser, oder sonst scharf geschliffenem [236] und was ich bang ahne, vielleicht gar vergiftetem Gewaltsinstrumente vom Kopfe trennten, mich so dann schachmatt und maustot auf obgenanntem einer Reparation bedürfenden Wege, in einer von Kot besudelten Fahrgleise liegen lassend, eiligst von dannen stiefelten. Um nicht Moralitäts- und Religionswidrigst Menschenblut vergießend erfunden zu werden und bemeldte Unholden nicht vollends zu überstarrkopfen, verhielt ich mich bei dieser Fatalitas ganz leidend und passiv und gebrauchte von dannenhero auch nicht meinen schwer mit Messing beschlagenen Gehstab, den die untertänigst obbesagte Unholden, oder Gau-und Meuchelmörder, mir nebst meinem mit Silber beschlagenen türkischen Meerschaumrauchtabaks-Pfeifenkopfe frevelnd aus den Händen windend entrissen und mir nachher mit ihm, als meinem eigenen Gehstab, noch zwei Backenstreiche versetzten. Wer aber nun jene, obgenannte zügel- und bügellose Unholden in Person sämtlich seien, konnte mir, aller Verhörungen unerachtet nicht zu Gehör gelangen.

Euer usw. von dieser, die ganze Welt empörenden, erschütternden und erbitternden, wie auch höchst revolutionär-französisch schmeckenden Fatalitas und Begebenheit, eine alleruntertänigste Anzeige zu machen, hielt ich für meine Pflicht und untertänigste Schuldigkeit und ersterbe und verharre in tiefster Submission

Euer usw. treu gehorsamst verpflichteter, in Kreuz-und Rückenschmerzen sich befindender, wie auch weh- und demütiger X zu H., am 1. April 1800.«

Auch an politischen Gedichten fehlte es nicht. Es war dazumal die Zeit allgemeiner Bedrückung und Erniedrigung, die hier keiner weitern Erwähnung bedarf.

Die Lage, in der ich mich in dieser Fabrik befand, hatte so wenig Reiz für mich, daß ich dachte: ein auf der Feste [237] Asperg wegen Politik gefangen Sitzender sei mir gegenüber ein beneidenswerter Mensch. Da, dachte ich, könnte ich doch ungestört, und ohne dabei nähen zu müssen, in ein Stübchen eingesperrt, und wenn auch an eine Kette gelegt, lesen und dichten, und Lieberes wußte ich nicht. So konnte es nicht fehlen, daß ich auch ohne Furcht und in freudiger Erwartung, ich werde dadurch mit jener mir so schön gedachten Lage auf der Feste Asperg belohnt werden, sehr verpönte politische Gedichte machte, jugendliches Strohfeuer, das zum Glück für mich nicht zündete. Sie hatten keinen poetischen Wert und wurden alle von mir selbst zerstört. Sie waren, ich muß es sagen, ganz erbärmlich. Einige Gedichte aber, weder satirischen noch politischen Inhalts, die ich noch aus jener Zeit vorfand, teile ich hier mit. Man wird in ihnen noch Anklänge an Klopstocks, Höltys, Goethes Gedichte finden, mit denen ich mich während meiner Näharbeit oft heimlich beschäftigte, Anklänge, die aber verschwanden, als der mir eigentümliche Ton später in mir erwachte, und jene Klänge auch durch das deutsche Volkslied, das ich erst später kennen lernte, in mir verdrängt wurden.

Gedichte aus dem Knabenalter

Auf den Tod eines Kindes
Was ihr habt gewieget und geküsset,
Glaubet, war kein Kind, es war ein Engel!
Aber Engel sind nicht dieser Erde –
Sind dem Himmel.
Ach! nur auf zwei kleine Augenblicke
Steigen sie zur Erde still hernieder
[238]
In des Menschen Wohnung, sie zu machen
Gleich dem Himmel.
Blickt dem Engel nach mit stillen Sehnen,
In der Heimat ist er angekommen,
Die mit Tränen einstens euch zu liebe
Er verlassen.
Der Magnet
Sieh' wie das Eisen
Fest angezogen
Von dem Magnet, der
Über ihm schwebet,
Emporstrebt!
Es zieht sich,
Es dehnt sich,
Verschweben möchte
Mit ihm es
In Eins.
So schwebt auch über
Allen den Welten
Ein Magnet, der
Heißet: die Liebe.
Und es hebt sich
Voll Sehnsucht
Meine Seele
Aus ihrer Hülle,
Möchte sie reißen,
Verschweben möchte
Mit ihr sie
In Eins.
[239] In der Krankheit
Sinke, schwacher Wanderstab!
Welke, welke, Leib! ich will dich nimmer!
Sterne! streuet euren bleichen Schimmer
Auf des Frühverstorbenen Grab.
Mutter! was! ein Trauerflor?
Kränz' mit Rosen deine grauen Haare,
Die da sterben in dem Lenz der Jahre,
Schweben ja am reinesten empor.
Gottes Odem
Was mir so freundich
Schwebt um den Busen!
Ist es des Westes
Stilles Gesäusel?
Sind es der Sonne
Scheidende Strahlen?
Oder was ist es?
Gottes, nur Gottes
Heiliger Odem
Ist es, er ist es,
Der so mit Liebe
Küßt seine Kinder.
Heiliger Odem!
Mir auch zum Busen!
Heiliger Odem!
Küssest ja dort auch
Liebend das Würmlein,
Daß es sich wonnig
Wälzt in dem Staube.
Drum weh', o heiliger,
Mir auch zum Busen,
Bringe dem heißen
[240]
Herzen des Jünglings
Kühlung und Frieden!
Auf den Tod einer Nonne
Ha! verschwunden ist die Blume,
Die mit Purpur übermalt,
Einsam in dem Heiligtume
Jenes stillen Bergs gestrahlt.
Über dunklen Felsengründen
Blühte sie dem Himmel nah,
Wo, zum Strauße sie zu binden,
Niemals sie ein Jüngling sah.
Doch in ihrem stillen Glanze
Hat ein Engel sie erblickt
Und sie lächelnd zu dem Kranze
Seines Gottes abgepflückt.
Die Lerche
Ringsum malet die Sonne
Rot und golden den Himmel,
Weste lispeln und spielen
Mit dem Kranze der Schnitterin.
In dem Golde des Morgens
Wiegt sich wonnig die Lerche,
Blaue Wölkchen umschweben
Und verhüllen die Sängerin.
Lüfte! singt sie, o tragt mich,
An den Busen des Vaters!
Strahlen! ihr kommt von oben,
Sagt! wo weilet der Liebende?
[241]
Sagt's! auf daß ich ihn liebend
Mit den Flügeln umfange!
Aufwärts! Wolken! ihr Lüfte!
Aufwärts! auf zu dem Liebenden!
Die Zwillingssterne
Blicket in des Äthers blaue Fernen,
Seht, aus tausend Myriaden Sternen
Lächeln einzig zwei, die sich zusammen
Ewig voller Lieb und Lust umflammen.
Als die Teufel in verruchten Stunden
Ihrem Heiland an das Kreuz gebunden,
Und er menschlich ausrief im Erblassen:
Vater! Vater! hast du mich verlassen?
Blicket Vater von dem Glanz des Thrones,
Sieht die Wunden des geliebten Sohnes,
Wie er stirbt den Tod, den schmerzensvollen,
Tränen da dem Gottesaug' entrollen,
Und es blitzen zwei in üpp'ger Fülle
Durch die Himmel, halten mitten stille
Und verwandeln sich zu lichten Sonnen,
Christen leben drauf in ew'gen Wonnen.
Des Gärtners Lied
Der Schäfer singt dort unten
So manches teure Lied,
Und froher seine Herde
Auf grüner Wiese zieht.
Wohlauf! und angestimmt
Ein Liedchen, auszuruhen,
Ich sing' ein treuer Hirte
Auch meiner Herde nun:
Auf! Blumen, auf und blicket
Zur Sonne himmelwärts,
Sie kommt, um euch noch einmal
[242]
Zu drücken an das Herz.
O schaut sie an, erhebet
Das Haupt an Düften reich,
Es träumt die gute Mutter
Wohl alle Nacht von Euch.
Schon sinkt sie dort mit Lächeln
Wohl an des Vaters Brust,
Doch fürchtet nicht, der Hirte
Wacht noch um Euch mit Lust,
Und eure Schwestern nahen
Die Sterne allzumal,
Sie blicken freundlich nieder
Und grüßen Euch im Tal.
Ja Sterne! goldne Sterne!
Weilt nur auf Eurer Bahn!
Blickt liebend Eure Schwestern,
Die frommen Blumen an.
O seht! sie streben sehnend
Hin zu der Lüfte Reich,
O neigt Euch freundlich nieder,
Sie möchten auf zu Euch.
Weh! Blumen! weh, die Erde
Hält Euch mit fester Hand,
Und weh, Euch Sterne bindet
Ein unzertrennlich Band.
Doch blüht nur, meine Blumen,
Euch senden aus der Luft
Die Sterne Tau und Tränen,
O sendet süßen Duft!

[243] Ein verlorengegangenes Lustspiel

Auch ein Lustspiel dichtete ich damals auf meiner Leiter in Jamben; es hatte den Titel: »Die zwölf betrogenen württembergischen Pastores.« Es lag ihm eine wahre Begebenheit aus damaliger Zeit zugrunde.

Bei mehreren württembergischen Pfarrern, ich glaube nach und nach bei einem Dutzend, war ein sehr eleganter junger Mann erschienen, der sich für einen französischen emigrierten Grafen ausgab und vorschützte, er sei auf dem Wege nach Deutschland seiner Effekten und Gelder beraubt worden, nur eine mit edlen Steinen besetzte Repetieruhr sei ihm verblieben, das teure Andenken seines guillotinierten Vaters. Verkaufen könne er dies Kleinod unmöglich, aber er schätze sich glücklich, wenn der Herr Pfarrer es als Pfand behielte und ihm nur 5 Caroline dafür anliehe, die er bald reichlich wieder ersetzen und das Kleinod zurücknehmen werde. Mehrere Pfarrer ließen sich nun, besonders durch das Mitleiden, das der schöne Mann den Frauen beizubringen wußte, bewegen, in seine Wünsche einzugehen, fanden sich aber später natürlich durchaus geprellt; der Herr Graf war ein Betrüger, er war ein Jude, und das jedesmal für 5 bis 8 Carolinen zurückgelassene und nie wieder abgeholte Kleinod hatte den Wert von ein paar Gulden.

Mein Schwager, der gute Pfarrer Zeller zu Wiernsheim, befand sich auch unter der Zahl dieser betrogenen Pastoren, und ich ließ dieses Lustspiel besonders in seinem Hause spielen.

Im ersten Akte ließ ich die Frau Pfarrerin gerade mit dem kleinsten Kinde beschäftigt und im Zimmer alles in Unordnung sein, als das Dienstmädchen atemlos hereinstürzte und verkündigte: es komme ein sehr vornehmer schöner junger Herr aufs Pfarrhaus zu und werde wohl [244] augenblicklich eintreten. Die Verlegenheit der Pfarrerin wegen des unaufgeräumten Zimmers, ihren Ausruf zum Dienstmädchen: »Schnell mit den Häfen in die Tischschublade!« nahm mir meine reinliche Schwester sehr übel.

Erscheinen des galanten Herrn; Verschämtsein der jungen Pfarrerin; Erstaunen als sie hört, er sei ein französischer Graf; Erstaunen und Mitleid beim Anhören seiner höchst rührenden Geschichte, des Mords seines Vaters, seiner Vertreibung, seiner Beraubung. Zärtlichkeit.

Im zweiten Akte. Erscheinen des Pfarrers. Er kommt aus der Kirche und setzt den goldenen Kelch, den er mitbringt, auf ein Tischchen nieder. Der Graf wird von der Pfarrerin dem Pfarrer vorgestellt, seine Geschichte von ihr, noch sehr ausgemalt, ihm wieder erzählt. Der Graf eröffnet dem Pfarrer sein Anliegen mit dem Versatze der Uhr und erzählt, wie dieses Kleinod das Andenken seines geköpften Vaters sei. Die Pfarrerin erstaunt über die Pracht der Uhr, der Pfarrer zögert, die Pfarrerin fleht ihn, in Gemeinschaft des Grafen, um Mitleid an, er willigt endlich ein, tauscht die Uhr um 5 Carolinen ein. Der Graf nimmt feierlichen Abschied von der Uhr und fällt, als sie der Pfarrer aus seiner Hand empfängt, in Ohnmacht. Jammer der Pfarrerin, Ausbrüche von Zuneigung gegen den Grafen, Vorwürfe gegen den Pfarrer, daß er die Uhr als Pfand für das Geld angenommen. Sie bringt den Grafen durch Anspritzen von Weingeist wieder ins Leben, der Graf nimmt ihr die Flasche aus der Hand und trinkt sie auf zwei Züge aus. Bedenken des Pfarrers. Sentimentaler Dank des Grafen gegen die Pfarrerin, in der er das Ebenbild seiner geköpften Königin finden will. Er weint und fällt ihr um den Hals und eilt zur Türe hinaus, während ihm der Pfarrer mit Erstaunen nachsieht, die Pfarrerin aber dem Pfarrer nun Vorwürfe macht, daß er den Grafen nicht zurückgehalten, daß er [245] vornehme Leute nicht zu behandeln wisse, keine Bildung habe und nicht französisch sprechen könne.

Im dritten Akte stürzt der Pfarrer atemlos herein; es fehlt ihm der Kelch, den er neben den Grafen auf den Tisch gestellt, auch seine Sammethosen und seidenen Strümpfe. Verdacht auf den Grafen, Verteidigung desselben durch die Pfarrerin. Den Pfarrer bestärken die Erzählungen des Dienstmädchens, daß der Herr Graf eilends durch den Ort gesprungen, als komme ihm jemand auf der Ferse nach, daß ihn vor dem Orte kein Wagen, wie er vorgab, habe aufnehmen können, es sei keiner da bemerkt worden, er habe seinen Weg immer springend weiter genommen. Furchtbare Unruhe und Jammer des Pfarrers, Klage, daß er nun abgesetzt werde, weil ihm der Kelch abhanden gekommen. Vorwürfe gegen die Pfarrerin. Noch immer fester Glaube derselben an den schönen Grafen. Die Ausmalung des Pfarrers von seiner Schande, seinem Unglück; Vorstellungen der Pfarrerin dagegen nahmen das meiste dieses Aktes ein.

Im vierten Akte erscheint der benachbarte Pfarrer mit seiner Frau und erzählt, was ihm am selben Tage begegnet, es war das gleiche Spiel mit der Uhr! Der erste Pfarrer erstaunt, aber ehe er sich weiter erklärt, kommt ein zweiter benachbarter Pfarrer mit seiner Frau und erzählt dasselbe und endlich ein vierter, der das Rätsel auflöst und erklärt: daß sie alle betrogen seien, der französische Graf sei ein Pfälzer Jude, er sitze bereits in der Oberamtsstadt im Gefängnisse, und man habe den Kirchenkelch von hier und des Pfarrers Sammethosen und seidene Strümpfe bei ihm gefunden, er auch alles eingestanden. Ohnmacht der ersten Pfarrerin, Geschrei und Geschwätz der drei andern, wie sie diesen Kerl sogleich für einen Juden er kannt, wie aber nur ihre Männer so verblendet hätten sein können. Verteidigung der Männer, ihre Anschuldigungen gegen die Frauen, Verzweiflung [246] des ersten Pfarrers wegen des Kelches, man werde ihn, weil er in der Tasche eines Juden gesteckt, nicht mehr zum Gottesdienste gebrauchen können. Meinung des andern Pfarrers über diesen bedenklichen Casus. Vorschlag, den Kelch umschmelzen zu lassen. Beratung, auf wessen Kosten.

Versicherung des zweiten Pfarrers, daß er das zurückzuerhaltende Geld zu wohltätigen Zwecken verwenden wolle. Der Akt endigt mit den Worten des dritten Pfarrers:


»Und ich, ich werde ex officio
Ein Dankgebet vor der Gemeinde lesen
Und einen Gulden oder dreißig Kreuzer
Occulte auf den Opferteller legen.«

Im fünften Akte stehen die Pfarrer alle mit dem angeblichen französischen Grafen im Gerichtssaale. Ein jeder erzählt in besonderer charakteristischer Weise die Geschichte des Betrugs. Der Jude verbirgt sich nicht, er leugnet nichts. Die Sammethosen und seidenen Strümpfe behauptet er von der Frau des Pfarrers als Geschenk erhalten zu haben. Erstaunen der anderen Pfarrer und Bedauern gegen ihren Herrn Kollegen; die Hosen seien jedenfalls von ihm nicht mehr beim Gottesdienste zu tragen. Abermaliges Bedenken über den Kelch, worüber einer der Geistlichen in einer sehr orthodoxen langen Rede sich ausläßt. Witze des Juden. Sie fallen alle über ihn als einen verstockten Sünder her. Versuche zu seiner Bekehrung. Sie fordern mit Leidenschaft, der Jude solle gepeitscht und dann gehenkt werden. Der Richter wirft ihnen Erbarmungslosigkeit, Härte vor und weist sie durch Bibelstellen zur Ordnung. Sie protestieren und fordern urplötzliche Durchpeitschung des Juden. Während ihres Geschreies ist der Jude aus dem Gerichtssaale entflohen. Erstaunen der Pfarrer, der Richter gibt ihnen den Trost, wenn der Jude gefangen sei, werde er gehenkt werden. Der Vorhang fällt.

[247] Dies war der ungefähre Inhalt einer losen Posse, die sich aber bei vielem Humor, der in die Reden der verschiedenen Personen gelegt war, doch gut las und von mir, als Student, nach Tübingen gebracht, unter meinen Freunden oft Heiterkeit erzeugte. Das Manuskript ging mir durch Hinleihen verloren, auch lag mir an seiner Wiedergewinnung nicht viel.

