[179] Der Mensch und die Schlange

Ein Mann sah eine Schlange liegen.
»Nichtswürdiges Vieh,« sprach er, »nun will ich mit Vergnügen
Der Menschheit einen Dienst erweisen.«
Bei diesen Worten ward das schlimme Tier –
Gebt acht, ich rede von der Schlange hier,
Denn nicht die Menschheit würd ich also preisen –
Bei diesen Worten ward das Tier gepackt
Und ohne weitres eingesackt.
Sein Tod war bei dem Mann beschloßne Sache,
Doch hielt er erst ein großes Wortgericht:
»Sinnbild des Undankbaren, fühle meine Rache!
Denn Bösen Gutes zu erweisen,
Das wäre gar zu dumm
Und eine Tat, die schlechten Lohn verspricht.
So sollst du denn zum Hades reisen,
Dann kannst du nie mehr mir zum Schaden sein.«
Die Schlange blieb darauf nicht stumm.
»Wenn man die Undankbaren alle richtet,«
Sprach sie, »wem könnte man denn da verzeihn?
Du, dessen Wille mich vernichtet,
Bist dir zur Rechenschaft verpflichtet,
Blick in dein eignes Herz hinein,
Ob du, was du gerechtes Urteil nennst,
Nicht bald als Laune nur erkennst,
Als Willkür oder Machtgelüste.
Sprich mir das Urteil, wenn du magst,
Doch da du mich so hart verklagst,
So höre, daß ich lügen müßte,
Mich als des Undanks Sinnbild zu bekennen,
Doch muß ich dich ein solches Sinnbild nennen.«
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Der andre stutzte, wich zurück und sagte:
»Sehr nichtige Gründe hast du vorgebracht,
Sie gelten nichts; denn mein ist Recht und Macht.
Doch wär es gut, wenn einen Dritten man befragte.«
»So sei es,« sagte das Reptil.
Da eine Kuh des Weges ging,
Ruft man sie an, daß sie das Urteil fälle.
»Dazu,« sprach sie, »gehört nicht viel.
Der Bauer, der die Schlange fing,
Geb ihr die Freiheit auf der Stelle!
Sie ist im Recht; weshalb denn immer töten?
Seit vielen Jahren nährt sich dieser hier
Von meiner Milch und wär in argen Nöten,
Wenn meine Euter ihm nicht Nahrung böten;
Selbst meine Kinder nimmt er mir.
Jetzt bin ich alt und muß im Winkel stehen,
Und ohne Nahrung läßt er mich.
Ja, dürft ich auf die Weide gehen!
Doch bin ich angekettet. Hätte ich
Die Schlange doch zum Herrn gehabt,
Sie wäre nicht so undankbar gewesen!
Da ihr in eurem Fall mir Richterwürde gabt,
So sagte ich, was ich gedacht,
Und machte nicht viel Federlesen.«
Der Mann erstaunte ob des Richtspruchs sehr.
Zur Schlange sprach er aufgebracht:
»Muß man denn glauben, was sie sagt?
's ist eine Schwätzerin, ihr Hirn ist leer;
Ich rate, daß man diesen Ochsen fragt.«
»Schön,« sprach die Schleicherin. Gesagt, getan.
Der Ochse wälzt den Fall im Kopfe hin und her.
Er habe, sprach der Grobian,
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Des Jahres ganze Last zu tragen,
Den Kreislauf aller Mühn durchlaufe er
Und müsse sich für uns auf unsern Feldern plagen,
Daß das, was Ceres Menschen wie auch Tieren sende,
Zur Frucht gedeihe und uns Nahrung spende.
Viel Schläge, wenig Dank. Und sei er alt,
So meine man ihm Ehre anzutun,
Wenn man ihn schlachte wie ein Huhn,
Um durch sein Blut der Götter Zorngewalt
In Nachsicht zu verwandeln.
So sprach der Ochs. Der Mensch darauf: »Zum Schweigen
Laß uns den üblen Redner bringen.
Statt unsern Streitfall zu verhandeln,
Will er sich selbst als Kläger zeigen
Und, statt zu schlichten, selber Klage singen.
Ich weise ihn zurück.« Nun wird der Baum gewählt,
Um Recht zu sprechen; doch das war noch schlimmer.
Es wird von ihm gewichtig aufgezählt,
Wie er vor Regen, Sturm und Hitze
Mit seinem Schatten uns beschütze
Und Feldern, Gärten, selbst dem Zimmer
Zum Schmuck gereiche, dabei immer
Mit Früchten schwer beladen sei;
Den Lohn indes bezahle in der Regel
Mit scharfer Axt ein grober Bauernflegel.
Er aber lasse sich herbei,
Mit Blüten uns im Frühling zu erfreuen,
Im Herbst uns Früchte in den Schoß zu streuen.
Man danke ihm doch besser ohne Beil!
Dann stände er noch lange ganz und heil.
Der Mensch fand diesen Richterspruch recht schlecht
Und wollte nun um jeden Preis sein Recht.
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»Ich bin ein Narr,« sprach er, »die Leute anzuhören,«
Warf Sack mit Inhalt wuchtig auf den Stein
Und schlug der Schlange so den Schädel ein.
Es pflegt die Mächtigen stets zu stören,
Wenn andre Rechenschaft verlangen,
Denn alles soll für sie geboren sein,
So Mensch wie Vieh und selbst die Schlangen.
Und zeigt doch einer mal die Zähne,
So ist's ein Tölpel. Nun, ich räum es ein.
Und daß ich die Moral erwähne:
Verklage nur von fern; noch besser, laß es sein!

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Der Mensch und die Schlange. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DA1D-9