[154] Die Erscheinung

»Welcher Schatten wandelt dort her? Wie fürchter lich leise
Tritt er! hat noch die Dolch' in der Brust!
Ah Tribuna, kennest du ihn? Es befällt mich, je mehr er
Mir sich naht, je bängeres Graun!«
Und dich schreckt ein Gespenst, dich Herscherin unter den Städten,
Dich, die Roma des gallischen Reichs?
»Antwort! wer ist der Schatten? Er komt stets näher, noch näher!
Zähl die Dolche! mir dunkelt der Blick.«
Ha, was geht der Schemen mich an? was, ob Dolch' ihn entleibten?
Wenn man todt ist, wandert man weg,
Schattet. Nun weisst du alles. Mich kümmern andere Dinge,
Herschen, und herschen das ist mein Genuss!
[155]
Davon wach' ich, und träum' ich! Die Stellvertreter des Volkes
Kommen, gehorsamen, knieen vor mir.
Wer der krümste mir kniet, ich belohn' ihn, erhöh' zu der Würd' ihn
Stellvertreter des Pöbels zu seyn.
»Aber wer ist der Schatten? Schon lang' entfloh ich, wofern er
Sich nicht wandt', und ins dunklere trat.«
Frag' es Klubiofuria, weil du einmal nicht rastest,
Bis du des Spukes Namen vernimst.
»Warte! Ich untersuche. Verdienet die Göttin Herschaft,
Oder die Göttin Rache verdient
Sie den schönsten Altar?« »Du hundertköpfiges, hundert
Armiges Ungeheuer, und doch
Nur einäugiges, mir, der Roma des gallischen Reiches,
Mir gebeutst du zu warten? Wer ist,
Rede, wer ist der Schatten, der wieder nahet, und jetzo
Gar mit der Hand auf die Wunden, mir zeigt?«
»Warte! Noch untersuch' ich. Ich hab' es ergründet! Die Göttin
Rache verdient den schönsten Altar!
[156]
Dieser Schatten, der uns von neuem nahet, und jetzo
Gar mit der Hand auf die Wunden uns zeigt,
Ist das todte Gesetz. Wir waren's, die's mordeten! Ich war's,
Welche die meisten Wunden ihm grub;
Theilt ihr unter euch, du, und Tribuna, die übrigen, Ich bin's,
Die's nicht bereut! Ich nähme den Dolch
Wieder; kehrte der Todte zurück. Bey Marat! ich bahnte
Mir noch Einmal den blutigen Weg
Zu dem Altare der Herschaft, und ach zu der Rach' Altare!«
Und die Hundertköpfige schwieg.
Aber vom Rhodan her erhub ein Sausen sich, wurde
Sturm, von der Rückkehr sprach's in dem Sturm!
Und die Dolch' entfielen dem Schatten; Galliens Roma
Stutzte, das Ungeheuer entfloh.

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TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Gedichte. Oden. Zweiter Band. Die Erscheinung. Die Erscheinung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B2E7-5