Die Originale in Ludwigsburg

Ein Werklein, dessen Verlust ich mehr bedaure, und das in jener Zeit auch während des Nähens und Musterkartenmachens ausgebrütet wurde, war in gereimten Versen, ein Gemälde von mehrern Originalen, die damals die weiten Straßen Ludwigsburgs durchwandelten.

Zu jener Zeit sah man in Ludwigsburg immer Vormittags gegen 10 Uhr einen ungeheuer dicken unbeholfenen Mann, der in der Mitte der weiten Poststraße mehr gerutscht, als gegangen kam, und sich schmunzelnd links nach dem Gasthof zum Bären wandte, wo er vor dem Mittagsessen jedesmal ein Voressen von einem halben Kalbsschlegel oder einer Platte voll Würste hielt und das gehörige Quantum Wein oder Bier dazu durch den Schlund hinabgoß. Dies war der wegen seines Magens sehr bekannte BrunnenmacherKämpf von Ludwigsburg, der auch in meinen Reiseschatten eine Stelle fand. Oft schoß an ihm, bis er das Ende der Straße und die Ecke, wo er sich zum Gasthof zum Bären umbog, erreichte, drei bis viermal in die Quere ein lichter Sonnenfaden vorüber, in welchem man bei näherer Betrachtung einen ganz dürren, schlanken, lang gezogenen Menschen in einem eng anliegenden weißen gestrickten Wämschen, an welches zugleich auch die langen weißen [248] Beinkleider samt den Strümpfen angestrickt waren, erkannte. Es war dies der durch die Gassen von einem Hause in das andere pfeilschnell schießende PerückenmacherFribolin.

Dieselbe Gasse konnte man jedesmal Schlag 2 Uhr einen andern Mann kommen sehen. Dieser war von vornehmerem Stande, mager, hochgestreckt mit dem Oberleib, in den Füßen etwas gebogen. Er hatte einen französischen Haarzopf und Toupet, silbergrauen Frack, gelbe lederne Beinkleider, Reitstiefel und Sporen an und trug in der einen Hand ein fischbeinernes Reitgertchen. Er hatte ganz die Stellung eines auf dem Pferde sitzenden schulgerechten Reiters, machte auch im Gehen, das bald schneller, bald langsamer war, ganz die Bewegung eines Reitenden, während er oft vor sich hinsprach: fort! fort! Schweißfuchs!

Es war das ein gewisser Stiftungspfleger, den man in früheren Jahren um die gleiche Zeit hier einst diese Straße fast jede Woche auf einem andern, abenteuerlichen Pferde reiten sah, der aber durch diesen öfteren Pferdewechsel im Vermögen sehr herunter kam, etwas irre wurde, das Spazierenreiten aber zur gewohnten Stunde auch ohne Pferd nicht mehr lassen konnte.

Nicht weit vom Gasthof zum Bären bemerkte man ein anderes Original, das dort sein eigenes Haus hatte. Dies Haus war daran zu erkennen, daß sich in seinem Hofe eine Miststätte befand, von solchem Alter und solcher Höhe, daß sie über das Dach des Hauses ragte. Der Inhaber hatte sie mit aller Mühe gesammelt und gebauet und pflegte ihrer mit der größten Sorgfalt. Nie durfte etwas von ihr weggenommen werden. Obgleich begütert, ohne Frau und Kinder, sah man ihn, einen kleinen magern alten Mann, in einem abgeschabten roten Rock mit verwitterten goldenen Borden, einem roten struppigen hinten in einen Haarbeutel gebundenen Haare, [249] einen runden Korb in der Hand auf der Straße hinter den Pferden hergehen und ihren Mist zu seinem Baue sammeln. War er nicht mit dieser Arbeit beschäftigt, so zeigte er sich in den Gasthöfen, drängte sich mit großer Unverschämtheit an alle Fremde und sprach von den herrlichen vergangenen Bratenszeiten unter Karl Herzog. (Ein echter Ludwigsburger sagt nie: Herzog Karl, sondern immer: Karl Herzog, wie sein Titel anfing: Karl Herzog zu Württemberg usw.) Er schimpfte frei in den buntesten Redensarten über alles, was nicht von »Karl Herzog« stammte, erzählte die skandalösesten Geschichten alter Zeit wie Tugenden und gebärdete sich oftmals auf das schamloseste. Man hieß ihn den »Jakobele«. Er soll zu jenen Bratenszeiten am Hofe die Stelle eines Hofnarren und in der Stadt die eines Spionen gespielt haben, und er war nun bei seinem Mistbaue, zu dem er verdammt zu sein schien, ein wahres Bild aus dem Hades.

Ging man einmal zufällig um Mitternacht noch durch die Schorndorfer Straße, die gegen Oßweil zum Kirchhofe an meiner Fabrik vorbeiführte, so konnte man manchmal einem kleinen abgezehrten totenbleichen Männlein begegnen, das ein schwarzes zerrissenes Mäntelchen umgeworfen hatte, unter dem es einen Pack Papier und Faßreife trug; auch hatte es einen Spaten auf der Schulter und eine Laterne in der Hand. Es war der damalige Totengräber, der dem Kirchhofe zuging. Dieser Mann legte sich nämlich schon seit Jahren auf die Kunst, das Fliegen zu erfinden, und arbeitete oft nächtlich ungestört im Totenhause bei der Laterne an einer Flugmaschine, die aber nie zustande kam. Daß er das Fliegen dennoch erfunden habe und fliegen könne, wurde ihm später zur fixen Idee. Er behauptete fest, er sei vom Kirchhof aus öfters in der Nacht nach Neckarweihingen, mit der Laterne in der Hand, geflogen. Der Flug über den Neckar habe ihn stets sehr angestrengt, denn da [250] habe ihn das Wasser immer so angezogen. Ich sagte zu ihm: er werde wohl nur geträumt haben, daß er so fliegen könne, und wachend es glauben; da versetzte er: o nein, er habe zwar auch schon geträumt, er fliege; aber da habe er immer den Tag über Kummer gehabt.

Fliegen im Traume bedeute nicht, daß Kummer komme, sondern man habe Kummer, wenn man im Traume fliege. Diese Beobachtung erwies sich mir in meinem nachherigen Leben als sehr wahr. Er wurde durch seine Flugversuche arm, irre und starb im Elend. Er gab mir Veranlassung zu meinem Spiele: »Der Totengräber von Feldberg« in den Reiseschatten. Das Männlein hieß Hartmayer; man nannte es aber Flugmayer.

Außer den hier angeführten Originalen gab es damals in Ludwigsburg noch manche andere; aber sie stehen mir nicht mehr so hell im Gedächtnis, wie jene.

Der närrische Hausschneider und Jung Stillings Vorübergehen

Mit dem Komptoir-Gebäude der Tuchfabrik war das Waisenhaus und das Zuchthausgebäude und auch ein Gebäude für die Irren verbunden. Weiter oben stand die Kirche für all die Bewohner dieser Gebäude. Sie alle waren mit einer Mauer umschlossen und hatten nach ihnen Hofräume und Gärten, nach außen befand man sich in der langen sogenannten Schorndorfer Straße, die nach dem Kirchhofe und dem Dorfe Oßweil führte. Von der eigentlichen Stadt war man durch den Schloßgarten und links durch die langen Alleen abgeschlossen. Am Haupteingange besagter Gebäude, einer großen Türe, war rechts ein Zimmer angebracht, in welchem ein Schneidermeister mit seinen Gesellen arbeitete. Er [251] hatte den Titel eines Hausschneiders und mußte zugleich den Portier machen und ein Augenmerk auf die Aus- und Eingehenden richten, denn dies war das einzige Tor (wenigstens für die Fußgänger), durch welches man in alle diese Gebäude und Anstalten kommen konnte. Der damalige Hausschneider hieß Noä. Durch Lesen aller möglichen Bücher aus der Leihbibliothek des Antiquars Nast hatte er einen Anstrich von Bildung erhalten; er verstieg sich sogar in die Schriften von Kant, fiel aber von dieser Höhe bald herab und blieb an den Schriften von Sintenis hängen. Er spielte den Freigeist und bekam einen lächerlichen Stolz. Dieser Noä kam eines Abends, als ich dichtend und nähend auf der Leiter saß, zu mir und erzählte: So eben sei auch ein Schneider zum Tore herein, der mehr Aufsehen mache, als er verdiene; das sei einer, der lieber in der Hölle, (der Sitz auf dem die Schneider sitzen, und in den sie ihre Füße stecken, wird so genannt) aus der er hervorgegangen, hätte bleiben sollen, als daß er einem die Hölle mit seinen abergläubischen Schriften heiß mache. Da sei Sintenis, von dem man nicht so viel rede, ein höherer Geist. Er sehe aus wie ein verhungerter Schulmeister, mache den Augenschneider, wolle, selbst blind, Blinden den Star stechen. So machte er lange fort, bis ich endlich von ihm herausbrachte, daß Jung Stilling mit seiner Gattin in Begleitung des Waisenpfarrers vor einer Stunde durch das Haus gegangen sei, um sich die Anstalten zeigen zu lassen.

Ich hatte damals von Stilling noch weniger gelesen, als der Schneidermeister, aber dennoch trieb es mich von der Leiter, den Mann zu sehen. Ich trat in den Hof hinaus, und da kam er gerade mit seiner Gattin, in Begleitung des Waisenpfarrers Schöll, im Rückwege begriffen, die Allee von der Waisenhauskirche herab. Ich stellte mich unter das Tor, und die lange interessante Gestalt mit der eigenen hohen Stirne, der Adlernase und [252] den Liebe und Sanftmut strahlenden Augen, zog an mir ganz nahe vorüber und prägte sich mir tief ins Gemüt ein. Ich sah ihn da zum ersten und zum letztenmal, ihn, den ich in späteren Jahren, und als er nicht mehr auf Erden war, erst kennen und verehren lernte. Dennoch trachtete ich auch da noch nicht, seine Schriften kennen zu lernen, obgleich ich schon damals, wenn auch nicht seinen christlichen, doch seinen pythagoreischen und platonischen Glauben an eine Seelenwanderung der Geister und an ein Mittelreich hatte. Aber des Schneiders Spott über diesen Mann konnte ich, als ich sein Auge gesehen, nicht mehr ertragen; ich kehrte ihm, so oft er wieder von ihm zu reden anfing, den Rücken.

Später, als ich schon in Tübingen war, erschien dieser Schneidermeister auf einmal zu Pferde bei einem Manöver der königlichen Truppen, in Gegenwart des Königs, unter der Generalität. Man merkte, daß es mit dem Schneider nicht richtig war, und er wurde auf Befehl des Königs aus dem Sattel gehoben und nach Zwiefalten, wo sich später das Irrenhaus befand, zu besserer Verwahrung und Versorgung transportiert, wo er starb.

Jung Stilling hatte, als ich ihn damals in Ludwigsburg sah, den blinden Instrumentenmacher Käferle, jedoch ohne Erfolg, operiert. Dieser war in früher Jugend erblindet und zwar auf eine Weise, daß er keinen Schein mehr behielt; dennoch wurde er ein bedeutender mechanischer Künstler, und seine Klaviere, Flügel usw. waren lange Zeit im In- und Auslande sehr gesucht. Das Gefühl hatte bei ihm so sehr die Stelle des Auges vertreten, daß er im polierten Holze jeden Fleck, jede Mißfarbe zu erkennen und zu verbessern im Stande war. Sein mechanisches Genie und seine Liebe zur Tonkunst ging auf zwei seiner Söhne über.

[253] Die Irren

Das Irrenhaus, das, wie schon gesagt, in gleicher Ummauerung mit der Tuchfabrik stand, war meinem Schlafgemache so nahe, daß ich oft vor dem Singen, Lachen, Fluchen und Toben seiner armen Bewohner nicht in Schlaf kommen konnte. Ganze Nächte hindurch hörte ich da oft den Gesang einer wahnsinnigen Frau, der nur in den Worten: »Ririroldidi« bestand. Sie sang dieses Unwort immerwährend in gleicher Modulation fort, wobei sie ohne Aussetzen mit dem Fuße auf den Boden stampfte. Erst gegen Tag hörte man die Töne immer schwächer und schwächer, wo sich endlich Schlaf und Erschöpfung ihrer zu erbarmen schienen. Ein anderer Wahnsinniger schrie die ganze Nacht fort die Worte: »Totenköpfe und Krautsalat« und rasselte dazu mit den Ketten; denn da schloß man die Tobsüchtigen noch an. Dazwischen hörte man oft Töne, als schlüge er den Kopf gewaltsam an die Wand.

Der Schein des Mondes, und besonders der zunehmende Mond steigerte jedesmal bei allen diese Schauertöne und nächtliche Unruhe, in welche öfters in Frühlingsnächten der Schlag einer Nachtigall von den benachbarten Schloßgärten und der Lindenallee wie besänftigend erklang. Ich besuchte die Unglücklichen auch oftmals in ihren Zellen und wurde ihnen bald bekannt und freundlich. Das Spiel meiner Maultrommel machte bei vielen einen guten Eindruck, und ich vermochte oft Tobende durch Worte und Anschauen zu besänftigen. Es tut mir leid, daß ich meine Beobachtungen an vielen dieser Unglücklichen damals nicht niederschrieb. Meine Neigung und einiges Geschick, mit Geisteskranken umzugehen, was ich später erproben mußte, war mir wohl von der Natur von Geburt aus zugeteilt.

[254] Großen Anteil nahm ich besonders an einem noch jugendlichen Manne, der, wie ich glaube, seine Erziehung auch in der Karlsschule erhalten hatte; er hießvon S–r, ist aber mit einem andern seines Namens, der später in ähnliche Zustände kam, nicht zu verwechseln. Er war von kleiner Statur, hatte einen feinen Körperbau, eine zarte Stimme, und sah mit funkelnden grauen Augen mißtrauisch um sich, – und je nachdem ein Mensch kam, schloß er die Augen – denn er hatte die fixe Idee, man wolle ihn vergiften, und das könne selbst durch Blicke geschehen. Es hieß, er sei durch unglückliche Liebe in Irrsein verfallen. Ich brachte es durch einige Besuche bei ihm bald so weit, daß er vor mir die Augen offen hielt und mich ohne Mißtrauen ansah. Als er einmal aus Furcht, vergiftet zu werden, mehrere Tage lang durchaus nichts mehr aß, holte mich sein Diener zu ihm, und ich brachte ihn dadurch zum Speisen, daß ich ihm den Vorschlag machte: wir wollten abwechslungsweise, zuerst ich einen Schub, dann er einen Schub seiner Suppe mit dem gleichen Löffel zu uns nehmen, bis das Schüsselchen geleert sei. Dies geschah, mußte aber nach einigen Tagen, da er nur unter dieser Bedingung wieder speisen wollte, von mir wiederholt werden. Nach eingetretener Verschlimmerung half aber auch dies Auskunftsmittel nicht mehr, und er hatte schon fast 8 Tage lang alle Speise versagt. Ich war bei ihm, er war wie ein Gerippe, bleifarben im Gesicht, hatte eingefallene Augen und schien gar nicht mehr auf den Füßen stehen zu können. Ich sprach ihm vergebens zu, er erwiderte immer: alles ist vergiftet; da sprang er auf einmal, wie mit der letzten Lebenskraft, auf das Kämmerchen seines Dieners zu, in dem ein Kanarienvogel in einem Käfig saß, riß diesen heraus und hatte ihn mit einem Schluck mit Federn und Gebein im Magen, indem er schrie: der ist nicht vergiftet, ha! ha! Er war auf sein Bett zurückgefallen, das [255] Verschlingen des Vogels war so schnell geschehen, daß der Diener das Ohr horchend auf den Magen des Herrn legte und behauptete, man höre den Vogel noch in ihm flattern. In der Nacht starb er. Er hatte einige Tage zuvor noch sein Testament niedergeschrieben, in welchem er dem Fürsten von Thurn und Taxis seine Gebeine zu Stockknöpfen und Billardkugeln vermachte.

Handarbeiten und weitere Beschäftigung meines Geistes

Handarbeiten und weitere Beschäftigung meines Geistes während derselben

Zu den Unglücklichen des Zuchthauses führte mich später, als ich auf die Fabrikation des Tuches aufmerksam gemacht werden sollte, oft mein Geschäft (denn hier, war die Spinnanstalt), aber sie waren mir immer ein höchst trauriger, unheimlicher Anblick, ich konnte mich bei ihnen nicht wie bei den Irren verweilen, ich konnte nicht versuchen, sie zu bekehren, ich suchte immer so bald wie möglich wieder von ihnen zu kommen. Das Wehgeschrei solcher, die beim Empfang und beim Gehen, den sogenannten Willkomm und Abschied, in ein Holz gespannt, durch Schläge erhielten, weckte mich, ging ich durch diese Gänge, oft aus Dichterträumen auf.

