[1] Erste Sammlung

Der schwermüthige Jüngling

Eduard Rose, ein liebenswürdiger junger Mensch, einziger Sohn eines sehr reichen Kaufmanns, hatte von der Natur den Hang zu stillen und sanften Freuden des Lebens erhalten, wie sie oft einer lieblichen Quelle, die ihren Ursprung auf der nahen Anhöhe einer prächtigen Stadt erhielt, ihren Lauf durch ein kleines Thal bezeichnet, da sich nur Wiesenblümgen und niedrige Sträuche in ihrem Wasser spiegeln, – weil es dem Gärtgen und der einsamen Hütte eines redlichen Armen zur Erquickung zufliessen sollte.

Die Erziehung unsers Eduards war vortreflich, weil ihm das Glük an Herrn Gutheim einen weisen liebreichen Lehrer gab, der den Plan seines Unterrichts erst aus den Umständen und Befehlen der Eltern zusammensetzte, und dann alles dies hineinlegte, was er dem Charakter seines Zöglings angemessen glaubte. Der Reichthum des alten Rose versicherte dem jungen Menschen völlige Unabhängigkeit, [1] und alle Mittel seine Begierden zu vergnügen. Die Befehle waren, Eduard sollte zu nichts gezwungen, zu nichts streng angehalten werden. Da suchte Gutheim seinem Zögling die Begierde nach Kenntnissen durch den Reiz des Vergnügens beyzubringen, und zugleich seinem Herzen den Hang zu edelmüthiger Güte zu geben. –

Eduard war zwölf Jahr alt, wußte seine Muttersprache sehr gut, und auch französisch lesen und schreiben. Der Hofmeister hatte eine grosse Sammlung Bücher in verschiedenen Sprachen und Wissenschaften, nebst vielen Kupferstichen, und dem schätzbaren Talent selbst alles, was er wollte, zeichnen zu können. Er war voll Freundlichkeit und Würde, so wie es Lehrer und Väter immer seyn sollten, und bat den jungen Eduard, ihm seine Bücher und Geräthe auspacken und aufstellen zu helfen, und dachte wohl, daß der kleine Mann über die Menge Bücher erschrecken würde, in der Vermuthung, sein Hofmeister werde fodern, daß er sie alle durchlerne. Daher gab ihm Gutheim gleich ein grosses Heft voll Kupferstiche, das er nur wie von ohngefähr aufmachte, und sagte: das ist gut – dieses legen Sie auf unsern Tisch, denn dies Buch wollen wir zuerst durchgehen. So machte er fort bald mit illuminirten Thieren und Pflanzen, bald [2] mit geometrischen Figuren, Vestungen, Gärten, Gebäuden, Münzen und Antiken; die übrige Bücher ließ er im Koffer, weil sie, wie er sagte, nur für ihn selbst seyen, indem er in Eduards Freystunden seine eigene Studien fortsetzen wollte. Der Knab fand sich sehr glüklich in dem Gedanken – Freystunden für ihn – die meiste Bücher für den Hofmeister – und die für ihn bestimmte, voll schöner Bilder zum Zeitvertreib –

Als das Zimmer in Ordnung war, bat ihn Herr Gut heim, ihm das ganze Haus bekannt zu machen, und dann ein halbes Stündgen mit ihm spazieren zu gehen, damit er die Leute und die Stadt kennen lerne. – Gutheim that dieses, weil es der natürliche Anlaß zu tausend Fragen war, die er dem Eduard machen, und aus deren Beantwortung er seinen Geist und Gemüthsart auf der wichtigsten Seite sehen konnte. Denn dies, was er ihm auf Fragen nach Personen, und ihrer Stelle im Haus, oder von dem Leben und Umständen einiger Bewohner von schönen Gebäuden sagen würde, konnte ihm Eduards Herz, seine Fähigkeiten zur Beobachtung, und den Gang zeigen, den man den jungen Menschen in Ansehung des Nächsten geführt hatte. Antworten, die er gab, als Gutheim nach Künsten und Merkwürdigkeiten fragte, bewiesen ihm, wie [3] weit Eduard in Kenntnissen und Geschmak gebracht worden sey, wornach er sich in der Anleitung des Knaben, ohne Zwang, und ohne irre zu gehen, richten könnte.

Den zweyten Tag mußte Eduard erzählen, was er bisher gelernt, und was ihn unter diesem am meisten gefreuet habe: Und hierin suchte Gutheim die Merkzeichen, wie weit des jungen Rose Eigenliebe im Selbstlob, und auch seine Wißbegierde giengen. Alsdann sagte er ihm dagegen, worin die Pflichten eines Lehrers gegen seinen Zögling bestünden, und was Vater und Mutter ihm aufgetragen hätten – ihr Eduard solle nichts lernen, als dieß, was ihm Vergnügen mache, und was er wolle. Nun sagte Gutheim, da man mehrere Sachen kennen müsse, um sich etwas zu wählen, so wollten sie miteinander alle die Bilderbücher durchgehen, die er mitgebracht habe, welche Wissenschaft davon Eduarden am besten gefiele, die wolle er ihn lehren.

Der gute Knabe wählte zuerst die Pflanzen und Bäume, weil er das Land und Gärten liebe. Es wäre da, sagte er, alles auch an den heitersten Tagen so stille und ruhig, denn das leichte hin und her Wanken der Blumen und der Blätter an den Bäumen wäre wohl recht angenehm, wenn er auf [4] dem Landgut seines Vaters so ganz allein oben an dem Teich sitze, der halb in den Wald und halb in den Blumengarten gezogen wäre, da sähe er dann den Himmel, die Bäume und vorübergehende Wolken in dem Wasser, höre nichts als den Gesang der Vögel, und dieß freue ihn gar sehr.

Gutheim war mit dieser Wahl sehr zufrieden. Er fand, daß das gute weiche Herz des jungen Eduard die sanfte Pflanzenwelt ganz sympathetisch lieben müsse, weil ihre blühende Farben, die schöne Gestalt so mancher Art, mit dem Frühling seines Lebens, mit seinem schlanken Wuchs und der jugendlichen Begierde, Abändrung zu sehen, in dem wahresten Verhältniß stünde. Er sahe zugleich, daß er ihm dadurch einen grossen Theil der Naturgeschichte beybringen, und ihn die ewige Weisheit und Güte anbeten und erkennen lehren könnte. Geographische Kenntnisse und die Geschichte so vieler Künste und Erfindungen waren auch damit zu verbinden. Denn schon die Blumen führten sie in fremde Lande, wo sie herstammten, am meisten gepflegt und am schönsten gezogen würden. Arzneykräuter brachten sie in entfernte Weltgegenden, und zu der, natürlicher Weise damit verbundenen Schiffarth, auf Schiffbau, auf einen Auszug der Chymie, welche den Saft von Wurzeln und Kräutern[5] zu Heilungsmitteln und Farben bereitete. Die Bäume und Waldungen zeigten die viele Arten Gehölze, und ihren Nutzen neben den Handwerkern, die sich damit beschäftigen, vom Zimmermann bis auf den Färber. Das Silbergeschirr und Porcelan im Hause, die Diamanten der Frau Rose, wurden zu einem Anlaß der Mineral und Steinkenntniß, woraus wieder das Nachsuchen und Betrachten der Kupferstiche in der grossen Encyclopädie folgte, wo man Künstler und Arbeiten in allen Gattungen Metallen und Steinen fand. Das grosse Haus des alten Rose in der Stadt ward der Gegenstand der Architectur, und der so verschiedenen Talente, die sich bey der Baukunst und Verfertigung des Hausgeräthes zeigten. Seidene, wollene und leinene Kleidungsstücke gaben Stof zur Einsicht und Bewunderung der tausendfachen alten und neuen Erfindungen des menschlichen Fleisses, und der Eigenschaften von so mancherley Thieren. Die Büchersammlung war ein reichhaltiger Unterricht, nur in Erzählung der Geschichte davon. Auf dem Landgut, wo sie den Sommer zubrachten, waren die Gartenkunst, der Feldbau, Viehzucht und Erkenntniß des Werths der so schäzbaren, und uns allen so nüzlichen Klasse der Landleute, der Gegenstand ihrer Betrachtungen. Dann erzählte Gutheim, was Fürsten, Kriegsleute,[6] Gelehrte und Kaufleute wissen, lernen und thun müßten, um ihr Leben mit Ruhm und mit der Liebe ihrer Nebenmenschen zu geniessen. Hier kam der Unterricht in der Geschichte der Völker und Staaten, der Wissenschaften, ihrer Wanderungen, ihres Blühens, Welkens und Vergehens in diesen, und neuen Entstehens in andern Ländern.

Die so nöthige Geschichte der Religion gab er seinem Eduard mit grosser Vorsicht nicht ganz, nicht zu weitschweifig; er zeigte ihm nur, wie Uebermuth der vorzüglichen Macht und des Wissens selbst die Lehrer und die Beschützer des Volks zu gewaltthätigen Handlungen gebracht, und das Unglück von Millionen Menschen verursacht habe. Eduard liebte daher die Geschichte gar nicht, aber Gutheim sagte: man müsse die Geschichte auch darum lernen, daß wir einsehen, wie viel Verdienste unsere Voreltern um uns haben, wie weit der Fortgang und Verbesserung der Menschheit gekommen, und wie wir uns um die Nachwelt verdient machen können. Eduard sagte, er würde nie so viel Geist haben, daß er gelehrte Bücher schreiben sollte. Gutheim erwiederte, daß dieses auch nicht nöthig seye – Lassen Sie, fuhr er fort, seinen Zögling bey der Hand fassend – ihren Mitbürgern das Beyspiel eines edel verwendeten Lebens und Vermögens, o [7] so werden Sie mehr thun als Sie denken – Mein Eduard! Ihr Vater, Ihr Oheim sammeln Ihnen Güter, die Natur gab Ihnen einen Reichthum von edeln Gefühlen der Seele, und ich will Sie beydes gebrauchen lehren.

Eduard hörte ihm mit sichtbarem Vergnügen zu, sagte aber am Ende, daß er seinen Vater und andre Kaufleute manchmal über den Stolz der Gelehrten hätte klagen hören, und daß sie den Handlungsstand verachteten. – Ein wahrer Gelehrter, mein lieber Eduard! antwortete Gutheim, wird dieses niemals thun, denn er kennt den Werth aller Sachen und Beschäftigungen, und weiß daher auch, was für grosse Verdienste und Talente der Geist der Handlung in sich faßt: der weise und menschenfreundliche Mann verachtet nur das, was unnütz, und der Beschäftigung eines vernünftigen Wesens unwürdig ist, so wie er nichts haßt, als was schädlich und bösartig ist. Er setzte hinzu, er wisse auch, daß es Kaufleute gebe, welche die Gelehrte mit Geringschätzung ansähen – Aber der Vater meines Eduards ist nicht so, sonst würde er seinem einzigen Sohn keinen Gelehrten zum Erzieher gegeben haben.

Durch solche Unterredungen erhielt Eduard grosse Vortheile. Denn Gutheim sagte ihm auch [8] immer die wahre Bedeutung und den Sinn der Worte und Ausdrücke. Aber Eduard hatte eine sonderbare Stimmung des Gemüths: denn, wäre er erster Sohn eines grossen Fürstenhauses gewesen, er würde nie Selbstherrscher, nur Mitregent geworden seyn. Die Idee von Pflicht gegen Nebenmenschen, die von der Gleichheit vor Gott, vom Mittheilen, Mitleiden, andern nichts thun, als was man von ihnen erwartet, dieß war in ihm. So wuchs er auf, mit einer reinen fühlbaren Seele, reich an schöner Kenntniß. Je mehr er lernte, je mehr liebte er seinen Hofmeister: Sein Herz war dankbar. Er sagte einst: Herr Gutheim! Sie thun so viel aus Liebe für mich, und immer dieß, was mich am meisten freut – Sagen Sie, kann ich Ihnen auch Freude machen?

In diesem Augenblik, da Eduards Seele durch die Liebe geöfnet war, sagte ihm Gutheim, daß diese Bewegung seines Herzens sehr schön sey; und daß er wohl wisse, daß eine edle Seele, wie seines Eduards, gerne Freude mit Freude belohne. Er solle also, ihm zu lieb, die Sprachen der alten Völker lernen, da ihre Thaten und die Bilder von den noch übrig gebliebenen Gebäuden, Vasen und Statuen ihrer Zeiten ihm so wohl gefallen hätten. Mit Eifer, mit Vergnügen lernte jetzo unser Eduard [9] latein und griechisch, um seinem Lehrer Freude zu machen, so wie er dem Klavier und Singen zu lieb Italienisch gelernt hatte, und durch die Hofnung des Reisens auch die Englische Lehrstunden fleißig gehalten wurden.

Nach dem Tod der Frau Rose traten Eduard und Gutheim ihre Wandrungen an, mußten aber alle Jahre einmal nach Haus zu dem Vater, welcher seinen Sohn immer wieder sehen wollte. Sie mochten es sehr wohl leiden, da sie allezeit einen neuen Weg hin, und einen andern zurüknahmen, und dann während ihres kleinen Aufenthalts zu Haus die Natur- und Staatsgeschichte des Landes lasen, welches sie wieder durchreißen wollten.

Eduard bat seinen Führer, ihm nichts als das Gute zu zeigen, das Menschen unsers Jahrhunderts gethan hätten, weil von den vorigen Zeiten so viele Zerstörung und Uebelthaten in seinem Gedächtnis geblieben seyen. Gutheim sagte ihm da: Nach diesen Erinnerungen, mein Lieder! können Sie das Gute selbst finden, denn dazu dienen Bücherkenntnisse und Gedächtnis, daß sie uns verflossene, oder entfernte Begebenheiten zu einem Maasstab machen, nach welchem wir das Gegenwärtige beurtheilen. Er fand aber bald, daß sein geliebter Zögling nichts als die Güte in seinem Geist[10] und Herzen ernähren, und nur ihre Spuren in Menschen, und Sachen ausser sich aufsuchen und sehen wollte. – Der Vater hatte ihm sehr viel für Kleider und Spielgelder ausgesetzt. Dieses verwendete Eduard meistens für Arme in allen Gegenden. Oft wenn sie zu Mittag essen, oder Pferde erwarten mußten, gieng er in arme Hütten, theilte Allmosen aus, oder gab dem Pfarrer des Orts eine Summe dazu; – Grosse lärmende Städte liebte er gar nicht, und sobald sie alle Werke der Kunst und merkwürdige Menschen gesehen hatten, so bat er um die Abreiße. Naturalien-Kabinete sah er gern, wie auch alle Art Arbeiten; die Wunder der Natur und des Kunstfleisses waren ihm lieb und ehrwürdig. – Den Herrn Neker in Paris achtete er als einen der grösten und beneidungswürdigsten Männer, der auf eine weise und edle Art die Last von Millionen Menschen erleichterte, und mit wahrer Gerechtigkeit aus der Schaale des Uebermuths und des Misbrauchs den Ueberfluß wegnahm, um ihn zu Lohn und Hülfe der Verdienste und der Bedürfnisse zu machen. – Der Gedanke: Ein junger König, Vater seines Volks, der Genius eines Negocianten, Schuzgeist einer ganzen Nation – erhob seine Seele. Es freute ihn, der Sohn eines Kaufmanns zu seyn. Die Wasserleitung, [11] welche der Chevalier Littelton für ein Drittheil der Stadt London hatte bauen lassen, rührte ihn zur edlen Thräne; er hätte sie mögen erbaut haben – so wie er gerne der Erfinder der Buchstaben gewesen wäre, weil es ihm die wahre Grösse zu seyn dünkte, Jahrtausende hindurch der Wohlthäter von einer unzählbaren Menge Menschen zu seyn, wie der Mann es wurde, der das erstemal den Griffel führte, um daurende Gedankenzeichen darzustellen, wodurch nützliche Lehren und Erfindungen ausgebreitet, und schöne Thaten guter Menschen zum Beyspiel und Vergnügen edler Nachkommen aufbehalten würden. Unter den Königen war ihm Alfred, der Grosse, der liebste; und er gieng mit Ehrfurcht und Zärtlichkeit in Oxford umher, weil es von diesem vortreflichen Fürsten gestiftet worden. Er wußte seine ganze Geschichte, und nahm jungen Engländern übel, wenn sie nicht mit dem Eifer und der Liebe von Alfred sprachen, wie er. Der Canal des Herzogs von Bridgewater machte ihm grosses Vergnügen. Aber in Irland blieb er nicht lange: der Anblik so vieler armen gedrükten Menschen, so vieles unangebauten Lands grämte ihn. Er sah mit Schmerz, daß eine aufgeklärte und in so vielen Theilen grosse Nation, wie die Engländer, ein verschwistertes Königreich, und so [12] viele seiner Bewohner hassen könnte, weil sie Christen einer andern Kirche sind – Er sagte so traurig: – O Herr Gutheim! welch ein Unterschied zwischen dem Gebrauch der Worte, und zwischen der Nachfolge des sanften duldenden Geists Christi!! – Das Bild des Herzogs von Bucgleuhg zog ihn ganz an sich, weil er so viel edles und melancholisches darinn sah. – Rom, wo ihn Gutheim, mit dem Auszug der Geschichte in der Hand, herumführte – Neapel – der Vesuv – der ausgegrabene Theil von Pompeji – Bildsäulen und Vasen der Alten, alles machte einen sonderbaren Eindruk auf ihn. Er wurde immer stiller, immer stärker an Gutheim geheftet. In Venedig beschäftigte ihn die Vorstellung, daß anfangs nur Fischerhütten auf diesen Inseln waren, die nun mit Pallästen bedeckt sind. Die herrliche Stimmen der Klosterfrauen entzükten ihn anfangs, aber bald machte die Idee des ewigen Einschliessens eine Schwermuth in ihm rege, die den Herrn Gutheim zu einer schnellen Abreise bewog. – Die Schweizergebürge, der treue Sinn, und die einfache Sitten ihrer Bewohner, die Plätze, wo ihre Vorväter die Freyheit erfochten – die Hütte von Winkelried, das Dorf, wo Rousseau sich aufgehalten – O wie [13] alle das auf ihn würkte, so wie nur gutes und edles ihn reizen und glüklich machen konnte!

Aber ach! auf dieser Reise sollte Ruhe und Vergnügen auf lange Zeit aus Eduards Seele verbannt werden. Gutheim starb, nachdem er Eduards Krankenwärter gewesen, welcher sich wieder erholt hatte, und dann seinen Freund verlohr. Seines Hofmeisters letzte Lehre bestund in seinem Betragen auf dem Todbett, in der Gelassenheit, mit welcher er die gröste Schmerzen trug, in der männlichen Ruhe des Geistes, mit welcher er seinem Zögling vom Tod und Sterben sprach. So als ob er, älterer Bruder, früher zu einem gütigen Vater zurükreißte, und Eduard, als den jüngern, noch in einem fremden Lande lassen müßte, damit er noch mehr Kenntnisse und Vollkommenheiten sammeln möge. Aber Eduard war traurig, genesen zu seyn; er wünschte mit seinem Lehrer zu sterben, oder wenigstens alle sein Vermögen zu verlieren, und nur – Gutheim zu behalten. – Dieser lächelte ihm zu, und sagte:


»Du, mein Eduard! alle dein Vermögen hingeben, du! dessen Herz allein von Wohlthun lebt, du hättest ja dann auch nichts mehr für mich – der Tod, mein Lieber! ist kein Uebel, sonst hätte Gott die Menschen nicht [14] zum Tode erschaffen. Ich bin am Ende meiner Bahn auf Erden, und werde nun zu einer neuen berufen, die ich mit Muth und Freude antrette. Du leidest darunter, mein Eduard! ich fühle es mehr, als ich meine Schmerzen fühle, aber unsere Grundsätze müssen uns die Unterwerfung in göttliche Fügungen lehren. Du kommst nun auch in einen neuen Zirkel von Denken und Handeln, den du allein, ohne von einer andern Hand geleitet und unterstützt zu seyn, durchlaufen must. Gieb mir die Freude, daß ich dich den ersten Schritt mit Entschlossenheit machen sehe. Du verlierst viel mit mir, mein Eduard! aber um so schöner, um so grösser ist dein gelassenes Ertragen dieses Verlusts. – Du liebtest immer die Natur – Ihre ewige Gesetze trennen uns, und werden uns wieder vereinigen – Mein Geist wird dich umschweben, sanfter, guter Jüngling! alle Edle werden dich lieben, und ich weiß – ich weiß es, die Tugend und die Menschenliebe werden immer in deiner Seele herrschen. – Zehen Jahre habe ich für dich gelebt – mein Loos war schön, da ich berufen wurde, den Anbau des Geists eines der besten Menschen zu besorgen, und seine Seele in ihrer [15] ursprünglichen Reinheit bis in das 22ste Jahr zu führen – meine Arbeit war mir süß, war Verschönerung meiner Tage, so wie ich die Bereicherung der deinigen gewesen bin. – Ich segne dich für die Freude, welche deine Folgsamkeit und Offenherzigkeit, dein Auffassen alles Guten, und deine Liebe für mich mir gaben, so wie du gewiß mein Andenken, meinen Unterricht, und meine Sorge für dich auch segnen wirst. – Von den Sternen herab werde ich mich freuen, das fortlaufende Gewebe von Tugend und Güte in deinem Leben zu sehen. – Umarme mich! Umarme mich, Lieber! – weil mein Herz noch schlägt – noch fühlt – O! möchte ich aus der Umarmung deiner reinen Menschen Seele – in die von meinem Engel übergehen!« –

Sein Wunsch wurde erfüllt – er verschied in den Armen seines Eduards, den man ohnmächtig, mit dem Todesschweiß seines Freunds bedeckt von der Leiche wegnahm.

Gutheim hatte noch für alles gesorgt, und an den alten Rose geschrieben, was die Reisen und Rechnungen, und auch, was den Charakter des guten Eduards angienge. Ein Kaufmann, an den sie Wechsel hatten, und ein treuer Bedienter brachten [16] ihn zu seinem Vater zurük. – Gutheim hatte besonders befohlen, Eduarden keine Trostgründe aufzudringen, sondern ihn weinen zu lassen, seine Klagen anzuhören, und Mitleiden zu zeigen. Der Kaufmann und Bediente befolgten es, und Eduard kam glüklich, aber – voll tiefer, inniger Trauer nach Haus, und sein Vater hatte die Unvorsichtigkeit, ihm übel zu nehmen, daß Eduard im ersten Augenblik des Wiedersehens, ihm um den Hals fiel und sagte: – O mein Vater! ich habe keinen Freund mehr –

Gutheim hatte keine nahe und keine arme Verwandte zurükgelassen, und daher in seinem letzten Willen alle sein Vermögen, Bücher, Schriften, Zeichnungen und Kupferstiche zu einer kleinen Stiftung verordnet, welche hinreichte, einen armen jungen Gelehrten zu unterhalten, welcher aber die Verbindung eingehen müßte, vier arme Knaben unentgeldlich nach Gutheims Lehrart zu unterrichten. Er bat Eduarden, daß er einst ein Haus dazu kaufen, und der Stiftung so viel zusetzen solle, daß die armen Knaben davon in grauen Kleidern und reiner Wäsche besorgt würden, und im Haus wohnen könnten: doch setzte er ausdrüklich dazu, daß zu keiner Zeit, unter welchem Vorwand es seyn möchte, mehr als vier Knaben angenommen werden sollten[17] – es sey ein Denkmal, das er seinem Eduard und sich errichten wolle.

Dieses beschäftigte den jungen Rose unendlich. Er kaufte ein Haus mit einem artigen Garten, und ließ die Wohnungen des Lehrers und der jungen Leute so einrichten, daß alle die Aussicht in den Garten erhielten. Als es fertig und ganz berechnet war, gab er dem Haus den Nahmen von Gutheimsstift – und nahm einen jungen Mann zum Lehrer darein, der ihn schreiben gelehrt, und den Herr Gutheim geliebt hatte. Die arme Knaben waren bald gefunden, und des Lehrers Mutter, eine arme Wittib, besorgte das Hauswesen.

Eduard war fast immer in diesem Hause, weil ihn däuchte, daß Gutheims Genius sich darinn aufhalten würde. Sein Vater wurde darüber verdrüßlich, noch mehr aber sein reicher Oheim, welcher den Verstorbenen wegen dieses Stifts allerley Ränke beschuldigte, und sagte, daß er gewiß deswegen den jungen Rose mit so wenigem Ansehen in der Welt herumgeführt habe, um Geld zu sammeln, Eduard sey leicht zu allem zu bereden gewesen, und es sey unverschämt, daß es nicht einmal die Rosische Stiftung heissen solle, da doch lauter Rosisches Geld dazu verwendet worden sey. – Dieser rauhe Ton, und die Anklagen der Niederträchtigkeit [18] gegen einen Mann, dessen Andenken Eduarden so heilig war, den er überall vermißte, der Zwang, den er sich anthat, zu schweigen, und nicht mehr so oft in das geliebte Haus zu gehen – alle das drang durch die sanfte Seele des Jünglings mit einem neuen bittern Schmerz; denn seine Arbeit mit dieser Stiftung war eine Art süsser Zerstreuung für ihn geworden, die man nur hätte sollen gehen lassen, um ihn nach und nach wieder erheitert zu sehen. Denn er würde sich in den Zusätzen seiner Wohlthätigkeit, in jedem neuen Buch, in jeder Zeichnung durch den von ihm gestifteten Maler gefallen haben, und eine so edle, gutthätige Selbstgefälligkeit stimmt gemeiniglich zur Gefälligkeit für andre. Jeder Besuch des Stifthauses, den sich Eduard aus kindlicher Achtung für den Willen seines Vaters versagte, schien ein Abbruch an seinem Leben zu seyn; und da er zugleich in grosse Gesellschaften gezwungen wurde, die er nie hatte leiden können, weil ihm aller Prunk und alles Geräusch zuwider war, und er auch nicht Stärke genug hatte, sich zu überwinden, oder vergnügt zu stellen, so bekam er doch immer hie und da Vorwürfe über sein Gutheimisches Wesen.

