[36] Das Wehen des Allliebenden

1776.


Was ist's, wonach ich schmachte,
Wonach schreit all' mein Seyn?
Welch' unbekannte Sehnsucht
Durchzuckt mir Mark und Bein?
Strebt mächtig mir im Busen,
Setzt mir das Herz in Gluth,
Und peitscht durch jede Ader,
Gedoppelt stark mein Blut?
Ist's Durst nach Ruhm und Ehre?
Nein, nein! Die Zauberinn
Verblend't mich oft. Doch heute
Ergreift mich's, wer ich bin!
[37]
Ist's Durst nach Gold und Schätzen?
Nein, wahrlich nicht! Denn sieh!
Mein Glück in dem zu suchen –
So tief fiel ich noch nie!
Ist's Durst denn nach der Theuren,
Ist's, Wonna, Schrei'n nach dir?
Du, Tages mein Gedanke,
Du, Traum im Schlummer, mir? –
Vielleicht! – – Doch nein. Empfindung
Für Wonna ist nicht das.
Es ist nicht Erdenliebe,
Es ist – o, wüßt' ich's, was? – – – –
Ich sprach's. Da ward es stille,
Und Unk' und Nachtigall,
Und Frosch und Westwind schwiegen,
Und ich, im grünen Thal,
Lag hingestreckt, und Schauder
Durchfuhr mir Blut und Mark.
Im Busen pocht' und klopfte
Mir's übermenschlich stark.
[38]
Da hört' ich's leise flüstern
Ins Schilf des Teich's. Es rann
Auf jedem Märgelblümchen,
Als schwebt' ein Westwind d'ran.
Mich däucht', als ständen Jüngling'
Im Abendroth vor mir,
Und einer spräch' mit Stimme
Der Nachtigall zu mir:
»Nicht Durst nach Ruhm und Ehre,
Nicht Schrei'n nach Gold der Welt,
Nicht nach dem Erdenmädchen
Ist's, das die Brust dir schwellt.
Es ist – – hinweg vom Auge
Den Staar! Hinweg vom Ohr
Die dicke Haut!! O Jüngling,
Fühl' selbst, und sieh empor!
Siehst du im West den Purpur,
Den Boden grün und schön?
Die tausend Märgelblümchen,
Die lächelnd um dich steh'n?
[39]
Hörst du der Nacht'gall Schmettern?
Schau'st du im finstern Gras
Die Würmer – Nationen?
Wer schuf, wer gab dir das?
O Jüngling, Erdenjüngling!
Dich schuf aus feinrem Thon
Die Hand, die das geschaffen,
Und du vergißt es schon?
Zeuchst Schönheit des Geschöpfes
Des Schöpfers Schönheit vor? –
O Jüngling, weg vom Auge
Den Staar, die Haut vom Ohr!
Er, den dein Herz verkennet,
Und doch mit Inbrunst sucht,
Er ist von dir nicht ferne.
Das Auge, das ihn sucht,
Wie leicht mag's ihn entdecken!
Er wandelt um dich her,
Im Abendroth, im Walde,
Zu Land' und auf dem Meer.
[40]
Von ihm, du Sproß des Himmels,
Stammst du, allein von ihm.
Dein Geist, des Ursprungs kundig,
Schrei't, schmachtet, dürst't nach ihm.
Ihn, ihn, den Vater, kennen,
Ist mehr denn Erdenfreud'.
Ihn innig, innig lieben,
Ist Himmelseligkeit.
Sein Rang ist Hocherhaben,
Sein Nam' Allliebender,
Sein Thun ist Ewigschaffen,
Sein Werk der Welten Heer;
Sein Wo ist Allenthalben,
Sein Ebenbild bist – du
O Jüngling, fühl' die Würde,
Du bist sein Abglanz, du!« – – –
So sprach's, und sieh! Wie Schuppen
Fiel mir's vom Aug'. Ich sah
Rings um mich her mein Wesen
Dem Unbekannten nah'.
[41]
Mein Ohr, mit reinern Zügen,
Vernahm sein leises Weh'n,
Und hörte seine Stimme
Im Abendsäusel geh'n.
Da sank ich, anzubeten,
Ins Knie, und feierlich
Und unaussprechlich Fühlen
Ergriff und lohnte mich – –
»Ich hab', ich hab' dich funden,
Dich wunderbaren Mann,
Und lass' dich nicht, ich schaue
Dein segnend Antlitz dann.«

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TextGrid Repository (2012). Kosegarten, Gotthard Ludwig. Das Wehen des Allliebenden. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B717-2