Aber auch der Direktor der Fabrik mußte mich oft aus meinen Träumen durch unpoetische Anweisungen, weil ich nun einmal ein Kaufmann werden sollte, wecken. Er lehrte mich das Ellenmaß kennen, nicht daß er mich damit schlug, sondern er erklärte mir seine Einteilungen und lehrte mich die Tücher messen, in Ballen packen und auf die Ballen das Fabrikzeichen und die Nummer mit dem dicken in Dinte getauchten Pinsel malen, in welch letzterem Geschäfte ich ihn aber selbst, kraft meiner [256] Malerkunst, übertraf; denn ich machte oft noch zum Überflusse einen Lorbeerkranz um das Fabrikzeichen, oder das Ludwigsburger Stadtwappen, einen Adler, oder drei Hirschhörner auf die Ballen. Das Auspacken und Auswiegen der Indigofäßchen war auch keine freudige Beschäftigung. Der blaue Staub drang sogar durch die Kleider, und ich lief im Gesicht und am ganzen Leib blau an. Am schwersten fiel mir aber das Ausmessen des Tuches beim Handverkaufe, zu dem ich später auch angewiesen wurde, und noch mehr das Berechnen der an Mann gebrachten Ellen. Es mag sein, daß hier oft eine halbe Elle für eine Viertel gezählt und statt 6 Gulden 5 Gulden berechnet wurden. Das Zählen des Geldes wollte auch nicht begriffen werden, und ich lernte es bis auf den heutigen Tag noch nicht. Das machte oft unter Zank und Streit Erwachen aus allen Dichterträumen. »Studieren Sie nur recht den Nelkenbrecher und Büsching in Ihren Freistunden«, wurde mir oft gesagt. Ich las diese Bücher auch, aber machte während des Lesens Verse und schrieb einmal, ganz in Gedanken, in das Briefkopierbuch gleich nach Kopierung eines italienischen Briefes Verse auf den Hund des Direktors ein, die mir während des Kopierens beigefallen waren. In meiner nächsten Umgebung war niemand, der Sinn für Poesie hatte; dagegen war im Waisenhause (das, wie gesagt, auch in dieser Ummauerung sich befand) ein junger Lehrer, mit Namen Lehrer, der für Poesie, Musik und Malerei vielen Sinn hatte und selbst ein guter Musiker und besonders ein vortrefflicher Landschaftsmaler war. Er war älter, als ich, aber doch schloß ich mich an ihn sehr an. Er hatte an meinen Versen immer große Freude, ich teilte ihm alle mit und schenkte ihm ganze Bücher voll, wogegen er mich öfters mit Tonsetzungen derselben erfreute. Dieser vortreffliche Mensch gereichte mir in diesen Tagen geistiger Gefangenschaft zum großen Troste und erschien mir oft [257] noch im späten Alter freundlich im Traume. Er starb als geschätzter Stadtschullehrer in Ludwigsburg.

Auch ein lieber Mensch befand sich, nicht auf dem Komptoir, sondern unter den Fabrikarbeitern. Er war Tuchscherermeister und hieß Kübler. Ihm verdankte die Fabrik die erste Einrichtung von Tuchschermaschinen, die er in Brünn kennen lernte. Ich hielt mich oft in seiner Werkstätte auf und lernte von ihm das Tuchscheren vermittelst der Maschine sehr bald. Dagegen erfreute ich ihn oft durch meine elektrischen Versuche, und er war mir in Erbauung einer neuen Elektrisiermaschine mit mannichfaltigem Apparat sehr behülflich. Auch in meine Leidenschaft, die ich für Anbringung und Errichtung einer Camera obscura, wo ich mich nur befand, hatte, ging er ein, und wir errichteten in einem Kämmerchen, vor welchem alle Bewohner dieser Räume, die noch frei gehen durften, Fabrikarbeiter, Waisenkinder, Züchtlinge und Irren, vorüberzogen, eine vortreffliche Camera obscura und hatten an Sonntagen stundenlang unsere Freude an dem bunten lichten Gewimmel im Kleinen auf dem ausgespannten Papiere.

Spaziergänge. Die Veste Asperg, Wolf und Bilfinger

Spaziergänge.
Die Veste Asperg, Wolf und Bilfinger.
Studium der Natur

An solchen Sonntagen, an denen wir Freistunden hatten, machten wir zwei hie und da Spaziergänge, auf welchen wir immer auch eine Camera obscura (wir hatten eine kleine tragbare verfertigt) zum Nachzeichnen der Gebäude, der Baumgruppen usw. mit uns führten. Sehr oft nahmen wir den Weg zur Veste Asperg, wo mein Brüder Louis sich als Garnisonpfarrer befand.

[258] Am Gitter eines Gefängnisses erblickte ich da manchmal den, wegen unverzeihlicher Übergabe der unüberwindlich erschienenen Veste Hohentwiel, eingekerkerten Obristen Wolf. Mit heiserer Stimme hörte ich den alten Mann einmal an seinem Gitter schreien: »Gnade! Gnade!« Es war, als der Herzog durch den inneren Raum der Veste fuhr. Von da an durfte er nicht mehr am Gitter seines Kerkers erscheinen.

Mehr Bedauern erregte in mir und allen der Genosse seines Unglücks, der General von Bilfinger, obgleich sich dieser in keinem Kerker, sondern unter der Veste im Dorfe Asperg, nach Konfiskation seines Vermögens auf immer dahin konfiniert, befand. Bilfinger, an Körper und Geist durch Alter schon geschwächt, war Kommandant der Veste Hohentwiel; aber da man seinen Kräften nicht mehr traute, schickte man ihm bei ausgebrochenem Kriege den Obristenvon Wolf zu. Aus Achtung vor Bilfingers früheren Verdiensten und militärischen Kenntnissen ließ man ihm den Namen eines Gouverneurs und die erste Unterschrift, aber Oberst von Wolf war der für alles verantwortliche Kommandant.

Diese Bergveste war, wie bekannt, so beschaffen, daß man sie mit Steinen hätte verteidigen können. Wie in dem Felsenneste eines Vogels Greif saß ja der ritterliche Wiederhold, sie weder an Feind noch Freund übergebend, jahrelang einst ein tapferer Wächter in ihr. Sein Beispiel sollte nicht wiederholt werden. Es bedurfte nur eines Trompeters, den der französische General Vandamme, der an ihrem Fuße vorüberzog, im Scherze, sie zur Übergabe auffordernd, hinaufschickte, daß ihr Kommandant Wolf sogleich ins Quartier Vandammes herabspazierte und eine schimpfliche Kapitulation abschloß, die auch der altersschwache Bilfinger und die andern Offiziere unterzeichneten.

In späteren Feldzügen, wo mein Bruder Karl öfters mit [259] Vandamme zusammen kam, erzählte ihm dieser, wie die Geschichte mit der Veste Hohentwiel, die Absendung eines Trompeters zu ihrer Übergabe von ihm und seinen Offizieren ein wahrer Scherz gewesen, und wie sie an die Übergabe dieses durch die Natur unüberwindlichen Felsennestes nie im Ernste gedacht hätten.

Wolfs Schicksal erregte das Bedauern, das man auch mit einem Schuldigen hat; mindere Schuld aber konnte man dem durch Alter und Krankheit ganz schwach gewordenen Bilfinger beimessen, zumal diesem ja Wolf eben wegen seiner Gebrechlichkeit amtlich substituiert worden war.

Es war mir traurig, den alten Mann, einst einen gelehrten und hochgeehrten Militär und Lehrer in der Karlsakademie, in diesem Dorfe (wo ich ihn einmal mit meinem Bruder besuchte) in einem Bauernstübchen noch unter Karten und militärischen Zeichnungen, abgemagert und hohläugig in tiefem Nachsinnen, wie von einer vergangenen Zeit träumend, auf einer hölzernen Bank vor einem wackelnden Tische sitzen zu sehen. Alles war ihm genommen, und zu seinem täglichen Unterhalte waren ihm nur wenige Kreuzer ausgesetzt. Hätte ihn dieses Los allein getroffen; aber es traf noch eine andere Person, die noch unschuldiger als er war; es traf die Konfiskation seines Vermögens auch ein Fräulein Voßler, das der General von Kindheit auf (es hieß als natürliche Tochter) zu sich aufgenommen und aufs sorgfältigste erzogen hatte. Sie lebte in Ludwigsburg, hatte früher und später oft unser Haus besucht und gehörte zu den merkwürdigen Personen dieser Stadt von damals. An Geist und Wissen reich, hatte sie sich auch noch die Kunst des Klavierspielens auf eine musterhafte Weise angeeignet, sie gehörte zu den besten Klavierspielerinnen damaliger Zeit durch zartes Gefühl, feinen Geschmack und außerordentliche Kunstfertigkeit.

[260] Ihr Lehrmeister in dieser Kunst war der DichterSchubart. Als dieser sich als Gefangener, sie als Tochter eines beim dasigen Militär Angestellten auf der Veste Asberg befand, wurde ihm die Erlaubnis erwirkt, sich täglich eine Stunde aus seiner Klause zu begeben, um sie im Klavierspiele zu unterrichten. Die Gedichte Schubarts, die den Namen Regine führen, waren an sie gerichtet. Was sie am meisten ehrte, war, daß sie das Unglück, das nun über ihren armen Pflegevater und sie hereinbrach, mit Standhaftigkeit und Ergebung ertrug. Sie verlor alles, selbst das ihr so teure Saiteninstrument, einen kostbaren Flügel; denn auch dieser wurde konfisziert. Von hohem Wohlstande war sie zur Bettlerin geworden. Wie der Pflegevater in Asperg, bewohnte sie nun in Ludwigsburg ein einsames Stübchen und gab Unterricht im Klavierspielen, und daneben war auch das Studium der Alten, Homers, Platos, ihr Trost. Sie sorgte noch immer, so viel sie konnte, für die Bedürfnisse ihres Pflegevaters, selbst als dieser, ganz kindisch geworden, nichts mehr von ihr wissen, ja sie gar nicht mehr zu sich lassen wollte. Zu ihm ziehen und mit ihm leben konnte sie nicht, weil sie in Asperg keinen Verdienst gehabt hätte. Ich traf sie öfters schwer tragend auf diesem Wege zu ihrem Pflegevater an. Sie war schon damals nicht mehr jugendlich, nicht schön, aber von einem durchaus geistreichen, verständigen Wesen. Später wurde ihr von dem konfiszierten Vermögen wieder ein Anteil als Pension gegeben, und durch Klavierunterricht und Handarbeit verschaffte sie sich noch bis in späte Jahre ein gutes Auskommen, bis sie zu Stuttgart vor wenigen Jahren und nicht vermögenslos starb.

Auf solchen Spaziergängen ließ ich nicht ab, alles, was der Natur angehörte, zu lieben und zu betrachten, Aussichten, Bäume, Quellen, Steine, Vögel, Schmetterlinge und andere Insekten; besonders sah man auf den Rasenwällen [261] der Veste immer die schönsten buntesten Schmetterlinge. Neben meiner Verskunst blieb mir das Studium der Natur noch immer die liebste Beschäftigung; am frühen Morgen und in späten Nächten las ich noch immer naturgeschichtliche Bücher. Romane las ich nie mehr. Reimarus, Hallers, Bonnets Schriften beschäftigten mich. Aus der Bibliothek eines mir wohlwollenden Militärarztes (Dr. Constantin) nahm ich Mesmers und Gmelins Schrift über den Magnetismus mit mir und erfreute mich schon damals dieser geistigen Erscheinungen. Derselben Bibliothek verdankte ich Josephis Anatomie der Säugetiere, Jacquins Lehrbuch der allgemeinen und medizinischen Chemie, Haugks Anfangsgründe der Experimental-Physik und Steffens Beiträge zu einer Naturgeschichte der Erde. Zum Danke übersetzte ich dem ärztlichen Freunde die lateinischen Verse der salernitanischen Schule in deutsche Reime. Alle diese Bücher las und studierte ich mit Liebe; dabei lagen aber die Schriften von Nelkenbrecher und Büsching oben an auf dem Tische, doch seltener gebraucht.

Der Chemiker Staudenmayer und seine Freunde

Ein eigener, origineller Mann damaliger Zeit in Ludwigsburg war der Chemiker Staudenmayer. Ich glaube, er war zu Marbach geboren; er zog schon nach Ludwigsburg, als mein Vater noch Beamter daselbst war. Viele Jahre hatte er als Chemiker und nachher als Admiralitätsapotheker in Petersburg gelebt. Sein Haus befand sich nicht weit von der Tuchfabrik in der hinteren Schloßstraße. Er war mit Seele und Leib Chemiker und trug eine chemische Ehrennarbe im Gesicht; er hatte [262] nämlich in Petersburg, als er eine neue Metall-Komposition zu Lettern goß, ein Auge verloren. Er war ein hagerer Mann von mittlerer Größe, seine Haare waren, obgleich er damals vielleicht erst 50 Jahre zählte, schneeweiß lang gelockt, und sein Gesicht trug tiefe Furchen einer in Denken und Arbeiten durchlebten Zeit. Er hatte sich Vermögen gesammelt und hielt es durch Sparsamkeit und kleine chemische Arbeiten (denn von solchen konnte er nie ruhen) zusammen. Er war kinderlos. Seine Frau war eine Livländerin. Sie war klein bei einem langen Oberleib, und ich sagte oft zu ihr, ich bezüchtige sie, keine Füße zu haben. Sie liebte ihren Mann ungemein so wie er sie. Dieser Mann hatte, besonders in der technischen Chemie, manche interessante Entdeckungen gemacht, zeigte sie auch solchen, die ihn näher kennen lernten, gern vor, aber aus der Art ihrer Bereitung machte er immer das größte Geheimnis. Es war dazumal die Zeit der Surrogate, für seinen forschenden Geist eine willkommene. Für alle Kolonialwaren hatte er Surrogate erschaffen, den Freunden zeigte er sie vor und wartete ihnen damit auf. Man speiste bei ihm vortrefflichen Zucker, der aber nicht aus dem Zuckerrohr genommen war, man trank bei ihm ausgezeichneten Kaffee, allein es war nicht die gewöhnliche Kaffeebohne; Zimt und Nelken vom besten Arom teilte er aus, allein sie waren sein Fabrikat; auch ein Surrogat für die Chinarinde hatte er erfunden, das in den Spitälern, besonders in Hamburg, mit dem besten Erfolge angewendet wurde. Man bot ihm damals reichliches Geld, die Fabrikation dieses Chinasurrogats zu eröffnen, allein er war durchaus nicht dazu zu bringen, lieber schickte er es unentgeltlich aus. Die verschiedensten Sauerwasser und moussierenden Weine, die er schnell ex tempore zu bereiten wußte, standen bei ihm immer für Freunde bereit. Drang man in ihn, er möchte doch sagen, wie er [263] dies oder jenes mache, so fing sein Mund an, sich zu einem schalkhaften Lächeln zu verziehen, und sein einziges blaues Auge schielte und funkelte hell, – aber er schwieg.

In Bereitung von verschiedenen feinen Essigen war er besonders Meister, auch im Einmachen der verschiedensten Früchte in solchen kristallhellen Essigen in Gläsern, so daß sie ihre natürliche Farbe und Gestalt behielten, was jetzt häufig gesehen wird, damals aber noch ein Geheimnis war. Die königliche Tafel bezog sie damals nur von ihm, ob er gleich mit dem Hofe immer im Streite lebte. Mein Vater nahm sich Staudenmayers bei Aufnahme in Ludwigsburg dessen sehr an; schon deswegen war er immer freundlich und lud mich in Freistunden manchmal zu sich ein, wo er mich mit seinen Surrogaten traktierte und mir von seinem Leben in Rußland, von den Präparaten, die er gemacht, von den Chemikern und Ärzten, mit denen er da umgegangen, vieles erzählte. Je näher er mich kennen lernte, je klarer wurde auch ihm, daß ich für das Gewerbe eines Kaufmanns nicht tauge, und daß ich bei meiner Vorliebe für die Natur und ihre Wissenschaften mich zu ihrem Studium auf eine Universität begeben sollte. Das hörte ich gern, aber mit Zittern und Zagen, weil ich keine Aussicht dazu vor mir sah.

Die Frau von Gaisberg und ihre Katzen

Ohnweit des Chemikers Hause wohnte auch ein originelles Wesen; es war eine Frau von Gaisberg, geborene von Üxküll. Sie lebte von ihrem Manne getrennt in Gesellschaft einer Menge Katzen. Sie hatte ein wahres Katzenkloster, dessen Äbtissin sie war. Ihre Kleidung [264] war eine Kutte, wie die eines Kapuziners; um den Leib trug sie ein Band, an welchem ein langes Messer hing, das Haar hatte sie abgeschoren, und auf dem Haupt trug sie nach Männer Weise eine weiße Zipfelkappe. Ihre Gesichtszüge waren mehr die eines Mannes, als einer Frau. Ihr Zimmer war durch einen großen russischen Ofen geheizt, den ihr der Chemiker empfohlen und erbaut hatte.

Vor diesem Ofen bereitete sie sich und ihren Katzen im Zimmer die Speisen und schnitt sie ihnen mit dem langen Küchenmesser vor. Nahmen die Familien der Katzen zu sehr zu, so gebrauchte sie auch besagtes Messer, um den überflüssigen jungen Katzen die Köpfe abzuschneiden. In ihrem Zimmer herrschte die größte Unordnung. Küchengeräte, Möbels und Porträts standen und lagen untereinander. Den größten Teil ihres Zimmers nahm eine große Bettlade mit einem Dache, einem sogenannten Himmel, ein, auf welcher die Lieblingskatze mit ihrer Familie ihr Lager hatte und ihre Kindbetten hielt. Die Umgebung dieser Frau und ihre ganze Erscheinung hatte etwas Dämonisches, Hexenartiges. Sie machte in Begleitung einer großen Prozession von Katzen, von denen mehrere aufrecht auf den Hinterfüßen liefen (denn so hatte sie sie gelehrt) öfters einen Spaziergang im Garten hinter ihrem Hause, der an den des Chemikers stieß. Hier beobachtete ich sie oft heimlich. Ich hörte, daß sie mit ihnen in einer eigenen, den Katzentönen ähnlichen Sprache konversierte und sie dann auf einem Rasenplatz mit Baldrian fütterte, worauf sie die wunderbarsten Stellungen und Sprünge machten, an denen sie sich zu ergötzen, und die sie durch ähnliche Sprünge nachzumachen schien.

Bei diesem Anblicke fiel mir immer die Prälatin von Maulbronn mit dem Eulenkopfe neben den im Mondschein in Prozession zum Klosterbrunnen aus dem Keller [265] ziehenden Ratten ein. Ich dachte mir beide, jene mit den Katzen und diese mit den Ratten zusammen, als echte Bilder aus einem Hexenmärchen. Als diese Frau später zu Stuttgart starb und ihr Sarg auf den Kirchhof gebracht wurde, sprangen, als man das Sargtuch abdeckte, zwei ihrer Lieblingskatzen, die sich unbemerkt unter demselben bei ihr festgehalten hatten, aus demselben hervor und verschwanden unter den Grabmonumenten.