Daher entstund der innere Gram, und ein Kampf zwischen seinen natürlichen Neigungen und [19] der Begierde, seinen Vater und seinen Oheim zu befriedigen. Beydes versenkte ihn in eine Schwermuth, die an seinem Leben nagte. Man wandte alle Mühe an, ihn daraus zu ziehen, aber – es waren lauter verkehrte Hülfsmittel, die seinen Trübsinn nur vermehrten. – Er suchte meistens allein zu seyn – da ließ ihn sein Vater belauschen. Man bemerkte, daß er Klavier spielte, und dabey sang – da gab der Vater Konzert, und ließ mit vielen Kosten Sänger und Sängerinnen kommen. – Aber Eduard hörte kaum zu, und gieng an der Seite seines Vaters blaß, hager, vor sich hinschauend in dem Saal umher, gleich als ob ein schönes Gespenst mit neumodischer Kleidung geschmükt, den alten Rose umschwebte. – Eduard hatte in England alle die herrliche Kupfer von Angelikas, Reynolds und Wests Gemälden gekauft: diese besah er auch manchmal, wenn er allein war. Als man ihn gerad bey den lieblichen Bildern verschiedener Engländerinnen antraf, so wurde vermuthet, die Liebe müsse einen Antheil an seinem Tiefsinn haben – da war Spiel und Ball veranstaltet, wo Witz, Schönheit und Anmuth der artigsten Frauenzimmer aufgefodert wurden, um den Geist der schwarzen Schwermuth von dem jungen Rose zu verscheuchen. – [20] Aber auch dieses Mittel gleitete fruchtlos vor seinen Augen und an seinem Herzen vorüber. –

Sein Oheim starb, und man rieth nun dem Vater eine Reise mit seinem Eduard zu machen, um zu sehen, ob nicht etwa ein andrer Himmel, und andre Gegenstände mehr würken sollten. Der Vater that es, und führte ihn nach H. – Es schien Eduarden zu gefallen: da ließ er ihn bey seinem Freund Walden, und bat diesen, ja alles anzuwenden, um das traurende Gemüth seines einzigen geliebten Sohns wieder zurecht zu bringen, und Kosten darauf zu wenden, so viel er wollte.

Nun gab es wieder eine Menge Versuche, ihn durch Musik, Gastmale, Land- und Wasserspazierfarthen zu ermuntern. Viele Wochen lang ließ es Eduard aus stiller Gefälligkeit so hingehen, war dankbar für jede Mühe, die man sich für ihn gab, lächelte Beyfall zu artigen Entwürfen, die man ihm vorlegte, aber immer sank sein edel gebildeter Kopf mit tieferer Trauer, und tieferer Stille auf seine Brust. – Als sie eines Tags von einem sehr schönen Landfest zurükkamen, wurde er gefragt, wie es ihm gefallen habe – da sagte er Herrn Walden, indem er ihn bey der Hand faßte: –


»Es war alles recht schön, und viele schätzbare Menschen da – aber ich bitte Sie! führen [21] Sie mich nicht mehr oft in Gesellschaft zu reichen und lustigen Leuten. Ich gönne herzlich allen ihre Freude und ihr Wohlseyn. Aber ich fühle es, mein Gram wird sich da nicht heilen – er wird stärker – und er wird mich tödten – dann komm ich in ein stilles – stilles Land, zu meinem Gutheim – ich – wäre es wohl zufrieden, wenn nur mein lieber Vater nicht um mich jammerte« –

Herr Walden wurde über diese Erklärung etwas verlegen, und glüklicher Weise gab ihm halber Unmuth, und halbes Mitleiden den Gedanken ein, dem jungen Rose zu sagen:


»O wenn der Anblik von muntern und glüklichen Leuten Ihre Schwermuth vergrösert, so sollen Sie morgen mit mir in ein Haus gehen, wo Sie keine Spur davon antreffen werden. – Beruhigen Sie sich über unser heutiges Fest.« –

In der That führte er Eduarden den andern Tag mit sich in das Haus einer Wittib mit sechs Kindern, die von dem vereinigten Allmosen lebte, welches acht Familien zusammenlegten, und worüber Herr Walden die Rechnung führte, der immer den vorletzten Tag des Monats zu der Frau gieng, und nach ihr und den Kindern umsah. Er sprach beynah [22] nichts mit Eduard, da er ihn durch die Strassen führte. Dieser glaubte, er würde in ein Spital geleitet, wo er freylich unglükliche Menschen genug finden würde; aber sie kamen durch einen einsamen Hof in ein niedrig Gebäude. Herr Walden klopfte an: eine freundliche Kinderstimme rief – herein – und es hüpfte auch gleich ein hübscher kleiner Knabe zu Herrn Walden, der voraus gegangen war, und unsern Eduard jeder Empfindung überließ, die ihn fassen möchte. In einer grossen Stube war in einer Ecke ein Tisch, an welchem drey Mädchen von verschiedenem Alter sassen, und ämsig nähten; auf der andern Seite im Fenster war eine Frau von etlich und vierzig Jahren, und ein gefälliger Knab von dreizehn, die an grosen Rädern Wolle spannen; der kleine Bube und ein Mädchen sassen auf der Erde, und zupften Wolle. In der ganzen übrigen Stube war nichts als ein kleines Gesimß mit Büchern, und ein Klavier. Aber die Fenster, der Boden und die hölzerne Stühle waren äusserst reinlich und nett, und die Kinder alle in grober, aber sehr weisser Leinwand, und starkem braungestreiftem Zeug gekleidet, die Mädchen ohne Haube, nur ihre Haare in Flechten um den Kopf geschlungen. Alle waren so sittsam, und dabey mit einer Art froher Bewegung der Seele aufgestanden, und hatten sich [23] gegen Herrn Walden geneigt, bey Eduards Anblik aber etwas zurük gestuzt. – Herr Walden gieng zu der Frau, und gab ihr ein Päkchen, welches sie mit einer Thräne im Aug annahm, und sich mit vielem Anstand dabey verbeugte, alsdenn aber leise mit Herrn Walden sprach, wobey ein halber Blick auf unsern Eduard ihm anzeigte, daß die Rede von ihm seye. Herr Walden antwortete auch ganz laut, Sie möchte es nicht übel nehmen, daß er jemand mitgebracht habe, es wäre der gute Sohn eines Freunds, der mit ihm spazieren gegangen. Die Frau sah Eduarden mit einer nachdenkenden sorglichen Mine an, und dann auf ihre Töchter, welche auch um sich gesehen hatten, aber nach dem ernsthaften Blick ihrer Mutter die Augen gleich wieder auf ihre Arbeit hefteten, und nicht mehr aufsahen, selbst da Eduard mit Herrn Walden weggienge. Denn die Frau sagte: Es kann für den fremden Herrn nicht angenehm in dieser Stube seyn – ich will sie in unser Gärtgen führen, wo ich Ihnen etwas zu zeigen habe. –

Herr Walden wandte sich, und Eduard, der zunächst an der Thüre war, mußte zuerst hinaus: aber – er wankte – er hatte Thränen in den Augen – das Bild der Armuth dieser Familie hatte ihn ausserordentlich gerührt – diese blühende Kinder [24] alle – in einer Art von Gewölbe – weit von allen Freuden des Lebens, von allem Genuß der Jugendjahre – der strenge Blick der Mutter, in welchem er ihre Beängstigung wegen seines Daseyns laß – ihr Eilen aus der Stube, alles bekümmerte ihn.

Nun waren sie an dem kleinen Gärtgen, welches durch die mühsame Arbeit der Wittib und ihrer Kinder entstanden war. Denn sie hatte den Eigenthümer dieses öden Platzes gebeten, aus dem dritten Theil des Hofs, welches der einzige Platz des ganzen Umfangs war, der von der Sonne beschienen wurde, die Steine ausheben zu dörfen, um den Boden umzugraben, damit sie etwas Gemüs pflanzen, und ihre Kinder einige Freude haben möchten. Es wurde ihr gerne gestattet, und sie hatte es in zwey Jahren so gut bearbeitet, daß würklich recht schöne Beeten Grünes da standen. Jedes grosse Kind hatte eines angebaut, und besorgte es. Ein grosses Stük war lauter Graß, auf welchem Wäsche und Garn zum Bleichen ausgebreitet lag. –

Hier – sagte die Frau, auf eine Ecke der Mauer weisend – sehen Sie, was unser freundlicher Nachbar, Herr Garbe, meinen Kindern für ein Geschenke gemacht hat – der Gärtner wollte bey dem Beschneiden der Bäume einige Aeste mit Blüthen abnehmen, die über die Mauer herunter [25] hiengen – meine Juliane arbeitete gerad in ihrem Garten-Feldgen, und bat den Gärtner, er möchte doch die Zweige stehen lassen: er lachte sie aus, schnitt einen Zweig ab, und warf ihn für sie hin – Sie hob ihn auf, und sagte mit Thränen:


»Ach Gott! wenn wir arme Kinder nur einen einzigen Baum mit so schöner Blüthe hätten, wie glüklich wären wir?« –

Herr Garbe, der in seinem Garten spazieren gieng, hörte dieses, und stieg selbst auf die Leiter des Gärtners, um herüber zu sehen. – Julchen hatte den Blüthenzweig noch in der Hand, und sah nach dem Baum hinauf – Herr Garbe sprach mit ihr, und schenkte ihr den ganzen Baum, und ließ eine Lücke in die Mauer brechen, damit man ihn herüber biegen konnte – Julchen war fortgelaufen, alle ihre Geschwister zu holen, daß sie das schöne Geschenk sehen möchten – die Jubelfreude meiner Kinder ergötzte den Herrn Garbe, und da mein Friz sagte:


»O wenn ich nur ein paar Reife hätte, so bände ich sie in die Ecke der Mauer, und einige Aeste daran! – das würde eine kleine Laube, wo die Mutter im Schatten sitzen, und uns zusehen könnte, wenn wir im Gärtgen arbeiten.«

[26] Der gute Mann wurde gerührt, und schickte gleich den Gärtner mit Reifen, der sie befestigen, und auch die Zweige binden mußte. Er schenkte uns die Bank dazu, und – sagte sie mit Bewegung – es geschieht noch mehr – denn ich finde nun alle Sonnabend einen Gulden auf der Bank in Papier, mit der Aufschrift: für Frau Sittens Kinder, ohne nach dem Geber zu fragen – ich habe den zweyten Tag auch ein Papier an den Bindfaden befestigt, in welchem ich meinen Dank und meinen Segen ausdrükte, aber seit diesem Tag sahen wir Herrn Garben nie wieder.

Walden wünschte der Wittib Glück, und Eduard dachte an das holde Mädchen, welches über dem Blüthenzweig geweint hatte. Hübsch hatten ihm alle drey Töchter geschienen, aber Juliane war nun das Mädchen seines Herzens geworden. Der Gedanke, daß ihr sanftes Mitleiden mit dem Baum das Herz des Herrn Garbe zu der edelmüthigen Wohlthat gestimmt hatte, durch die sie alle Sonnabend den Gulden erhielten, machte ihm das Mädchen um so werther – denn alles, was Tugenden erweckte, war anziehend für ihn. Herr Walden war weit entfernt, die nachdenkende Mine, mit welcher Eduard seine Augen auf das Feld geheftet hielt, das Juliane anbaute, nach diesen [27] Ideen zu beurtheilen, und dachte in sich, er würde ihn doch wieder klagen hören. Er schickte sich zum Weggehen, Eduard verbeugte sich gegen die Frau Sittens, und sah aus, als ob er von seiner Mutter weg müßte. Er zögerte, und endlich faßte er den Muth zu sagen:


»Frau Sittens! darf ich Sie nicht manchmal besuchen?« –

Sorge und Sehnsucht war in seinen auf sie gerichteten Augen. – Frau Sittens war verlegen, sie fühlte Freundschaft für den Jüngling: Aber er war schön, und eben das anziehende, das sie empfand, gab ihr um so mehr Sorge für ihre Töchter. Sie wollte nicht Nein – und nicht Ja sagen, sondern antwortete mit der Frage:


»O wie können Sie verlangen, Besuche in einem Hause zu machen, wo Sie nichts als Kummer und Armuth sehen werden?« –

Eduard, dessen Gesichtszüge und Ton der Stimme so voll Empfindung waren, faßte sie bey der Hand:


»Ich wünschte, theure Frau Sittens! daß Sie unter der Hülle dieses, meinen Reichthum anzeigenden Roks mein redliches Herz sehen könnten, so wie ich Ihre Tugend in ihrer Armuth sehe!«

[28] Die Frau sah ihn mit Rührung an, dachte nach, und wandte sich endlich zu Herrn Walden: –


»Ich kan erst morgen eine Antwort geben, verzeihen Sie mir heute.« –

Eduard bückte sich bescheiden und schweigend; aber seine Blicke waren lauter Bitten um eine günstige Antwort. Herrn Walden sagte er, das gröste Vergnügen, so er ihm machen könnte, wäre ihm den Zutritt in das Haus der Wittib zu schaffen. Dieser Mann war froh, ihn einmal etwas mit Eifer wünschen zu hören, und gieng zu Frau Sittens, um es ihr vorzutragen. Sie machte Bedenklichkeiten wegen ihrer Töchter. Da ihr aber Herr Walden von dem Gemüthszustand des jungen Rose erzählte, so willigte sie endlich ein, daß Eduard manchmal kommen dörfte, – weil sie hofte, Gott würde, da sie das Kind eines Fremden retten helfe, die ihrige nicht zu Grund gehen lassen. Doch solle Herr Rose nicht zu oft kommen, und wenn sie nicht zu Haus sey, gleich wieder weggehen, und mit ihren Töchtern nie viel reden.

Eduard verehrte die mütterliche Vorsicht, und kam dabey in einer äuserst simpeln Kleidung mit seiner bescheidenen gefühlvollen Mine, der Sittens zu danken, und bat sie, ihm zu sagen, was ihre Söhne lernten. Sie antwortete mit einem Seufzer[29] – »Ach lieber Herr Rose! dieß, was ich sie lernen kann, Religion, Lesen, Schreiben, etwas Rechnen und Geographie, die mir von meiner Erziehung geblieben ist – Mein guter Friz war in einer Lehre, er wurde aber so hart gehalten, daß er diesen Winter, von Schlägen und Kälte blau und starr zu meinen Füssen kniete, und mich bat, ihn wieder anzunehmen. Er will lieber Taglöhner werden, als die Kunst des Mannes lernen, der ihm so unmenschlich begegnete – Ich bin über meine mütterliche Liebe getadelt worden, aber ich konnte mein Kind nicht in das Elend bannen, da es Hülfe bey mir suchte. Er arbeitet Tag und Nacht am Spinnrad – Sonn-und Feyertäge lernt er mit seinen Schwestern bey mir, und unterrichtet auch seinen kleinen Bruder.« – Eduard sah mit thränendem Aug nach dem Knaben, gab ihm die Hand, und nahm auch eine von der Mutter, welcher er sagte: –


»Wollen Sie, gute Frau Sittens! mir erlauben, Ihren Friz zu unterrichten, und für ihn zu sorgen? Herr Walden kann Ihnen sagen, daß ich gereißt bin, und etwas gelernt habe.« –

Die gute Mutter war es zufrieden, Frize aber noch mehr, und den andern Tag brachte Eduard schon Bücher und Kupferstiche mit, denn er wollte den jungen Sittens führen, wie Gutheim ihn geführt [30] hatte. Da nun aber Friz nicht mehr so viel spinnen, und Geld verdienen konnte, so zahlte Eduard alle Wochen ein schönes Kostgeld für seinen Schüler, mit welchem er auch den Garten ganz allein bearbeitete, und also die Mutter und die Töchter überhob; und so begierig er gewesen, den Nahmen Julchen einmal aussprechen zu hören, so nahm er doch eine ruhige Mine an, als er die liebenswürdige zweyte Tochter bey diesem Ruf aufstehen, und der Mutter folgen sah. Eine gleich zärtliche Ahndung hatte ihn abgehalten wegen des Klaviers zu fragen: er hofte, und wünschte, daß es Julchen seyn möchte. Aber er forchte sich vor der doppelten Bewegung seiner Seele, welche die sanfte Töne des Klaviers, und der Gedanke, daß sie unter Julchens Fingern klingen würden, hervor bringen könnten – da würde die Mutter das Geheimniß seines Herzens errathen, und neue Sorgen bekommen. – Er schwieg also lang von der Musik, ob er schon manchmal bey dem Eintritt in den Hof merkte, daß jemand spielte, und auch endlich Julchen davon wegeilen sah, als sie ihn erblickte. – Oft beobachtete er, daß Julchen stille auf ihre Näharbeit hinweinte, wenn er mit ihrem Bruder so innig von Gott, von den Wundern der Natur, von der Schönheit der Tugend, und dem Vergnügen des Wissens sprach, oder ihren [31] Bruder lobte und umarmte, weil er alles so gut faßte, so gern lernte, und ihm Liebe zeigte. – Eduard sagte ihm einst: »Bester Friz! du lohnst mich für die Freude, die ich meinem Gutheim gab, denn dies, was ich über dich fühle, empfand er durch mich.«

Er gab der Mutter alle Wochen zwey Dukaten, aber – sie solle ihren Kindern nichts davon sagen, denn diese sollten ihn immer als Freund, niemals als einen Wohlthäter ansehen. – Die redliche Frau sagte es Herrn Walden. Dieser versicherte sie, daß sie dieses Geld mit Ruhe behalten könne, indem diese Ausgabe des jungen Rose sehr wenig sey, wenn man betrachte, was andre Söhne von nicht so reichen Häusern in Spiel und schlechter Gesellschaft verschleuderten. Doch schrieb er alles an den alten Rose, der über die anfangende Heiterkeit seines Eduards sehr erfreut war, und der Wittib noch ein schönes Geschenk für ihre Kinder versichern ließ, und seinem Sohn die Erlaubnis gab, einmal den Friz Sittens zu sich zu nehmen, aber mit den Töchtern möchte sie sich in Acht nehmen, daß Eduard nicht angekettet würde. Dieses schmerzte die vortrefliche Frau, die ehemals selbst in einer blühenden Handlung gestanden, und nur durch Unglück und den frühen Tod ihres Mannes herunter gesunken war. – Eduards gute, edelmüthige [32] Seele, der ganz andre Gesinnungen als der Vater zeigte, hinderte sie, ihm den nämlichen Augenblick ihr Haus zu verbieten.

Die Sachen blieben also, wie sie bey Ankunft dieses Briefs waren, von welchem Eduard nichts gesagt wurde. Dieser hatte die Mutter auch um etwas frühere Feyerstunden gebeten, wo sie sich mit ihren Kindern in das Gärtgen zusammen setzten, ein Abendbrod assen, das Eduard besorgte, und er ihnen dann von seinen Reisen und seinem Lehrmeister erzählte, und oft das süsse Glück genoß, Julchens schönes blaues Auge mit der reinsten Anhänglichkeit auf sich geheftet zu sehen, in denen immer eine sympathetische Thräne glänzte, wenn sein grosses braunes Auge überfloß.

So giengen vier Monate hin, als Eduards Vater seinen Sohn wieder zu sehen verlangte, indem es ihm nur halb recht war, daß sein Eduard niemand als eine arme Familie besuchte. Er dachte auch genug nachgegeben zu haben. – Eduard versprach in vierzehn Tagen zu kommen. Aber sein Herz empfand, daß er ohne Juliane Sittens nicht mehr leben könnte: doch war er unschlüßig zwischen dem, was er für sein Glück, und dem, was er für die Zufriedenheit seines Vaters thun wollte, und nahm sich vor, auf einige Zeit zu seinem Vater zu [33] gehen, und sich zu bemühen, ihn zu dem Besten der Sittenschen Familie einzunehmen. Aber ohne von Julianens Herz versichert zu seyn, wollte er nicht fort, und da ihm in den Tagen dieses innerlichen Streites gar nicht um vieles reden zu thun war, so gieng er im Sittenschen Hause an das Klavier, spielte vortreflich, aber lauter melancholische Gänge und Aufschlüsse. Julchen wandte sich mit ihrem Stuhl und Näharbeit so, daß sie gänzlich seitwärts, hinter ihn zu sitzen kam, und ihn spielen sehen konnte. Der kleine Heinrich hörte ihm eine Weile aufmerksam zu, denn die andern waren alle bey der Garnbleiche im Garten – endlich sagte der Junge: – »O! Sie müssen was Lustiges spielen – es ist heute Julchens Geburtstag.« – Wie ein Pfeil drang es durch seine Seele: – »Ach! ist sie für mich gebohren?« –

Er hatte aufgehört zu spielen, und sah nach Julchen hin, die durch sein trauriges Spiel gerührt, durch das Geschwäz ihres Bruders etwas ungedultig, und durch Eduards Blicke völlig aus aller Fassung gebracht wurde. Er stund auf, wünschte ihr Glück, aber er stammelte, als er sprach, setzte sich wieder zu spielen, aber es klang verwirrt und abgesetzt – er gieng zu der Mutter in die Küche – »Frau Sittens! es ist heut Julchens Geburtstag, [34] wie ich höre. Wollen wir ihn nicht feyern, und diesen Nachmittag eine Spazierfarth auf dem Wasser machen?« –


Lieber Herr Rose! das ist unmöglich, ich kann meinen Kindern kein anders Fest, als eine Umarmung und meinen Seegen geben, und dieß hat Julchen heut früh erhalten. –

»Ey Frau Sittens! Sie denken doch wohl, daß ich die Ausgabe besorgen werde.«


Das glaube ich gewiß, aber ich bin nicht in Umständen, mit meinen Kindern Belustigungen zu geniessen, die nur begüterten Leuten zukommen. Ich bitte Sie, lieber Herr Rose! sagen Sie ja keinem nichts davon, lassen Sie die arme Schafe in der Unwissenheit der Freuden dieser Welt –

»Seyn Sie ruhig, liebe Mutter! ich habe noch nichts gesagt« –


Das ist recht gut, antwortete sie. –

Eduard gieng dann allein in den Hof, um mit sich zu sprechen. – Die Frage, ob Julchen für ihn geboren sey, erfoderte Antwort – er kam in die Stube zurük. Er fand Julchen noch auf ihrem Stuhl sitzend, aber ihr Kopf lag auf dem, welchen er verlassen hatte. Sie war allein – er [35] näherte sich ihr, faßte sanft, und mit etwas Zittern das erstemal ihre Hände –

»Julchen! was fehlt Ihnen, meine Beste? – sagte er mit der Stimme der innigsten Liebe. – O seyn Sie nicht traurig! lassen Sie mich trauren, ich muß abreisen« –

Julchen fuhr auf, schlug die Hände zusammen, und mit Schmerz ihn anblickend, sagte sie nur mit halbem Laut – Abreisen müssen Sie?


»Es ist Ihnen also leid, mein theures Julchen! wenn ich weggehe! Könnten Sie mich wohl mein ganzes Leben um sich sehen?«

Dieß fragte er, eine ihrer Hände an sich drückend, mit der schönen Feuerröthe der nun, zu Sehnsucht und Hofnung gewordenen Liebe eines jungen Mannes von 24 Jahren –

Julchen ohne Verstellung, ohne Künsteley – sagte voll Unschuld und Zärtlichkeit: –


O wie glüklich wäre ich, lieber Herr Rose! wenn ich Sie immer sehen könnte!

In diesem Augenblick fand Eduard auf einmal, durch die Stärke der Liebe, einen entschlossenen Ton. – Er umfaßte Julchen mit Entzücken – drückte sie an seine Brust, und sagte mit erhabener Stimme: –


[36] »Julchen! ja du sollt mich immer um dich sehen, als deinen Gatten, als deinen Eduard Rose – denn du bist in diesem Augenblick meine Braut.«

Julchens Kopf sank unter der Bürde von Freude, und neuen überwältigenden Gefühlen auf Eduards Arme. Die Mutter hatte laut reden hören, und kam in die Stube – ein tödtlicher Schrecken befiel sie, als sie ihre Julie von Rose umfaßt, da sitzen sah – Eduard rief ihr zu: –


»Mutter! sey nicht böse – Julchen ist meine Braut – gieb uns deinen Seegen.« –

Die arme Frau schlug die Hände zusammen, und schrie: Ewiger Gott! und sank unmächtig auf einen Stuhl – Julchen fiel mit einem Strom von Thränen und Jammergeschrey zu ihren Füssen auf die Knie – Eduard holte Wasser, um die Frau zur Erholung zu bringen. Als sie wieder bey sich war, schwur er ihr, daß Julchen allein seine Gattin werden sollte – die Mutter umarmte das Mädchen –


O mein Kind! – mein armes Kind! das hab ich befürchtet, o Herr Rose, wie unglüklich machen Sie uns!

»Ich – Sie unglüklich?« – rief er mit Staunen.

Sie erzählte ihm nun das Verbot seines Vaters, und Herrn Waldens Ermahnungen. Schnell nahm Eduard seinen Hut, und eilte weg. Julchen [37] und ihre Mutter weinten laut: da kamen die andre Kinder auch, und ohne zu wissen, was vorgegangen war, nahmen sie Antheil an dem Weh ihrer Mutter und Schwester –

Eduard lief nach Haus, nahm den Freund seines Vaters allein, den er mit einem finstern und zerstörten Wesen antraf, das er aber nicht achtete, sondern mit dem grösten Jast ihn fragte: ob sein Vater würklich der Wittib Sittens dieses Verbot habe machen lassen. – Walden antwortete beklemmt – Ja, Herr Rose! es ist wahr – aber – da stockte er, und Eduard voll von seiner Liebe und dem Bild des Wehs der guten Wittwe fiel ein:


»Es ist eine Grausamkeit gewesen, dieses der so rechtschaffenen Mutter zu sagen – Sie hat mich nicht angekettet, mein Herz hat mich verbunden, und ich werde nie, als mit Juliane Sittens glüklich seyn. Schreiben Sie es meinem Vater – reisen Sie mit mir zu ihm, und helfen Sie mir ihm vorstellen, daß er doch seinem einzigen Sohn seine Liebe durch die Einwilligung in dieses Bündnis beweisen solle – denn was fehlt Juliane Sittens als Gold? Habe ich nicht genug durch die Sorgfalt meines Vaters! zu was soll es mir helfen, wenn ich nicht eine tugendhafte Neigung meines Herzens vergnügen darf, mit einem edlen [38] und liebenswürdigen Geschöpf zu leben, durch welches ich meine Gemüthsruhe wieder fand? O Herr Walden! ich beschwöre Sie bey dem Glück Ihrer Gattin und Ihrer Kinder, nehmen Sie sich um das Glück meines Julchen und meiner an!«

Er konnte lange fortreden, eh der gute Walden aus seinem Staunen kam. Sie schwiegen beyde eine Zeitlang – Walden nahm den Eduarden bey der Hand –


»Ach Herr Rose! Sie haben keine Sorge, keine Fürsprache mehr nöthig – Sie sind Ihr eigener Herr! Ihr Vater lebt nicht mehr.« –

Nun stand Eduard wie vom Blitz getroffen, – wehklagte mit halben Worten – weinte – fragte endlich nach den Umständen dieses unerwarteten Todes. – Walden gab ihm einen Brief, den der alte Rose noch an seinen Sohn geschrieben, und ihn segnete, seine Freude bezeugte, daß er noch die Nachricht von der Erheiterung seines Gemüths erhalten habe, und ihm für die Bereitwilligkeit zurück zu kommen dankt, freut sich auch, seine Handlung und sein Vermögen so erhalten zu haben, daß sein Eduard glücklich werden, und auch andre nach seinem guten Herzen glücklich machen könne. – Dieser Brief erleichterte Eduards Herz, und schien ihm eine Einwilligung in seine Wünsche zu seyn. Er bat also [39] Herrn Walden, doch einen Augenblick mit ihm zu der Sittenschen Familie zu gehen, die er so gäh, und in einer solchen Traurigkeit verlassen habe.

