Der polnische Jungschütze
(Für Ira)

Ich bekam von der Lazarettinspektion eine Karte, ob ich nicht einen schwerverwundeten polnischen Jungschützen besuchen wolle, der vor drei Tagen eingeliefert sei. Er verweigere jede Nahrungsaufnahme. Glaube sich noch immer in Feindesland. Deliriere. Da niemand polnisch spreche, könne man sich mit ihm nicht verständigen.

Ich machte mich auf den Weg.

Er lag in einer Einzelkammer. Auf seinem Nachttisch stand ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum mit winzigen roten Lichtern besteckt. Es war der zweite Advent.

»Wer da?« sagte er auf polnisch und krümmte seine linke Hand auf der Bettdecke wie einen Revolver gegen mich.

»Gut Freund,« gab ich polnisch zurück.

»Das ist nicht die Parole,« sagte er mißtrauisch, »aber Sie sprechen wenigstens polnisch. Die Parole lautet Warschau. Wer sind Sie?« Jetzt betrachtete er mich. »Sie lächeln so friedlich. Sie sind kein Russe. Sie sprechen polnisch. [67] Sind Sie der Tod? Der Tod spricht polnisch. Mein Herr, wenn ich mich Ihnen vorstellen darf, damit Sie nicht irren: Konstantin Barzynski, Professor der Naturgeschichte in Tarnopol. 31 Jahre alt. Wer sollte glauben, daß die Welt erst 31 Jahre besteht? Aber es ist so. O die kleinen Tarnopoler Mädchen! Aus den Vorstädten. Sie schreiben mir immer Karten mit blonden oder schwarzen Mädchenköpfen und einen Vers darunter:


Ach bitte schön und sei so gut,
Du weißt ja, wie die Liebe tut.

Ich bin ein rechter Sünder. Ich habe schlimme Augen. Wie der Hunger. Und der Hunger hat Augen wie ein ruthenischer Pope. Im Juli war ich noch in Spalato. Ich kann nicht sagen, daß man die Österreicher in Dalmatien liebt.

In Spalato im Hotel war ein junges Ehepaar. Entzückend. Entzückend naiv. Einmal traf ich sie abends am Strand. »Schani,« sagte sie, »nimm dich vor den Schlangen in acht. Tritt nicht aus Versehen auf eine Kreuzotter.« »Meine Herrschaften,« sagte ich, »es gibt keine Schlangen am Meeresstrande. Sie können sich auf mich berufen. Ich unterrichte Naturgeschichte in Tarnopol.«

Als ich nach Hause kam, entdeckte ich ein kleines Kind auf meinem Bett. Ich dachte, es wäre mir plötzlich eines [68] geboren worden ... von den kleinen Tarnopoler Mädchen ... aber es war das Kind der Wirtin. Die dalmatischen Frauen ratschen gern und legen ihre Kinder derweilen ab, wo es ihnen paßt. Aber mein Herr, das Schlimmste kommt erst. Haben Sie einmal Digitalis genommen? Ich möchte jeden einzelnen Russen mit meinen Händen erwürgen und zuvor den Nikolajewitsch. Die Russen erkennen die polnischen Jungschützen nicht als Soldaten an. Sie hatten etliche der unseren gefangen genommen. Wir zogen die Straße ihres Rückzuges her. Obgleich ich Professor der Naturgeschichte bin und die Naturgesetze definieren kann – wurde ich verrückt. Ich wurde derartig verrückt, daß es mir ganz egal war, als einer neben mir niederfiel ... Bauchschuß ... und wie ein Schwein schrie. Herr ...die Bäume der Straßen waren als Weihnachtsbäume dekoriert ... mit polnischen Jungschützen. Sechs hingen immer an einem Baum. Hübsch regelmäßig. Ich warf meinen Kopf herum und brüllte lauter als eine Feldhaubitze. Und dann kletterte ich den ersten Baum empor und schnitt die ersten sechs ab. Sie sollten nicht in der Luft hängen und zu Rauchfleisch dörren. Sie sollten ihr ehrliches katholisches Begräbnis haben. Die Haut hing wie in Fetzen von meinen Händen. Aber ich grub im Schweiße meines Angesichts ein Grab, drei Stunden lang, da war es so tief, daß nach [69] meiner Berechnung 120 Mann Platz darin hatten. Ich stieg auf den nächsten Baum. Und schnitt sechs ab. Sie fielen wie reife Birnen vom Baum. Da stieg ich auf den dritten, dann auf den vierten Baum. Beim fünften spürte ich, daß ich nicht mehr weiter konnte. Daß ich im Begriff war, mich selber aufzuhängen. Das war denn auch das Ende vom Liede. Wie Sie mich hier sehen: hänge ich an einem Baum, mit fünf anderen polnischen Jungschützen. Ich wehe im Winde. Meine Knochen schlagen aneinander. Cis-Moll. Die verfluchten Muschiks schießen Scheiben nach mir. Bautz habe ich eine Kugel in der Lunge. Aber das macht nichts. Wenn ich keinen Speichel mehr habe, will ich ihnen meinen letzten Blutstropfen ins Gesicht speien ...

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TextGrid Repository (2012). Klabund. Erzählungen. Der Marketenderwagen. Der polnische Jungschütze. Der polnische Jungschütze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-AD59-0