Nächst dem Garten dieser Frau hatte der Chemikus ein kleines Häuschen, in welchem er seine Essige aufgestellt hatte; er behauptete aber, er müsse dieses Häuschen versetzen; denn so oft diese Frau mit den Katzen durch den Garten gehe, bemerke er nachher, daß seine Essige nicht mehr die Reinheit wie vorher hätten, und sie ihm auch sehr oft ganz verderben.

Herr von Üxküll

Besseres traute der Chemikus dem Bruder dieser Frau zu. Dieser war ein Herr von Üxküll, der ihn öfters in Gesellschaft der Malerin Simanowitz besuchte. Noch öfters traf ich diesen auch sehr originellen Menschen bei meinem väterlichen Freund Conz. Klopfte es ganz erstaunlich an die Türe, daß alles zusammenfuhr, so war man der Erscheinung des Herrn von Üxküll gewiß. Er hatte das Gehör verloren und klopfte jedesmal an die Türe so stark und so lang, bis er es selbst hörte. Dieser Mann verwendete den größten Teil seines ansehnlichen Vermögens auf Kunstreisen und Sammlung von Kunstschätzen, namentlich auf Gemälde und Kupferstiche und auf Unterstützung von Künstlern. Er hatte sich in verschiedenen Jahren immer längere Zeit in Italien und [266] namentlich in Rom aufgehalten und wurde Freund und Mäcen aller sich damals in Rom aufhaltenden Deutschen und besonders der württembergischen Künstler, wie des genialen Kochs, Wächters, Schicks, usw. Sein Urteil war in der Kunstwelt von Geltung; denn er hatte sich durch diesen Umgang mit Künstlern und durch Anschauung der Kunstwerke der verschiedensten Schulen, besonders der italienischen, zu einem Kunstkenner von Geschmack und richtigem Blicke gebildet. Er war Meister in mündlicher Darstellung des Gesehenen.

In der Lebensbeschreibung des alten BaumeistersSchickhardt von Eberhardt von Gemmingen, die Üxküll mit einer Vorrede seines Freundes Conz herausgab, findet sich von ihm ein Entwurf einer Geschichte der Fortschritte der bildenden Künste in Württemberg, von Schickhardts Zeiten 1560 bis 1815, der von seinem Berufe zum Kunsthistoriker zeugt. Seine vielseitigen Korrespondenzen mit Künstlern und Kunstkennern seiner Zeit und noch andere merkwürdige Manuskripte, die bei einem der Erben seines Nachlasses noch in einem Koffer eingeschlossen liegen sollen, wären gewiß einer Sichtung und Veröffentlichung wert.

Er war so taub, daß man mit ihm nur vermittelst eines Hörrohres sprechen konnte. Der Chemikus schrie ihn einmal in meiner Gegenwart in dasselbe, eingedenk seiner abgestandenen Essige: »Es ist mir doch unbegreiflich, wie eine Schwester von einem solchen Liebhaber des Schönen diese abscheulichen Katzen um sich dulden kann.« Ach, sagte er, ein jegliches lebe nach seiner Phantasie und mich freut, wenn ein Mensch nur irgend eine solche hat; Ihre Katzen, Lieber, sind die Essigflaschen! »Ja«, sagte der Chemikus mit einem Blick auf mich, »ehemals! aber jetzt möchte ich sie oft gern alle zusammenschlagen, es ist kein Glück mehr in ihnen!«

[267] Die Malerin Simanowitz und zwei andere Freunde

Auch eine originelle Bewohnerin Ludwigsburgs war die Malerin Simanowitz. Oft traf ich sie in dem Hause des Chemikus, besonders zur Zeit, als sie sein und seiner lieben Käthi (so nannte sich des Chemikus Frau) Bildnisse in Öl malte in ihrer freien, geistreichen Weise. Der Schönheitssinn erlaubte ihr wohl nicht anders, als daß sie den Chemikus im Profil darstellte und zwar auf der Seite, wo er noch ein Auge hatte.

Aber es war in des Chemikus Auge auch das Leben des erloschenen Auges sichtbar getreten, es drückte sich in seinem einzigen Auge so viel Leben aus, daß man bald den Mangel des andern nicht wahrnahm, und so meinte ich, hätte sie ihn wohl auch en face abbilden können. In ihren Bildern lag eine ausnehmende Zartheit, der es doch nicht an Kraft und Wahrheit fehlte; es waren Charakterbilder ohne ängstliche Auffassung der einzelnen Züge. Die Kunst der Malerei war dieser Frau angeboren, nicht angelernt. Durch häufigen Umgang mit Künstlern und vielen ausgezeichneten Männern, die zum Teil noch aus der Karlsakademie vorhanden waren, und durch mehrere Kunstreisen nach Paris gewann sie an Kunst und wissenschaftlicher Bildung immer mehr.

Die reuelszenen der französischen Revolution erlebte sie in Paris, wo mein Bruder Georg, über den sie die schon angeführten Worte schrieb, oftmals ihr Begleiter und Beschützer war. Der Vater Schillers war ihres Vaters vieljähriger Kamerad, und schon in früher Kindheit war sie dadurch Schillers Gespielin und nahm an seinem ersten Unterrichte teil. Auch der Freundschaft des genialen Malers Wächter hatte sie sich zu erfreuen. Neben dieser ihrer Kunst übte sie die Pflichten einer sorgsamen treuen [268] Gattin an einem braven, aber immer kränklichen Manne und war die verständigste und dabei bescheidenste Hausfrau. Ihre Gesichtszüge waren nicht regelmäßig, aber ansprechend durch Geist, Sanftmut und Wohlwollen, die sie ausdrückten. 1

Der Sohn eines Lederfabrikanten in Ludwigsburg, Jonathan Hellmann war der Freund meiner Brüder.

Er war selbst Gerber und übte diese Kunst bei seinem Vater mit Kenntnis und Umsicht aus. Dabei hatte er sich durch Erlernung von Sprachen und Selbststudien der Geschichte, Politik und Dichtkunst einen hellen Verstand, eine nicht gewöhnliche Bildung verschafft und bei den wissenschaftlichsten Männern Geltung erhalten. Er war um ein Gutes älter als ich, nahm sich aber meiner in Liebe an. Ich traf ihn oft bei Staudenmayer. Werners Söhne des Tales, die damals zuerst erschienen waren, erhielt ich durch seine Mitteilung, und so auch das merkwürdige Buch Dia-na-sore von Herrn von Meyern, welchen geistreichen Mann ich später persönlich kennen lernte; was mir um so merkwürdiger war, da für diese seine Schrift mein Bruder Karl besonders schwärmte. Bei Hellmann und Staudenmayer fand ich auch oft den schon erwähnten, mir freundlichen Militärarzt (nachherigen Armeearzt) Dr. Constantin. Beide Männer freuten sich meiner wissenschaftlichen Strebungen und bedauerten meine Lage in jener Tuchfabrik unter so verdorbenen Menschen und geisttötenden Beschäftigungen. 2

Fußnoten

1 Eine Biographie dieser Künstlerin und auch Näheres über ihre Freundin Voßler ist zu finden in dem Buche: Ludovike usw. von der Herausgeberin des Christbaums 1846.

2 Hellmann, später in Neckarsteinach als Fabrikherr angesiedelt, zeichnete sich als Mitglied der hessischen Kammer aus.

Von meinen Geschwistern um jene Zeit

[269] Von meinen Geschwistern um jene Zeit.
Meine Schwester Wilhelmine

Während meines Aufenthaltes in dieser Fabrik verlor ich auch die Nähe meiner lieben Schwester Wilhelmine, die durch eine Verheiratung von Ludwigsburg hinweg wieder in die Gegend von Maulbronn kam. Schon im Kloster Maulbronn besuchte ein benachbarter Geistlicher, Pfarrer Steinbeis zu Oelbronn, öfters mein väterliches Haus. Es war ein Mann voll Geist und Humor. Durch sein Äußeres konnte er für ein gewöhnliches Mädchen nicht erobernd sein; denn schon im mittleren Alter hatte er ein Silberhaar das nur in einem Kranze den kahlen glänzenden Schädel umgab, den er oft in seinem Humore dem HelmeMambrins verglich. Dabei waren seine Gesichtszüge sehr lang, aber sein hellblaues Auge war voll Geist, und was er nur sprach, mußte man gerne hören.

Im Jahre 1762 zu Vaihingen an der Enz von bürgerlichen Eltern geboren, durchlief er auf Zureden der dasigen Geistlichen die gewöhnliche Bahn württembergischer Theologen, trat aber, nachdem er Tübingen verlassen hatte, besonders längere Zeit als Erzieher in die Familie des Baron du Bos du Thil zu Braunfels ein.

Von diesem Herrn du Thil pflegte er öfters zu sagen:

»Er war ein Mann, der, wenn ich je an menschlicher Tugend hätte verzweifeln können, mich davor durch seine Tugend geschützt hätte.« Zwei Söhne waren ihm zur Erziehung übergeben, von denen der eine der noch jetzt lebende, gewesene darmstädtische Staatsminister du Thil ist. Mit ihnen war ihm öfters die Veranlassung zu Reisen in Deutschland, derSchweiz und Savoyen gegeben, und er verweilte auch mit seinen Zöglingen zwei Jahre zu Neuchâtel und vier Jahre zu Stuttgart. Von der Schweiz und von Stuttgart aus führte er einen fortgesetzten [270] Briefwechsel mit der Tante seiner Zöglinge, einer Fräulein vonAsseburg, in deutscher und französischer Sprache. Diese seine Briefe sind voll lebendiger Schilderungen von Naturszenen und Erlebnissen.

Als dieser Mann schon damals den Wunsch äußerte, meine Schwester Wilhelmine zur Gattin erhalten zu können, schien ihr Herz noch von einer andern Neigung erfüllt zu sein; aber die späteren Verhältnisse traten dazwischen. Als er sie nun nach Jahren in Ludwigsburg zur Gattin begehrte, ging sie mit ihm den Bund ehelicher Liebe ein, was sie auch nie zu bereuen hatte. Lauterkeit und ein Herz ohne Möglichkeit einer Falte war der Grund und Boden dieses ihres Gatten, auf dem ein heiterer Humor und ein ungebeugter Lebensmut blühten, die ihn für jedermann liebenswürdig machten. Humanität war der Grundsatz seines Handelns, auch als Lehrer seiner Gemeinden, und die Regel, die er jenen gab, war: »wenn dich neun und neunzig betrügen, so erwarte von dem hundertsten wieder Gutes.« –

Er starb mit einem beredten Zeugnis an den ihn umgebenden Kreis der Seinigen, daß die menschliche Wissenschaft das Höchste und Ewige nicht erreichen könne, wenn ihr nicht das Licht von oben hülfreich dazu erscheine.

Vier Mädchen und zwei Söhne gingen aus dieser Ehe hervor, braver Eltern würdige Kinder, von denen der älteste Sohn sich als Hüttenmann und Mechaniker auszeichnet.

Meine gute Mutter hatte sich am Ende ihres Lebens zu diesem Tochtermanne und zwar an seinen letzten Aufenthalt, Ilsfeld bei Heilbronn, begeben, wo sie mit ihm längst auf einem Kirchhofe ruht. Aber der Tod beider fiel nicht in meine Knabenzeit, sondern in eine viel spätere.

Die Entfernung von meiner Schwester Wilhelmine war [271] mir auch deswegen betrübend, weil ich ihr unter meinen Verwandten allein meine poetischen Versuche mitteilen konnte, da sie mich hierin allein verstand. Sie versuchte sich selbst hie und da in gebundener Rede (selbst noch im spätesten Alter), und da ich so eben von dem Tode ihres Gatten sprach, will ich die Verse hersetzen, die ihr nach seinem Tode ihr religiöses Gefühl und ihr Schmerz über ihn eingab.


Der Abend kam, ich sank ermattet nieder,
Bald schlossen sich die müden Augenlider,
Ich sah im Traum versetzt mich in den Garten,
Sah meiner jungen Pflanzen dort mich warten,
Da fand ich (ach! warum denn nur in Träumen?)
Den Lieben unter seinen jungen Bäumen.
»Sieh, sprach er! sieh! wie herrlich diese Früchte!
Noch nie genoß ich bessere Gerichte!
Schien's, daß ich lang umsonst gepflegt den Garten,
Wie herrlich lohnt nun mein geduldig Warten.«
Und alle Bäume die er selbst gezogen,
Von edlen Früchten waren sie gebogen,
Und niemals noch sah ich von solchen Gaben
Den Lieben so wie diesesmal sich laben.
»Gern führt ich dich nun auch zu meinen Reben,
Die immer jetzt den besten Saft mir geben,
Verwandelt sind auch sie, sind gleich der Quelle,
Die hier fließt, unerschöpflich wunderhelle.
Doch sieh! ich kann hier nicht zu lange weilen,
Ich muß der schönen Pflanze dort zueilen,
Die frühe mir, so war mein Wahn, – erstorben;
Doch sieh! aufs neue hab ich sie erworben.«
[272]
Und als ich aufsah, sah, von Glanz umgeben,
Ein Wesen höh'rer Art ich fernher schweben.
Die Arme hob ich auf, es zu empfangen,
Da ward ich wach, und weh! mein Traum vergangen.
Die Sonne stand schon hell am heitern Himmel,
Ich sah hinaus ins menschliche Gewimmel.
Wie ward mir fremd dies Rennen und dies Treiben.
O! klagt ich leis, könnt ich doch immer bleiben
Geliebter! stets bei dir in solchen Träumen!
Bei jener Pflanze, Herz! bei deinen Bäumen!
Nun kann ich fürder nimmer mit dir gehen;
Warum ist Täuschung, was ich hab' gesehen? –
Der schöne Traum (hat er mich gleich gelogen)
Käm' er nur wieder, wenn der Tag verflogen!
Doch glücklich in Erinnrung jener Bilder,
Den Schmerz bald heftig fühlend und bald milder,
Ging wehmutsvoll auch dieser Tag vorüber;
Dann schlummert' ich in andre Träum' hinüber,
Die führten mich an unbekannte Orte,
Die ich zu schildern finde keine Worte.
Doch all' die Schönheit jener höheren Räume
Sie stillte nicht den Wunsch, daß jene Träume
Sich mir erneuen möchten, daß in Wahrheit
Ich wieder schaute ihrer Bilder Klarheit.
Und als ich sinnend weiter ging und weinte,
Sieh da! mein treuer Schutzgeist sich mir einte.
»Ich komme, sprach er, deinen Traum zu deuten,
Laß allen Kummer, tu die Zweifel meiden.
Was ists, daß deine Träume dich betrübten,
Sie sind ja schon erfüllt für den Geliebten?
Doch darfst du nimmermehr sie irdisch deuten,
Er ist befreit von irdschem Tun und Leiden.
[273]
Der Weinberg seines Herrn, das ist der Garten,
Den er gepflegt mit Lieb' und Treu' zu warten.
Die Früchte, die du sahst, und die er pflückte
Sind Früchte seines Tuns, das dort ihn schmückte.
Der Quell aus dem er trinkt, ist ewge Wahrheit.
Sein irdsches Wissen ist nun Schau und Klarheit.«
Doch jene Pflanze, die er wähnt erstorben? –
»Sagts Mutterherz dir nicht, was er erworben?
Kannst du dies Bild nicht deuten, jenes Wesen,
Der Liebe erste Frucht, krank dort und hier genesen?«
O dank für deine Deutung! stärk' mein Hoffen!
Mein Glauben, Lieben, laß den Himmel offen
Auch mir und führe mich nach Leiden, Weinen,
Hinauf zu jener Seligkeit der Meinen!

Mein Bruder Karl [1]

Mein Bruder Karl

Um diese Zeit (1803) war mein Bruder Karl mit Errichtung einer reitenden Artillerie in Ludwigsburg beschäftigt. Der damalige Oberstleutnant, nachheriger General, Kammerer, der damit beauftragt war, setzte in ihn alles Vertrauen und übergab ihm dieses Geschäft, und es wurde auch bald eine Batterie von vier Geschützen geschaffen und eingeübt.

Mit welchem Erfolge er das Eigentümliche dieser wichtigen Waffe aufgefaßt und bearbeitet hat, beweist die von ihm im Jahre 1803 herausgegebene Schrift: Betrachtungen über die reitende Artillerie, deren Organisation, Gebrauch und Taktik. Von dieser sagte ein Sachverständiger: »Sie hat durch die Gründlichkeit und Genialität, womit die wesentlichen Momente behandelt sind, einen [274] solchen Anklang gefunden, daß sie alsbald in der Anwendung der damals noch jungen Waffe schöne Früchte getragen hat, und dadurch in der Tat die Grundlage ihrer allgemeinen Brauchbarkeit in den nachfolgenden bedeutenden Feldzügen geworden ist.« Aber auch im Zivilbauwesen wußte General Kammerer das schöpferische Genie dieses jungen Mannes zu verwenden, als er von dem damaligen Kurfürsten beauftragt wurde, die dem Staat gehörenden Eisenwerke bei Freudenstadt zu heben, und mittelst derselben dem württembergischen Gewerbsmanne inländischen Stahl und dem Landmanne einheimische Sensen zu verschaffen. Kammerer hatte auch von diesem Gewerbe wenig Begriffe, brachte aber durch Strenge und festen Willen Ernst und Tätigkeit in seine Umgebung, ein Verdienst, das diesem Manne nicht abzusprechen ist. Unter meines Bruders spezieller Leitung kam im Jahre 1802 und 1803 das projektierte Etablissement in Ausführung; der Kurfürst legte ihm den Namen Friedrichshammer bei; dieses Werk, von tüchtiger Hand fortgeführt, kann in Anlage und Betrieb noch heutiges Tages als ein Muster in jener Fabrikation betrachtet werden. Von dort an sammelte sich mein Bruder Karl im Fache der gewerblichen Technik und besonders vom Eisenhüttenwesen einen Schatz von Kenntnissen, welcher später dem Vaterlande so reiche Früchte bringen sollte.