Als sie hinkamen, fiengen alle an, auf das neue zu weinen, denn die Mutter hatte indessen den andern Kindern alles erzält – Eduard eilte zu ihr, sein Julchen bey der Hand fassend – »O Frau Sittens! Sie müssen meine Mutter werden – ich habe meinen Vater verlohren« – Sie sah ihn stockend an, weil sie nicht gleich begreifen konnte, was er wollte. Aber Herr Walden erklärte es, und sagte, daß nun der junge Herr Rose sein eigener Herr und Besitzer eines grossen Vermögens sey. Der Brief des Vaters wurde vorgelesen, und gewiß waren niemals Thränen und Freude näher beysammen, als sie in dieser Stunde, in dieser Familie waren. Der Abschiedsbrief des alten Rose an seinen Sohn rührte sie alle ungemein. Aber da Eduard am Ende sich feyerlich mit ihrer Juliane verlobte, und sie als Brüder und Schwestern anerkannte, so durchbebten tausend Hofnungen ihr Herz. –

Die holde Juliane hatte ihr achtzehentes Jahr angetretten – ihre Mutter, die in der Frühstunde über sie weinte, weil sie dachte, daß ihre Tochter nur zu Kummer gebohren sey, und in Armuth verwelken werde, sah nun Mittags Ein Uhr, wie dieses Julchen, [40] als geliebte Braut eines edlen und reichen Mannes, der Seegen ihrer Mutter, und das Glück ihrer Geschwister geworden war. Eduard bate den Herrn Walden, Anstalt für Trauerkleider der ganzen Familie zu machen. – Er führte sein Julchen in den Garten, und zeigte ihr den Platz, auf welchem sein Herz die erste Wünsche nach dem ihrigen machte, noch ehe er wußte, ob sie oder die ältere Schwester das Mädchen sey, welches über den Blüthenzweig geweint hatte. Julchen lächelte ihn, den Baum und den Himmel sittsam und dankbar an, indem sie die Hände faltete und sagte: –


»O mein Gott! was glükliche Thränen waren das?« –


Meine Julie! du sollt nie keine andre mehr weinen, wenn es in der Gewalt deines Eduards ist. – Du bist der Engel meiner Ruhe und meines Lebens; ich – hoffe der, von deiner Zufriedenheit, und von dem Wohl deiner theuren Mutter und Geschwister zu werden – nur eines mein Julchen! will ich von dir bitten –

»Was mein Eduard! mein guter Eduard! was kann Ihr armes – armes Julchen für Sie thun?« – fragte sie ihn, eine seiner Hände an ihre Brust drückend, und ihr schönes Aug mit einer grossen Thräne auf sein liebendes Aug heftend – Eduard sagte ihr [41] dann den Wunsch, daß sie mit ihm auf dem Land, und nicht in der grossen lärmenden Stadt wohnen möge.


»O wie gerne, mein Eduard! wie gerne! das ist ja noch eine Vergrösserung meines Glücks – mit meinem Rose – mit der Natur, und den guten Bauerleuten zu leben.«

Jedes Wort von Julchen goß neues Leben in Eduards Seele, weil er immer mehr Uebereinstimmung ihres Geschmacks und Gesinnungen entdeckte. Julchen saß dann etwas nachdenkend neben ihm – blickte die Wohnung ihrer Mutter, und dann auch ihre Schürze und ihr braunwollen Wämsgen an – Eduard hatte alle diese Bewegungen bemerkt, und fragte sie –


»Julchen! was denkst du? es ist etwas eigenes in deinem Herzen.«

Mit Erröthung antwortete sie –

Ach ich möchte zwey Sachen wünschen, wenn es nicht zu viel wäre –

»Meine Liebe! es ist alles dein, was mein gehört – sage mir, was wünschest du dann?« –

Da bat sie ihn mit Schluchzen und mit gefaltenen Händen, daß doch ihre Mutter und Geschwister auch mitziehen dürften, und daß er ihnen einen stillen Aufenthalt anweisen möchte –

[42] »O mein Julchen! konntest du glauben, daß ich unsere gute Mutter, und ihre Kinder hier lassen würde! O nein, sie kommen mit, und sollen vergnügt werden. Sage mir nun den zweyten Wunsch, und mehrere, die du hast, wenn ich sie nur alle erfüllen kan.« –


Eduard! Sie können so schön zeichnen, – o zeichnen Sie mir noch vor unserer Abreise diese Wohnung und dieses Gärtgen ab, damit ich immer das Andenken ihrer Güte und meiner Armuth vor mir haben möge! –

»Es soll alles geschehen, meine Liebe – aber du sollt nicht mehr Güte – nicht mehr Armuth sagen – alles Gold meines Vaters gab mir keine Ruhe der Seele. – Deine stille Tugend gab mir sie wieder – aber du wolltest noch was sagen, und dann – was war dieses? sag es mit einem freundlichen Du Eduard!«

Beschämt sagte sie, es sey ihr nicht möglich –


»Also ist wohl an deinem letzten Wunsch, und an dem meinigen, ein zärtliches Du zu hören, nicht viel gelegen?« –


O Eduard! wie kannst du dieses sagen?


»Dank, mein Julchen! Dank für den kleinen Unmuth, der mich ein Du hören ließ! – was ist aber dein Wunsch?« –


[43] Daß ich nie zu kostbar gekleidet seyn möge – »Nein, Englisches Mädchen! du sollt immer deinem Herzen folgen – meine Juliane! wie danke ich Gott für die gleiche Stimmung unserer Herzen – wie glüklich werden wir dadurch seyn?«

Die Mutter hatte indessen mit den übrigen Kindern auch Gott gedankt – die Heurath wurde vollzogen, und sie reißten alle höchst vergnügt ab. –

Eduard gab der Mutter ein schönes Auskommen, und stattete die ältere Tochter als Frau mit seinem Buchhalter aus, welchen er mit seinem Schwager Friz in seine Handlung nahm. Er ließ am End seines Garten gegen das Dorf zu, das ganze Gebäude und Gärtgen anlegen, worinn er seine Juliane kennen gelernt – die Mauer und der umgebogene Pfersichbaum waren auch da – Julchen hatte eine unaussprechliche Freude darüber, und erhielte von ihrem Eduard die Einwilligung, von dem Schmuck seiner Mutter, den er ihr geschenkt, eine Stiftung für die Erziehung und den Unterhalt von vier armen Mädchen, einer Wittib, und einer Magd zu machen, wie er und sein Gutheim für vier arme Knaben gethan hätten. Das Haus dazu wurde in dem Dorf gleich an dem erbaut, welches Julchen ihre Heimath nannte. Ihre Mutter machte die Einrichtung darinn, und übernahm [44] die erste Aufsicht. Die Mädchen wurden da bis zu dem achtzehnten Jahr in Religion, Schreiben, Rechnen und allen weiblichen Arbeiten unterrichtet, wo sie dann in Dienste tretten, oder zu ihren Eltern gehen konnten. In beyden Fällen bekam fünfzig Gulden jede, und die Hälfte des leinenen und wollenen Zeugs und der Strümpfe, welches sie während ihres Aufenthalts in Julchens Stift gesponnen und gestrikt hatte. – Ihre jüngere Geschwister wurden auch von Eduard besorgt. Bescheidenheit – Güte gegen alle Menschen – stiller Genuß des Wissens und des Glüks waren die Züge des Familien Charakters von Eduards – und Julianens Kindern.

[45]

Liebe, Misverständniß und Freundschaft.

Elise Baumthal, ein edelmütiges, gefühlvolles Mädchen, mit herrlichen Eigenschaften des Verstandes begabt, erhielt eine sehr gute, aber für ihre Geisteskräfte unvollkommene Erziehung. Denn wenn ihre Fähigkeiten zum Denken und Wissen alle den Anbau erhalten hätten, der ihnen nöthig war, so würde dadurch das Uebermaß von Elisens Gefühl gehemmt worden seyn, und sie würde ohne vielen Kummer und ohne ausserordentliche Schritte zu machen, zu Ruhe und Vergnügen gekommen seyn.

Wißbegierde und Zärtlichkeit waren die Hauptzüge ihres Charakters. – Sie wollte studieren, und die teutsche Laura Bassi werden. Ein Oheim hinderte die Erfüllung ihres Wunsches; doch machte sie sich die Französische, Italiänische, und Englische Sprache eigen, spielte schön auf dem Klavier, und sang mit Anmuth dazu, zeichnete Landschaften, und malte Blumen in Wasserfarben; Ihre Mutter unterrichtete sie in allen weiblichen Arbeiten, und daneben [46] laß Elise mit vieler Begierde jedes Buch, das ihr vorkam, aber ohne Ordnung und ohne besonderes Nachdenken. Doch entstund aus dem Gemische von natürlichem Geist und halben Kenntnissen eine angenehme Gattung weiblichen Verstands, den die Männer mehr an uns lieben, als würkliche Gelehrsamkeit.

Elise war keine Schönheit, aber Leben, Wohlwollen und Güte waren auf ihrem Gesicht verbreitet – Anstand und Anmuth in allem, was sie that. Sie war nie, wie andre Mädchen geschmükt, hatte selten einen Wechsel in Kleidern, weil es ihre Eltern nicht vermochten, und sie auch immer eher um Lehrmeister und Bücher bat, als um neue Putzsachen. – Sie lebte nach dem Tod ihrer Eltern bey einer Verwandtin, in deren Haus sie viele Menschen kennen lernte, und mit welcher sie auch kleine Reisen machte, wodurch ihr Beobachtungs-Geist viele Kenntniß von Menschen, Lebensarten, Künsten und neuen Ideen sammelte, und in der That schöne Bilder in ihrer Seele entstunden, aber auch ein gewisser eigensinniger Geschmack in ihr Herz und Aug kam. – Sie wollte nur einen Gelehrten heurathen, weil sie dadurch ihren Geist zu bereichern hofte, aber dieser Gelehrte sollte auch weise, edelmütig und liebreich seyn. Sie wollte [47] nichts kostbares, aber in allen Sachen schöne Formen haben. – Rauhe Reden, niedrige Scherze, Geräusch, Uebermaas in Essen und Trinken – alle das war ihr unerträglich. Sie arbeitete so gern, als sie Bücher laß, und niemand kann Freunde und Verdienste inniger lieben und schätzen, als sie that. Sie war dabey immer bereit zu helfen und zu trösten, wo sie konnte.

So gieng sie mit einem Tugend- und Liebevollem Herzen bis zu End ihres neunzehnten Jahrs, als Wießbach, ein vortreflicher, mit Wissenschaften und Vermögen beglükter Freund ihres Vetters, auf einige Zeit in dem Haus wohnte, und von der angenehmen Elise gefesselt, ihr seine Liebe gab, und seine Kenntnisse mittheilte. Hochachtung und Dankbarkeit erfüllten Elisens Herz, und jeder neue Gedanke, jede edle Gesinnung von Wießbach vermehrte ihre Zärtlichkeit, und ihre Hofnung auf das höchste Glück der Liebe. Sie heftete sich allein an ihn; er war ihre Welt; Um seinetwillen und für ihn übte sie ihre Talente und jede Tugend. – Die Besorgung seiner Güter entfernten ihn oft: da waren die schönste Briefe der Ersatz für die verlohrne Freuden der Gegenwart.

Endlich kam die Zeit, wo sie denken konnte, bald auf immer ungetrennt mit dem vorgezogenen [48] Mann zu leben, und er wohnte für den ganzen Winter in einem benachbarten Haus. – Da war Entzücken bey Elise, und die Stunden des Umgangs mit Wießbach immer Eröfnung des Himmels für sie. Aber nun entdeckten sich auch natürlicher Weise die kleinste Verschiedenheiten ihrer Charaktere und ihres beyderseitigen Geschmacks, die eben so wesentlich waren, als die Uebereinstimmung vieler Ideen und Empfindungen. – Da kam es nun, daß diese zwey schätzbare Personen sich auf der schönen Höhe des süssen Glücks der edlen Liebe eben so wenig zu erhalten wußten, als andre auf dem Gipfel des Ruhms und der Ehrenstellen, weil sie zu wenig Nachsicht für die Unvollkommenheiten der andern, und zu viel Anfoderungen für ihre eigene Verdienste mit sich dahin brachten. – Elise hatte die ganze Reihe moralischer Gefühle in ihre Seele gefaßt; Sie wußte, daß ihre Ausübung Pflicht ist, und ihr Leben war ein Beweiß von der Möglichkeit, diese Pflichten zu erfüllen, so wie ihre unaussprechliche Zärtlichkeit für Wießbach ihr die Wahrheit einer vollkommenen Liebe bewiese. Aber sie machte aus diesem den Grund ihrer Erwartungen von Wießbach, und die Ursachen ihres Misvergnügens, wenn etwas fehlte. – Ach! man hätte sie lehren sollen, daß die physische Welt die vorgeschriebene Gesetze immer [49] besser befolgt, als die moralische die ihrige, und daß die Menschen bey mechanischen Arbeiten und bey den Geschäften des Kopfs es immer im Ganzen und in einzelnen Theilen eher zur Vollkommenheit bringen, als es mit den moralischen Gesinnungen des Herzens geschieht.

Elise that alles, um dem einzigen Mann, dem ihr Herz jemals ergeben war, ihre Liebe und ihre Verehrung zu zeigen; aber sie konnte nicht ertragen, wenn etwas in dem Wesen und Bezeugen des Mannes erschien, was sie nach den hohen Begriffen von seinen Verdiensten als eine Entweihung seiner Würde ansah; sie that alles für ihn, so lang als die Idee von Anbetung in ihr lag: Aber sie foderte immer Vollkommenheit von ihrem Freund. – Es ist in ihm – sagte sie – und wenn Wießbach dieses oder jenes nicht thut, wer wird es thun? die andre haben den Geist – haben die Seele nicht dazu.

Dieß gab nun manchen grossen und manchen kleinen Zwist. Elise erkannte oft in sich selbst, unrecht zu haben, wenn sie einen vorübergehenden Schatten an dem Götterbild ihres Geliebten mit Kummer geahndet hatte, weil der Anschein eines Fehlers sehr oft von den Umständen herkommt, über die wir Menschen eben so wenig gebieten können, als der Astronom über die Wolken in der Luft, [50] durch welche schon so oft die mühseligste Reise von vielen hundert Meilen, und die gehofte Beobachtung eines wichtigen Gestirns vereitelt wurde. In diesen Fällen foderte Wießbach von Elisens Verstand und Liebe mehr Nachsicht und Gerechtigkeit: – Sie hingegen erwartete von seinem Scharfsinn und seiner Edelmüthigkeit, daß er nur auf die Ursache ihrer Klagen sehen solle: und da sie aus nichts, als der vollkommenen Idee entstünden, die sie immer von ihm gehabt, so achtete sie es verzeihungswerth, indem sie sich selbst über ihre Unruhe tadelte, und so leicht Wießbachs rauhes Wesen, das sie öfters sehr schmerzte, entschuldigte und vergaß.

Sie wurde doch nach einigen dieser Auftritte nachdenkender über den besondern Weg, welchen der Geist ihres Freundes in vielen Sachen genommen hatte. Sie fühlte oft Vorbedeutung einer unausbleiblichen Kälte ganz dunkel in sich: aber sie wand sich weg von diesem Gedanken, und suchte den süssen Glauben an Glück der Liebe zu erhalten, das bey jedem neuen Frieden sich wieder zeigte.

Wießbach war edel genug, sich zu grämen, wenn er der guten, ihn anbetenden Elise mit zu viel Unmuth begegnet war: Aber unvermerkt gewöhnte er sich an die Thränen, die er dem zärtlichen Mädchen von Zeit zu Zeit im Auge sah. – Elise bemerkte [51] genau diese anfangende Gleichgültigkeit seines Herzens, obschon immer wieder Aufwallungen der feurigsten Liebe darinn erschienen, und auch Wießbach jede Gelegenheit ergriff, sie davon zu überzeugen.

Endlich zerrüttete eine Krankheit das blühende und helle ihres Gesichts und Auges; sie war blaß und etwas eingefallen: Da trat nun auch die Furcht ein, daß sie jetzo ihrem Freund nicht mehr angenehm genug aussehe, und die kleinste Mishelligkeit machte sie elend – denn sie fühlte auch Anwandlungen von Eifersucht. Sie bemühte sich aber den Geist und die Gemüthsart der Frauenzimmer auszuforschen, für welche ihr Geliebter eine besondere Achtung zeigte. Aber diese Entdeckungen dienten nur sie zu überzeugen, daß alle ihre Hofnungen Traum gewesen. Denn ihre äuserliche Gestalt in eine andre Form zu bringen war natürlicher Weise unmöglich, und der Glaube, daß ihre Grundsätze und ihre Gesinnungen gut und edel seyen, machte sie sagen, daß es nicht von ihr abhänge, etwas daran zu ändern. Und da sie dachte, daß ihre Person aufgehört hätte, ihrem Wießbach angenehm zu seyn, so faßte sie wenige Wochen vor dem zu der Trauung bestimmten Tag einen Entschluß, den keine Seele von der zärtlichen Elise erwartet hätte. Wießbach führte ihre Verwandte auf sein Landgut, um ihnen zu zeigen, was [52] er Elisen in dem Ehevertrag zu geben gedenke. Der Frau seines Vetters war äuserst daran gelegen, diese Bedingungen recht zu befestigen, weil das kleine Vermögen, welches die gute Elise von ihren Eltern ererbte, in den Händen des Bruders dieser Baase zu Grunde gegangen war, und nur noch wenige hundert Thaler gerettet wurden, welche sie vor ihrer Abreise Elisen übergab, und ihr dabey sagte, daß Wießbach um so viel großmüthiger gegen sie seyn würde, welches sie und ihr Mann bey der Ehestiftung besorgen wollten. – Ach! dachte Elise – ich weiß wohl, daß er großmüthig ist: aber das ist nicht Liebe. – Er wird bey diesen Geschenken nicht mehr mit Entzücken fühlen, daß er sie dem Geschöpfe giebt, das ihn über alles liebt, und das ihm auch das liebste ist. – Diese Art von Gedanken und ihr Plan dabey machte sie etwas krank und der Zufall wollte, daß noch in den letzten Augenblicken vor der Abreise ein Misverständniß in den Weg kam, und ohne daß sie sich erklären konnten, Wießbach in die Gutsche stieg, und Elisen ganz betäubt und traurig zurückließ, ohne daß er darauf zu achten schien. Aber wie staunte er, als zwey Tage nachher ein Bote ankam, und ihm diesen Brief brachte? –


»Nehmen Sie, mein edler Freund! den letzten Beweiß meiner zärtlichen Liebe mit Güte auf. [53] Ich gebe Ihnen Ihre Freyheit wieder – der Himmel lasse Sie bey einer andern wohl alles finden, was Sie glüklich machen kann! – Ihr Schattenriß und die Geschenke, wodurch Sie meinen Geist bereicherten und kehrten, gehen mit mir, und werden die Grundlage meines künftigen Glüks seyn, das ich aber von keinem andern Mann erwarte.«

Ihren Verwandten dankte sie für ihre Güte, und bat sie wegen ihrer Flucht und ihres künftigen Schweigens um Vergebung, – und endigte mit dem Ausdruck: weit entfernt, unbekannt werde ich für das Andenken meiner Freunde leben. – Sie sahen sich an, fragten sich – ist es möglich, daß Elise, die uns liebte, die uns so theuer war, krank schiene, und keine Bekanntschaften hatte? – Der Bote, den die Hausbediente geschickt hatten, wurde ausgefragt, ob jemand zu ihr gekommen? wie es zugegangen? Er wußte nichts zu sagen, als da Elise ihr Frühstück nicht zu gewöhnlicher Stunde verlangt habe, so hätte die junge Magd an der Thüre gepocht, und weil sie keine Antwort bekam, glaubte sie, Elise schliefe noch: da es aber bald eilf Uhr geworden, und sie noch nichts hörte, sey sie in die kleine Seitenstrasse gegangen, wo die Fenster von Elisens Zimmer hinsehen, und hätte alle Laden zu [54] gefunden, auser einem, der lotter gewesen, an welchem auch das Fenster offen stund, aber keine Seele in der Stube zu sehen und zu hören war. – Da seyen sie eingestiegen, und hätten alles leer gefunden bis auf diese zwey Briefe und etliche Paketgen Geld zu Geschenken für die Dienstboten. – Nun eilten sie nach Hause, forschten, suchten und kümmerten sich – es schmerze sie alle, besonders Wießbachen unendlich Elisen verlohren zu haben, sie unglücklich zu denken, durch ihn unglücklich. –

Endlich machte die Zeit ihre Verwandte ruhig, und würkte auf Wießbach in einer doppelten Art, wie das Andenken derjenigen würkt, die man unglücklich machte. – Anfangs ist es Trauer; Man fühlt Reue, macht sich Vorwürfe – dieß alles ist Schmerz, und unangenehme Empfindung für die Seele. Ist der Mensch edelmüthig, so verbessert und ersetzt er alles Weh, was er in einer unseeligen Stunde ausübte, um sich von diesen bittern Empfindungen zu befreyen, und wieder mit sich selbst zufrieden zu werden. – Hat aber der Beleidiger keine Grösse der Seele, so wird ihm bald der Name und das Andenken einer Person verhaßt, bey deren Erinnerung er immer Stiche fühlt, und er sucht dann alles hervor, um die unglückliche schuldig zu finden, sie anzuklagen, und also sein Betragen gegen sie zu [55] rechtfertigen. – Dieß war ungefähr der Fall mit Wießbach und Elisen. – Hätte er sie bald wieder gefunden, so wäre es gut gewesen, aber nun kehrte er so gar ihren Geist gegen sie, und er würde ein begränzteres Geschöpf mehr bedaurt, ja vielleicht mehr geliebt haben; denn die Verbindung und der Umgang, welchen er wählte – liessen es vermuthen. Er sagte auch in sich: ein Mädchen von Elisens Geist hätte nichts so übertriebenes und romanhaftes in ihre Liebe verweben sollen: wenn sie ihn wahrhaft geliebt hätte, so würde sie sich völlig nach seinem Sinn und Charakter gebogen haben, u.s.w. – Ihr Eigensinn habe sie weggeführt; sie möge sich nun die Folgen gefallen lassen – Sie habe Verstand, und würde sich schon helfen. –

Auf diese Art verscheuchte er die unwillkommne Erscheinung von Elisens Erinnerung, und lebte mit Menschen, die freylich himmelweit von dem entfernt waren, was er überspanntes Gefühl nannte. Die gute Elise hätte befürchtet, die edle Seele ihres Wießbach zu beleidigen, wenn sie nur einen Augenblick vermuthet hätte, daß Koqueterie, die man ohne Unterschied für alle Männer auskramt, oder Schmeicheleyen einen Eindruck auf ihn machen könnten, denn seine Urtheile zeigten immer die gröste Verachtung über diese gewöhnlichen Künste an, und Elise, [56] welche in sich Kenntnisse genug fühlte, um Wießbachs Geist in seinem ganzen Werth zu verehren, wollte auch mit den Beweisen ihrer Zärtlichkeit keine niedere List verbinden. – Ach die Arme! wie wenig kannte sie die Welt! Schwäzerinnen – hübsche Puppen – Schmeichlerinnen – Koqueten, alle nacheinander giengen durch Wießbachs Kopf und Herz. Er hatte den Wünschen des besten Geschöpfes widerstanden, und erlag in den Ketten einer Person, die seiner ganz unwerth war. – Sein Gemüth wurde erbittert; sein Herz troknete aus; er wurde, was seine Bücherschränke waren – lauter Gelehrsamkeit, aber ohne edles, ohne süsses Gefühl des Lebens. – Jahre vergiengen, und Elise war ganz aus ihm verschwunden.

Sie hingegen hatte ihr Herz einer Jugendfreundin geöfnet, welche an einen Beamten verheyrathet, und kurz vor Elisens Brief Wittib geworden war. Da sie nun mit ihrem Mann etwas misvergnügt gelebt hatte, so war sie gerad in der Stimmung, jedem Frauenzimmer, besonders aber ihrer geliebten Elise, alle ewige Verbindung zu mißrathen. Sie antwortete daher Elisen:


»Fliehe in die Arme der zärtlichsten Freundschaft – Ich bin frey! meine ganze Seele, und mein schöner Wittibsitz sind dein – in zehen Tagen [57] bin ich bey dir mit meinem Bruder unter fremdem Namen. – Rüste dich, mit uns zu gehen.« –

Das geschah – Elise konnte alle ihr Gepäcke zu dem Fenster hinaus geben, und dann selbst nachsteigen und wegreisen, da sie dann nach vier Tagen auf dem Wittibsitz anlangten, wo sie die ältere Schwester ihrer Freundin, und etliche kleine Kostgängerinnen antrafen. Das Haus war am End eines kleinen Flecken, der an einer unmerklichen Anhöhe liegt, die durch das allmählige Steigen zu der schönsten Aussicht führt: Oben war noch ein zerfallener Kirchthurm, und zwey Mauren des Langhauses gestanden, alles mit Epheu bewachsen, und voller Schutt.

Diese Ruinen und einige Morgen Land umher bekam der Beamte von seiner Herrschaft zum Geschenk. Er legte einen Garten an, und wurde durch ein paar Freunde, wovon der eine Baumeister war, aufgemuntert, ein zweystöckiges Haus hinzustellen, und es so einzurichten, daß im Sommer einige Personen aus der Stadt dort die Landluft geniessen, oder eine Frühlings Kur trinken könnten. – Er nahm den Baumeister bey seinem Wort; und da dieser das seltene Verdienst des guten Geschmacks und der Wirthschaft in sich vereinigte, so entstund unter seinen Händen eines der angenehmsten Landhäuser [58] auf dieser Stelle. Er nahm von dem Thurm und den Mauren alles Baufällige weg, wobey er den Epheu sorgfältig schonte; eine kleine, aber ganz hübsch gearbeitete Seitenthür der Kirche, deren Gesims über den Schutt hervorragte, machte er nach der Abräumung des Platzes zu der Hausthüre, und von dort an das Stück Kirchenmauer zum Haus, und die am End noch stehende Chor-Wand zu einer Schiedmauer im Gebäude selbst. Das noch ganz gute Pflaster der Kirche wurde zum Vorplatz gemacht. Die Seiten gegen den obern Theil des Berges behielten die Höhe, welche nöthig war, um den oben angelegten Garten stützen zu helfen; aber die gegen den Abhang zu ließ er bis auf Brusthöhe abnehmen, weil man von dort aus, nach der ganzen Länge die Aussicht auf den in einem Wald von Obstbäumen liegenden Flecken hatte. Der kleine Abhang wurde mit Reben bepflanzt, und auf der Gegenseite hiengen die Rosen- und Johannisbeersträuche über die Mauer herab; der alte Thurm wurde zum Holz und Heuschober geordnet, und Herr von Oberg ließ für sich selbst einen Flügel anbauen, von welchem man die grosse Weinberge, die viele darinn stehende Pfersich- und Mandelbäume, den schiffbaren Fluß in der Ebene, und verschiedene Dörfer vor sich hatte. Ein alter Wartthurm sahe noch über den Kastanien-[59] Wald empor, der den obersten Theil des Hügels begränzte.

Frau Laben hatte ihren Stief-Kindern gern alles gezahlt, nur um dieses Haus allein zu behalten. Sie nahm ihre Schwester, und einen auf der Universität durch eine Verwundung unglücklich gewordenen Bruder zu sich, um ihre wieder erlangte Freiheit mit Wohlthun und Freundschaft zu geniessen. Der Gedanke, nur alle Frühjahr und im Sommer Leute in dem Haus und Kost zu haben, gefiel ihr nicht; Und als der neue Beamte sie bat, seines Bruders Kinder, deren Vormunder er war, zu sich zu nehmen, weil seine Frau die vier arme Mädchen nicht leiden mochte, so fragte sie ihre zwey Geschwister: ob sie nicht, vereint mit ihr, eine Art Englischer Kostschule anfangen wollten – der Bruder hätte Theologie studirt, und da seine Lähmung ihn hinderte, ein öffentliches Amt zu verwalten, so könne er ja neben der Freyschule für die Arme des Orts auch die Kostgängerinnen in der Religion, der Geschichte und der Geographie unterrichten, auch schön schreiben und rechnen lehren – Ihre liebe Schwester würde für die Kenntniß und Uebung des Nähens, das Stricken und die Kochkunst besorgt seyn. – Sie hingegen wolle ihre Sprachen üben, und sie neben den schönen Arbeiten, die sie bey einer Tante in [60] Berlin gelernt, den Mädchen beybringen, und überhaupt für die Einrichtung und alles sorgen, und auf diese Art würden sie alle nützlich seyn, und vieles Vergnügen dabey geniessen. –

Bruder und Schwester willigten gerne ein. Frau Laben sprach mit dem Beamten, und dieser unterstützte sie bey dem Herrn von Oberg, so daß dieser ihr noch alles nöthige Holz um den halben Preiß versicherte. Nun versorgte sie ihr Haus sehr artig mit Betten und Geräthen, wie es zu ihrer Absicht taugte. Sie hatte in kurzer Zeit acht Schülerinnen beysammen; und Elise zeigte gerade damals ihren Wunsch, sich von Wießbach zu entfernen, und wurde den Frauenzimmern als eine Englische Hofmeisterin angesagt. – Eine geschickte und rechtschaffene Stubenmagd mußte sie nicht nur in Wäsche und Hausarbeit bedienen, sondern auch als Muster unterrichten helfen, was man für Arbeiten von einer Magd fodern, und wie man guten Dienstboten begegnen solle? – Eine Köchin, und eine Bauermagd, die den Hünerhof, den Gemüßgarten, und die Kühe besorgte, waren auch vollkommen in ihrer Art. –

Von alle dem sagte Frau Laben ihrer Elise kein Wort, sondern zeigte ihr nur unterwegs alle Zärtlichkeit der wahren Freundschaft, bey welcher man, wie sie sagte, viel glücklicher als bey der Liebe [61] sey. Sie führte unsere Elise, welcher schon die Gegend sehr gefiel, gleich unter die Thüre des Vorsaals, und man kann sich für ein reines fühlbares Herz keinen rührernden Anblick denken, als den sie sah. Die gerad entgegenstehende Wand des Thurms mit seiner Epheudecke machte den Hintergrund, vor welchem eine Reihe Blumentöpfe stunden. Nebenher schöne Bäume und Gesträuche von beyden Seiten – und nun mitten unter diesen blühenden Pflanzen sassen holde Mädchen von verschiedenem Alter auf kleinen Strohstühlgen mit Nähramen, worauf die ältere Blumen stickten, mit Nähküssen, wo andre an Kleidungsstücken arbeiteten, einige Spitzen klöpelten, strickten, ein paar artige kleine Geschöpfe, die mit ihren zarten Fingern niedliche Schnürriemen schlangen, kleine Tischelgen mit Schiebladen hatten – alle in roth und weißstreifiges Leinen gekleidet, mit weißen Schürzen und Strohhüten, – Sie sprangen bey dem Gruß der Frau Laben auf, riefen so herzlich, willkomm! hiengen an ihren Hals und Arme, und küßten sie. – Was ein Auftritt für Elise! wie tief drang das alles in ihre Seele. – Tugend und Güte in ihr – Unschuld und liebreiche Weisheit vor ihr – Natur und Himmel frey offen um sie – über ihr – alles nahm sie ein – und machte sie in ihrem Herzen sagen – Hier – hier! [62] bleib ich mein ganzes Leben! Ihre Freundin hatte auf diese Würkung gezählt, und ihr deswegen nichts im voraus gesagt. – Aber als die Kinder anfiengen nach Elise zu sehen, sprach sie: –


»Da, liebe Mädchen! habt ihr eine gute Englische Tante, die bey uns wohnen will.« –

Nun bückten sich die lieben Kinder alle, und blickten auf Elise, die ihre beyde Hände küßte, und ihnen zuwinkte, aber gleich weggieng, weil sie bis zu Thränen gerührt war.

Frau Laben führte sie in ein artiges Zimmer des zweyten Stocks, von welchem man auf eine Altane gehen konnte, die von der schönsten Linde beschattet wurde. Elise war über die Aussicht auf die göttliche Gegend ganz entzückt: Vögel aller Art flogen um den Baum, sangen auf seinen Zweigen, und waren so heimlich, daß sie auf dem Geländer der Altane ihr Futter holten – Elise hatte einige Zeit ganz still und staunend neben Frau Laben gestanden: Endlich fiel sie ihrer Freundin um den Hals, und sagte: –


»O Julie! wo hast du mich hingeführt?« – Zum Genuß der reinen Natur, und der wahren Freundschaft, meine Elise! wenn nun die Mittheilung deiner Talente und deiner Tugend dich freut, wenn die Liebe deiner Julie, und [63] die von meinen Zöglingen dich über das, was du verliessest, schadlos halten können, so hilf mir die gute Kinder erziehen, und den Beweiß geben, daß wir ohne Männer, und ohne ihre Liebe glücklich seyn konnten, und daß der Werth unserer Verdienste und unsers Lebens nicht von ihnen abhängt. – Elise sagte bewegt:


»Gerne, meine Liebe! recht gerne will ich Antheil nehmen an deiner Tugend und an deinen Beschäftigungen, aber meine Beste! ich bin arm an Vermögen und Geist.« –


Dein Vermögen, meine Elise! habe ich nicht nöthig, und nähme es nicht, wenn du auch Peru hättest, denn meine Zöglinge sollen keinen Reichthum sehen als den von Geist, von Tugend und den Schönheiten der Natur. Genuß des Vergnügens ist einmal die Hauptangelegenheit der Menschen, und da wollen wir den guten Geschöpfen zeigen, was edle und vernünftige Personen für eine Menge wahrer Freuden in ihrer Gewalt haben.

Sie zeigte dann Elisen das ganze Haus, und sagte ihr alle Einrichtung der Arbeiten und Lehrstunden. Alles war einfach, geschmackvoll und höchst reinlich. Elise fragte ihre Julie, wie sie auf diesen Gedanken gekommen sey?


[64] Aus Widerwillen an dem gewöhnlichen Ton der Freude und des Wehklagens der Leute, die ich zwey Sommer hindurch hier hatte, weil mich dünkte, daß sie weder Vergnügen noch Schmerz auf der rechten Seite kannten, – und dann aus der so gewöhnlichen Begierde, seine Ideen in andre zu pflanzen – vielleicht auch, weil ich dieses Haus nach meiner wieder erlangten Freyheit auf eine andre Weise benutzen wollte, als ich bey meinem harten und gebieterischen Mann thun mußte.


»Machtest du den Plan auch selbst? und warum alles im Englischen Geschmack?«


Weil ich die Nachahmungssucht der herrschenden Mode benützen wollte – man trägt Englische Hüte, Englische Kleider, ißt Pudding, läßt Gutschen aus England kommen, und Gärten anlegen, wie ihre sind – so, dachte ich, wird man vielleicht auch eine Anstalt begünstigen, wenn sie nach dem regierenden Ton ist – und dann kostet es die Eltern und mich weniger schon in den jetzigen Ausgaben, und bewahrt meine liebe Mädchen auch in Zukunft vor dem öftern kostbaren Wechsel, weil einmal die Englische Gebräuche nicht so schnell über das Meer kommen, als die Französische über den Rhein; [65] und dann, wenn man sich in einer simpeln Kleidung schön gefunden hat, so bleibt man gerne dabey: damit geschieht nun für alle diese Familien Gutes, und ich werde auch in meinen Einrichtungen nicht so oft durch die Erinnerung – das ist Mode – gestört.

Elise war sehr zufrieden, und übernahm die Rolle der Englischen Tante nicht nur in der Kleidung und in den sanften Manieren, sondern sie lehrte auch die Kinder die Englische Sprache, Lieder und Tänze. Ihre Belesenheit in der Englischen Geschichte und Geographie gaben ihr immer Anlaß hie und da etwas nützliches zu erzählen und zu empfehlen: – denn die wenige Worte – so machen es junge Miss – wurden zu einer grossen Triebfeder des Fleisses und der Folgsamkeit. Elise blieb auch dabey besser verborgen, und die Schule erhielt neues Verdienst und Kostgängerinnen.

Frau Labens Bruder hatte Auszüge aus dem Schauplatz der Natur gemacht; Auch Elise laß Stücke aus den vier Büchern von Wundern der Natur und Kunst in allen Theilen der Welt; und mit dem Mikroskop, einem Geschenke von Wießbach, das sie mitgebracht, wurde nun alle Sonntage nach dem Gottesdienst einiges betrachtet – Mückenaugen und Flügel – der vermeinte Staub [66] auf den Schwingen der Schmetterlinge, der als Federn erkannt ist – die verschiedene Holzgewebe – der Muschel-Sand und anders: – dieses prägte die Ehrerbietung und Liebe für den Schöpfer tief in die junge Seelen. – Elise lehrte sie Klavier spielen, zeichnen, in Wasserfarben malen; Sie laß Poesien mit ihnen: Und wie sie anwuchsen, so wurden sie auch in Führung des Hauswesens unterrichtet. Verstand und Geschicklichkeit zu zeigen, war der Bug, durch welchen man ihre Eigenliebe ein Vergnügen im Wissen und Arbeiten finden lehrte. Alle Gattungen weiblichen Verdienstes wurden ihnen bekannt gemacht – der vor nehmen und geringern, der Reichen und Armen: und sie mußten dann wechselsweise nach Maaßgab der erlangten Kenntnisse und Jahre Entwürfe aufsetzen, wie sie sich in diesen und jenen Umständen gegen Freunde und andre bezeugen wollten, wie sie Feste geben, Hausgeräthe, Kleider und Beschäftigung wählen würden, was sie in Unglück und Krankheiten, als Hülfsmittel und Trost ansehen würden? u.s.w.

Elise war ganz vortreflich, um einen edlen Geschmack des Geists und Herzens zu bilden; doch hütete sie sich sorgfältig, ihnen nur das mindeste von dem Ton ihres Charakters zu geben, weil sie die traurige Erfahrung gemacht hatte, daß man [67] weder sein eigenes, noch der andern ihr Glück befördert, wenn man zu weit von der gewohnten Bahn abgeht. Es wurde immer ein Theil der Mädchen von ihr, der andre von Frau Laben spazieren geführt, wo jede von beyden etwas besonders nützliches sagte, oder eine kleine Belustigung gab: dieß mußten sie dann, wenn sie nach Haus kamen, einander erzählen und beschreiben, um auch gut reden zu lernen, so wie sie ihren Eltern von ihrem Fortgang in Kenntnissen und Arbeiten Nachricht geben mußten. – Man lehrte sie aber auch schweigen, einmal aus dem Grund, wie schön es sey, wenn eine vernünftige Person durch einige Gedanken gezeigt habe, daß sie Kenntnisse besitze, aber gar nicht das Wort allein führe, sondern mit Bescheiden heit es andern überlasse, und dann aus schuldiger Achtung für seine Mitmenschen, daß auch sie glänzen, und ihren Werth zeigen können.

Sie bekamen, wie ihre Hofmeisterinnen, nie mehr als zwey warme Speisen, und dann wechselsweiß Obst- oder Backwerk, welches letzte immer von einer der Schülerinnen verfertigt seyn mußte. – Blumen und Gemüß Gärtnerey, Milch, Butter und Käßzubereitungen machten auch einen Theil des Unterrichts, den sie in Oberg genossen. Kein Augenblick blieb ohne Nutzen, und keiner ohne Vergnügen. [68] Für Gesundheit und Schönheit wurde unter dem ernsten Namen von Pflicht gesorgt, mit welcher man die Geschenke der Natur zu erhalten schuldig sey; aber auch immer Erzählungen gemacht, in denen bald auf diese, bald auf jene Art die Anmuth der Sitten, die Reitze der Güte und Sanftmuth, und die schätzbare Verdienste des Geists und Talente den Vorzug über die äusserliche Schönheit erhalten hatten, und dabey gesezt wurde, alle Vorzüge des Körpers seyen Glück des Zufalls – aber Adel und Schönheit der Seele sey eigene Wahl, eigen erworbenes Gut, welches keine Krankheit, kein Schicksal zerstören und nehmen könne. Denn Elise benützte ihre Lieblings Idee von der Königin Christina, daß ein edles Herz jeden Stand adle, worinn es sich befindet. Es wurde ihnen auch von allen möglichen guten und bösen, klugen und thörichten Men schen gesprochen, die sie in der künftigen Zeit ihres Lebens unter Verwandten und Miteinwohnern, und auch unter Hausbedienten antreffen würden, und immer dabey die edelste würksamste Beweggründe zum Dulden der Unvollkommenheit, zur Verbesserung und zu dem immerwährenden Aufsuchen der guten Seite angegeben.

Die Eltern der vier ersten Kostgängerinnen, die heimkamen, fanden sich in ihren Kindern so [69] glücklich, und alle, welche die junge Frauenzimmer sahen, wurden mit so viel Hochachtung für ihre Lehrerinnen erfüllt, daß beynah alle Wochen Briefe anlangten, worinn Frau Laben gebetten wurde, neue Schülerinnen anzunehmen, so daß sie endlich die Zahl auf zwanzig festsetzen mußte, aber es allein in der Zeit thun konnte, da eine verwittibte Frau Schwester des Herrn von Oberg in das herrschaftliche Gebäude zog, weil sie nicht reich genug war, in einer Stadt nach jetzigem Ton standesmäßig zu leben. Diese verehrungswürdige Dame fand vieles Vergnügen bey dieser Erziehungsanstalt, und willigte gern in die Bitte, nicht nur die älteste Kostgängerinnen in ihrem Haus wohnen zu lassen, sondern auch durch die Erlaubniß, sie zu besuchen, den Anlaß zur Uebung in Lebensart und zu feinem Betragen in der Gesellschaft zu geben.

Elise war glücklicher, als sie nie gehoft hatte. Ihr zu zärtlicher Anhänglichkeit gewöhntes Herz hatte Gegenstände der reinsten Liebe gefunden. Sie genoß und vermehrte ihre Talente, indem sie sie mittheilte. Die herrliche Lage des Hauses in der schönen Gegend, der weite offene Himmel dabey, von aller Bosheit und niedrigen Leidenschaften entfernt, mit der süssen Pflege aufkeimender Tugenden, Fähigkeit und Schönheit beschäftigt, von Julie Laben [70] als ein Schaz betrachtet, von den Mädchen angebettet, und von den Eltern gesegnet – was wollte sie mehr? Jahre flossen als Wochen vorüber, und jedes endigte mit dem unschätzbaren Zeugniß des innern Richters unserer Seele – Gutes gethan zu haben.

Wießbachs Geschenke an Büchern, und Zeichnungen, die er gemacht, wie auch sein Bild zierten ihre Stube, und waren ihr der geliebte Schatten des vorübergegangenen Glücks ihrer Frühlingstage. Sie dachte manchmal daran; aber die wohlthätige Zeit hatte dem Bild des Gefälligen seine Reize, und dem Weh seine Schärfe genommen; Ruhig erinnerte sie sich ihres Freunds, und ruhig machte sie Wünsche für sein Wohlergehen.

Elise hatte in ihrer Vaterstadt den Ruhm der besten und anmuthsvollsten Tänzerin gehabt: Tanzen war auch ihre herrschende Leidenschaft, ehe Liebe es wurde, und sie gab in Oberg den jungen Frauenzimmern Unterricht in dieser Kunst, und tanzte bey den Uebungstagen herzlich mit, wo sie und ihre Klavier- Schülerinnen wechselsweiß spielten, oder auch Frau Labens Bruder mit der Flöte, und der Küster mit der Violine, da waren. Es traf sich, daß gerad auf den Tanztag zwey neue Kostgängerinnen anlangten; Frau Laben war froh, daß sie [71] ihnen durch den Anblick des Tanzens sogleich eine angenehme Vorstellung von Oberg machen konnte, und führte sie also unter die Thüre des Vorsaals, wo sie zusahen: die Mutter und der Oheim, welche die zwey Mädchen begleiteten, giengen auch mit, und wurden durch die Ordnung, die Freudigkeit und das liebliche Gewühle der niedlichen Tänzerinnen ergözt und gerührt – der Oheim aber am meisten, als er auf einmal in der Führerin des Reihens Elisen erkannte, und sich nur mit der äußersten Mühe von dem lauten Ausruf des Staunens zurückhielt.

Elise schauerte auch ein wenig, als sie bey dem ersten Blick auf die Fremde Wießbach sah: – doch hatten ihr acht Jahre ausübender Tugend und Klugheit, Stärke des Gemüths gegen alle Zufälle und Hochachtung für sich selbst gegeben, so daß sie sich gleich faßte, den Tanz endigte, und sich mit ihren Untergebenen den Fremden näherte, welche ihr dann von Frau Laben genannt wurden. Das Tanzen hatte Elisens Gesichtsfarbe erhöht, Wießbachs Anblick aber Erinnerungen erwekt, die ihre Munterkeit in sanften Ernst versenkten – es war, wie Wießbach sich ausdrückte, ein Zirkel von Würde und Güte um sie her, der sie zu dem Schein eines höhern Wesens erhob. – Sie grüßte die Mutter und Töchter mit dem edelsten Anstand,[72] drehte sich gegen Wießbach, und sagte ihm mit der so bekannten Stimme, die ihm nun Nachhall der Liebe zu seyn schien: »Ich hoffe, daß Sie Ihre Nichten mit Vergnügen in diesem Hause sehen werden.« – Er konnte nicht sprechen, sondern nur staunen, und sich verbeugen. Elise hatte auch ihr äusserstes gethan, mußte sich erholen, und wollte ihn schonen. Sie wandte sich also an die Mädchen, und fragte, ob sie es zufrieden seyn würden, manchmal mit zu tanzen und dann bey den Blumen auszuruhen? Sie winkte dabey gegen die andre, die sich nun anboten, den neu angekommenen den Saal und die Blumen zu zeigen. Ein paar von den ältern brachten ihnen nach dem eingeführten Gebrauch zwey Töpfe mit Blumen zum Willkommsgeschenke.

Unterdessen hatte Frau Laben die Mutter und den Oheim in das Haus geführt, um ihnen die Zimmer ihrer Kinder zu zeigen; Wießbach gieng ganz Maschinenmäßig mit, hörte nichts, was gesagt wurde, und kam nur zu sich, als Frau Laben bey Eröfnung einer Thüre sagte: – »Hier ist das Zimmer meiner Freundin Elise.« – Er schaute umher, fand seinen Schattenriß, unter demselben die zwey Weltkugeln, das Fernrohr und Mikroskop, den kleinen Spiegel mit schwarzem Grund zum Landschaftzeichnen, die Theetasse mit seinem und Elisens [73] Namenszug, nebst den Büchern, welche er ihr gegeben, und dachte wohl auch einige Stellen zu sehen, auf welchen noch einsame Thränen um ihn geflossen seyn mochten. Seine Schwester fragte nach dem Frauenzimmer, und Frau Laben sagte so viel rühmliches von ihrer Gehülfin, daß Wießbach in Bewundrung und Reue kam. Denn diese schätzbare Elise war einst sein, er alles für sie – sein unzärtlicher Starrsinn hatte sie von ihm fliehen machen, und er hörte nun auch, daß nicht vier Tage Unterschied zwischen ihrem Verschwinden bey ihm, und ihrem Eintritt in diese edle Laufbahn waren. Das Bild von Elisens Verdiensten, das von ihrer zärtlichen Liebe für ihn, die so schön verlebte Stunden ihres Umgangs, umschwebten ihn. – Ihm ward bang in diesem Zimmer – Er gieng nach dem Vorsaal –

Elise stand allein an einem Baum, und sah nachdenkend in die Ebene hinunter, während die Kostgängerinnen mit den neuen Ankömmlingen herumspazierten. – Wießbach näherte sich Elisen, und sagte:


»Theure! Edle Elise! nach so vielen Jahren finde ich Sie, nur durch den Zufall, nicht durch Ihre Freundschaft!«


[74] Sie lächelte ihm zu: Gewiß würden Sie mich durch meine Freundschaft nie wieder gefunden haben, denn diese hat mich ja sorgfältig vor Ihnen verborgen. –


»Freundschaft – Elise! O wie konnte dieses seyn, da Sie doch wissen mußten, wie sehr Ihre unbegreifliche Flucht mich schmerzen würde? –

Elise erwiederte mit gelassenem Ton:


Wir wollen von den Zeiten unserer guten und schlimmen Träume nicht mehr sprechen; sie sind von uns beyden gleich weit entfernt. Ich hatte meine Erwartungen von dem Glück Ihrer Liebe, und Sie Ihre Anfoderungen auf meine Klugheit und Nachgiebigkeit überspannt – ich wurde traurig, und Sie unmuthig – dadurch kamen wir beyde aus dem schönen Zauberkreis der ewigen unwandelbaren Liebe und Seeligkeit heraus, und es ist mir gesagt worden, daß er alsdann auf immer verschwindt, und von den nemlichen Personen nie wieder gefunden wird – hingegen sollen sie sich, wenn ihre Seelen edel waren, auf den ruhigen Gefilden der Freundschaft wieder sehen, wie ich hoffe – sezte sie mit Darreichung ihrer Hand hinzu – daß es würklich mit uns geschehen ist. –

[75] Wießbach fand in dem, was sie sagte, noch den blumigten, bilderreichen Schwung der Gedanken, den sie immer hatte, der gewiß mit ihr gebohren war, und den er ihr oft als Fehler vorgeworfen hatte, aber es war so viel Ruhe der Seele damit verbunden, als er in sich nicht fühlte; er antwortete auch mit einer Art bittern Schmerz:


»O Elise! was für einen Ton gegen Ihren Wießbach, verzeihen Sie, wenn ich sage – Sie können mich nicht geliebt haben, wie Sie und ich es glaubten: Sie könnten sonst unmöglich so kalt und spielend von dieser Zeit sprechen.« –


Ich will – sagte sie – mit meinem theuren, wieder gefundenen Freund nicht rechten. Es giebt aber Bücher, in denen weise Männer den Ausspruch thun, daß eine gewisse Gattung Kälte und Ruhe der Beweiß eines grossen erlittenen Kampfes sind. – Sie hatten allein all meine zärtliche Liebe, weil ich Sie unter allen Männern, die ich kannte, allein liebenswürdig fand, und mich freute, Sie durch meine Liebe, wie Sie mir sagten, glücklich zu machen. Meine Gestalt, und wenn ich so gerad es sagen darf, der Geschmack Ihres Herzens änderten sich zu gleicher Zeit, und da mußte ich ja auch meine Liebe, die nicht änderte, [76] auf eine andre Art zeigen. Ich gab Ihnen Ihre Freyheit wieder, und versagte auf das Glück Ihrer Liebe, aber ich habe keinen Verzicht auf Ihre Hochachtung gemacht, und ich kann sagen – sezte sie mit Würde und Bescheidenheit hinzu – daß ich sie durch jede Handlung und jeden Gedanken diese acht Jahre unserer Trennung hindurch verdient habe. – Gönnen Sie mir die Achtung Ihres Herzens, und reden Sie mir von dem Wohl Ihres Lebens, welches mir noch immer so theuer, als mein eigenes ist.