In diese Zeit fällt wohl auch nachstehende Anekdote.

Die alte Einrichtung des Arsenals in Ludwigsburg entsprach dem Schönheitssinne des Kurfürsten Friedrich nicht, und es sollte unter der Anleitung jenes Oberstleutnants Kammerer demselben eine geschmackvollere Ausstattung gegeben werden. Auch hiezu nahm Kammerer die Hülfe meines Bruders in Anspruch. Die Räume des Saales im obern Stocke des Arsenals wurden mit den kleinen Waffen malerisch dekoriert, und Kammerer war [275] besonders darauf versessen, in aller Eile Statuen und Büsten alter Kriegshelden zu dieser Ausschmückung zusammenzutreiben, unter welche der gelehrte Conz Inschriften aus lateinischen Klassikern liefern mußte. Noch eine Büste fehlte, ich glaube die Cäsars. Springen Sie zum Bildhauer Isopi, rief Kammerer meinem Bruder zu, es muß so ein Kerl noch her. Isopi versicherte meinen Bruder, er besitze keine Büste eines Kriegshelden, da sehe er die einzige Büste die er habe, das sei aber die von Jomelli, dem alten Kapellmeister des HerzogsKarl. Diese Botschaft versetzte aber den Oberstleutnant in keine Verlegenheit. Das ist gleichgültig, sprach er, so ein Kerl muß eben her; und so wurde die Büste des Kapellmeisters Jomelli in das Arsenal als die Cäsars versetzt.

So auf ganz andern Seiten beschäftigt, kam mein Bruder während meines Aufenthalts in der Fabrik (der fast zwei Jahre lang dauerte) nur wenig mit mir in Umgang. Kam ich zu ihm, so wollte ich auch keine Klage über meine Lage führen und ihm meine Wünsche eröffnen, da ich wohl wußte, daß er dann den ihm dazumal spärlich zugemessenen Sold, um die Mutter zu erleichtern, zum Teil auf meine Studien verwenden würde. Meine poetischen Versuche verbarg ich vor ihm, da er keine anderen Gedichte als von Schiller und Seume, so verschieden diese auch von einander sind, gelten ließ.

Mein Bruder Georg in Schweden

Mit Betrübnis sah mein Bruder Georg um jene Zeit all seine Hoffnungen für Freiheit der Völker schwinden. Bonapartes Plane zu einer Alleinherrschaft nicht bloß in Frankreich, sondern zu einer Weltherrschaft, lagen ihm [276] immer klarer vor Augen. Er hatte in Frankreich mit aufrichtigem Herzen der Sache der Freiheit gedient; der der Tyrannei zu dienen, wenn auch mit persönlichem Vorteil, der ihm auch reichlich angeboten wurde, dazu hatte er kein Gemüt. Wie die Franzosen ihre Freiheit aufgaben, die Republik sich in die absolute Herrschaft verwandelte, gab er mit betrübtem Herzen das sich selbst aufgebende Volk auf. Noch ehe er aber Paris und die französischen Dienste verließ, eröffnete er dem ihm wohlbekannten damaligen Minister Talleyrand, der im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten seinen Freund Reinhard, welcher nur kurze Zeit verwalten durfte, verdrängt hatte, seine antibonapartischen Gesinnungen frei, wobei er es nicht an Vorwürfen, die allen Helfershelfern zur Unterdrückung der Freiheit galten, fehlen ließ, so daß er genötigt war, Paris schleunigst zu verlassen.

Er hatte seinen Wanderstab nach der freien Stadt Hamburg gesetzt, die er aus früherem Aufenthalt lieb gewonnen, und wo sich nun sein Freund Reinhard zum zweitenmale als der Gesandte Frankreichs bei dem niedersächsischen Kreise befand.

Dort angekommen gründete er bald ein politisches Journal mit dem Titel »der Nordstern«. Dieses Journal war hauptsächlich gegen die despotischen Bestrebungen Bonapartes und seines Anhanges gerichtet, dem der Verfasser zu lang, zu tief, in die Karten geschaut hatte, um nicht der verwundbaren Punkte genug treffen zu können. Bonapartes Arm erstreckte sich aber auch schon damals über die nachher durch die französische Tyrannei so unglücklich gewordenen Hansestädte; der französische Gesandte, obgleich sein innigster Freund, mußte die Unterdrückung des Nordsternes vom Senate fordern, und selbst die persönliche Sicherheit des Verfassers in Hamburg wurde gefährdet. So verließ er nun Hamburg [277] und die Politik und begab sich, Ruhe dem verwundeten Gemüte zu verschaffen, nach Kopenhagen, und von da über den Sund schiffend, in die großartige Natur Schwedens. Seine Ansichten über Schweden legte er in einer Schrift nieder, die im Jahre 1803 in der Cottaischen Buchhandlung erschien und den Titel führte: »Reise über den Sund«. Dieses Buch enthält manches Merkwürdige über Schwedens damalige Staatsökonomie und seine politischen Zustände in der Vergangenheit und Gegenwart. Schwedens schöne Natur, sein üppiger Ackerbau, seine starken und freien Männer gewannen sein Herz, aber sein verwundetes Gemüt, der Gram über seine fehlgeschlagenen Hoffnungen, sein zunichte gemachter Glaube an ein freies Volk, blicken durch all das, was ihn dort erfreute, schmerzlich hindurch. Das nachstehende Schreiben von ihm aus Lund gibt von all diesem Zeugnis.

Meines Bruders Georg Schreiben aus Lund vom 6. August 1802

»Manchmal unter einer Eiche ins Grüne hingestreckt, überblicke ich die letztverflossenen dreizehn Jahre, und die Sonne muß so schön leuchten, wie seit einigen Tagen, und die Nacht durch den in Norden so belebten Schimmer der Gestirne beinahe zum hellen Tag werden, damit ein Rückblick auf die Vergangenheit die Seele nicht mit tötendem Gram fülle und der Gedanke an die Zukunft nicht jeden Trost raube. – Voriges Jahr, beinahe um die nämliche Stunde, warnte ich die Schweizer noch gegen neue Schmach und gegen neuen Jammer. (In einem gedruckten Aufsatze über die Einrichtung des Zentralwahlausschusses von August Wartenburg, Zürich [278] 1801). Damals erhielt jeder Blick auf die majestätischen Alpen meinen sinkenden Mut und meinen erschütterten Glauben an die Möglichkeit eines freien Volkes, jetzt suche ich Trost im Anschauen der wogenden See und Ruhe im Genuß der ländlichen Szenen auf schwedischem Boden, an den ich niemals dachte, wenn ich so manchmal bei mir selbst die Gegenden aufzählte, in die mich der Sturm des Schicksals einst noch verschlagen könnte! – – – – – – An den Ufern des Finnen Sees in den Waldgegenden Schwedens verweilte ich wieder einige Tage in stiller Einsamkeit, ganz den Betrachtungen hingegeben, wozu so viele neue Gegenstände Stoff und Gelegenheit herbei führten. Hier, so wie in andern abgelegenen Gegenden der Provinz, fand ich Ursache, das Kunstgefühl und den natürlichen Geschmack zu bewundern, den der schwedische Handwerksmann, auch fern von den Städten, seinem gesunden Auge und seinem richtigen Verstande dankt. Wir waren kaum zu Malmoe angelangt, als die schönen Herbsttage mich gleich wieder zu neuen Ausflügen verleiteten, wovon der erste nach Kullbergen war. Schon von Higganß aus sah ich diese Felsen im Schimmer der Abendsonne und nahm mir damals fest vor, Schonen nicht zu verlassen, ohne diese Stelle besucht zu haben. Ich reiste über Landskrona, dem am meisten befestigten Platz auf der Küste Schonens. Der Anblick des schwedischen Militärs gewährt daselbst um so größeres Vergnügen, da man jenen jovialen Zug, jene freiere Haltung wieder findet, die den wahren Soldaten von der Maschine unterscheidet.

Bei einer Nation, die so häufige, so lange und so unglückliche Kriege geführt, mußte allerdings ein martialisches Aussehen gleichsam in die Volksphysiognomie sich einschmelzen, auch lebt in der Seele des schwedischen Mannes der Glaube, daß der Feind ihm notwendigerweise an Zahl überlegen sein, er aber [279] denselben eben so notwendigerweise überwinden müsse.

Die vielen vortrefflichen Unteroffiziere bei der schwedischen Armee, die Einrichtung der Nationaltruppen, die natürliche Offenheit und Empfänglichkeit des Schweden, sein leichtes Blut und sein leichterer Sinn, scheinen bei der Nation jenes Ehrgefühl zu erzeugen und zu unterhalten, wodurch Wunder der Tapferkeit und Hingebung zur alltäglichen Geschichte werden.

Die einzelnen Kriegstaten der Schweden während der letzten russischen Kriege verdienen eine Xenophontische Feder und beweisen, daß diese Nation nur ihre inneren Kräfte zu Rat halten darf, um jeder Gefahr von außen trotzen zu können.

Die Menge von großen Seen, der Mangel schiffbarer Flüsse, die Ungleichheit des Terrains bilden in Schweden einen Grad von militärischer Befestigung, der beinahe anzudeuten scheint, die Natur selbst sei mit der Unabhängigkeit dieser Nation in einen ewigen Bund getreten.

Wenn auch der schwedische Soldat blindlings dem Rufe der Kriegstrompete folgt, so verleugnet er darum keineswegs seine wahre Gesinnung und Wünsche. Nach einem neuen königlichen Befehl zieht die schwedische Wachparade jetzt wieder morgens um 9 Uhr auf. Die bisherige Mittagsstunde ist nur für Sonn- und Festtage beibehalten. So war es zur Zeit Karl des XII., für den der gegenwärtige König (Gustavson) eine besondere Ehrfurcht äußert.

So gerecht auch die Klagen gegen jenen Monarchen (Karl den XII.) und über den Schaden sein mögen, den er seiner Nation zugefügt hat, so bleibt das Außerordentliche in dem Charakter und in den Schicksalen des sonderbaren Mannes nicht minder merkwürdig. Sein Andenken ist dem Volke keineswegs verhaßt, und vor [280] wenigen Jahren lebten noch mehrere Leute in Schonen, die ihm auf seinen Kriegszügen gefolgt waren und nicht, ohne Tränen zu vergießen, seinen Namen nannten.

Er wurde im Augenblick eines kühnen Unternehmens ermordet, und zwar in einem Alter, wo er, nach früh erlebten Schicksalen, noch Kraft und Muße genug besaß, um große begangene Fehler wieder gut zu machen. An seiner Leiche würde die richtende Gerechtigkeit selbst ihr Urteil in einen Klageton verwandeln. Sein Nachfolger, Friedrich von Hessen, der sein Freund nicht war, und mit der Aristokratie sich in die blutbefleckte Krone, wie in eine Beute, teilte, wurde noch auf seinem eigenen Sterbebette der BewundererKarls. Eben als er mit dem Tode und der letzte Funke von Bewußtsein mit der letzten Erinnerung der Vergangenheit rang, tönten furchtbar aus seiner röchelnden Brust die Worte: Karl! – Karl! – Du warst doch ein großer Mann! – Die Umstehenden vernahmen es, ihre Zahl war gering.

In einer der Seitenstraßen des Marktplatzes von Landskrona lebt Lamberg, General des Geniewesens, in einer kleinen bescheidenen Wohnung. An sie stößt ein Garten, den der brave Greis mit eigener Hand bebaut. Der siebenjährige Krieg war seine Schule. Er lebte während desselben in dem österreichischen Lager. Seine Ansicht des letzten französischen Kriegs, sein Urteil über den Gang und die Resultate desselben, zeugen von der Jugendkraft, die sein Verstand bei einem hohen Alter besitzt. Sein Blick dringt in die Gesetze der Natur ein. Sein Sinn und seine Sitten sind gleich spartanisch. Er ist der einzige Nichtadelige, welcher General ist; er hat Diplome mit Bescheidenheit abgelehnt. Sein Leben ist sein Adel.

Eine halbe Meile von Higganese liegen die sogenannten Kullen, die ein Vorgebirge der schonischen Küste ausmachen. Sie begrenzen eine weite Ebene, rings um sie ist [281] Meer von der einen, plattes Land von der andern Seite. Je höher man hinaufsteigt, desto grauser wird das Chaos. Hier liegen ganze ungeheure Steinblöcke, die einst auf stolzer Höhe thronten; dort scheinen die furchtbaren Felsen sich einander selbst in ihrem Sturz zu tausend und tausend Scherben zermalmt zu haben; endlich legt auf der westlichen Spitze die Natur plötzlich wieder ein liebliches Gewand an und verkündet ihren Segen in der Höhe schreckbarer Trümmer.

Man gelangt unverhofft in ein kleines Gehölz von Linden, Buchen, Birken und Eichen, das einige Felder einschließt, auf denen Gerste, Roggen, Kartoffeln und Gartenfrüchte gepflanzt werden. Sie berühren einen weiten ungleichen Wiesengrund, der zu den äußersten westlichen Hügeln oder vielmehr Felsen führt, von deren Gipfel herab die Zerstörung selbst in die Wogen des erzürnten Meeres sich zu stürzen scheint.

Wir kletterten die Felsenabhänge hinab und besichtigten einen Gang, der ehemals gegraben wurde, weil man sich Hoffnung machte, hier Silber zu finden.

Die Kullen sind an der Stelle, wo sie stehen, eine merkwürdige und frappante Erscheinung. Ringsumher plattes Land von neuerer Formation, teils Flözschichten, teils wohl auch aufgeschwemmtes Land, und aus ihm treten wie ein uraltes Denkmal die Granitfelsen, welche dieses Vorgebirge ausmachen, hervor. Die ganze Strecke, so weit wir Zeit hatten sie zu untersuchen, besonders die äußersten am meisten hervorspringenden Felsen, bestehen im Ganzen aus einem und demselben Granit, der nur in Rücksicht auf Grobheit oder Feinheit des Kornes einige Verschiedenheiten zeigt. Für den Botaniker blühen auf den Kullen einige Pflanzen, die mir selten schienen, selbst einige Alpenpflanzen. Immer aber wird das Interesse überwiegend bleiben, wodurch die Kullenfelsen sich dem Sohne der Natur empfehlen.

[282] Das ganze Felsenparadies gehört jetzt einem Quartiermeister von den eingeteilten Truppen, NamensBriek, der es mit seiner Frau erheiratete. Man hat ihm 10000 Riksdaler dafür geboten, allein er scheint keine große Lust zu haben, es für diesen Preis abzutreten. In der Tat könnten sich auch leicht Liebhaber finden, denen die doppelte Summe noch wohlfeil in Hinsicht der herrlichen Schöpfung scheinen möchte, die hier die Kunst hervorrufen wird, wenn dieser Erdpunkt einst in den Besitz eines Mannes von Vermögen und von Geschmack geraten sollte.

Im Verlauf des vorigen Sommers war der König hier mit der Königin; er hatte seine Hofküche ausHelsingborg mitgebracht und fuhr auf der Felsenhöhe mit seinem Hofstaate in der Kutsche. Es war bei schönem hellem Wetter; wir trafen einen bessern, der ganzen Szene angemessenen Augenblick.

Regengüsse schienen mit einer Sündflut zu drohen, der Wirbelwind jagte die Wogen der See zu Staub auf, und schäumend stürzte das tobende Meer über die untersten Felsen hin. Schwarzes Gewölk verfinsterte den Himmel, am westlichen Horizont allein waren noch lichte Streifen. In sie trat die untergehende Sonne, deren letzte Strahlen das furchtbare Schauspiel herrlich beleuchteten und einen Regenbogen bildeten, dessen eine Säule auf dem Orisund ruhte, und dessen andere aus der Nordsee empor stieg. Mitten inne lag die Kulla mit ihren romantischen Schönheiten. Von dem Feuerturme aus sahen wir diese majestätische Naturerscheinung. Immer wilder tobte der Sturm. Das hohe Gestirn verschwand, vollendet war die Nacht und unsere Herzen durchbebte ein Gefühl – der Zukunft. Briefe und Zeitungen hatten sich in meiner Abwesenheit angehäuft, ich verschlang jene und quälte mich mit diesen, die noch immer voll von Begebenheiten und einzelnen Zügen sind, welche auf[283] jene drohende Zukunft hindeuten, wo ein Machtspruch über alle walten und das gleiche Schicksal keinen Trost übrig lassen wird, als etwa die für jede Memme erfreuliche Gemeinschaft der gleichen Schande. Oder darf man etwas besseres zu einer Zeit erwarten, wo jeder Morgen einen neuen Gewaltstreich, jeder Abend einen neuen Meineid aufweist? – Man sollte beinahe aufhören, sich über die Gleichgültigkeit zu wundern, in die seit dem Frieden die vorher in wirkliche Wut ausartende Begierde nach Neuigkeit sich verwandelt hat. Freilich, nachdem man so lange dem wilden Chaos der Begebenheiten nachgerennt ist, sich an Bataillenstücken, von Meistern und Stümpern mit gleich blutigem Pinsel gemält, zur Übersättigung ergötzt hat, ist es allerdings der gemächlichen Vernunft gemäß, daß man sich die Augen verbinde, um ein desto ungestörteres Pflanzenleben zu führen. – – – – So unvollkommen die äußere Physiognomie Schwedens ist, so unregelmäßig sie von den äußern Punkten aus erschien, auf denen ich verweilte, so bietet sie dennoch tausend einzelne Züge dar, die mit unwiderstehlicher Kraft an sich ziehen, Huldigung gebieten, oder Zuneigung in die Seele zaubern. Wenn jemals die Unruhen Europas sich erneuern, wenn in einigen südlichen Ländern der neue Koloß zu lästig werden sollte für den Mann von unabhängigem Nationalsinn, so rate ich denen, die das Joch des Eroberers nicht tragen, Europa nicht verlassen, und dennoch nicht auf selbständigkeitslosem Boden leben wollen, des schwedischen Volks und des schwedischen Bodens sich zu erinnern. Mit einem mäßigen Vermögen, das sie retten können, werden sie, im Fall sie das Landleben nicht scheuen, zwar hier keine Goldgruben, allein die Möglichkeit eines angenehmen tätigen Daseins, unter einem Himmelsstriche finden, der ungleich besser als sein Ruf ist, unter einem Volke reich an Kraft, an physischen und moralischen Anlagen, und [284] auf einem Boden, der frei von solchen ist, die ihr Vaterland in einem zerrissenen kraftlosen Zustande erhalten, der aus den Gemütern entweder die Zufriedenheit bannt, oder in ihnen den letzten Funken von Nationalgefühl zernichtet.

Ich wollte der Bekämpfung der geistigen Gebrechen der Menschheit mein Leben weihn, es gelang mir nicht. Nun kehre ich zur Bestimmung meiner Jugend zurück, zur Bekämpfung körperlicher Gebrechen der Menschen. Ich begebe mich nach Kopenhagen und weihe mich dort wieder dem Studium der Arzneikunde.«

So weit mein Bruder Georg in diesem Briefe. Man muß bedenken, daß dieses im Jahre 1802 geschrieben wurde, wo Bonaparte erst anfing sich als solchen zu zeigen, für den ihn der Schreiber dieses Briefes schon in Italien erkannt hatte. Die Geschichte der nachfolgenden Jahre rechtfertigt diese Gefühle und Aussprüche ganz und gar.

Nachdem mein Bruder zu Kopenhagen nun über 11/2 Jahr lang sich wieder mit vielem Eifer der praktischen Medizin, Wundarzneikunst und Geburtshülfe gewidmet hatte, begab er sich im August des Jahrs 1803 abermals nach Hamburg und ließ sich dort als praktischer Arzt nieder.

Seine Verheiratung mit einer Hamburgerin, Friedrike Dunker, die an Geist, Bildung und Liebenswürdigkeit unter die ausgezeichnetsten Frauen ihrer Zeit gehört, fiel in das Jahr 1804.

Mein Gang auf die Universität

Meine schon längst gehegte Sehnsucht, mich ganz dem Studium der Natur ergeben zu können, wurde nun auf den Inhalt der Briefe meines Bruders Georg aus Schweden [285] den und aus Hamburg immer mehr angeflammt, obgleich er in seinen Briefen nie etwas davon erwähnte, daß ich meine jetzige Lage verlassen solle; aber ich sah, wie er nach so großen Stürmen des Lebens den Anker noch einmal nach der Naturwissenschaft als seiner letzten Hoffnung auswarf, und in solcher hoffte auch ich immer mehr ein neues frisches Leben zu gewinnen, da mir das Leben in meinem jetzigen Gefängnisse schon halb welk geworden.

Der immerwährende Gedanke an meine gepreßte Lage, und wie ich sie ändern sollte, verfolgte mich stündlich und ließ mich auch durch manche Nächte schlaflos liegen, da machte ich in einer Nacht den Reim:


»Wollen dich Gedanken kränken,
Zwinge dich an nichts zu denken.«

Diesen Reim sagte ich dann in jener Nacht und in andern Nächten, die schlaflos zu werden drohten, mehr als hundertmal schnell hintereinander her, bis ich wirklich auch an nichts mehr dachte und dann einschlief.

Dieses Mittel gegen schlaflose Nächte wegen kränkender Gedanken gebrauchte ich von da an bis in mein spätestes Alter sehr oft und fand es immer probat.

Noch war ich nicht entschlossen, ob ich das Studium der Medizin, oder ein anderes den Naturwissenschaften auch nahe liegendes Fach ergreifen sollte. Wie herzlich wünschte ich, es möchte noch eine Karlsakademie bestehen, die Unbemittelten eine so freigebige Aufnahme gewährt, und in der meine älteren Brüder ihren Unterricht zur Erleichterung der Eltern erhalten hatten. Sie existierte nicht mehr, und einer Unterstützung durch ein Stipendium hatte ich mich, wie so viele, nicht zu erfreuen. Olim musis, nunc mulis, seufzte ich oft vor mich hin.

In einem Schreiben stellte ich meinem Oheime, dem Kriegsvogte meiner Mutter, dem Landschaftskonsulenten [286] Kerner, meine jetzigen Verhältnisse und meine Wünsche für ein anderes Leben vor, aber dem strengen eifrigen Geschäftsmanne erschien ich durch dieses Schreiben nur als ein Phantast, auch stellte er mir den Geldpunkt vor und wies mich zur Ruhe.

Ich schrieb nun an meinen väterlichen Freund Conz in Tübingen, der mir schon früher zum Studium irgend einer Wissenschaft zugesprochen und mich vor der Gefahr, Konditor werden zu müssen, gerettet hatte, und setzte ihm mein trübes Leben und meinen Widerwillen gegen meinen jetzigen Stand auseinander. Und nicht umsonst; er drang in mich, zum Studium der Naturwissenschaften nach Tübingen mich zu begeben, zugleich belehrte er meine Mutter und meinen Bruder Karl, daß die Kosten eines Studiums in Tübingen, wisse ein junger Mensch zu sparen, nicht so groß seien, auch wolle er für Kost und Logis um eine billige Entschädigung unter seinem eigenen Dache sorgen. Daß meine Vorkenntnisse zur Beziehung der Universität genügen, wisse er.

Sowohl Direktor als Kommis der Tuchfabrik sahen mich gern aus ihrem Geschäft gehen, für das ich nun einmal nicht taugte. Je eifriger ich auch nach dem Lesen wissenschaftlicher Schriften und Poesien strebte und mich in solche vertiefte, je schwerer fiel mir das Verfertigen von Tuchsäcken und Musterkarten und das Ausklopfen von Indigofässern; auch erschien ich meiner Umgebung nach und nach als eine mysteriöse Person, hinter der sie viel mehr Gelehrsamkeit vermuteten, als wirklich der Fall war; sie bekamen eine Art Respekt vor mir und verrichteten öfters jene Geschäfte lieber selbst, als daß sie mich dazu kommandierten, wenn ich solche nicht freiwillig tat.

Am schwersten fiel meinem Naturfreunde Kübler mein Scheiden aus den Mauern dieser Anstalten, deren Bewohner, Fabrikarbeiter, Waisenkinder, Irren und Züchtlinge, [287] wir so oft im kleinen durch unsere Camera obscura uns aufs Papier zauberten und in bunter Bewegung an uns vorübergehen ließen.

Zur Erinnerung an jene Stunden schenkte er mir noch das Objektivglas der Camera obscura, die wir geschaffen hatten, und das ihm gehörte. Vermittelst dessen errichtete ich überall, wo mich später das Leben hinführte, eine gleiche Camera obscura, wobei mir immer, wie ich schon anführte, das Bestreben im Sinne lag, die Gegenstände durch chemische Mittel zu einer Fixierung aufs Papier zu bringen.

Meine Freunde, Hellmann, Constantin und Staudenmayer, waren über meinen endlichen Austritt aus der Fabrik herzlich erfreut, der überspannte Hausschneider Noä aber war voll Neid, daß mir das gelungen. Er gab mir beim Abschiede zu verstehen, daß er mir wohl bald nach Tübingen zum Studium derRechtschaffenheitslehre (wie er sich ausdrückte) auf die ihn die Schriften von Sintenis geführt, nachfolgen werde, er warte nur auf den Tod seiner kränklichen Frau; aber seine Frau überlebte ihn, und ihn nahm statt der Universität Tübingen das Irrenhaus zu Zwiefalten, wie ich schon berührte, auf.

Bald aber gab mir in Tübingen mein Mantel, in den der Ofen, während meines Studierens, ein Loch brannte, Veranlassung noch einmal mit ihm in Berührung zu kommen; ich schrieb ihm damals mit dem verbrannten Mantel nach Ludwigsburg:


»Prosit s'neu Jahr!
In welche Gefahr
Ich gekommen schier,
Vernehmen Sie hier:
Ganz ruhig ich saß
Am Ofen und las
In einem Buch:
Wie Gottes Fluch
[288]
Und alle Übel
Ohne Bibel
Durch Laxieren und Speien
Zu heilen seien,
Als plötzlich – o!
Ganz lichterloh
Aus dem Ofenloch
Der Teufel kroch,
Mir mit feurigen Klauen
Den Mantel zu rauhen.
Ich nicht dumm,
Dreh mich um,
Schüttel und rüttel
Den brennenden Kittel,
Aber ein Loch
Bleibt doch
Wie Sie sehen,
Wenn sie ihn drehen.
Nun bitt ich sehr,
Mein lieber Herr!
Verlassen Sie nicht
Den armen Wicht
Und setzen Sie doch
Einen Plätz fürs Loch,
Aber bald,
Denn es ist kalt.
Vielleicht hat Sprösser
Oder besser
Die Fabrik
Noch ein Stück
Der Art feil
Ihr Kerner (in Eil!)

Diese Knittelverse leben noch jetzt im Munde mancher Ludwigsburger.

Es war der Herbst des Jahres 1804, wo ich mich von [289] [292]Ludwigsburg und seinen Tuchsäcken und Tuchballen verabschiedete, und unter Tränen meiner guten Mutter, die mich ungern aus ihrer Nähe verlor, der Universitätsstadt Tübingen zuwanderte.

Mit Büchern und Zeug war mein Ränzlein schwer bepackt. Um jetzt schon das Sparen anzufangen und einzulernen, hatte ich unterwegs nirgends eingekehrt und mich nur an ein paar Brunnen mit einem frischen Trunke zum Weitergehen gelabt. So kam ich im Mondschein, allerdings endlich sehr ermüdet vor Tübingen an, in der Gegend, wo an der Chaussee vor dem sogenannten Gutleuthause (einem Armenspital) eine Bank stand. Auf diese ließ ich mich ermattet nieder und schlief unter dem Gesäusel der nahen Pappeln ein.

In diesem Schlummer hatte ich zum erstenmal den Traum, der mich nachher während meines Studiums auf der Universität noch sehr oft verfolgte.

Es träumte mir, ich sitze zwischen einem Berge von Kompendien und Manuskripten in einem einsamen Stübchen, dessen einziges Fensterlein gegen eine Waldwiese sah.

Ermüdet von vielem Lesen heftete ich endlich meine Augen von den Büchern nach dem Grünen der Waldwiese, und da sah ich, daß aus dem Walde über die Wiese her ein Hirsch mit Storchfüßen schritt, der kam wie durch die Luft meinem Fensterlein immer näher und endlich stand er zu meinem Schrecken vor mir im Stübchen und befahl mir in den unverschämtesten, höhnendsten Ausdrücken: weil ich ein so emsiger Studiosus sei, ihn, der bisher vergessen worden, nach Linné in eine Klasse zu stellen.

Den beängstigenden Presser an der Seite, durchblätterte ich all meine Kompendien und Manuskripte; aber ich konnte von diesem Ungetüme nichts geschrieben finden, ihm keinen Namen anweisen, und ich erwachte im [292] Schweiße meines Angesichtes. Dieser damalige Traum, ein wahrhaft magnetischer, voraussehender, welcher keine Dichtung, sondern völlige Wahrheit ist (den ich aber in einer Dichtung »die Heimatlosen« benutzte), wiederholte sich mir sehr oft in nächtlichen Träumen während meines Studiums in Tübingen; der Hirsch gab mir ganz das Gefühl eines Examinators, wobei er das Gesicht bald eines Professors, bald eines fleißigen Studiosi annahm. Es war mir dieser Traum immer sehr widrig, aber bezeichnend für das ängstliche Studium der Meinungen und Systeme, in das ich nun eingeführt wurde, und das mir so oft ganz außer dem Bereiche der Natur zu liegen schien.

Als ich aus jenem Traume erwachte, wogten die Pappeln am Wege im heftigen Sturme hin und her und Wolken flogen am Monde vorüber. Als ich mich erhob, wehte der Luftzug mir ein beschriebenes Papier entgegen; ich haschte es mit der Hand, es war ein ärztliches Rezept, das der Wind aus einem offenstehenden Fenster des Armenspitals getrieben hatte. (Auch dieses geschah mir damals in Wahrheit.) Die Rezeptur hatte die Unterschrift des damaligen Oberamtsarztes Dr. Uhland in Tübingen, eines braven Praktikers und Menschen (Oheim des Dichters). Wohl hatte ich mich beim Verlassen der Fabrik fürs Studium der Naturwissenschaften entschlossen, aber noch nicht für das besondere der Medizin. »Nun ja, sagte ich vor mich hin, dieses Blatt ist dir zum Zeichen deines künftigen Berufes gesandt; du sollst ein Arzt werden!« In diesen Gedanken und mit diesem Vorsatze zog ich durch das Lustnauer Tor in die mir ganz unbekannte Stadt der Musen ein.


Ende des Bilderbuchs aus meiner Knabenzeit.

Eine Zugabe

Ferneres Leben meines Bruders Georg bis zu seinem Tode

Was sich mit meinem Bruder Georg nach dem Jahre 1804 ereignete, gehört nicht mehr in dieses Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, da dieses mit dem Jahre 1804 endigt; es müßte in das meines Jünglings- und Mannesalters gesetzt werden. Da ich aber nicht weiß, ob mir noch möglich wird, auch aus diesen Jahren Bilder niederzuschreiben, in manchem Leser aber durch das schon hier aus dem Leben meines BrudersGeorg Gegebene, der Wunsch erregt worden sein mag, es bis an dessen Ende fortgesetzt zu wissen, so schreibe ich, mich nicht an die Zeit bindend, noch Folgendes aus dem späteren Leben dieses Bruders bis zu dessen Tod hierher.

Das fernere Leben meines jüngeren Bruders Karl, das so schön und segensreich war, so wie sein Sterben erhebend, steht, wenigstens in unserem Vaterlande, noch in zu guter Erinnerung, als daß es jetzt schon dieser Erhaltung bedürfte. Für die mit ihm völlig Unbekannten diene inzwischen die hier unten stehende Note. 1

[294] [296]Ich hielt mich, da ich als Bruder zu parteiisch zu sein scheinen könnte, in dieser Note meistens an die Worte, die ein wackerer Mann und Kampfgenosse meines Bruders kurz nach dessen Tode in den ihm im schwäbischen Merkur (19. Mai 1840) gewidmeten Nekrolog niederschrieb.

Als mein Bruder Georg seine goldenen Träume, die er so lange für das Wohl der Menschheit nährte, sich in nichts [296] auflösen sah, und er sich von dem Lande der Chimären, wie unser Vater Frankreich zur Zeit seiner Revolution nannte, losgerissen hatte, erblickte er nur eine neue Aufforderung für sich darin, alle seine Kräfte der leidenden Menschheit zu weihen, und gab er nie den Willen und die Hoffnung auf, ihr auf wirksame Weise zu helfen und zu nützen. Neun Jahre lang wirkte er als ausübender Arzt zu Hamburg. Die damals noch in ihrer ersten Ausübung begriffene Einimpfung der Kuhpocken wurde durch seinen Eifer in dieser Stadt hauptsächlich gänzlich durchgeführt. Er faßte den Gedanken, in Hamburg ein Entbindungshaus zu gründen, ähnlich dem in Kopenhagen. Da ihm dies durch die traurigen politischen Zustände nicht gelang, gab er sich nicht dem Unmute darüber hin, sondern unterrichtete Hebammen, und damit diese sich in der Praxis übten, bewarb er sich und erhielt die Erlaubnis: alle die Frauen, die in die Armenanstalt eingeschrieben waren, unentgeltlich zu entbinden. Neben dieser seiner ausgezeichneten ärztlichen Tätigkeit entsagte er aber doch noch nicht der politischen, wenn er dadurch das Wohl anderer, besonders der ihm so liebgewordenen Hansestädte befördern konnte. So gab er zu, daß die Städte Bremen und Lübeck ihn zu ihrem Agenten bei den französischen Oberbehörden in Hamburg (im Jahre 1807) erwählten, in dem Zeitpunkt, wo Marschall Brune als französischer Generalgouverneur der Hansestädte, sich zu Hamburg befand. Dieser hatte ihn, wie schon erwähnt, während des Feldzuges von 1799 in Holland (als der Minister Reinhard zur Zeit seines kurzen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten ihm eine Sendung ins Hauptquartier anvertraute) kennen gelernt und liebgewonnen. Er hatte ja damals selbst an seinen militärischen Operationen Teil genommen und eine Wunde davon getragen. Auch in Bernadotte, als dieser, vom Schlusse des Jahres 1807 bis zum Frühling, [297] als Fürst von Ponte-Corvo die in Norddeutschland zurückgebliebene Armee befehligte, traf er wieder in Hamburg einen alten Freund und besuchte ihn nachher in seinem Hauptquartier in Fünen.

Es ist bekannt, daß zu des Prinzen Armee auch ein spanisches Korps unter dem Marquis de la Romana gehörte, der mit dem größten Teile seiner Spanier den Prinzen verließ, um seinem bedrängten Vaterlande zu Hülfe zu kommen, wodurch die Expedition gegen Schweden, Bernadottes nachherigem Vaterlande, glücklich unterblieb.