Er wollte nun aber zuerst die Geschichte ihrer Flucht und ihres Lebens wissen; Sie erzählte ihm alles, und sprach auch von dem Vergnügen, welches ihr die Erziehung der lieben Geschöpfe schenkte; Er fand ihren Geist bereichert, aber ihr Herz für ihn verschlossen. – Doch entstund ein Briefwechsel unter ihnen, in welchem sie sich als Freunde ihre Mißverständnisse erklärten, und so in eine Art von Seelen-Bündniß kamen, welches sie noch schöner fanden, als ihre Liebe war.

Elise söhnte ihn oft mit seinem Schicksal, und den Menschen aus. – Sie brachte ihn zu leutseeligem Ertragen der Fehler seiner Gattin, [77] und machte seine natürliche Sanftmuth, und Edelmüthigkeit wieder aufleben. Sie half der vortreflichen Frau Laben viele Frauenzimmer erziehen, denen Elisens Andenken, und die Tage, welche sie in Oberg zugebracht hatten, bis in ihre lezte Stunde schätzbar blieben.

[78]

Ein guter Sohn ist auch ein guter Freund.

Georg Merioneth, ältester Sohn eines höchst schätzbaren Edelmanns in Wallis, genoß wie seine Geschwister eine sorgsame häusliche Erziehung, indem die Güter des Herrn Merioneth von allen grossen Städten entfernt waren, und er dabey die vortrefliche Anlage, die sich in dem Geist und Herzen seiner Kinder zeigte, allein nach seinen Bemerkungen, die er über Menschen und Bücher gemacht hatte, ausbilden wollte: dabey dünkte es ihm der schönste Zeitvertreib zu seyn, den er für seine einsame Tage finden könnte. Er nahm den Weg des mündlichen Unterrichts, und besonders den von Erzählungen, wobey er genau beobachtete, welche Gesinnung oder Handlung der Alten und Neuen seinen Söhnen am besten gefiele, und wo sie die Begierde der Nachahmung zeigten.

[79] In Georg war Ruhe, Nachdenken und Güte: jede schöne That, jeder feine, edle Gedanke und Kenntniß hatten ohnendliche Reitze für ihn. Dem jüngern aber waren Schlachten und Siege das liebste. – Nun theilte der Vater auch seine Unterredungen ab, und sprach mit dem Helden Wilhelm von Krieg und Ruhm, mit Georg aber von Gesetzen und der Wohlfarth des Vaterlands. Beyde Brüder zogen auch jeder nach seiner Neigung die Söhne der benachbarten Pächter an sich: der eine, um ihnen die Beschäftigungen des Landbaues nach seinem Virgil angenehm und werth zu machen; der jüngere aber suchte die seinige durch Stücke aus dem Homer zu tapfern Soldaten zu entflammen, und endlich wählte sich jeder ein Vorbild in der vaterländischen Geschichte, in dessen Fusstapfen sie tretten und sich Verdienste sammeln wollten. – Wilhelm wankte lang zwischen den Siegeskronen, welche man zur See, und denen, welche der Muth zu Land erwerben läßt, aber er wählte den General Wolf. Georg aber wollte so viel möglich jede patriotische Tugend des Lord Georg Litletons besitzen, und fieng damit an, die Schriften des Lords als für ihn geschrieben anzusehen, und sich in allen seinen Gesinnungen darnach zu richten: Sein Vater hatte darüber ein sehr grosses Vergnügen, weil er selbst [80] den Lord gekannt und ihn auf seiner Reise durch Wallis bewirthet hatte. Beyde Söhne kamen nach Oxford, und wuchsen da an Geist und Charakter ganz vortreflich fort, studierten sehr gut, und kehrten noch zu ihrem Vater zurück, ehe der ältere seine Reisen, und der jüngere seine Stelle bey der Armee antraten. Der Vater sagte ihnen da, daß er jeden nach der Stadt oder der Gegend in England begleiten wolle, welchen sie zu ihrem Vergnügen zu sehen wünschten.

Georg hatte in Oxford seinen Lord Litleton nicht vergessen, im Gegentheil besuchte er die ältere Lehrer, die ihn gekennt, und die Stube, in welcher der schätzbare Jüngling gewohnt hatte; alles was Georg Merioneth von Georg Litleton erfahren konnte, machte er sich eigen, und war in den Briefen an seinen Vater ein eben so dankbarer, ergebener Sohn, als das Vorbild, welches er sich gewählt hatte. Die Natur mußte freylich die Keime übereinstimmender Neigungen in ihn gelegt haben, weil die sanft glänzende Würde von Litletons Tugend so tiefen Eindruck auf Merioneth machte; aber es gehört doch auch fester, entschlossener Wille dazu, seine Kräfte und Leben der ununterbrochenen Nachfolge eines grossen Vorgängers zu weihen: es mag auch seyn, daß Georg Merioneth nicht unter die [81] starke Geister gehört, welche sich eine neue Bahn brechen, oder die, nachdem ihre Talente durch treue Lehrer entwickelt wurden, stolz sagen: – »Ich will allein meinen eigenen Weg nehmen« – und oft mit diesem wilden Uebermuth durch angebaute Gefilde streifen, fruchtbare Bäume und Pflanzen niederreissen, und grosse Plätze verheeren, weil sie nicht nach ihrem Eigensinn gesezt und gesäet waren. Es hat immer unter den Schülern grosser Meister wieder grosse Männer gegeben, die eigenen Ruhm und eigenes Verdienst hatten, ob man sie schon als Nachfolger eines andern ansah; wollte Gott! Jünglinge wählten sich moralische Vorbilder unter Männern, deren Thaten Dank von der Menschheit verdienen, wie sich ein junger Künstler den Phidias und Raphael zu Mustern wählet, und doch eigene unsterbliche Meisterstüke liefert.

Beyde Brüder kamen nach geendigten Studien wieder nach Haus, um noch einige Zeit den väterlichen Umgang zu geniessen, ehe der ältere seine Reisen, und der jüngere seine Kriegsdienste antrat. Georg besuchte jeden Ort, welchen der edle Litleton auf seiner Reise durch Wallis, als merkwürdig angesehen hatte, und las mit Vergnügen und Bewegung des Lords Briefe darüber. Die erste Blätter [82] seines Tagbuchs fiengen mit Betrachtungen über diese Briefe an:


»Dieß ist der Ton der wahren Freundschaft, dieß ist edle Mittheilung dessen, was wir besitzen und geniessen. Möchte ich nur, edler würdiger Patriot! deinem Geist auf dem erhabenen Weg der Wissenschaft und Tugend folgen können, wie ich dem Pfad nachgieng, auf welchem du die Anhöhe des Snodons bestiegest, damit ich in dem moralischen Gebiet des Verstandes und Herzens auch so viele Kenntnisse erlange, als ich jetzo mit meinen Augen die nemliche Aussicht fasse, welche du auf dieser Stelle über das Land und das Meer hattest: und – o! mögen immer die Handlungen meines ganzen Lebens eben so weit von jeder Niederträchtigkeit entfernt seyn, als ich in diesem Augenblick über den Grund der Thäler erhoben, und näher bey dir – allmächtiger Urheber dieser Gewässer, dieser Gebürge und meines Lebens! bin!« –

Als Merioneth vor seiner Abreise den lezten Spaziergang auf den nahen Berg gemacht hatte, schrieb er noch:


[83] »Väterliches Land! mit welchem Entzüken werde ich dich wieder sehen, wenn der Eindruk des Erhabenen, den ich jetzo fühle, so stark in mir bleibt, daß ich dich, und meine würdige Eltern bey meiner Wiederkunft mit einem eben so schuldlosen Herzen, wie heut, und mit vermehrten Kenntnissen meines Geistes neu begrüssen werde!«

Theurer Jüngling! welcher Vater, welche Mutter wird nicht innig wünschen, daß dieses Verlangen deiner Seele erfüllt werde? – O! wie glüklich fanden sich Georgs Eltern, als sie dieses Stük seines Tagbuchs durchlasen, welches ihnen ihre Tochter Lydia – der Liebling ihres Georgs – ihnen heimlich brachte, als er noch zu dem Pfarrherrn gegangen war.

Nach dem Versprechen des alten Merioneth, daß er beyde noch bis an den Ort in England begleiten wollte, welchen jeder vorzüglich zu sehen wünschte, hatten beyde freymüthig gewählt, und ihr Vater hielt Wort, indem er seinen Wilhelm nach Stow in den Garten des Lord Temple führte, wo der edle Jüngling bey der Pyramide des General Wolf die schöne Thräne der Verehrung und Nacheiferung weinte; dort trennte er sich auch von seinem Vater und Bruder, nachdem [84] er bey Wolfs Namen schwor – auch ein Ehrendenkmal zu verdienen.

Georg aber gieng mit seinem Vater nach Hagley, dem Landsiz der Familie von Litleton. – Er ließ keine Stelle des herrlichen Garten unbesucht, bey jeder fand sein Herz Nahrung der Tugend, und Zuwachs zu der Verehrung, welche er dem edlen Weisen gewidmet hatte. Bey dem Grabmal der ersten Gemalin des Lords dankte er ihrem Staube noch für die glükliche Tage, welche sie dem besten Manne gegeben hatte: und da er seiner Schwester Lydia versprochen hatte, ihr immer das wichtigste zu melden, was ihrem Charakter nützen könnte, so schrieb er von Hagley:


»Theure Lydia! nach der Thräne, die ich auf Litletons Grab weinte, kann ich keine bessere Ermunterung finden, als die Aufschrift des Denkmals seiner Lucinde für dich abzuschreiben:


Lucinde war gemacht, aller Herzen einzunehmen, und aller Augen zu reizen. Sanftmuth war bey ihr mit Großmuth, Witz mit Klugheit verbunden; Sie besaß so viel feine Lebensart, als man nur am Hofe wünschen kann, und so viel Güte des Herzens, als die Welt nie gesehen. Man sahe in ihr das edle [85] Feuer einer erhabenen Seele, mit der grösten weiblichen Zärtlichkeit vereinigt. Ihre Sprache war die harmonische Stimme der Liebe, und ihr Gesang glich den melodischen Tönen der Sänger des Waldes. Ihre Beredsamkeit war lieblicher als ihr Gesang, so sanft als ihr Herz, und so stark als ihr Geist. Ihre Bildung drükte jede Schönheit ihrer Seele aus, und ihre Seele war Tugend, von den Grazien gekleidet.


Wo kann meine Lydia ein Vorbild finden, welches ihres Herzens und ihrer Schönheit würdiger wäre? – Denn gewiß Lucinda war in dem Alter meiner Schwester, was meine Lydia ist. – O! laß diesen Stein dich lehren, wie Litletons Schriften mich unterrichteten! – Sage unsern Eltern diesen Wunsch, und sie werden auf diesem schönen Wege dich leiten!« –

In dem Zimmer, worin Lord Georg Litleton starb, bat Georg seinen Vater um den Abschieds-Seegen, und gelobte ihm, ein eben so guter Sohn und Patriot zu seyn, als der grosse Mann war, dessen Geist in diesem Zimmer in die Ewigkeit übergieng.

[86] Glüklicher Vater Merioneth! was für selige Empfindungen mußten dein Herz durchströmen, als du diese Gelübde deines ältesten Sohns anhörtest? – wie sehr verdiente er die Umarmung und den Seegen, welchen du ihm gabest, als dein Georg Abschied nahm, und du ihm noch versprechen mußtest, ihm auch den Willkommskuß in Hagley zu geben, wenn er deiner und Litletons würdig geblieben seyn würde.

Nun trat er die sogenannte grosse Reise an; Seine bis zum Starrsinn getriebene Anhänglichkeit an Georg Litleton machte ihn zuerst alle Orte besuchen, die in des Lords Briefen bezeichnet sind. – Warum nennt man aber dieses Festhalten Starrsinn, wenn ein junger Mann selbst etwas für seinen Geist wählt, das ihm nicht vorgeschrieben wurde? – Jeden Aufsatz der Haare, jeden Schnitt des Kleids eines französischen jungen Flatterkopfs dürfen sie nachahmen, sein Bezeugen und Redensarten kopiren, ohne Vorwürfe zu hören, und den schönen Vorsatz: »Ich will wie Georg Litleton denken und handlen« – diesen solle er nicht ungetadelt durchsetzen können? – Wie glüklich war unser Merioneth, einen so weisen Vater zu haben, welcher, zufrieden, daß sein Sohn das Gute liebte und wollte, nicht den so kleindenkenden Eigensinn hatte,[87] daß es nach seiner Art und seinem Ton seyn sollte? – Er sagte keine Sylbe gegen das genaue Nachahmen des Vorbilds. Er wußte wohl – der rechtschaffene Mann – daß die, seit Lord Litletons Leben abgeänderte Lage der Personen und Sachen auch natürlicher Weise dem Charakter und der Denkungsart seines Sohns einen von Litleton sehr verschiedenen Ton geben würde, da indessen das selbst gewählte Bild von Rechtschaffenheit und Würde in dem Grund der Seele bliebe.

Diese Vermuthung des Vaters traf ein. Lüneville in Lothringen hatte keinen eigenen Fürsten mehr; in Soissons und Hause Fontaine, wovon in Litletons Briefen so viel stund, war kein Englischer Minister Poyez mehr: – aber doch andre merkwürdige Personen, Gewohnheiten und Gegenstände der Kunst, so daß Georg Merioneth mit allem seinem Nachahmungseifer nichts thun konnte, als eben so aufmerksam alles zu betrachten, und mit der kindlichen Ehrerbietung seinem Vater davon zu schreiben, wie Litleton es zu seiner Zeit gethan hatte. Es trat noch eine Verschiedenheit ein. Denn Georg Merioneth wollte nie in öffentlichen Geschäften erscheinen, aber seinem Vaterland im Landbau nützen, Moräste austroknen, Wasser ableiten lernen, sollte er auch nur für zwey Familien urbares [88] Land gewinnen, und nur hundert Bäume für die Nachkommen pflanzen, das schiene ihm reizend genug. – Daher hielt er sich am End der Wanderung durch Lothringen und Deutschland am längsten in Holland auf, weil diese Nation am meisten Fleiß und Kunst besizt, durch welche man Meere und Flüsse bezwingen kann. Dann besuchte er Italien, und erlangte durch diesen Reiseplan einen schäzbaren Vortheil. Denn da seine Seele für alles edle und grosse offen war, so genoß er in Italien die Freude, jedes erhabene Bild der Natur und Kunst zu fassen, welche unserm Geschmak so viele Würde und Gründlichkeit geben, daß sie durch die tausend glänzende Artigkeiten, welche Paris darbietet, nicht mehr ausgelöscht, nicht mehr umwandelt werden können.

Georg bewunderte die reiche Erfindung und den Geschmak der Französischen Künstler: aber er wurde durch nichts geblendet, durch nichts hingerissen, ob ihn schon eine Art Aehnlichkeit mit Lord Litleton erwartete: denn er traf einen Schwarm ausschweifender Landsleute an, deren Umgang er nicht ganz vermeiden konnte; und als er den jungen Bervin darunter fand, sie auch nicht vermeiden wollte. Denn das Verderbniß der Sitten und der Gesundheit eines der schönsten vortreflichsten Jünglinge [89] jammerte ihn. Er hofte eine Art Schuz und Stütze für ihn zu seyn, damit er nicht ganz zu Grund gerichtet würde.

Georg Merioneth schrieb diesen freundschaftlichen Kummer an seinen Vater, und bat ihn um Rath, wie er es machen sollte, einen jungen liebenswürdigen Mann zu retten:


»Sie haben meine Seele vor dem Zutritt jeder niedrigen entehrenden Leidenschaft bewahrt. Helfen Sie mir, theurer Vater! einen Jüngling aus den Ketten unanständiger, sein Leben und sein Glük zerstörender Belustigungen befreyen!«

Er hatte aus feiner Schonung seinen jungen Freund nicht genannt, weil Bervin der einzige Nachkömmling einer verdienstvollen Familie in Wallis war, der seine Eltern schon lange verlohren hatte, und von einem Oheim mit der zärtlichsten Sorge erzogen und geliebt war. Merioneth wollte also nicht, daß weder sein Vater, noch irgend jemand in Bervins Vaterland etwas von seinem schlechten Leben wisse, sondern er wollte ihn zurükziehen, zu seinem Freund machen, und mit Verdiensten begabt wieder nach Haus führen.

Sein Vater antwortete ihm:


[90] »daß nichts schwerer sey, als einen Jüngling von der Idee eines gewöhnten Vergnügens abzubringen, die Verführer deines Freundes haben seine schwache Seite gefunden, und bey dieser ihn gefesselt, suche sie auch zu kennen. Gieb auf das Acht, was ihm schmeichelt, was er am meisten mit Begierde wünscht; geh in seine Neigungen, lehne ihm Geld, wenn er gerne spielt, und verliert. Gieb dem Mädchen, das er liebt, Geschenke, und suche, durch sie ihn auszuforschen, um auf eine oder andre Art seine Eigenliebe zu gewinnen, und dann gebe dir sein guter Engel eine glükliche Stunde, deine erhaltene Gewalt wohl zu gebrauchen!

Sein Georg befolgte diese Vorschrift, und er konnte es: denn ob er wohl mit Kälte und ohne Theilnehmung sich bey einigen lärmenden Gesellschaften fand, so mochten sie ihn doch wohl leiden, weil er sich nie das Ansehen eines Strafpredigers gab, und einigen von ihnen mit edlem freymüthigen Wesen Geld vorstrekte, wenn sie in Verlegenheit waren. Er bemerkte bald, daß Bervin vieles von seiner Gestalt und von dem Ruhm eines großmüthigen Spielers hielte. Und der erste dieser Fehler hatte ihm noch immer eine Art Sorge für seine Gesundheit [91] eingeflößt: aber das Loben seines edlen Spielens machte ihn zum nachläsigen Verschwender.

Merioneth zeigte ihm so viel unausgesetzte Liebe, daß endlich Bervin einmal ihn fragte:


Was machst du dann bey uns, da du keinen unserer Grundsätze annehmen willt, und keine unserer Freuden mit uns theilst?


»Es ist wahr, daß ich als Gesellschafter nicht zu euch tauge, aber als Freund, als Landsmann von dir, kann ich mich nicht losreissen. Es liegt etwas in dir, das mich an dich heftet. – Ich bekenne wohl, daß ich deinen Umgang manchmal gerne allein geniessen möchte. Aber da dich dieses nicht freuen würde, so bleibe ich, wo du gerne bist.«

Dieses gefiel unserm Bervin. Er umarmte den Merioneth, und sagte dabey:


Du bist ein guter, aber wunderlicher Mensch, dem die Zeit in der Welt sehr lang werden muß, und besonders in den Tagen, wo wir andre am allerlustigsten sind.


»Du betrügst dich, mein Lieber! denn ich unterhalte mich alsdann mit Betrachtungen über euch, und sehe oft in dem rohesten Gedanken die Grundlage eines grossen irre gegangenen Geistes, und denke mir, was dieses [92] für Redner im Parlament geben wird – oder welcher die Anlage zu Wighs oder Torys hat – und dann, (setzte er mit einem Händedruck dazu –) freut es mich zu denken, daß die Tasse Punsch, welche ich trinke, eine weniger für dich ist, weil ich dadurch deine Gesundheit und deine herrliche Bildung um so viel länger erhalten sehe.«

Berwin und die übrige lustige Brüder drangen einst alle in Merioneth, ihnen seine Gedanken über sie zu sagen, denn sie verbärgen ihm nicht, daß er ihnen zweydeutig vorkomme, indem er jedes Vergnügens schon satt seyn müsse, und sich bey ihnen aufzuwecken suche, oder daß er sie nur belausche. Die, welchen er einigemal Geld gelehnt hatte, fielen ein:


daß Merioneth dieser niedrigen Rolle unfähig sey, und daß sie nicht zugeben würden, daß man dieses von ihm sage und glaube.


»So wollen wir wissen, warum er keinen Antheil an nichts nimmt, und doch gerad zu uns kommt, wenn er weiß, daß es am buntesten zugeht.«


»Weil ich sehen wollte, ob eure Gattung Schwärmerey endlich etwas anziehendes für mich bekommen würde. Aber ich finde, daß die Macht der Gewohnheit eben so sehr auf mich würkte, wie auf euch. Ihr bleibt bey [93] eurem Sinn, und ich bey dem meinigen: Es war edel, daß Ihr mich unter euch duldetet, und mir meine Freyheit gelassen habt; aber ich würde auch unrecht gethan haben, zu fodern, daß ihr denken sollt wie ich.«

Sie lachten und schüttelten die Köpfe zusammen. Aber auch von dem Tag an beobachtete immer der eine und andre unsern Merioneth. Dieser hatte seinem Vater alle Nachrichten fortgegeben, und endlich auch in dem Lauf eines Briefs Berwins Namen geschrieben, indem er über den schwachen Jüngling jammernd sagte:


»O hätte Berwin meine Schwester Lydia gesehen, eh er Paris sah! gewiß wäre seiner von Natur edlen Seele, Ruhe und eine Hütte in Wallis nah bey Lydiens Vater lieber gewesen, als alles, was er jezt für liebenswürdig hält.«

Indessen waren zwey neue Wildfänge zu der Gesellschaft gekommen, die zu allem Unglük sehr reich, und völlig unabhängig waren. Den ersten Abend wurde nun unmäßig gespielt. – Berwin verlohr vieles: Merioneth hatte es vermuthet, und Geld zu sich genommen, um ihm auszuhelfen: – Berwin wurde sehr gerührt, als Merioneth, der am Fenster stand, und von Ferne ihm zusah, ihm ein [94] Zeichen gab, zu ihm zu kommen, und im Nebenzimmer seine Taschen füllte, ihn umarmte, und weggieng. Nun wurde auch dieses Geld alle verlohren, und am Ende bey der ärgerlichen Zeche fragten die Fremde nach Merioneth. Die meiste hatten schon Wein, und sprachen also gerad, wie sie dachten. Als die zwey neue Herrn hörten, daß er wohl gut zum Geld lehnen, aber gar nicht zu einem lustigen Umgang sey, so sagten sie:


»Wer Geld brauche, dem wollten sie geben; aber wer mit aus ihrem Punschkessel trinke, müsse leben, wie die andern Brüder alle.« –

und es wurde beschlossen, entweder sollte Merioneth werden wie sie, oder für seine abschlägige Antwort, die natürlicher Weise einen geheimen Tadel ihrer Lebensart in sich schliesse, müsse er gehörige Genugthuung geben. Alle mußten schwören, ihm nichts davon zu sagen. Der Auftritt, welchen die verirrte Rotte veranstaltete, brauchte einige Tage Zubereitung, so daß Merioneth, welcher, aus Liebe zu Berwin, in einem Kabinet versteckt, alles angehört hatte, auch seine Maasregeln nehmen konnte. Berwins Betragen hatte ihn gefreut, denn er war etwas nachdenkend, trank nicht so viel als die andre, und sprach mit Freundschaft und Ruhm von seinem Merioneth, ob er schon dabey in die Probe willigte, [95] welche man mit seinem Freund machen wollte, und auch die Verschwiegenheit mit beschwor. Am Ende mußten auch alle versprechen, sich die Zubereitungstage über ordentlich zu halten, damit sie alle Kräfte hätten, den Angriff durchzusetzen, und einen recht lustigen Tag zu geniessen.

Merioneth war ernsthaft nachdenkend zu Hause; er überlegte, was er mit seiner Liebe, und dem Mitleiden für Berwin thun sollte. Denn um seinetwillen in die zubereitete Grube voll wilder Thiere zu gehen, das konnte er nicht. Er wollte an Berwin schreiben, von seiner Abreise sprechen und ihn einladen, mit ihm zu gehen; aber Berwin kam den andern Tag zu ihm, sah manchmal traurig ihn an, und schien sehr zärtlich zu seyn. – Merioneth erwiederte jedes Kennzeichen seiner Freundschaft auf eine edle, aber etwas ernsthafte Art: Berwins Ton entstund aus Liebe – aus Besorgniß vor alle dem, was dem rechtschaffenen Merioneth bevorstund, und aus der Verlegenheit zwischen dem tollen Schwur des Schweigens, und aus Furcht vor der Rache der jungen verwilderten Leute, wenn er reden sollte.

Merioneth fühlte Schmerz und Bedauren über die Lage seines Lieblings, und war noch nicht mit sich einig, was er thun sollte. Lang konnten [96] sie also nicht beysammen bleiben. Berwin sagte aber beym Weggehen, da er seinen Freund umarmte, und länger an sich drükte, als sonst: –


Es ist nicht, weil du mir Geld gabest, Merioneth! eine bessere Ursache heftet mich an dich. – Willt du nicht mit mir zu Ruthan gehen? es wäre vielleicht gut. – Du wirst bemerkt haben, daß er viel Verstand hat.

Berwin sah in diesem Augenblik so gut, so gefühlvoll aus, daß Merioneth über diesen schönen Ausdruk seiner Züge auf den glüklichen Gedanken kam, ihm zu sagen:


Ja, ich will mit dir zu Ruthan gehen. Erweise mir aber noch vorher den Gefallen, mich zu einem Bildhauer zu begleiten, und laß den ersten Versuch deines Brustbilds machen. – Ich werde nicht lange mehr hier bleiben, und da möchte ich mir das Andenken der edlen geliebten Züge versichern, welche würklich auf deinem Gesicht verbreitet sind.