Romana hatte zu meinem Bruder, da er sah, daß er mit ihm die gleichen politischen Gesinnungen hegte, vieles Vertrauen gefaßt, und hielt gegen ihn noch in Hamburg das patriotische Vorhaben, das er nachher so glücklich ausführte, nicht zurück. Mein Bruder hatte den Fürsten von Ponte-Corvo als General der Republik kennen gelernt und liebte und verehrte jetzt hauptsächlich nur den Menschen in ihm, wie er auch seines Lobes immer voll war, an seiner damaligen Politik konnte er aber, kraft seiner antinapoleonischen Gesinnungen, keinen Teil mehr nehmen, daher ihm auch der Spanier kühn sein ganzes Vertrauen schenken konnte. Voll Haß gegen die Unterdrücker seines Vaterlandes, trat Romana seine Stellung auf der InselFünen benutzend, zu derselben Zeit mit dem Befehlshaber der dort stationierten englischen Seemacht in geheime Unterhaltung, und verlangte englische Transportschiffe um sich mit seinem ganzen Korps einzuschiffen. Diese erschienen, und glücklich schiffte Romana seine ganze Mannschaft mit Zurücklassung weniger Detachements, die wegen der zu weiten Entfernungen, in denen sie gestanden, nicht schnell hatten herbeigezogen werden können, im August zu Nyberg und Swendberg ein. Er langte, wirkungslos von Napoleons Acht verfolgt, nach einer günstigen Fahrt zuCarona [298] an, und leistete bald seinem Vaterland durch Bildung der Guerillas die herrlichsten Dienste.

Viel Trost und Genuß gewährte meinem Bruder der Aufenthalt seines Jugendfreundes Reinhold und seiner Gattin in Hamburg. Reinhold befand sich daselbst als holländischer Gesandter bis zum Jahre 1809. Das alte noch von der Karlsakademie herstammende Freundschaftsverhältnis schloß sich immer fester, und beide Familien lebten bald ganz in- und mit einander.

Auch mit den Familien Reimarus, Sieveking, Schumacher, Westphaler, Campe usw. wurde innige Freundschaft geschlossen. Die Familie Dunker, aus der die Gattin meines Bruders war, besaß ein Landhaus in Horn, dahin wurden öfters Spazierfahrten gemacht und Sommers Villeggiaturen gehalten.

Seine Geschäfte als Agent der Hansestädte Bremen und Lübeck bei den französischen Oberbehörden führten ihn öfters in diese Städte, oft in schnellem Ritte, (da er ein nicht zu ermüdender Reiter war) nach Bremen, wo er mit dem damaligen Syndikus, nachherigem Bürgermeister Schmidt, eine bis zu seinem Tode fortdauernde innige Freundschaft schloß, und mit welchem er auch viele Briefe wechselte.

Im Jahre 1809 ging Reinhold als Gesandter nach Berlin ab. Während seines ungefähr einjährigen Aufenthaltes daselbst schrieben sich die Freunde sehr häufig. Daß jene für die Politik damaliger Zeit sehr interessanten Briefe, wie überhaupt andere Papiere meines Bruders durch einen Brand im Jahre 1822 verloren gingen, ist schon bemerkt. Auch eine Korrespondenz mit Kosciusko, den er in Paris kennen lernte, findet sich nicht mehr vor. Als Reinholds Gesandtschaft in Berlin, infolge der damaligen Vereinigung Hollands mit Frankreich, aufhörte, kam Reinhold im September 1810 wieder nach Hamburg, und da sahen sich die Freunde zum letzten Male. [299] Reinhold verweilte nur noch 14 Tage in Hamburg und ging dann nach Paris ab. Am 8. März 1810, dem Geburtstage Reinholds, wurde meinem Bruder sein erster und einziger Sohn geboren. Im Schmerz über die Trennung von seinem Freunde, den er auf keine Weise zu überwinden wußte, gab ihm dieses Ereignis wieder einige Freude, und er gab seinem Sohn den Namen Reinhold. Dieser Sohn widmete sich der Wasserbaukunst und dient seiner Vaterstadt schon längere Zeit in Cuxhaven mit vieler Auszeichnung. Außer diesem Knaben wurden ihm noch zwei Mädchen, Bonafine undKlara geboren, von denen das jüngere, Klara, das Ebenbild des Vaters wurde.

Immer trüber gestaltete sich für meinen Bruder auch nun der politische Himmel, aber nie hörte er zu hoffen auf. So wie aber die Hoffnung sich wirklich in ihm nicht für sich verdunkelte, denn sein Ich kam eigentlich nie bei ihm in Betracht, sondern für die Menschheit, als Hamburg, und man könnte sagen, ganz Deutschland, Frankreich einverleibt ward, da versiegte auch sein Lebensquell, nicht seine Liebe noch Bereitwilligkeit zu helfen, wie gerade sein Tod beweist.

Nur zuweilen brach sein Gram, brachen seine durch Frankreich so getäuschten Hoffnungen in Erbitterung aus, wovon auch ein Gedicht zeugen kann, das er damals unter der Aufschrift: »Das blaue Fieber« schrieb, und das noch nach seinem Tode, nach Varnhagen von Enses Zeugnis, im Jahre 1815 den drei Monarchen in Paris zur Ergötzung gereichte.

»Ein Mann von Geist, schreibt Varnhagen (in dem 3. Band 3. Teil seiner Denkwürdigkeiten, als er von der Anwesenheit Schmidts von Bremen in Paris im Jahre 1815 spricht), gilt durch sich selber mehr, als durch die Stelle, welche der Zufall ihm anweist, Schmidts Ansichten und Äußerungen blieben nicht gleichgültig, und [300] fanden bisweilen Widerhall in den höchsten Regionen. So wußte er ein Lied auswendig, das der in Hamburg verstorbene Dr. Kerner, sein Freund, gedichtet hatte, als er sich von den Franzosen, denen er leidenschaftlich angehangen, mit Grimm lossagte, weil sie statt der frühern Freiheit nur Knechtschaft und Schmach brächten, sie waren darin als blaues Fieber bezeichnet, wobei Napoleon als der Oberste der Blauen, nicht verkürzt wurde. Das Lied hatte ungemeine Kraft und Heftigkeit, die auch dem Ohre und Gedächtnis leicht einging. Man ergötzte sich an dem blauen Sturme, und der Kaiser Franz, der sich das Gedicht mitteilen ließ, wußte es bald auswendig und fiel nun bei hundert Gelegenheiten in die bald allgekannten Zeilen ein. Der Krieg war noch unentschieden, und mit Napoleon wurde noch unterhandelt, aber daß der Kaiser Franz ohne Bedenken täglich in solchen Versen den Blauen verwünschen konnte, zeigte genugsam, daß keine Vorliebe für seinen Schwiegersohn ihn beseelte, und manche Betrübung und Nutzanwendung folgte aus dieser Entdeckung!«

In äußerer Tätigkeit und Eifer für alles Gute, besonders in seinem ärztlichen Berufe, ließ aber mein Bruder bei allem innern Gram und Trauer und körperlicher sichtbarer Ermattung nicht nach, ja, es mußte einem oft vorkommen, als wollte er mit solchem Treiben und Schaffen in die Außenwelt einen doch immer mehr erwachenden Schmerz des Innern überwältigen. Seine Reizbarkeit, sein Eifer, sein Schaffen steigerte sich immer mehr; sein Leben wurde das eines gejagten Hirsches, und die Kräfte mußten sich verzehren.

Wohl war es schon eine Vorahnung eines höhern Heimgehens, daß ihn auf einmal eine Sehnsucht nach seiner Heimat befiel, es trieb ihn, mit Frau und Kinder dahin zu ziehen, und im Schoße des Vaterlandes zu ruhen. Es war alles zur Abreise bestimmt und die frohe Botschaft schon [301] der liebenden Mutter verkündet, als er in eine Krankheit verfiel aus der er nicht mehr erstand und die er wohl, schon lange in sich fühlte. In seinem Taschenbuche fand man folgende Verse eingeschrieben, wohl Ahnungen eines baldigen Todes vor seinem Erkranken.


»Hin ist hin, verloren ist verloren,
Für das Grab bist du geboren,
Heimatluft wird nimmer dich umwehn,
Wirst nicht mehr den Mutterboden sehn,
Auf den glänzendroten Wangen
Hat der Tod schon angefangen,
Ohne dein Gemüt zu trüben,
Furchtbar seine Siegeskraft zu üben.
Aus der Feuersglut der Augen
Wollen Hoffnung deine Freunde saugen,
Aber aus den hingewelkten Zügen
Straft der bessere Wunsch sich selber Lügen.«

Über seine letzten Tage und seinen Tod, schrieb der damalige dänische Geschäftsträger Rist in Hamburg an Reinhold nach Paris folgendes:

»Hamburg, den 12. April 1812.

Sie werden Mühe gehabt haben zu glauben, daß die Hand des Todes so schnell, dieses vor allen andern regsame Leben bezwungen, diesen Feuerbehälter erstarrend gemacht. Wenn Sie unsern Freund in den letzten Monaten gesehen hätten, wäre es Ihnen leichter begreiflich. Mehr als seine Klagen und Prophezeiungen eines nahen Endes, erschreckten mich oft die abwechselnde gänzliche Mattigkeit und Erschlaffung, die mit dem tiefsten Unmut über alles was ihn umgab, abwechselte. Hoffnungslos auf eine bessere irdische Zukunft, schien er dazustehen nur für andere, denen er mit eigener Zerstörung zu helfen fortfuhr. Am Tage, wo er mit einem schleichenden Fieber, das ihn eigentlich schon lange gepackt hatte, nach seinen letzten rasenden Ritt nach der [302] hohen Luft (?) machte, am 30. März, und sich dann mit heftigem Fieber nachmittags zu Bett legte, soll schon sein Tod für die Ärzte gewiß gewesen sein. Ich ahnte nichts Ähnliches, denn oft erschien er mir an einem Tage sehr krank und am andern Tage sah ich ihn wieder zu Pferd. Wir Freunde hielten ihn für unüberwindlich, aber am 7. nachmittags schlief er sanft ein. Pfaff (Professor in Kiel, sein akademischer Freund und Landsmann) war noch gekommen, und er soll sich dessen noch sehr gefreut haben. Er hatte seine Krankheit für ansteckend gehalten und wahrscheinlich ist es allerdings, daß er im Zuchthause, wo er eine große Anzahl Nervenfieberkranke zu behandeln hatte, den Samen der Krankheit in einem nur zu wohl vorbereiteten Körper aufgenommen hat.

Gestern morgen traten wir die letzte Wallfahrt mit unserm Freunde an, der Schwager Dunker und die andern Verwandten, Wächter und ich, in tiefer Trauer im Herzen und Tränen in den Augen. Etwa zwanzig seiner Freunde folgten ihm zum Petrikirchhofe außer dem Dammtore, Christen und Juden. Für mich war diese Stunde doppelt feierlich, es war gestern der Todestag meines Vaters. Wir wandelten hinter dem Sarge her, an Runges Grab vorbei, an dem Perthes und ich stille standen. Nahe bei einander ruhen die ungleichen Menschen, beide mir teuer und wert wie wenige. Der eine auf die Erde angewiesen, die er durch seine Tätigkeit zu erfüllen strebte, die immer nach außen dringend zu oft keinen andern Mittelpunkt kannte, als den eines beispiellos hülfreichen Herzens. Der andere bald den Blick nach innen, bald nach oben gewandt und deshalb befriedigt in seinen Beziehungen mit dem Irdischen, die, ein leichter Dunstkreis, den stillen festen Kreis zu umgeben schienen. Dichte, große leicht herabfallende Schneeflocken, zogen einen Schleier über unser ernstes Werk. Viele aufrichtige[303] Tränen wurden geweint und ich brachte reichlich das Opfer der meinen der dreifachen Totenfeier.

Zu dieser historischen Skizze will ich noch hinzufügen, zur Ehre der Hamburger, daß unserem Freunde allgemeines Bedauern mit ins Grab folgte; selbst die unheilbarsten Philister sind versöhnt mit ihm durch den Tod und wer seiner Sonderbarkeiten, seiner Wildheit erwähnt, gedenkt auch seiner Milde, Liebe und Treue, seiner unüberwindlichen Tätigkeit, seiner uneigennützigen Wohltätigkeit gegen die Armen.

Unter diesen besonders ist ein allgemeiner Jammer um ihn, wie mir Senatoren und Ärzte sagen. Ich selbst aber bitte Gott seit er tot ist, er möge mich nicht krank werden lassen, ich würde mich ohne seine Sorgfalt sehr verlassen glauben von der Hülfe der Menschen.« – So weit der dänische Freund.

Gleich nach dem Tode meines Bruders erschien nachstehender, von den Senatoren und Bürgern der Stadt Hamburg veranlaßter Artikel im Hamburger Korrespondenten:

Hamburg vom 10. April 1812.

»In der Blüte seiner Jahre, in der schönsten Periode des Lebens, wo der Mann seine Kraft im rühmlichen Wirkungskreise herrlich entfaltet, ward uns vorgestern Herr Doktor Georg Kerner, ausübender Arzt und Geburtshelfer, entrissen. Von jenem warmen Eifer für seine Kunst erfüllt, ohne welche sie nur eine tote Wissenschaft ist, starb er, ein Opfer seines schönen Berufs. Mit Recht war daher sein Name unter den ausgezeichnetsten dieser Stadt genannt. Freund alles Schönen, Beförderer alles Guten, ward er von allen denen geschätzt, die übereinstimmend mit ihm dachten, vereint mit ihm wirkten, und sein Verlust wird um so lebhafter empfunden, je seltener die Menschen sind, die bei so vielseitiger Ausbildung und gleicher Reife des Geistes von einem so glühenden [304] Eifer für das Wohl ihrer Mitmenschen beseelt sind.

Wie viel gerechter ist bei so seltenen Eigenschaften die Trauer derer, die durch Bande der Liebe oder der innigen Freundschaft mit ihm näher verknüpft waren, und in seinem hellen Verstande eben so viele Belehrung und Unterhaltung schöpften, als sie in seiner Anhänglichkeit und seiner uneigennützigen Aufopferung Beweise von der Vortrefflichkeit seines Herzens zählen. Die außerordentliche Geschicklichkeit des Verstorbenen als Geburtshelfer und seine großen Verdienste als Armenarzt, ein Beruf, den er einer glänzenden Praxis vorzog, wurden von seinen Mitbürgern gewürdigt. Neun Jahre lebte er als ausübender Arzt unter uns, ihm ward der Segen von tausend Armen und Unglücklichen, denen er mit einer Menschenliebe als Arzt unserer Armenanstalt, des Zucht- und Entbindungshauses, Gesundheit und jede nötige Hülfe gewährte.

Eine sich selbst vergessende Uneigennützigkeit, eine seltene Genialität und eine nichts verhehlende Offenheit machten ihn unter anderm seinen Freunden doppelt teuer.

In vielen Ländern, in welchen ihn seine merkwürdigen Schicksale führten, hinterläßt er deren, welche seinen frühen Verlust nie vergessen und nur darin eine Beruhigung finden werden, daß er in einem kurzen aber gehaltvollen Leben die Summe eines langen Daseins erschöpft und dessen Zweck erfüllt zu haben scheint.«

Ein Glück ward meinem Bruder, der andern zu lieb so vieles entbehrte – der, wenn auch kurze, Besitz einer Gattin reich an Geist und Gemüt, die ihn nach seiner ganzen Eigentümlichkeit erkannte und nach ihr zu behandeln verstand.

Seine letzten Wünsche, mit seiner Familie in seine Heimat zu kehren, erfüllte sie aus Pietät für ihn. Sie siedelte [305] sich bald nach seinem Tode mit ihren drei Kindern für mehrere Jahre in Stuttgart an, und erfreute sich des Umgangs mit den Verwandten ihres teuren Vorangegangenen, bis endlich Verhältnisse ihrer Familie sie wieder in ihre Heimat nach Hamburg zurückriefen, wo sie noch jetzt, ein Segen ihrer Kinder und Enkel lebt.

Nachstehende Zeilen, in denen ein getreues Bild des Geliebten entworfen ist, flossen aus ihrer Feder.

»Unter mittlerer Größe war Kerner trotz seines zierlichen Wuchses sehr kräftig und regelmäßig gebaut. Auf die Kleinheit seiner Hände und Füße besaß er eine angeerbte Eitelkeit. Die Form seines Gesichts war vielleicht zu lang, aber seine feine, nur wenig gebogene Nase, sein geschlossener, mit einer sehr kurzen Oberlippe versehener Mund, um den dennoch jede Empfindung seiner Seele sich abspiegelte, durfte man schön nennen. Seine braunen Augen drückten in den Stunden der Ruhe nur Güte und auch wohl Schwermut aus, doch begann er aufgeregt zu sprechen, so strahlten sie, von einem kaum zu ertragenden Glanz. Die frühere Büste Bonapartes gleicht Kerner so sehr, daß man wähnen könnte er habe dazu gesessen. Sein dunkelbraunes Haar war sehr fein und seidenweich, nur ungern entschloß er sich dazu es schneiden zu lassen, aus Furcht, dadurch den Schnupfen zu erhalten, der ihm bei sich und bei andern das Widrigste war. Seine Kopfform war die sonderbarste, die man sich vorstellen kann, lauter Hügel und Täler, ein tiefer Einschnitt zog sich quer über den Schädel, diesen hatte er deshalb seinem Freund Speel in Kopenhagen vermacht, der vor ihm starb. Gall wollte er nicht zugestehen seinen Kopf zu befühlen, sei es, daß er zu viel oder zu wenig an sein System glaubte. Ein Feind des Materialismus, wendete er sich eben so sehr von allem ab, von dem er nicht den praktischen Nutzen begriff.

Gut und vortrefflich, wie er war, ging er aus seines[306] Schöpfers Hand hervor, Grundsätze hatte er eigentlich keine, weshalb sein Freund R. von ihm zu behaupten pflegte: hätte Gott ihn nicht den allerbesten Menschen werden lassen, so würde er der allerschlechteste geworden sein. Bei so viel Liebe und Güte des Herzens, wie Kerner sie besaß, gefiel er sich wohl von Greueltaten zu sprechen, denen er unter Bedingungen fähig sein würde, wodurch er sich von Reinhold die Benennung eines Fanfaron de crimes zuzog.