Berwin willigte gern in den Besuch bey dem Bildhauer, fragte aber auch nach der Zeit der Abreise seines Merioneth: –


»Vielleicht in zwey Tagen.«

Nun erheiterten sich Berwins Augen, und er drükte die Hand seines Freunds mit Vergnügen, weil er [97] jetzo von der doppelten Sorge frey war, entweder einen Schwur zu brechen, oder seinen Merioneth in wenigen Tagen einer grossen Gefahr ausgesezt zu sehen. Denn nie hatte er gehoft, daß Ruthan, der neue Oberherr der ausschweifenden Bande, etwas über die Grundsätze seines Freunds gewinnen würde. –

Armer, junger Mann! wie viele schwache irrende Brüder hast du in unserer feinen und grossen Welt? – die sich auch scheuen, ihre Hand aus einem strafbaren Bündnis heraus zu ziehen, und ohngeachtet des innern Gefühls von dem Unrecht ihrer Handlungen, und des Bilds von Weh, welches ihre Vergehen über das Leben ihrer Eltern – ihrer besten Freunde – ja oft über ein unschuldiges sie liebendes Mädchen verbreitet, dennoch aus Furcht vor dem Spott eines Bösewichts, der stärkere Knochen, und mehr Ruchlosigkeit als sie hat – auf dem Weg des Verderbens ihm nachfolgen, und sich stark achten, wenn sie den Anfoderungen der Gesetze, der Sitten und der Religion, den Ermahnungen ihres Vaters, und den Thränen der Mutter widerstehen. – Grausamer Göze des falschen Glüks und Vergnügens! – wie viele Schlachtopfer blühender Jugend und Verdienste liegen röchelnd in dem Abgrund, der deinen Altar umgiebt! – O! möge [98] die Thräne der Menschenliebe, die für euch arme verblendete geweint wird, Erquickung für euch werden in dem Augenblick der Angst, wo euer Wohlstand, und euer kaum genossenes Leben sich endet!!

Ich konnte mich nicht verhindern bey der Betrachtung über Berwins Charakter diesen Gedanken Raum zu geben. – Unsere junge Leute kamen indessen zu einem grossen Meister der Bildhauerkunst, und Berwins Kopf wurde gelobt und geformt. – Es gefiel ihm, ein Gegenstand der Liebe und der Bewundrung zu seyn. Merioneth gab ihm diese zweyfache Freude zu kosten. – Er hatte auch in Verlegenheit für ihn gesorgt. Unwillkührlich, aber deutlich empfand er, daß Merioneth einen grössern Werth von Freundschaft in sich faßte, als die übrige ausgelassene Herrn alle, an die er sein eigenes, und Merioneths Geld verschwendet und verspielt habe. Doch führte er seinen Freund zu Herrn Ruthan, weil er mit diesem Besuch ein Verständniß zu stiften hofte.

Ruthan bezeugte sich sehr artig, in der Absicht, unserm Merioneth Vertrauen einzuflößen. – Sie sprachen von Reisen, von Merkwürdigkeiten, Anverwandten, Studien und Lustbarkeiten. –


Nach was sahen Sie dann besonders bey ihrem Herumwandern? sagte Ruthan zu Merioneth. –


[99]

»Ob andre Europäische Völker mehr Glük und bessere Sitten hätten, als wir Engelländer, und ob ich etwas davon zu uns verpflanzen möchte?


Da sind Sie kein so guter Patriot als ich. Denn ich glaube, daß kein glüklichers und grösseres Volk lebt, als wir, und ich suche nur alle fremde Belustigungen zu kosten, um die beste davon mit mir überzuschiffen, unsere Freuden zu vermehren, und dadurch Wohlthäter meiner Nation zu werden.


»Ich wünsche recht sehr, daß Sie viel gute Entdeckungen machen mögen. – Denn ich taugte wenig zu dieser Untersuchung.« –


Sie scheinen doch gesund, und munter zu seyn, warum sind Ihnen die Ergözlichkeiten der Jugend so gleichgültig?


»Sie sind mir nicht gleichgültig, aber ich liebe nur wenige davon.«

Welche sind diese wohl?
»Alle, wovon ich sicher bin, daß sie meinen Vater nie betrüben, und mich nie reuen werden.«
Da lebt Ihr Vater noch? und wo?
»In Wallis, aber er ist mir immer gegenwärtig.«

[100] Hier lachte Ruthan, schief nach ihm blickend –


Ich bemerkte wohl, daß Sie noch mit gebundenen Händen, und ohne den Schlüssel zu der Geldkasse herumreißten. Berwin! wie glüklich sind wir? frey in allem, wie ein Britte es seyn soll, ohne Väter, die uns fesseln, und Herrn unsers Vermögens. –

Merioneth wollte keine beleidigende Sylbe auffassen – aber doch nach seinem Charakter sprechen: –


»Wenn ich auch meinen geliebten Vater nicht mehr hätte, so würden die Gesetze seine Stelle einnehmen, und meine Schritte bezeichnen.«

Die Gesetze will ich auch kennen lernen, wenn ich sie andern zu geben habe – sagte Ruthan, indem er auf die Aussicht anspielte, einen Platz in dem Oberhaus des Parlaments zu haben, und setzte hinzu –

Was meinen Sie davon, Herr Merioneth! –


»Daß Sie nach Ihren Gesinnungen reden, und ich nach den meinen.«

Welche ziehen Sie vor?

»Die meinige« –

Ruthan fuhr auf, und wollte heftig werden, bedachte aber, daß er dadurch das ganze grosse Fest zerstören würde, und er überwand sich genug, um lächelnd zu sagen, indem er nach seiner Uhr sah –


[101] Ich muß fort. – aber, Herr Merioneth! ich werde einmal diese Frage wiederholen, und dann sagen Sie mir die Ursache dieses Vorzugs. –

Berwin war schon besorgt, es möchte in dieser Stube einen Auftritt geben, und staunte über Merioneths kurze und ernste Antworten: Er wollte doch auch noch was sagen, und wünschte also


bey der Erklärung zu seyn – denn ich möchte den Plan des Herrn Merioneth kennen –


Das ist leicht zu erfahren, mein lieber Berwin! – ich will ein guter Sohn, und ein guter Freund seyn. – Ich will den Gesetzen folgen, bis die Zeit kommt wo ich als Vater, als Patriot, und Theilhaber der Gesetzgebenden Macht auftretten werde. –

Berwin erröthete vor Angst, als er Ruthan vor Zorn erröthen sah: dieser aber wandte sich um, und blinzte mit den Augen gegen Berwin, und nochmals auf seine Uhr sehend, wiederholte er, daß er zu einem Besuch verbunden sey, und sie aber bald wieder zu sehen hoffe. – Nun war jeder Gedanke eines Einverständnisses verschwunden. – Berwin umarmte den Merioneth in der Hausthüre –


Vergieb, daß ich dich herführte, der Ausgang war nicht, wie ich ihn hofte!


[102] »Mir ist er ganz lieb, ich kenne nun Ruthan vollkommen. – Ein grosser gefaßter Plan von Bosheit unterdrükte heut kleine Aufwallungen der Anfälle, die er auf mich machen wollte.«


Aber Lieber! hättest du nicht weniger von deinem Enst zeigen sollen? –


»Warum das? sollte Ruthan mir Furcht geben zu reden, und zu leben, wie es meine Grundsätze erfodern? – Denkst du ihm wohl ein Recht zu, irgend einen unabhängigen Mann nach seinem Gefallen zu spotten, weil er nicht so rauh, nicht so sittenlos ist als er? – gab ich ihm nicht genug Achtung, da ich ihm einen Besuch machte?« –

Berwin schwieg – sah vor sich hin, und dachte tausend Dingen nach. Merioneth unterbrach ihn nicht; nur bey dem Abschied sagte er:


Lieber! warum warest du so stille, seit ich von Ruthan und mir gesprochen habe? war es dir unangenehm, daß ich von dem Menschen redte, wie ich von ihm denke.


»Nein, Merioneth! nein das war es nicht. – Morgen will ich dir es sagen.« –

Du schläfst doch diese Nacht? – sagte Merioneth freundlich, Berwin bey der Hand fassend –


[103] denn morgen soll ja die Forme deines Brustbilds fertig werden, und da möchte ich meinen Berwin sehen, wie die gütige Natur ihn bildete, nicht wie ihn Unmenschen gerne verdärben, und seine edle Züge mit ihren Verbrechen brandmarken möchten, meinen theuren liebenswürdigen Berwin – Er drükte ihn an seine Brust. – Berwin wurde sehr bewegt, und gieng eilend nach Hause, indem er nur sagte:

»Morgen holst du mich zu dem Bildhauer« – Merioneth hatte alle die Eindrüke der Furcht vor Ruthan und des Staunens über seinen Muth bemerkt, mit welchem er seine Stelle auf dem Weg der Ehre und Sitten behauptete. – Er ließ ihn nach Hause, um diesen Gefühlen nachzuhängen, und ihn das Vergnügen des freyen Entschlusses zum Guten zu lassen. Er aber ordnete alles zu seiner Reise an, und blieb deswegen über die gewöhnliche Zeit munter, als Abends nah bey 12 Uhr noch ein Fremder zu ihm kam, den er nicht gleich erkennte, sondern über dessen warme Umarmung er staunte, – wie viel mehr aber, als er seinen Vater in dem Fremden erblickte: –


O Gott! Sie mein Vater! – Sie, hier!


»Ja, Lieber! um dir unsern Berwin retten zu helfen – ist es noch Zeit, mein Sohn! [104] sag! O warum schriebest du diesen mir so werthen Namen nicht gleich? – Er wäre schon lang gerettet. – Der Sohn meines besten geliebtesten Freunds – es war ein Unglük, daß ich das meiste nur unter seinem ersten Namen sprach – aber dieser Name war mir der liebste. –

Georg erzählte nun alles, was seit dem Briefe, von welchem sein Vater redete, vorgegangen, und was noch den Tag geschehen sey. Sein Vater war mit dem Gedanken, Berwins Brustbild zu haben, sehr wohl zufrieden, und verbot nach einigem Nachdenken, daß Merioneth etwas von seiner Ankunft merken lasse. – Er solle nur morgen den jungen Berwin eine Stunde später zu dem Bildhauer führen, wo er sich mit Lydia finden werde, indem sie auch als Hülfsmittel da sey. – Georg solle ganz fremd thun, und ihm den Weg überlassen, dem jungen Mann an die Seele zu kommen: denn er soll nicht mehr unter die Buben gerathen, am wenigsten aber bey der Versammlung des morgenden Tages seyn. –

Georg Merioneth war in der grösten Freude, daß der Zufall der Rettung der Sitten und der Ruhe seines Freundes so günstig war, und schlief mit Hofnungen und Wünschen für den kommenden [105] Morgen ein. Er wollte den Berwin abholen, als dieser eifrig zu ihm gelaufen kam, und ihn bat, daß er ja gleich mit ihm durch die Seitenthüre des Hauses forteilen möchte, indem er fürchtete, der ganze Schwarm der Wildfänge, welchen er mit Mühe entwichen sey, würde ihm auf dem Fuß nachfolgen.

Merioneth nahm seine Brieftasche, und flüchtete sich mit seinem Freund unter den Schuz der Musen und der Weisheit, indem sie seinen Vater schon bey dem Künstler antrafen, und den lezten mit Abformung des schönen halb verschleyerten Kopfs von Lydia Merioneth beschäftigt fanden. Da sie nun in ihrer Stellung unverrükt sizen bleiben muste, und das Zimmer sehr groß war, so konnte Berwin und sein Freund, welche gleich bey dem Eintritt in Staunen gesezt wurden, sie bey langsamer Näherung desto länger betrachten. Der ganze Auftritt war schön. – Lydia saß eine Stufe über dem Fußboden erhöht, vor einem grauen Tuch, ihr grosses sanftes Aug auf das Bild eines Amors geheftet, der einen neuen Bogen schnizt; die Gruppe der Grazien stand ihr zur Seite, aber ihre dreyfache Reize verdunkelten die einfache Anmuth der Lydia nicht im geringsten; keine Stellung der drey Schwestern war so schön, als die von Lydia, deren Wuchs selbst durch [106] ihr kunstloses Gewand viel mehr Vollkommenheit versprach, als die Huldgöttinnen nicht zeigten. – Der Meister sah nur auf sie, um seinem Thon diese Züge zu geben, und seine Zöglinge sassen in verschiedenen Richtungen umher; alle zeichneten die holde Engelsgestalt. Ihr Vater aber stand vor dem Kopf von Berwin, und schien diesen eifrig zu betrachten; – Merioneths edles Herz klopfte vor Freude, seine Schwester zu sehen. – Der Gedanke von der Absicht seines Vaters, und die auch für ihn bewundrungswürdige Schönheit seiner Lydia, die seit drey Jahren zu der höchsten Blüthe gestiegen war – alle diese Empfindungen drükten sich in seinen Zügen aus. – Berwin an den Boden geheftet, bewegte kein Aug von Lydia, und kaum athmete er. – Vater Merioneth, der alles bemerkt hatte, wandte endlich sich um, und sah auch staunend und gerührt den Jüngling an. Alle bisher ruhende Gefühle der Liebe für den alten Berwin – alles was er für den jungen Mann empfand, erwachte. – Er strekte seine Arme aus: –


Herr! heissen Sie nicht Berwin aus Bala?

»Ja – den Augenblick umschlang ihn Merioneths Vater –


O Sohn des edelsten tugendhaftesten Mannes, meines einzigen brüderlichen Freunds! wie find [107] ich dich? – Lydia! Sieh, dieß ist der geliebte Neffe meines guten alten Nachbars, den ich vielleicht ohne den Gedanken, dein Bild zu haben, so bald nicht gefunden hätte.

Nun betrachtete er den Berwin stillschweigend, und in der Thräne des Augs, das er von dem Gesicht des Jünglings gen Himmel erhob, sah man den Wunsch: O gieb ihn der Tugend wieder!

Berwin war äusserst bewegt, schon über die Anrede des edlen Alten. Aber noch mehr in der Freude, daß er Lydia aufgerufen, und sein Oheim ihr Nachbar sey, wo er diese reizende Person öfters sehen würde. – Der Künstler bat nun wieder um Ruhe, damit er noch fortarbeiten könne. – Und als sie weggiengen, wurde Berwin und Merioneth zum Essen geladen.

Nachmittags, da sie noch viel von Wallis gesprochen hatten, fragte der alte Merioneth –


Berwin! wie alt sind Sie?


»Drei und zwanzig Jahre« –


O mein Sohn! Sie sehen älter, als Ihr Vater mit drei und vierzig – diese Luft hier verzehrt Ihre Züge. Dabey sah er nachdenkend ihn an, und Lydia fiel sehr artig ein:


Die Luft kann es nicht seyn, denn Herr Merioneth sieht ja sehr gesund aus.

[108] Berwin erröthete, und sah vor sich. Aber sein Freund sagte –


Es giebt viele Fremde, mein Fräulein! welche die Pariser Luft und Wasser mit ihrer Gesundheit bezahlen müssen.

Der Vater sagte aber, mit dem Finger drohend:


Junge Leute! Junge Leute!

Berwin erwiederte darauf bescheiden:


»Ich verstehe Sie, mein Herr! aber mein theurer Freund verdient keinen Vorwurf, und keinen Argwohn. Wenn ich ihm immer gefolgt hätte, so würde Mis Lydia keinen Unterschied zwischen uns gesehen haben. – Aber« –


Was aber! junger Mann was?

fragte der Alte lebhaft, Berwin bey der Hand fassend, und gerührt ihn ansehend –

»Ich will in Zukunft den Weg meines Merioneth gehen.«

Hastig drükte ihn der vortrefliche Freund seines Vaters an sich –


Willst du das, mein Sohn! willst du es? O so sollst du mein geliebter Sohn seyn, wie mein Georg es ist; denn kein Jüngling hat je einen schönern Weg genommen.

Berwin sah mit Staunen um sich:


[109] »Mein Freund – Ihr Sohn?«


Ja, der beste Sohn, und beste Freund – durch ihn kenne ich dich, theurer Berwin! um deinetwillen bin ich hier. – Lohne ihn, lohne mich durch deine Gesellschaft bey unserer Rükreise.


»O gerne! aber nicht eher, bis das göttliche Bild von Lydia vollendet ist.«


Davon sprechen wir morgen.

Nun giengen die zwey junge Freunde nach Hause; aber Berwin blieb bey Merioneth aus Besorgnis des Besuchs von Ruthan, und um noch mit Georg zu sprechen.


Wie schön ist deine Schwester? mein Freund! was ein Unterschied von allem, was ich bisher sah! – wie danke ich dir, daß du mich entschuldigtest? – was für ein Freund bist du!

So abgebrochen sprach er den übrigen Abend fort: denn Reue, Dank und Sorge wechselte in ihm ab. Sein Merioneth sagte liebreich:


Sey ruhig, mein Berwin! und glaube, daß du in der Liebe der Merioneth alles finden wirst, was einem rechtschaffenen Mann Vergnügen geben kann: Ich bin glüklich, den Tag erlebt zu haben, wo einer der liebenswürdigsten [110] Jünglinge sich selbst und der edlen Menschheit wieder gegeben ist. – O! glaube, es liegen tausend wahre grosse Freuden auf dem Weg der Tugend, und des Wissens, deren Genuß die Kräfte des Geistes vermehrt, so wie sinnliche Belustigungen die von unserm Körper verzehren.

Berwin schlief mit glüklichen Vorbedeutungen ein, und gieng des Morgens wieder mit seinem Freund zu dem Bildhauer. Aber da dieser Tag zu dem grossen Angriff bestimmt war, und Ruthan schon an Berwin gezweifelt hatte, so gieng er früh zu ihm, wunderte sich, daß er nicht nach Hause gekommen sey, durch sein Nachforschen aber, wo Berwin den Tag über gewesen, und wo er nun sey, hörte er, daß Merioneth sein unzertrennlicher Freund geworden, und beyde wirklich zu einem Bildhauer gegangen wären. Nun – sagte Ruthan, zu einem Künstler dörfen alle Leute mit gleichem Recht, und er zog mit der übrigen Rotte nach dem Bildhauer, um den Merioneth und Berwin abzuholen, weil die Scene auf einem Landhause gespielt werden sollte: Sie stürmten in das Zimmer, staunten auch über Lydia, und sahen stark auf Berwin und Merioneth. Ruthan faßte sich zuerst, und sagte zu ihnen, auf Lydia weisend: –


[111] Ha ha! dieß macht das Band eurer Verbrüderung – Sie soll mit kommen, und die Göttin unsers Festes seyn!

Berwin wollte antworten, aber der alte Merioneth trat vor und sagte:


Mein Herr! nach der Art Ihres Eintrits und Ihres Bezeugens werde ich meinen Sohn und meinen jungen Freund nicht viel mit Ihnen sprechen lassen, noch weniger soll einer von ihnen zu ihrem Fest kommen, und meine Tochter ist berechtigt, von jedem edlen Mann mit Ehrerbietung behandelt zu werden.

Sie schwiegen einige Augenblicke, aber alsdann redeten sie unter sich etwas unruhig und laut, mit sehr bedeutenden Geberden nach Berwin und den jungen Merioneth hinsehend, welche sich beyde vor der zitternden Lydia hingestellt hatten. Die Zöglinge und Arbeiter des Hausherrn stunden von Ferne, und er sagte: –


Meine Herrn! Sie sind von einer Nation, die ich immer verehrte, aber Ihre Aufführung in Gegenwart dieser jungen Dame ist so unanständig, daß ich Sie ersuche, ruhiger aus meinem Hause zu gehen, als Sie herein kamen. –

[112] Sie stuzten und sahen sich an. Da aber die Arbeiter mit ihren Meiseln und Hämmern in der Hand sich ihrem Herrn näherten, so eilten sie weg. Nur Ruthan rufte noch:


Berwin! du bist seit vier Tagen zu unserm Fest verbunden: du sollst mit, wenn du Ehre hast, oder morgen sollst du mir Rechenschaft geben.


»Dieses kann ich gleich thun, ich will nicht mehr in eurer Gesellschaft seyn.« –

Warum das? mit drohender Mine –

»Weil ich nur mit Merioneth leben will.«


O du Karten-Männgen, wie artig wird diese Puppe mit dir spielen? – Doch morgen will ich mit euch zwey Herrn sprechen. Und damit

gieng er trotzig fort. Berwin stand mit niedergeschlagenen Augen da, ohne Muth, die um seinetwillen beleidigte Lydia, oder ihren Vater und Bruder anzusehen. Der alte Herr sagte aber, ruhig nach der Thüre sehend, wo Ruthan ausgieng. –


Armer junger Mann! wenn einmal die Jahre deinen Unsinn zu Verstand umgeschaffen haben werden, wie elend wirst du dieses Stükchen Wiz finden? –

Als sie zu Haus waren, sagte er seinem Sohn, nach Wiederholung dieses Auftritts:


[113] Mein Georg! wie glüklich macht mich der Unterschied zwischen dir und diesen Leuten –

»Ach, sie hatten gewiß keinen Vater, wie ich an Ihnen habe« –


Söhne! O wie leicht klagt Ihr eure Väter an, da doch die meiste von euch, den Vorstellungen der zärtlichsten Liebe und des Ernsts widerstreben – Sie, mein Berwin! hatten Ihren Vater nicht lange genug, um seine Sorge zu geniessen. Aber der falsche Begriff von den Freuden des Lebens, die man bey dem lauten Gelächter dieser Art Wilden zu finden hoft, reißt die beste Jünglinge in das Verderben.

Lydia fragte:


Aber wie kann ein natürlich edler und sanfter Mann diese rauhe Menschen lieben, und vertraut mit ihnen leben?


»Weil sie glauben, diese Roheit zeige Stärke des Geists und des Körpers an, und weil jetzo viele die Stärke nur in der Gewalt des Zerstörens hochschätzen.«


In der Geschichte aber, werden doch die Menschen gerühmt, welche dem Zerstörer Widerstand leisteten – die besiegte wurden nur beklagt? –

[114] Berwin kehrte sich gegen sie, und mit der Schamröthe des edlen Unmuths gegen sich selbst, so spat auf den rechten Weg zu kommen – sagte er:


Und dem geretteten wünscht man Glük, einen Georg Merioneth gefunden zu haben, der mit so viel Klugheit und Güte sich des schwachen Sinkenden annahm.

Lydia wurde etwas verlegen, sagte aber mit viel Sanftmuth:


Es freut mich, die Schwester des würdigen jungen Manns zu seyn, der nicht nur die Kraft hatte, aller Verführung zu widerstehen, sondern auch einem edlen Freund zur Vertheidigung diente, dessen Untergang von allen guten Menschen beweint worden wäre.

Der äusserst gerührte Berwin umarmte seinen Merioneth mit Thränen: –


Nimm sie, Bester! die Thräne des Danks für alles, was du für mich thatest! Möge ich bald durch dein Beyspiel der Freudenthräne deines Vaters und deiner Schwester würdig seyn!

Sie hatten die Tage ihres Aufenthalts alles merkwürdige von Paris gesehen, und reißten ab, um noch die Landschlösser und Provinzen zu besuchen. Berwin war überall mit. – Seine Liebe für [115] Lydia und sein Eifer zu Rechtschaffenheit wuchsen in gleichem Maas, – und bey ihrer Zurükkunft in Wallis wurde das zweyfach schöne Bündnis geschlossen. – Berwin erhielt Lydia, und beeiferte sich mit Georg Merioneth, jedem Verdienst nachzuforschen, durch welches ihr Name der Nachwelt als gute Patrioten aufbehalten seyn würde. –

Lydia zeigte ihm durch die Briefe ihres Bruders, daß er ihr immer von seinen Kenntnissen alle das mittheilte, was einer künftigen guten Familien Mutter zu wissen nöthig war. Sie sagte auch, ihr Bruder sey ihrem Herzen das Vorbild des liebenswürdigen Verdiensts gewesen, und daß sie sich vorgesezt, nie einen andern Gemal als einen würdigen Freund ihres Bruders anzunehmen, daß er ihr Herz für seinen Berwin durch Mitleiden eingenommen habe, da er ihr einst von Paris schrieb: –


»Wie traurig ist es, meine Lydia! einen für jede ausübende Tugend gebohrnen Jüngling in den Händen verdorbener Bösewichter zu sehen! – Berwin ist wie ein blühender Baum an dem Rand eines wilden Stroms, der schon die Hälfte seiner Wurzeln ihres festen Grunds beraubte, und das Ufer völlig [116] wegzuspühlen droht, wo dann der herrliche Stamm stürzen, und ganz mit hingerissen wird.« – Er bat mit nemlicher Post meinen Vater, ihm seinen Berwin retten zu helfen – und mir sagte er noch in Paris: –


O Lydia! verewige den Ruf der Schönheiten von Bala, indem du sie anwendest, ihren sanften und mächtigen Einfluß zum Dienst der Weisheit zu gebrauchen! – Feßle die Sinnen meines Freunds, und zeige seiner Liebe und seiner Sehnsucht das Ziel seiner Wünsche, auf der Laufbahn der Verdienste des Patrioten –

Dem Himmel sey Dank! – sezte sie ihren Gemal umarmend hinzu:


daß es so gelang – denn ich hoffe, die schöne Früchte des geretteten Baums sollen in unserm Vaterlande noch von den spätesten Enkeln gesegnet werden!

Ja, mein Engel! wenn ich so glüklich bin, in meinen Kindern Georg – und Lydia Merioneth zu erziehen.

[117]

Die glükliche Reise.

Herr von Ehrenwerth bemerkte, daß seine geliebte Braut Louise von Blum bey der förmlichen Unterschreibung ihres Ehevertrags durch die Menge der Verwandten und Zeugen etwas unruhig und niedergeschlagen wurde. Er wünschte sie zu zerstreuen, und hofte, daß ein Spaziergang in dem Garten ihres Herrn Vaters die beste Würkung thun würde. Es freute sie würklich sehr, in die freye Luft und von niederdrückenden Komplimenten wegzukommen. Doch gieng sie an dem Arm ihres würdigen Bräutigams in Nachdenken versenkt, durch einen bedekten Laubgang, gegen die Seite des Gartens, von wo man die Anlage eines angränzenden neuen Hauses und Englischer Anpflanzungen sehen konnte. Sie bemerkten durch die Hecke den Gärtner und Baumeister vor einem Tisch, auf welchem die Zeichnungen ihrer vereinigten Künste lagen, und hörten dabey, daß sie sich schon im Geist freuten, wie viele Ehre sie von der guten Ausführung des schönen Plans haben würden. Der Gärtner fragte den Baumeister;


[118] Wie lange Zeit haben Sie nöthig um das Haus in seiner ganzen Zierde wohnbar herzustellen?


Da mögen beynah drey Jahre umgehen, denn ich möchte alles vollkommen haben.

Der Gärtner erwiederte mit Munterkeit, daß ihn dieses sehr freue, weil er hoffe, daß alsdann alles Gesträuche blühend seyn würde.

Louise hatte mit Vergnügen zugehört: ihr schönes Aug sah bald nach den Blättern der Zeichnung auf dem Tische, bald nach dem Platz des neuen Hauses und Gartens. Ehrenwerth aber heftete seine Blicke auf sie, drükte endlich ihre Hand an seine Brust, indem er zugleich ausdrucksvoll sagte:


Theure Louise!

Der Ton machte sie aufmerksam nach ihm sehen; alle Züge von seinem Gesicht schienen ihr bedeutend, noch mehr da er ihr nur schweigend winkte, daß sie nach der Ruhebank gehen wollten, von welcher man, weil sie etwas erhöht war, alles übersehen konnte: sie machte zugleich das End des Blumischen Garten mitten unter sich wölbenden Aesten alter Linden; die schüchterne Braut war über diese Art von Ernst etwas ängstlich, denn sie bemerkte, daß ihr Geliebter bey Annäherung zu der Bank auch einen bedeutenden Blick auf die alte Bäume und den rückwärts [119] liegenden Garten warf, dann aber einige Zeit nachdenkend auf die Arbeiten des neuen Stückes schaute: Er hatte sich schweigend gesezt, wandte sich aber gegen die ihn mit den Sorgen der Liebe beobachtende Louise, welche in einem sanften auf ihn sich heftenden Blick zu fragen schien:


Lieber! was ist in deiner Seele?

Er verstand diese stille Frage, faßte ihre Hand zwischen seine zwey Hände:


Vergeben Sie, mein Engel! daß ich Ihnen mit den so sichtbaren Bewegungen meiner Seele, eine Art von Unruhe gegeben habe, und erlauben Sie mir, Ihnen die Ursache zu sagen. Ihr Geist war von dem Geräusch der Gesellschaft und den Ceremonien niedergedrükt: ich führte Sie zu Ihrer Erholung hieher, Sie giengen so gerne mit, und schienen so dankbar für die Erleichterung zu seyn, welche ich Ihrem sanften Herzen gegeben hatte, daß schon diese Bemerkung auf mich würkte, und den innigen Wunsch in mir erregte, daß ich doch, da Sie mit so vollem Vertrauen aus dem väterlichen Hause mir folgen, immer im Stand seyn möge, jeden Kummer, und jedes Mißvergnügen von Ihnen zu entfernen, wie ich es heute thun konnte.

[120] Louise fühlte, daß die Erklärung des Stillschweigens ihres Geliebten, mehr wahre Zärtlichkeit in sich faßte, als wenn er ihr tausend süsse und schöne Sachen vorgesagt hätte: ihr holdes Lächeln, und das leichte Anschmiegen ihres Arms an den Arm von Ehrenwerth, sagte auch ihm, daß ihre Seele den Werth der Gesinnungen seiner Seele fühle. Er fuhr fort:


Sie denken wohl, daß dieser Wunsch mich bis an das End des Laubengangs beschäftigte, wo wir durch die Stimmen des Gärtners und Baumeisters in unsern stillen Empfindungen unterbrochen wurden. Wir belauschten sie durch die grüne Wand. Der Ernst, mit welchem meine Louise die Bau- und Gartenrisse betrachtete, die Blicke, welche Sie auch von Zeit zu Zeit auf den Grund des Baues warfe, brachte plözlich den Gedanken in mich, daß unser Heurathsvertrag auch ein wahrer Umriß des Baues eines neuen Hauses und Pflanzung einer neuen Familie sey.

Louise bog erröthend ihren Kopf gegen Ehrenwerth hin, und verbarg sich halb an seiner Brust; er umfaßte sie mit einem Arm, und schloß sie in sich –


Seyn Sie ruhig, süsse Liebe! mein Mund wird nie etwas sagen, welches die Reinigkeit ihrer [121] Seele, oder das heilige Band verletzen könnte, mit welchem die Natur und die Gesetze unser Leben und unser Schiksal vereinigen werden. Der Himmel bewahre mich vor der Stunde, in welcher ich Ihnen den Schleyer der Sittsamkeit entreissen, und zugleich das feinste Vergnügen der wahren Liebe zerstören würde! Lassen Sie hier unter dem Schatten der Bäume, die Ihre würdige Voreltern pflanzten, im Anblick des Gartens Ihres väterlichen Hauses, dessen Obst und Gemüse meine Louise ernähren halfe, Ihren Karl einen glüklichen hofnungsvollen Blik auf die Stelle werfen, wo unser Haus und unser Garten stehen wird.

Von diesem Entwurf hatte Louise nichts gewußt – sie sah schnell auf, und fragte mit der Begierde, dieß, was sie gehört hatte, bekräftigt zu wissen.


Unser, mein Lieber?


Ja, meine Beste! denn ich will, daß Ihre Eltern die Zeugen meines Lebens seyn sollen.

Eine Thräne des Danks und der Freude glänzte in Louisens Aug, Ehrenwerth küßte sie auf, und sagte, daß er nun noch etwas wünschen möchte, welches völlig von dem Willen seiner geliebten Louise abhienge –


Was ist dieses, mein Karl! denn gewiß, wenn es in meiner Gewalt ist, so soll es geschehen.


[122] Ich möchte, daß wir bis zu End des Baues einige Reisen machten, und da besonders auf das Bild glüklicher Gatten, Kinder und Unterthanen Achtung gäben, damit wir diese Modelle fremden Bestrebens nach Tugend und Wohlthun mit nach Hause brächten, wie man die Modelle zierlicher Geräthe mit sich bringt.

Louise von Blum zeigte durch eine freudige Einwilligung, wie sehr vieles Vergnügen sie selbst bey diesem Wunsch empfände, und sagte ihm dabey, daß sie ihn bäte, er möge alle Ausgaben des eitlen Putzes, wofür sein väterlich Geld nach Lion oder Paris geschikt werden müßte, allein zu diesem viel edlern Gebrauch bestimmen.

Auch diese Erklärung vermehrte die seelige Aussichten von Ehrenwerth auf glükliche Tage, und er sorgte nun mehr für einen bequemen Reißwagen, und gute Reißkleidung, als für eine Galla-Gutsche, und Staatspuz – denn aller Hochzeitprunk wurde zu Louisens höchstem Vergnügen völlig zurükgestellt, und die Vermälung stille vollzogen, nach welcher sie ihren schönen Reiseplan auszuführen ihren Weg antraten. Italien, Frankreich und Engelland nahmen drey Theile ihrer Abwesenheit hinweg, den vierten widmeten sie Teutschland – überall [123] in Städten, wo die Handwerksleute im Wohlstand zu seyn schienen, und in denen, wo sie kummerhaft aussahen – in Dörfern, wo gut bestellte Aecker, reiche Viehweiden, und wohlgebaute Häuser ihrem menschenfreundlichen Aug Vergnügen gaben, und in denen, wo magere Felder und Kühe, Leimhütten und zerrissenes Gewand sie schmerzten, hielten sie sich auf. Ehrenwerth forschte unter den Männern, und seine Louise bey den Wirthinnen nach. In Orten, wo sie gesunde muntere Kinder sahen, in andern, wo der Anblick hagerer, blasser Gesichter unter der aufwachsenden Jugend ihnen Thränen auspreßte – überall suchten sie den Grund zu erfahren, und Ehrenwerth machte seine Bemerkungen über die Verschiedenheit des Erdbodens, welchen die Leute bewohnten, und der Herrn, welche sie beherrschten. Manche Städte und Länder hatten sie durchreißt, ohne befriedigt zu werden, als der Zufall sie nöthigte, in einem kleinen Dorfe liegen zu bleiben, dessen neue Ziegeldächer durch hohe Obstbäume hervorschimmerten. Sie wunderten sich über die schöne Form des Wirthshauses, welches zwey Stockwerke hoch war, und von beyden Seiten Altanen hatte, die von Linden beschattet wurden; die Zimmer, die Betten und Wirthsleute waren reinlich und artig, die Bauernhäuser hatten was einfach zierliches, und [124] waren immer durch Hof und Garten von einander geschieden. Ehrenwerth fragte: ob das Dorf erst neu angelegt sey?


Ach mein Herr! es mußte wohl neu erbauet werden, nachdem das Feuer alle Strohhütten verbrannt hatte. –


Ihr müßt aber reiche Leute haben, weil alles so schön hergestellt wurde?


Reiche Leute? nein, mein Herr! aber ehrliche, fleißige Leute, und die beste Herrschaft in der Welt dabey –


Wer ist dann eure Herrschaft?

Die Frau von Wahren und ihre Kinder.
Wo wohnen diese?
Da oben, Herr! auf dem kleinen Hügel in dem alten Schlößgen, das Gott ewig seegnen wolle.
Warum habt Ihr eure Herrschaft so lieb?

Hier erhob der Wirth seine Hände und Augen: –


Warum? ach Herr! fragen Sie alle Alte und alle Kinder im Dorfe: warum? – die werden es Ihnen sagen, denn es ist keines darunter, das nicht Gutes genoß: ich will aber nur eins erzählen, weil Sie nach den Häusern fragten. Die Hütten stunden von zweyhundert Jahren her so nah beysammen, [125] daß der Wind die Flamme auf alle verbreitete, und ohngeachtet der Hülfe unserer Nachbarn kein Haus stehen blieb; unser Herr weinte über uns, und tröstete uns. Er hatte von seinem Vater, der kurz verstorben war, alles Holz und alle Steine zu einem neuen Schloß da liegen, die Kalchgruben waren schon angelegt, und die Fundamente halb ausgegraben. – Den Tag nach dem Brand ließ er uns alle in den Hof kommen, gab uns Brod und einen Trunk Wein, der uns recht erquikte. Dann sagte er: Liebe Leute! Gott hat euch eure Wohnung genommen, und mir die meinige erhalten. Ich gebe euch allen Vorrath, der zu meinem neuen Schloß bestimmt war. Ich will mit Freuden aus meinem alten Haus auf eure neue Wohnungen blicken; folgt mir nur darinn, daß immer eure Höfe und Gärten zwischen die Häuser kommen, damit ein neues Unglück nicht so groß werden kann, als das leztere. – Denken Sie, Herr! wie uns war, und wie wir ihm dankten! Sagen Sie, ob wir unsere neue Häuser und das alte Schloß ohne Seegen anblicken können?

[126] Ehrenwerth nahm seine gerührte Gemalin bey der Hand –


Louise! dieß ist eine Herrschaft, wie wir zu sehen wünschten.
Ja, mein Karl! wir wollen sie besuchen und auch segnen.

Der Wirth nikte freundlich nach ihr, und sagte:


Das ist brav, meine schöne junge Dame! recht brav. – Ich will Ihnen auch erzählen, was unsere gnädige Frau that. – Sie gieng in die Stadt, und blieb vier ganzer Tage aus, wir raumten auf, und unser Herr stekte die Plätze zu den neuen Häusern, und machte die Risse, denn er war zu seiner Freud ein grosser Baumeister: unsere Nachbarn schikten Zimmerleute und Maurer genug mit einer freundlichen Brandsteur, von der wir den Arbeitslohn zahlen konnten. Aber unsere liebe gnädige Frau kam mit zwey Schiff voll Hausrath gefahren, den sie in der Stadt zusammen gekauft hatte. Der Herr verwunderte sich selbst darüber, und fragte sie, wo sie das alles her hätte.


Von meinen übrigen Glanzsteinen, sagt sie – mein Hals und mein Kopf können wohl ohne Diamanten seyn, aber unsere gute Leute müssen Hemden und Betten haben.


[127] Unser Herr küßte und drükte sie dafür, und sie sezte dann alle unsere Weibsleute an das Nähen. In der einen grossen Scheune schliefen die Weiber und die Kinder: in den Waschkesseln wurde gekocht, und wir Männer schaften am Bau; der Pfarrer bekam seine Wohnung im Schloß, und weil der alte Herr schon die Schloßkapelle neu und groß gebaut hatte, so sagte der unsere, dieß soll auch die Pfarrkirche seyn, – und ließ nur das Schulhaus auf seine Kosten herstellen, weil an der Kinderzucht so viel gelegen ist: da ward uns allen geholfen, wir waren glüklich, aber unser lieber Herr ist vor zwey Jahren gestorben, und hat uns mit seinen Kindern zu Waisen gemacht.


Lieber Mann! sagte Herr von Ebrenwerth, ich kann ohnmöglich abreisen, ohne eure gnädige Frau zu sehen: könnt ihr wohl die Erlaubnis erhalten, daß ich und meine Gemalin zu ihr kommen? –


O ja! und dann sehen Sie morgen die Johannisweinlese bey dem Schulfest. Das ist recht schön.

Eine Weinlese, guter Freund! in einem Land, wo kein Wein wächst, und dazu im Sommer? –

Ich sagte ja Johanniswein, und Sie werden es morgen sehen. –

[128] Ehrenwerth und seine Gemalin freuten sich über das Irrfahren ihres Gutschers, wodurch sie zu dieser angenehmen Entdeckung gekommen waren. – Er sagte:


Auf diese Art spülte ein Regen die Erde von den schönen böhmischen Granaten weg, welche von einem nachdenkenden Reisenden bemerkt wurden, und seit dem eine neue Quelle des Erwerbs für die Unterthanen, und ein neues Vergnügen des Putzes für die Reiche geworden sind.

Der Wirth war indessen noch auf das Schloß gegangen, und hatte der Frau von Wahren die neue Gäste angezeigt. Es war der edlen Frau immer angenehm, Fremde zu sehen, nicht nur weil sie gastfrey war, sondern auch, weil sie sagte, daß sie Menschen aus entfernten Gegenden bey ihrer Kinderzucht eben so gut benützen könne, als neue Bücher. – Der Gedanke aber, daß Herr von Ehrenwerth sich verirrt habe, erwekte auch ihre Menschenfreundlichkeit, um die Reisende durch ihr gutes Bezeugen schadloß zu halten. Sie gab also dem Wirth einen Bedienten mit, welcher die Fremde auf den andern Tag zum Frühstück und Mittagessen einladen, und dabey ein wenig besehen mußte, indem ihr Geist auch aus der rohen unvollkommnen Beschreibung das [129] wahre Bild herausschimmern sahe. Die Lobrede, welche der Bediente über die Höflichkeit und über die artige Personen des Herrn und Frau von Ehrenwerth hielte, gab ihr die Vorbedeutung, daß es Menschen von feinem Gefühl und Sitten seyn müßten. Sie empfieng auch beyde mit einem so gefälligen Wesen, daß es sie doppelt freute, diese Frau kennen zu lernen. Frau von Wahren kam ihnen aus einem artigen Gartensaal entgegen: sie schien vierzig Jahre zu haben, ihre Bildung, Lächeln, Blick und Geberden waren mit der sanften Würde einer zärtlichen Familienmutter durchdrungen, der Ton ihrer Stimme war der von einer liebenden Seele; Ehrenwerth küßte ihre Hand mit dem Gefühl eines edlen Mannes, welcher dem Urbild der thätigen Tugend sich nähert. Seine holde Gemalin blikte mit Rührung auf diese Hand, faßte sie auch, und sagte bewegt, indem sie sie mit ihren beyden Händen drükte:


Ach das ist die edle Hand, welche ihre Juwelen für die Kleidung der armen Unterthanen hingab!

Frau von Wahren staunte, das fremde Paar mit dem überfliessenden Gefühl der Verehrung ihrer Menschenliebe vor sich zu sehen, und sie empfand zugleich das innige Vergnügen, eine neue Probe [130] der noch immer daurenden Dankbarkeit ihrer Unterthanen zu hören. Wie eine Mutter ihren neuverheuratheten Sohn, und liebenswürdige Schwiegertochter bewillkommen würde, so that sie es auch. Indem sie die Hände von beyden Ehrenwerth zusammen hielt, jedes von ihnen, wie sie sich gegen sie bükten, auf die Stirne küssend, sagte sie: –


Gott segne Sie, edles blühendes Paar! Ihre Gesinnungen für mich sind mir willkommen, wie ein Kranz von unsterblichen Blumen mir willkommen seyn könnte! Mögen Sie auf der ganzen Reise Ihres Lebens immer Nahrung für die schöne Empfindsamkeit Ihrer Herzen finden. – Aus welchem Lande sind Sie?

Ehrenwerth sagte ihr den Namen der teutschen Gegend, wo sie herstammten, und wo sie wohnten. – Darauf wurden sie in den Saal geführt, welchen unsere Louise gleich bey dem ersten Blick zu dem Model eines Gartensaals in Ehrenheim erwählte. Er stellte eine hohe, mit Rosen und Geißblatt durchschlungene Gitterlaube vor, in welcher der Maler das täuschende seiner Kunst in Zeichnen und Farbenmischung so vortreflich gebraucht hatte, daß man auf den zu Tisch und Stühlen bestimmten Plätzen bey den in der Wölbung angebrachten Fenstern nicht anders denken konnte, als in einer [131] blühenden Laube zu seyn. Drey grosse Glasthüren gaben die Aussicht nach dem Felde, dem Gemüßgarten und dem kleinen Traubenhügel. Der einen Thüre gegen über stand in einer Vertiefung ein vortrefliches Bild der Flora, und zwischen den Nebenthüren auf jeder Seite drey Stufen hohe Fußgestelle, mit Urnen besezt, bey einer auf der lezten Stufe ein Genius, der mit einem Arm den Fuß der Urne umfaßt, seinen Kopf mit Liebe und Trauer an sie lehnt, und mit dem andern die Aufschrift zeigt:


Blicke der Edlen! verweilt auf dem Aschenkrug des liebevollen, weisen Menschenfreunds – Georg von Wahren!

Der Genius, welcher bey der gegen über stehenden Urne angebracht ist, scheint selbst zu lesen, und hält sich im Vorbiegen an der Ecke des Fußgestells eine Hand auf der Brust, um anzudeuten, daß er die Aufschrift in seine Seele fassen will –


Mein Leben sey Vorbild von Freuden der Tugend, und mein Tod Hingang zu ihrem Genuß!

Eleonore von Wahren.


Auf der Vorderseite der Fußgestelle fanden sich die Brustbilder, in halb erhabener Arbeit. Ehrenwerth betrachtete mit stillem Staunen und Rührung diese lehrende Denkmale, und seine Louise bog sympathetisch[132] mit der Stellung des Genius, bey Eleonorens Urne eine ihrer schönen Hände ihrem Herzen zu. Frau von Wahren sagte bescheiden:


Diese zwey Stücke sind ein freundliches Geschenk des besten Bruders, der jemals lebte, welchen Sie auch bey unserm Frühstück sehen werden: dieser kleine Saal aber ist der einzige Theil meines Hauses, wo neue Kunst und alte Schönheit vereint sind. –

In dem hörten sie gehen und triplen, sahen sich um, und erblikten einen Mann von der edelsten Gestalt, der an jedem Arm ein blühendes niedlich gekleidetes Frauenzimmer hatte: – zwey kleinere Knaben und Töchterchen hüpften daneben gegen den Saal. Bey Erblickung der Fremden stunden sie stille, und wurden genannt Herr von Ruhmthal, Obristhofmeister an einem grossen fürstlichen Hofe; die zwey Fräulein waren seine Nichten, Emilie von Wahren, und Caroline von Ruhmthal, so wie auch einer von den Knaben, und die holde kleine Mina von Wahren, und der andre ein Ruhmthal war. Reinere jugendliche Seelen, reinere Säfte und Augen voll Feuer und Geist mit dem offenherzigen Wesen der Kindheit verbunden, hatten die Ehrenwerth nie gesehen; alle waren nur in weissen Nessel gekleidet, alle weisse Strohhüte und verschiedene [133] Arten von Bänder darum geschlungen, und eben solche Gürtel bezeichneten ihre feine ungezwungene Gestalten. – Man setzte sich zum Frühstück, die junge Leute aber giengen mit Obst und Brod in der Hand in dem Garten herum. Bald brachte eines etliche Wießblümchen niedlich geordnet, ein anders Erdbeeren aus seinem eigenen Feldgen, und am Ende kamen die zwey Knaben, und stellten ein Zwerchbäumchen voll schöner Kirschen in einem artigen Topf zu den Füssen der Frau von Ehrenwerth, und lächelten ihr freundlich zu. – Sie dankte, und lobte das Bäumchen, indem sie sagte:

Es wäre so angenehm und artig, wie sie beyde – Gleich erwiederte einer –


O nein! das Bäumchen ist besser als wir, denn es trägt schon Früchte für die Mühe, welche wir uns damit gaben –


Das werden Sie gewiß auch thun, wenn Ihre Blüthe vorbey ist – sagte Hr. von Ehrenwerth, indem er beyde umfaßte –


Ja, wenn kein schlimmer Zufall, oder böse Menschen die Blüte verderben, wie es oft bey Bäumchen geschieht, wenn sie der Gärtner nicht immer bewachen kann.


[134] Was kann dann einem Kirschenbaum alles geschehen? – fragte Ehrenwerth –

Nun erzählten beyde wechselweiß kurz und artig die Geschichte der Kirsche, und die Sorge, welche man für sie tragen müsse. Ueber die Deutlichkeit und Ordnung der physischen Gärtnerbegriffe erstaunt, sagte Ehrenwerth noch –


Was denn die Menschen einem kleinen Baum Böses thun würden?


Ach! wenn er nun noch ganz klein und schwach ist, und sie rütteln aus Muthwillen an seinem Stämchen, so wird es locker; seine Würzelchen reissen entzwey, und da wird es auch in dem besten Boden nicht feste: wenn sie es dann auch, weil es weich ist, biegen und krümmen, so bekommt es keinen schönen Wuchs –

Hier richtete sich der allerliebste Knabe mit der so reizenden Anmuth der Jugend in die Höhe, und fuhr fort –


Oft auch reißt man einem schön blühenden Aestchen seine Blümchen ab, um auf einen Augenblick seinen Hut damit zu zieren, und da kann ja dieses Aestchen keine Früchte bringen –

Louise neigte sich mit einer Thräne der Rührung im Auge zu Frau von Wahren:


[135] Gott seegne die Blüthe, welche Sie in den Seelen dieser Kinder besorgen! –

Ihr Gemal aber fragte weiter –


Sie haben bey dem Gedanken des Verderbens der Blüthe von Ihnen selbst gesprochen, wie meinten Sie das?


Wie Ihre schöne Dame sagte, das Bäumchen sey eben so hübsch als wir, da fiel mir ein, daß die Mamma uns bey der Kirschenblüthe sagte, unser Lernen und unser Gehorsam schmücke unsere Jugend, wie die Blumen die Bäumchen, und wann wir einst groß wären, und viel schönes wüßten, und viel gutes thun würden, so wären das die nüzliche Früchten von unsrer Folgsamkeit, und der Lohn für ihre Mühe. –

Der liebe Knabe sah diesen Augenblick den andern an, daß er auch gern sprechen möchte, und sagte ihm freundlich nikend:


Karl erzähl das übrige.


Ja die Mamma sagte dann, die Erziehung der Kinder sey wie die Sorge des Gärtners: da kämen aber oft erwachsene Menschen, und sagten den Kindern thörichtes Zeug, und machten mit uns guten, unschuldigen Geschöpfen schädliche Scherze, weil sie uns als [136] kleine Puppen zu ihrem vorübergehenden Zeitvertreib ansehen – dadurch würde das Festhalten an guten Lehren verhindert, und die Wurzeln, mit welchen die schöne Tugend in unsern Herzen keimen sollte, abgerissen, oder auch der Wuchs des zunehmenden Geists verdorben, – und Leute, die zwey oder drey gute Eigenschaften auf einer Seite, und auf der andern Fehler hätten, wären die, an welchen die Blüthe des Guten im Scherz verdorben worden sey. –

Der erste sezte noch hinzu:


Die Mamma wolte, daß man die Güte und Unschuld der Kinder eben so viel ehren als lieben müsse.

Ehrenwerth küßte die Knaben –


Glükliche edle Kinder! wie viel gutes wissen Sie? – Gott lasse Sie fortwachsen wie Ihre Bäume! – und segne diese leitende Hand –

indem er sich zu Frau von Wahren bükte. –

Die Knaben liefen fort; die zwey ältere Fräulein aber sezten sich nach dem Frühstück unter eine Thüre, wo sie in dem angenehmsten Einklang auf zwey Mandolinen spielten, und dazu sangen.

Alle dieß war ein so feines Gemische der schönen Natur und Kunst, daß Frau von Ehrenwerth oft sagte: –


[137] Sie könne es nicht beschreiben, indem es ihrer Feder dabey gienge, wie Malern, die auf ihrer Palette die Farben nicht finden konnten, welche die Natur auf die Wangen einer schönen Dame gelegt hatte. –

Nun kamen zwey Jünglinge von sechzehn bis siebenzehn Jahren in Reitkleidern in den Saal, und wurden als die älteste Söhne von Ruhmthal und Wahren vorgestellt.


Den lezten, sagte Frau von Ehrenwerth, hätte ich, ohne seinen Namen zu hören, erkannt; denn sein Blik auf die Urne von Georg Wahren, bey welcher wir stunden, war der Blick eines Sohns, dem die Asche seines Vaters heilig ist. –

Sein Oheim faßte ihn bey der Hand, und sagte gegen Louise und ihren Gemal:


Dieß ist auch ein Georg von Wahren, der einst ein Denkmal verdienen wird. –

Hier bemerkte ich, fährt das Tagbuch der Frau von Ehrenwerth fort:


daß die Bescheidenheit einen edlen Jüngling verschönert, wie die Schamröthe ein sittsames Mädchen noch reizender macht. Denn die Rosenfarbe, welche sich jähling über die Züge des jungen Wahren verbreitete, war herrlich, da er zugleich die Hand seines Oheims küßte, [138] und von dieser hinweg seinen Mund auf das Brustbild seines Vaters heftete: der Ausdruck des Gefühls der Würde der Tugend ergoß einen Glanz über ihn, welcher mich der Wiederschein seines ihn umgebenden Schuzgeistes zu seyn dünkte. – Denn wenn unser Engel bey einer bösen oder unedlen That die Augen schließt, und von uns abwendet, o so muß er auch mit stralenden Blicken der Freude auf uns sehen, wenn schönes und gutes in unserer Seele entspringt, und in unserm Leben sich ausbreitet.