Kein Mensch hatte weniger Bedürfnisse und unbegrenztere Wünsche; ohne einen Heller in der Tasche, war er deshalb nicht arm zu nennen, Millionen hätten ihm nicht das Gefühl von Reichtum gegeben. Ob er sich auf seinem Mantel auf den Fußboden zum Schlafen niederlegte, oder in ein reiches Bett, galt ihm bis einige Monate vor seinem Tode gleich. Er aß wenig und einfach und hatte wohl Widerwillen gegen einige Speisen, fast für keine eine Vorliebe. Gegen den Einfluß der Witterung, gegen jede Strapaze, war er auf eine unbegreifliche Weise abgehärtet, doch klagte er fortwährend über seine Gesundheit, und war auch wirklich heftigen und häufigen Leiden unterworfen. In der Anwendung ärztlicher Mittel war er gegen sich so hart, wie in allen übrigen Dingen. Einst hatte er sich eine spanische Fliege gelegt, die er solange offen erhielt, bis der ganze Rücken eine entzündete Wunde war.

Kerners größte Freude bestand darin Schwierigkeiten zu überwinden, ja selbst mit Gefahren zu spielen, was ihm einst von seiner Frau den Vorwurf zuzog: Nur der Tag habe für ihn Wert, den Gott ihm durch Errettung aus Todesgefahr neu schenke. Er lachte, und widersprach nicht. Zu Pferde fühlte er sich am behaglichsten, behauptete auch, die veredelte Gestalt eines Mannes nach der Auferstehung würde die eines Kentaurs sein. Seine geistige und körperliche Unruhe verfolgte ihn bis in [307] seine Träume, wenn er nicht völlig ermattet, wie in einem Todesschlaf dalag, auch brauchte er wenig Schlaf und war beim Erwachen so völlig munter, daß er sogleich eine Beschäftigung vornahm, sei es am Tage oder mitten in der Nacht. Zum unbeschäftigten Stillsitzen verstand er sich nie; zwang ihn etwas dazu, so zerstörten seine Hände sicherlich was sie ergriffen; nur am Krankenbette und als Geburtshelfer war er von unermüdlicher Geduld und Ruhe, man erkannte denselben Menschen, den man gewohnt war in andern Augenblicken in steter Beweglichkeit zu erblicken, alsdann nicht wieder.

Als eine Merkwürdigkeit bei einem so leidenschaftlichen, heftigen, unruhigen Mann, verdient es wohl angeführt zu werden, daß sein Puls nur vierzigmal in einer Minute schlug.

Kener war sehr reinlich und hielt selbst auf seinen Anzug, in welchem er stets etwas militärisches beibehielt; aber niemand war ungeschickter sich die Vorzüge der Reinlichkeit und Eleganz zu erhalten, wie er. Trotz seiner großen körperlichen Gewandtheit berechnete er doch in seiner Lebhaftigkeit seine Bewegungen so wenig, daß er hier gegen etwas anfuhr, dort sich überschüttete, wovon er die Spuren dann an sich trug. Kerner hatte viel in seinem Leben geliebt, und diese Liebe ist eben so vielfach erwidert worden, aber die Sache der Menschheit blieb doch die vorherrschende Geliebte seines Herzens, und wo sie rief stand er nicht an, jede andere alsbald zu verlassen.

Klara war des Vaters Ebenbild und mochte auch wohl sein Liebling sein. So pflegte er ihr einen Schmeichelnamen zu geben, dessen sich nach längerer Zeit weder die Mutter erinnern konnte, noch die alte Kinderfrau, da erkrankte Klara, die eben so wenig, wie die ältere Schwester, sich der Benennung erinnerte, im 9. Jahre so ernsthaft, daß wenig Hoffnung zu ihrer Genesung blieb; [308] es waren sechs und ein halbes Jahr seit Kerners Tod verflossen, eines Morgens richtete sich das kranke Kind plötzlich in seinem Bette auf und rief der Mutter zu: »Vater war diese Nacht bei mir und ritt auf einem Schimmel und rief mir zu: komm zu mir mein Maus aufs Pferd! –« Ich erblaßte, konnte aber doch nicht umhin zu fragen: Und wolltest du zum Vater gehen? »O ja, antwortete das Mädchen, aber ich konnte nicht hinauf aufs Pferd kommen, auch fürchtete ich dies.« Drei Nächte wiederholte sich der gleiche Traum, dann trat eine Krisis und Besserung ein. Genesen, erinnerte sich Klara weder der Benennung noch des Traumes überhaupt.

Gehört von andern hatte sie »mein Maus« gewiß nie, weil die Norddeutschen »meine« gesagt haben würden. In krankhaften Zuständen beschäftigte sich übrigens Klara oft mit dem Vater! –«

Bei dieser Erzählung erinnert man sich übrigens unwillkürlich des oben von der Gattin meines Bruders Angeführten:

»Zu Pferde fühlte er sich am behaglichsten, behauptete auch, die veredelte Gestalt eines Mannes nach der Auferstehung werde die eines Kentauren sein.«

Mein Bruder Karl schrieb mir nach seinem Tode folgende charakteristische kurze Worte über ihn:

»Unseres Georgs Charakter entwickelte sich so zu sagen aus seiner eigenen Natur, sie war so, wie er war, in der Jugend wie im Alter äußerst empfänglich für das Gute, Edle und Große, feurig, tätig und gutmütig. Diese Eigenschaften in hohem Grad miteinander verbunden machten ihn zum Original, und in Vergleichung mit so vielen andern Alltagsmenschen zu einem seltenen Menschen.«

Sein treuer würdiger Freund Reinhold trug tiefe Trauer über seinen Verlust in sich, bis zu seinem eigenen Tode. Reinhold führten die ferneren Schicksale im Jahr 1816 als [309] Minister der Niederlande nach Rom, auf welcher Reise er auch wieder Stuttgart besuchte und sich vor dem ehemaligen Gebäude der Karlsakademie seiner Jugend und seines Jugendfreundes schmerzlich erinnerte.

Bekanntlich war Reinhold wie sein und meines Bruders gemeinschaftlicher Freund Reinhard, auch Dichter, und nachstehendes Sonett, das er beim Anblick von Stuttgart noch im Jahr 1830 dichtete, bezeugt seine fortdauernde Sehnsucht nach dem Freunde und seine beständige Trauer um ihn.

Fußnoten

1 Er nahm im Jahre 1806 an der Belagerung von Glogau, Breslau, Schweidniz, Neisse und Glaz teil, wo die reitende Batterie die er kommandierte, vielseitig im Feld- und Belagerungsdienst verwendet wurde. Im Jahr 1807 wurde er zum Oberstleutnant in der Artillerie befördert. Er bereicherte hier die Artillerie mit einer neuen Konstruktion der Munitionswagen, die allgemein als große Verbesserung anerkannt, und selbst von Kaiser Napoleon als solche gewürdigt wurde. Während der kurzen Zeit der Waffenruhe 1808 wurde ihm von König Friedrich das Amt eines Chaussee-Ober-Intendanten übertragen, während welcher Zeit er zum Obersten vorrückte. Im April 1809 rief ihn sein eigentlicher Beruf wieder ins Feld. In den Gefechten von Abensberg und Eckmühl machte sich sein militärisches Talent durch schnelles Urteil und Tatkraft geltend und fand bei Napoleon gerechte Anerkennung durch Aufnahme in die französische Ehrenlegion. Bei der glänzenden Waffentat der Württemberger am 16. Mai 1809 gegen ein überlegenes feindliches Armeekorps bei Linz, wurde sehr viel seiner kaltblütigen Umsicht verdankt, und er mit dem Kommenturkreuz des Militärverdienstordens von seinem König, von Napoleon mit dem Offizierskreuz der Ehrenlegion bedacht. Er war in diesem Feldzug Generalquartiermeister-Leutnant. Aus ihm zurückgekommen widmete er sich den Künsten des Friedens, als Direktor der Straßenbauten, der sämtlichen Berg- und Hüttenwerke, der Gewehrfabrik Oberndorf. Seine gelungenen Bestrebungen auch in diesen Fächern belohnte der König Friedrich mit dem Kommenturkreuz des Zivilverdienstordens. Im Jahre 1812 machte er als Chef des württembergischen Generalstabs den russischen Feldzug mit, wo er eine unermüdliche Tätigkeit entwickelte, mit der besten Gemütsstimmung die zahllosen auf dem Rückzuge sich häufenden Drangsale ertrug, und sich alle erdenkliche Mühe gab, den Truppen ihre Lage zu erleichtern. Seine Leistungen vor Smolensk in der mörderischen Schlacht an derMoskwa brachten ihm das Kommenturkreuz erster Klasse des Militärverdienstordens, welchem auch bald darauf das Großkreuz des Zivilverdienstordens und die Erhebung in den Freiherrnstand folgten. In diesem Feldzuge wurde er von einer Kartätschenkugel getroffen, ohne jedoch wesentlich verletzt zu werden. Seine Gesundheit aber fand er von da an geschwächt und er fühlte sich zum Militärdienste nicht mehr tüchtig. Vom König zum Staatsrate und Chef des Berg-und Hüttenwesens ernannt, widmete er sich nun ausschließlich den ausgedehnten Eisenwerken des Staates bis zum Ende seines Lebens mit dem größten Eifer und mit dem schönsten Erfolge. Ein Landgut, das er sich durch eine, vom König Friedrich im Jahre 1810 erhaltene Dotation erwarb, gab ihm Gelegenheit auch hier seinen schöpferischen Geist zu entwickeln, und aus einem ganz heruntergekommenen Gute eine Musterwirtschaft für die ganze Umgegend zu bilden. In dem für die vaterländische Staatsorganisation so wichtigen Jahre 1817 wurde er von König Wilhelm zum Geheimerat und provisorischen Minister des Innern ernannt. Doch behielt er sich dabei den Rücktritt in seinen bisherigen Geschäftskreis bevor, an welchem er mit so vieler Liebe hing und in welchen ihn auch sein Geschick bald wieder führte. Er stimmte während seiner Laufbahn als Geheimerat immer für die freisinnigsten bürgerlichsten Einrichtungen, besonders in den Gemeinden, war ein Mitschöpfer des Instituts der Bürgerdeputierten und ein Beförderer der Preßfreiheit, die unter seinem Ministerium im vollsten Maße ausgeübt wurde. Seine Bestrebungen gingen auch immer dahin, den Boden von Feudallasten freizumachen, und er verfeindete sich mit dem Adel, da er nach Verwerfung des königlichen Verfassungsentwurfes, besonders von Mitgliedern des höhern Adels, in einem ministeriellen Reskripte sagte, sie wollen einen Staat im Staate bilden und nicht dulden, daß ihre Hintersassen zu Staatsbürgern erhoben würden. Er war ein Feind der Formen, und als ihm der König die interimistische Verwaltung des Ministeriums des Innern übergab, wollte er es anfänglich zurückweisen mit der Äußerung: er verstehe die Formen nicht, aber da entgegnete ihm der König: eben deswegen wünsche ich, daß Sie es übernehmen. Er bedauerte damals die Verwerfung des königlichen Verfassungsentwurfs, weil er freiere, bürgerlichere Institutionen gab, als nachher errungen wurden. Er war ein Feind der Vielschreiberei und stimmte im Geheimerat gegen die Organisation der Kreisregierungen, weswegen er damals aus dem Geheimerate treten mußte. Er war ein Bürgerfreund, abhold dem Schreibergeiste. Während seines kurzen Ministeriums kämpfte er »mit grobem Geschütze«, das heißt: mit offenen, redlichen Waffen für König und Vaterland. Im Jahre 1817 nahm er als Kommissionsmitglied an den neuen Militäreinrichtungen großen Teil, und wirkte bis zu seinem Tode als Mitglied des Vereins für Wohltätigkeit, Landwirtschaft, Gewerbe, Kunst, und die Verbesserung der Strafgefangenen. König Wilhelm erteilte ihm im Jahre 1830 den Friedrichsorden. Schöner aber als sein tätiges äußeres Wirken, war sein inneres Leben, seine Biederkeit; seine Religiosität, sein fester Glaube. Von der Gewißheit eines zukünftigen Lebens war er auf seinem Sterbebett ganz durchdrungen, das Irdische ihm dagegen zum Ekel geworden. Er begehrte mit Sehnsucht hinüber. In den letzten Tagen vor seinem Ende strahlte sein Gesicht schon ganz verklärt. Er sagte: Wer von der Notwendigkeit, ja, der Schönheit des Todes so überzeugt ist, wie ich, schon so hinüber sah, und das Diesseits mit Jenseits vergleichen kann, den soll man nicht mehr hier aufhalten, diesem zerrütteten Körper bleibt kein Recht mehr an den Geist, überdies hat Gott kommandiert und da soll der Mensch schweigen! – Er starb am 12. April 1840. Seine in Eisen gegossene Büste ist in dem Saale der Modelle in Wasseralfingen aufgestellt.

Beim Erblicken von Stuttgart am 1. Juni 1830
Noch einmal sah ich sie, sie sinds die Mauren,
Die mich im Knabenalter einst umschlossen,
Wo sich zuerst Gefühle mir erschlossen,
Die noch am Abend meines Lebens dauren.
Wie könnt ich anders als herzinnig trauren,
Denk ich der Blüten, die mir da entsprossen.
Moos deckt dein Grab du liebster der Genossen!
Wen soll ich von uns beiden, wen bedauren?
Ich lebe noch, und du hast lang vollendet,
Doch ruht wie deins, mein Schicksal in der Hand
Die alles schafft und bildet und vollendet.
Sie war es, die als Knaben uns verband,
Drum hoff ich, laß sie mich wo nichts mehr endet,
Dich wiederfinden, wie ich einst dich fand.

Reinhold hatte im Sinne, das Leben seines Freundes in einer Reihe von Sonetten und Gedichten darzustellen, wie er auch noch viele hinterließ, deren Inhalt die Klage um seinen Freund ist.

Ich gebe aus ihnen noch folgendes, das bald nach dem [310] Tode des Freundes (also im Jahre 1812) aus seinem gepreßten Herzen floß:


Hunderte zeugten von ihm, wohin er folgte dem Schicksal,
Von der Tiber bis da, wo sich der Kulla erhebt.
Deutschlands Norden gewährte dem Pilger die andere Heimat,
Freiheit fand er im Schoß nützlichen Bürgervereins.
Dankbar reicht' er dafür die Übung göttlicher Kunst ihm,
Welche der Menschen Wehn lindert mit treuem Bemühn.
Hundert zeugen von ihm: nicht Mühsal minder noch Opfer,
Hülfreich war sein Geist, schöner noch diente sein Herz.
Bande der Lieb' und Natur vollendeten seine Verknüpfung
Mit der begünstigten Flur, väterlich ihm durch die Wahl,
Aber es lauerte Krieg, schon lauerte grimmige Habsucht
Auf das beschützte Gefild, Schauder bewegt' ihm die Brust.
Losbrach jetzt mit Gewalt der Furien Heer, der verkannte
Nicht die Gorgonengestalt: Hoffnung erstarb in dem Blick.
Heftiger brannte die Flamme, die lang an der Quelle des Lebens
Hatte gezehrt, die sonst edle Begeistrung geweckt,
Zeugte verzehrenden Gram, und wütete tödlich im Innern.
Schmach unglücklicher Zeit brach das zerfallene Herz.
Deutschland! ehre den Sohn, der feurig dich liebt' und beständig;
[311] Könnt er sterben für dich, hätt' er sein Blut dir geschenkt,
Doch du, gesunken unter den Völkern ließest den Söhnen
Statt des Todes um Sieg, übrig den Tod nur aus Schmerz!

Die Nachricht von seinem Tode, gerade als wir ihn wieder in die Arme schließen zu können hofften, traf uns schwer. Meine Gefühle nach seinem Verluste, sprach ich damals in nachstehenden Versen aus:

I.
Frisch aufgeblühet stand die Heimat wieder,
Versöhnt dich lieben Flüchtling zu empfangen,
Aus dunklem Grün mondhelle Blüten drangen,
Den Vögeln wuchs ein farbig neu Gefieder.
Aus dunklen Wäldern tönten ihre Lieder,
Im Tal, auf Bergen Hirt und Hirtin sangen,
Es war, als senkt' mit aller Farben Prangen
Der reiche Himmel sich zur Erde nieder.
Und Arme waren ausgereckt in Freude,
Und Herzen schlugen sehnend dir entgegen.
Vom rauhen Norden solltest du erwarmen.
Da nahm dich uns der Tod mit blassem Neide,
Nun welke nur, du reicher Frühlingssegen!
Was frommst du mehr mit deinem Schmuck uns Armen!
II.
Du teurer Bruder! der durchs steilste Leben
Kraftvoll, ein Wandrer ohne Stab, gegangen!
[312]
O könnt' auch ich die Herberg bald erlangen,
Die dir der Tod, der letzte Wirt, gegeben!
Nach hellem Trunk von heimatlichen Reben
Trugst du im fernen Norden heiß Verlangen.
In dieser Herberg hast du ihn empfangen,
Liebend der Heimat Geister dich umgeben.
Und nach dem Weg voll Unruh und Beschwerde,
Wie ruhen süß nun deine müden Glieder!
Wie ist dir's wohl im heimatlichen Bette!
Noch tobet wüster Streit hier auf der Erde,
Still blickt der Mond auf deinen Hügel nieder,
Und Blumen blühen friedsam an der Stätte.
III.
Du strebtest oft, ein herzlich Kind, mit Tränen
Zurück zur süßen Heimat, zu den Lieben,
Die fern im Kampf und Sturm dich mußten wähnen,
Indessen sie im sichern Port geblieben.
Du treues Herz! nun ist erfüllt dein Sehnen.
Mein Auge soll fortan sich nimmer trüben;
Hast deine Heimat nun, bist nun bei jenen,
An die du weinend Gruß und Kuß geschrieben.
Im Morgenrot seh' ich verklärt dich wallen,
Wo Sterne durch den Dom des Himmels ziehen,
Du gehst mit mir durch stille Aun und Haine;
Oft hör' ich deine liebe Stimme schallen,
Fühl' deinen Kuß auf meinen Lippen glühen,
Seh dich mitleidig lächeln, wenn ich weine.
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TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Autobiographisches. Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A6AC-C