Der junge muntre Ruhmthal war zu den zwey artigen Fräuleins gegangen. Ehrenwerth bemerkte, daß beyde junge Herrn eine Officierskleidung hatten, und fragte, ob sie zu Kriegsdiensten bestimmt seyen;


Nein, mein Herr! sagte von Wahren, aber ich möchte wohl diese Uniform mein ganzes Leben tragen, weil sie immer eine sichtbare Erinnerung aller der guten Grundsätze bliebe, welche ich in diesem Rocke erhielt. Denn ich hatte das Glück, unter Pfeffels Zöglingen zu seyn.

Davon hörte ich schon vieles, sagt Ehrenwerth. Georg fiel ein –


[139] Und gewiß lauter Gutes. – Wenn Sie ihn sähen, den liebreichen Mann, der Freude und Kenntnisse mit den besten Gefühlen der Religion verbunden, in die Seelen seiner Zöglinge legt, gegen alle ein zärtlicher Vater ist, und gerne seinen Geist durch eine Umarmung in sie versetzen möchte! –

Frau von Wahren näherte sich und sagte:


Von was spricht mein Georg so eifrig? es ist ja sonst seine Gewohnheit nicht? –

Von Herrn Pfeffel in Colmar – beste Mamma! ich werde niemals kalt von dem Manne reden können.


Es würde auch lieber Sohn eine schlimme Anzeige seyn, und ich hoffe, er solle dir immer eben so ehrwürdig bleiben, als er mir geworden ist. –


Sie haben ihn also gesehen? sagte Louise. Ja ich sah ihn in meinem Hause, welches mir um so viel werther geworden ist: Meine Blicke ruhten auf den geistvollen Zügen seines Gesichts, in welchem selbst die erloschene Augäpfel eine Seele zeigen, die mit dem höchsten Schmerz und mit der grösten Beschwerde kämpfen kann, bis sie Tugend und Verdienst erobert hat. – Mit welcher Zufriedenheit, dachte ich, muß der Ewige auf dich blicken, da ich Sterbliche, immer segnend[140] und bewundernd, deine gelassene Heiterkeit betrachte! – Gerne hätte ich die Gewalt gehabt, eines meiner Augen ihm zu geben, wie süß wäre diese Theilung mir gewesen! – als ich dabey noch an die viele, unnutze und schädliche Sehende dachte, und die edle Thätigkeit dieses Mannes dagegen maaß; – so wurde mir Pfeffel der gröste liebste Mann, und die schöne Anwendung der Geschichte des Belisarius, welche von einer liebenswürdigen Dame Hedwig Louise von Pernet, geborne von Kemeter gemacht wurde, freute mich um so mehr: – Sie schrieb bey einem Besuch in Colmar so artig: –


»Wenn dort vom blinden Belisar ein edler Knabe Führer war, so seh ich hier so viele edle Knaben zum Führer ihres Wohls den blinden Pfeffel haben.« – Ich dachte hinzu:


Belisars Knabe führte ihn nach Brod, – und Pfeffel leitet vierzig auf den Weg des wahren Verdienstes. Er ward mir das, was die alte Weise uns sind: – Sie sehen uns nicht, aber ihr Geist belehrt uns. – Was ein Vorbild ist dieser Mann von gelassenem Ertragen eines grossen Verlusts, – von treuer Mühe, das übrig gebliebene Gute wohl und dankbar anzuwenden! – Er umarmte meine Söhne, – o wie innig [141] wünschte ich ihnen den Blick seiner Seele in den moralischen Gefilden zum Einsammeln jeder edlen und guten Gesinnung des Herzens!

Die Damen sprachen unter sich fort, und Herr von Ruhmthal nahm Ehrenwerth mit sich in das kleine Wäldgen, wo sie sich unter eine Eiche setzten, von der man das Dorf und die ganze Gegend übersehen konnte. –


Ich muß, sagte Ruhmthal, meine nähere Bekanntschaft mit einer Schuzrede für mich und meine Schwester anfangen. – Sie werden heute schon vieles bemerkt haben, welches einer Art von Schwärmerey ähnlich sieht, weil wir in vielen Dingen aus dem angenommenen Ton unsers Zirkels herausgegangen zu seyn scheinen, da wir doch nichts anders gethan haben, als daß wir den Muth faßten, in dem, was uns gut schien nach den Gefühlen unserer Herzen zu handeln, ohne die Vorschrift von dem, was uns gefallen solle, von andern anzunehmen. Wir haben dabey immer die Klugheit beobachtet, unsere Lieblings Ideen nur auf unsern Landgütern herrschen zu lassen, wo man ohnehin der Wahrheit und der Natur näher ist, als in den Städten. Ich selbst gehe an meinem Hof[142] den gewöhnlichen Gang in allem, was das äusserliche betrift, und habe das Vergnügen, bey meinem gefälligen Schonen der schwachen Seite der Menschen unvermerkt gutes zu thun. – Ich bin unverheurathet geblieben, um den Kindern meines Bruders und meiner Schwester um so mehr Liebe beweisen zu können. – Alle werden hier erzogen. Beobachten Sie selbst, was es für glükliche und liebenswerthe Geschöpfe sind, die würklich den Frühling ihres Lebens zwischen ihren Gespielen, den blühenden Blumengebüschen, hinbringen, welche die zärtlichste beste Frau für sie pflanzte, und sie auch nach Wohlgefallen pflücken läßt. Alle Jahre komme ich zweymal auf einige Wochen her, und geniesse den Sommer und Winter der Natur unter den Kindern meiner geliebten Geschwister. Ich schicke die Bücher, die Bildersammlung und die Lehrmeister, welche meine theure Schwester verlangt: – ich besorge durch verschiedene Handschriften Nachrichten und Neuigkeiten, welche sie mir vorschreibt. Ihr vortreflicher Gemal hat die erste Grundzüge der edlen Rechtschaffenheit in die Söhne gegraben, und meine Schwester hat ihnen das moralische Gefühl [143] und feine gesellschaftliche Wesen gegeben: das Ganze ist mit Wahrheit, sanfter Heiterkeit und tausendfachen kleinen und grossen Kenntnissen verbunden, ohne welche, wie Sie es gewiß bemerkt haben, selbst das zerstreute Leben der grossen Höfe bey Jugend und Wohlstand tödtend langweilig wird, oder, wenn Alter und Unglück kommt, den Hofmann einsam und elend leben macht. –

Auf diese Art öfnete einer der feinsten edelsten Männer sein Herz. – Hätte ihn Ehrenwerth auch nicht aus den Zügen der großmüthigen Dienste gekannt, die er angesehenen, aber bedrängten Familien im verborgenen mit aller Feinheit der Schonung und Edelmüthigkeit geleistet hatte, so würde er ihn durch seine Gespräche, durch seine Arbeiten für das gemeine Beste, und durch sein Bezeugen gegen Schwester, Nichten und Hausgenossen kennen gelernt haben. – Wenig Minister vereinigen den gleichen Grad Geist mit Güte der Seele; – wenige lieben ihren Fürsten, wie Ruhmthal seinen würdigen Fürsten liebt. Beyde neue Freunde giengen unter vertrauten Gesprächen zum Mittagessen nach dem Schlosse, und um vier Uhr fieng das kleine Schulfest an.

[144] Alle Kinder der vier Dörfer zogen mit ihren Schulmeistern und einer ländlichen Musik in den Schloßhof. Sie hatten alle grüne Leinenwämsgen ohne Ermel; die von ihren weissen Hemden aber waren, wie ihre Strohhüte, mit grünen Bändern gebunden, und die Mädchen hatten alle weisse Schürze. – Dieser Putz und die Gesundheit und Frölichkeit der Kinder war ein sehr ergötzender Anblick. – Die zwey ältere junge Herrn giengen in leichten grünen Kleidern, auch mit Strohhüten, als Weingärtner zu ihnen, und liessen den Mädchen kleine weisse Hängkörbchen, den Jungen aber artige neue Tragbütten austheilen; die zwey Söhne des Beamten wurden zu Pritschmeister bestellt. Herr von Ruhmthal sagte auch, es sey das Sinnbild ihrer künftigen Gewalt. – Sie zogen nun alle, in Begleitung ihrer Verwandten, nach dem kleinen in Absätze getheilten Hügel, der mit lauter Johannistraubenstöcken besezt war. Die herrschaftliche Kinder giengen mit den Damen durch den Garten. Ehrenwerth vermißte den kleinen Wilhelm Wahren, und blieb etwas zurück, um ihn zu erwarten. Bald sah er ihn an der Hand eines Greisen aus dem Seitengebäude des Schlosses kommen, und bemerkte zugleich die Sorgfalt, mit welcher der holde sechsjährige [145] Knabe den alten Mann zu führen schien. Ehrenwerth blieb stehen, und fragte:


Führen Sie den lieben Alten auch zu der Weinlese?


Ja, das ist unser guter Jakob, der schon dem Großpapa diente, und meinen Papa, meinen Bruder und mich auf seinen Armen herumtrug. Er sagte gestern, er hätte in Wahrheim vieles gesehen, aber keine Weinlese: da habe ich ihn geholt – da soll er zusehen, und auch einen Spaß haben.


Baron Wilhelm! sagte Ehrenwerth, Sie verdienen glükliche Tage, und getreue Freunde, weil Sie dem guten alten Jakob diese dankbare Liebe erzeigen. – Hat Sie das jemand gelehrt? –


Nein, aber die Mamma erzählte uns einst bey einem Küstgen voll spanischer Rosinen und Feigen, die wir alle so gerne essen, vieles von dem Lande, wo sie gewachsen sind, und als ein Bedienter das Küstgen, so sehr schwer war, zu der Beschliesserin trug, so fielen ihr die spanische Bedienten bey, und sie sagte, wie diese so glücklich wären, weil sie nie verlassen würden, und daß man gute alte Bediente ehrte und besorgte; ja daß man in vornehmen Häusern stolz darauf sey, wenn man sagen [146] könne, ich habe noch so viele Leute von meinem Vater, von meinem Großvater. – Da dachten wir gleich an den alten Jakob – der war bey dem Großpapa, und gewiß immer so brav, als ein Bedienter in ganz Spanien. Das freute die Mamma: sie sagte, das wäre recht, daß wir nicht nur die Rosinen und Feigen, sondern auch die Tugenden der Spanier annehmen wollten.

Thränen waren dem alten ehrlichen Jakob über seine Wangen geträufelt, und er schüttelte bewegt, mit seiner zitternden Hand, die Hand des jungen Herrn. Endlich sagte er –


Ach! in der ganzen Welt giebt es keine solche Herrschaft, und solche Kinder. Die Tugend eines Herrn macht auch rechtschaffene Leute. Ich habe manchen ehrlichen Bauer und Handwerkerssohn durch seinen bösen Herrn verderben sehen, der hinter dem Pflug oder bey der Handarbeit ein braver Mann geworden wäre. –

Mit diesen Reden waren sie auf den Hügel gekommen. Herr von Ruhmthal gieng ihnen entgegen, und gab Jakoben die Hand:


Grüß euch Gott! alter Freund! wollt Ihr auch die junge Leute bey der neuen Freude sehen? – [147] Ja, gnädiger Herr! die Weinlese ist wohl neu, aber Ihre Gnade für mich ist sehr alt –


Ihr seyd immer der gute ehrliche Jakob – hat euch mein Pathe Wilhelm geholt?


O der vergißt mich nie – es freut mich auch recht, daß ich so den Geist meines seeligen Herrn in seinen Kindern sehe. – Ich hoffe bald bey ihm zu seyn, und daß mich dann Gott ihm alles erzälen läßt, was ich noch erlebt habe.

Hier drükte ihm Ruhmthal die Hand zum Schweigen, weil Frau von Wahren kam, welche noch immer durch das Andenken an ihren Gemal zu sehr gerührt wurde. – Man sezte sich, und sah die kleine Weinleser mit den herrschaftlichen Kindern zu der Arbeit anweisen. – Frau von Wahren sagte zu Ehrenwerth und Louisen:


Es ist eine Art Kinderey, was ich da machte: aber als ich meinen Zöglingen die Geschichte des Weins erzählte, so zeigten sie eine so grosse Begierde, eine Weinlese zu sehen, daß ich meine Liebe zu den Johannisbeeren, von denen ich schon viele gepflanzt hatte, zu dem kleinen Entwurf dieser Weinlese gebrauchte. Zwey Jahre lang mußten meine gute Kinder darauf warten, und nun habe ich das Schulfest damit verbunden. Urtheilen Sie selbst, (indem sie auf die kleine Leser zeigte) [148] ob es mich reuen kann, der Unschuld einen Festtag bereitet zu haben.

Es war ein würkliches Fest, denn die Freude, das Staunen, und die reizende Aemsigkeit der Kinder waren allerliebst anzusehen, besonders da keine erwachsene Personen unter sie durften. Eine einfache Musik wechselte mit dem Singen folgender, noch mehr einfachen Verse ab, welche der liebreiche Pfarrherr für die Weinleser gemacht hatte:


Brüder! pflükt die kleinen Trauben
Munter ab in diesen Lauben,
Heut zum erstenmal.
Sehet, wie in allen Gängen
Roth und weisse Beere hängen,
Schön, und ohne Zahl.
Weit von uns entfernet leben
Leute bey den grossen Reben,
Nah bey Sonnenglut –
Müssen Erd auf Berge tragen,
Stöck anbinden, Pfähl einschlagen,
Haben's gar nicht gut.
Man sagt auch, der Winzer müsse
Frost und Hagel, Regengüsse,
Fürchten, wie der Baur.
[149]
Würmer tödten ihre Reben,
Und sie sollen Zehend geben
Troz dem Reif und Schaur. –
Haben öfters Wein im Keller,
Aber bey dem Käse-Teller,
Keinen Bissen Brod –
Müssen Geld und Korn sich borgen,
Und des Rükbezahlens Sorgen
Mehren ihre Noth.
Brüder! liebet Feld und Wiesen!
Könnt' ich heut ein Loos mir kiesen,
Ich blieb Ackersmann.
Denn auf unsern Waizenfluren
Seh ich meines Fleisses Spuren
Mit Vergnügen an.
Lasset bey Johannisbeeren
Euch der Winzer Arbeit lehren.
Jeder Mensch hat Müh.
Herren, Könige und Fürsten
Müssen hungern, müssen dürsten,
Sterben müssen sie.
Wenig Bauren ist gegeben,
Unter Wahrens Stamm zu leben
Glüklich, wie wir sind.
[150]
Zeiget Redlichkeit und Treue,
Dank und Seegen auf das neue –
Alte, Jung und Kind. –

Auf der Wiese war eine Kelter aufgeschlagen, und dort stunden auch Bütten, wohin die Träger die Träubgen bringen mußten. Ihre Namen und die Zahl der Bütten wurden aufgeschrieben, und im ganzen nichts ausgelassen, was den guten Kindein einen völligen Begriff von der wahren Weinlese geben konnte. Einige Jungen wurden auch etwas gepritscht: – die Mädchen aber bogen am Ende des Lesens artige Johannistraubenzweige, als Laubkränze um die Hüte der Buben, und um ihre eigene. Ruhmthal, Ehrenwerth und die Damen verlangten auf ihre Hüte nur einen Laubstrauß, weil die Kränze, sagten sie, allein den Arbeitern gehörten. Alsdann zogen sie mit einander nach der Wiese, und sahen dort, weil würklich Träubchen genug gesammelt waren, um zwey flache Bütten zu füllen, auch bey einer Traubenlage das Eintretten, wo ein schöner Knabe von sechs Jahren mit weissen Strümpfen in der Bütte herumtrippelte: – nachdem wurde der ganze Vorrath gekeltert, und der Most zu versuchen gegeben, welcher sehr gut und angenehm war, weil der Hausmeister, [151] welcher sich bey dem Aufschütten der Trauben zu thun machte, indem er die Jungen anwiese, unvermerkt Zucker dazu gethan hatte. Während der Most ausgepreßt wurde, tanzten alle junge Leute in einem Reyhen um die Kelter, die Bütten, und die dabey sitzende Herrschaft herum. – Jedes Kind bekam einen Kuchen und einen neuen zinnernen Becher voll Most. Sie sezten sich in einen halben Cirkel, den Bänken ihrer Herrschaft gegen über in das Graß. Der Pfarrherr sagte ihnen am Ende, sie hätten diese Freude dem guten Zeugnis zu danken, welches ihre Schulmeister von ihrem Wohlverhalten gegeben: – sie sollten fortfahren, fleißig zu lernen, und gut zu seyn. – Sie waren alle aufgestanden, und blikten bald ihren Pfarrer, bald die Schulmeister und die Herrschaft dankbar an. Herr von Ruhmthal winkte ihnen, und gab zugleich seinem Neffen Georg und Fräulein Emilia einen Beutel mit kleiner Denkmünze, die er hatte prägen lassen, welche in Silber 30 Kr. wog. Auf einer Seite war die Bibel, eine Korngarbe, eine Sichel, Rechen und Hacke; die andere aber hatte die Aufschrift: – Sey fromm und fleißig. Nur auf den Stücken, welche Emilia den Mädchen gab, war anstatt der Hacke ein Spinnrocken: unten stund Wahrheim 1780. – Mit freudig gerührtem [152] Herzen dankten die Eltern und Kinder. Mit allen wurde freundlich gesprochen, den Alten ein Glaß Wein gereicht, während die Kinder noch in Reyhen tanzten. Als der Abend kam, giengen sie frölich nach Hause. – Sie konnten es wohl beyde, die das Fest gaben, und die, welche es genossen. Denn gewiß der offene Himmel über ihnen konnte nirgend kein schöners Fest sehen, als dieses war.

Unserm Ehrenwerth und seiner Louise wurde in dem gastfreyen Schlosse ein Zimmer angewiesen, und Herr von Ruhmthal zeigte, wie sehr er wünsche, sie einige Tage in Wahrheim zu sehen. Gerne nahmen sie die Einladung an, indem sie zugleich freymüthig die Hauptursache ihrer Reisen erzälten, und hinzu sezten: –


»Daß sie sich bey dem gewünschten Ziel gerne verweilten.«

In dem Schlosse war würklich alles noch in dem alten Geschmack und Bauart eingerichtet, ausgenommen in dem Zimmer der Söhne, welches freundliche grüne Papiertapeten hatte, und mit den Brustbildern der edelsten Alten besezt war. Stühle und Schränke hatten schöne Formen, wie es sich auch bey den Fräulein fand, nur daß dieser ihr Zimmer mit Vasen und Blumenkränzen geziert, und die Fenster mit Blumentöpfen besezt waren. – Das [153] gemeinsame Gesellschaftszimmer aber hatte in weissem Tafelwerk eine Reihe Bilder alter Ritter und Damen, nach den Jahren geordnet, welches wegen der Abändrung der Puz – und Kleidermoden sehr unterhaltend war. Herr und Frau von Wahren hatten sichs zur Pflicht gemacht, die Schatten der Ahnen zu ehren, auf deren erworbenes Schild und Kleinod man ohnehin seinen Stolz und Vorzüge gründete.

Den andern Morgen, als man bemerkte, daß die Ehrenwerthe munter waren, kam Ruhmthal mit ihnen zu frühstücken, und von seiner Schwester zu sprechen, während die vortrefliche Frau nach ihrer Gewohnheit mit den beiden Fräulein in ihrem ganzen Hause nach sah. – Die zwey ältere junge Herren reißten mit ihrem Hofmeister ab. Wilhelm hieng mit der innigsten Liebe und Trauer an dem Hals seines Bruders, welcher ihn mit Zärtlichkeit an sich drükte, und zum Gehorsam gegen die Mamma und seine Lehrer ermahnte: –


Ich will jetzo auch recht viel neues lernen, dann komme ich, und theile es meinem Wilhelm mit.

Der Kleine kam zu Ehrenwerth, und erzälte dieß mit vieler Freude, zeigte dabey die Flecke seiner Backen, wohin sein Bruder ihn geküßt habe, und


[154] hier, sagte er – sehen Sie da auf meiner Achsel, wo etwas Puder liegt, da ist eine Thräne von meinem Georg hingefallen, wie er mich noch einmal aufhob und küßte, da er so leiße, leiße sagte, Gott erhalte dich! so wie ich auch leiße, leiße sprechen muß, wenn ich weinen möchte, und doch nicht will.


Wo ist denn Ihr Georg und August Ruhmthal hingereißt? –


O das will ich Ihnen gleich weisen, denn sie haben ihren Weg und die Stadt da gelassen.

Damit lief er fort, und brachte den Karl Ruhmthal mit zwey Rollen Papier, die eine die Postkarte von Teutschland, die andre der Grundriß von Göttingen. Da zeigten sie den Weg, erzählten, wie es bey Reisen gienge, und wie vielerley Länder sie durchpaßirten, bis sie nach Göttingen in das Haus des vortrreflichen Herrn Professor Feder kämen, der alle gute junge Leute so sehr liebe, und sie noch besser mache, wie die Mamma bey den Grafen von Stadion gehört habe. – Nun sagte er auch, was eine hohe Schule und ein Professor sey.


Wer hat das alle gesagt? fragte Louise.


Georg, als ich ihm gestern einpacken half, und traurig war, da zeigte er uns alles, und sagte mir, daß er mich auch einmal hinführen [155] wolle, und wenn er sich nun durch seinen Fleiß gute Freunde gemacht hätte, so würden mich auch alle lieben, weil ich ein Wahren sey.


Das ist gewiß, wenn der ältere Bruder ein rechtschaffener junger Edelmann ist, so hoft man es auch von dem jüngern.


Wissen Sie aber auch, warum alle Leute meinen Georg lieben?


Weil er ein artiger und vernünftiger junger Herr ist. –


Ja wohl – das ist er aber geworden, weil er dem Papa in allem ähnlich seyn wollte, und in allem folgte. –


Haben Sie Ihren Papa auch gekannt?

Ernst und gerührt sagte er –


Ach! nur sehr wenig, aber er liebte mich, und eh er zu Gott gieng, mußte mich die Mamma noch auf sein Bette setzen, wo er mich küßte und segnete, damit ich leben bliebe, und ein braver Wahren würde. Er küßte die kleine Mina auch, aber diese weiß gar nichts, weil sie nicht grösser war als eine Puppe.


Dieser Segen Ihres Papa wird gewiß erfüllt werden, wenn Sie alles thun, was Ihre Mamma von Ihnen fodert, denn sie kennt [156] alles, was für ihren Wilhelm schön und gut ist.


O sie weiß auch alles, was für alte und grosse Leute gut ist, denn sie erzält es uns immer, wenn die Besuche weg sind. – Ich freue mich schon darauf, wenn Sie nun wieder abreisen, dann weißt uns die Mamma das Land, wo Sie wohnen, und sagt, was da für ein Hof ist, und was Sie und Ihre Gemalin lernen mußten, um liebenswürdig zu seyn.


Finden Sie uns denn würklich liebenswürdig – Dieß müssen Sie sehen, denn wir lieben Sie alle. –

Nun kam Frau von Wahren. Der kleine hüpfte zu ihr, sah nach ihrer Uhr, küßte ihre Hand, und eilte freudig hinweg. Seine Frau Mutter sah ihm mit der Sorge im Aug nach, bis er über den Saal und dem langen Gang hinweg war. Ehrenwerth und seine Louise lobten das schäzbare Kind, die Mutter hörte beyde mit süsser Zufriedenheit an. – Sie bemerkten aber besonders die einnehmende Mischung der reinen kindlichen Gefühle seines Alters mit so deutlichen Begriffen des Verstands verbunden.


Sie haben viele edle Mühe angewandt –


Ich wüßte nicht, daß meine Mühe so groß war. Nachdem mein theurer Gemal und [157] ich einige Punkte festgesezt hatten, so wurde alles leicht.

Dörften wir wohl, geliebte Frau von Wahren! um die Erklärung dieser Punkte bitten, sagte Louise? –


Das werde ich gerne thun, beste junge Hausmamma! – Mein Gemal und ich lasen alle Erziehungsschriften. Natürlich machten wir Schritt vor Schritt Auszüge, so wie etwas mit unserm Geist, unsern Neigungen und Umständen paßte, und da webten wir mit gleich starker Zärtlichkeit für unsere Kinder einen neuen Plan zusammen. – Wir wollten sie in den Jahren Kinder seyn lassen, in denen es die Natur selbst will, und dabey ihre Neigungen beobachten. Zugleich gelobten wir, die Unschuld und Unwissenheit der Jugend mit Ehrfurcht anzusehen, und niemals weder in Scherz noch Ernst etwas mit ihnen zu sprechen, oder vor ihnen zu sagen, wodurch nur der entfernteste Anlaß einer bösen Empfindung in ihre Seele, oder eine schiefe Idee in ihren Kopf kommen könnte. – Wir machten auch eine sorgfältige Wahl von Hausbedienten, und meine Kinderstube war meine Welt, bis Herr Brechter, ein verdienstvoller [158] Mann, der zu früh starb, und zu wenig bekannt war, mir mit vieler Weisheit den Rath gab, nicht immer um meine Kinder zu seyn, sondern ein Stück der Wand des anstossenden Kabinets so einzurichten, daß ich alles hören könne, was vorgienge: – Dahin sollte ich mich begeben, wenn die eigentliche Spielstunden unter den Kindern anfiengen, und beobachten, was sie in dieser Art Freyheit, und in der Freude des Spielens, von dem Blick der Obergewalt entfernt, sagen und thun würden: – ich könnte auch alsdann die Leute, welche sie umgeben, besser beurtheilen: aber dieses müsse ein Geheimniß bleiben, bis meine Kinder mich einst um Rath fragten, wie sie meine Enkel erziehen sollten. Ich folgte dem vortreflichen Mann, und habe einen grossen Nutzen daraus gezogen, indem ich verborgnen Hang in diesem, Abneigung in jenem fand, Zorn, Neid, Sanftmuth und Tücke in ihren Spielen entstehen sah, und allmählig dagegen arbeiten konnte. Denn die verdienstvolle Schrift der Madame d'Epinai war damals noch nicht geschrieben, aber wir waren so glüklich, durch die Liebe für unsere Kinder zu ihrem Besten erleuchtet zu werden.

[159] Dieses ist billig – sagte Ehrenwerth, und zu seiner Louise winkend – denn wenn die Liebe zu der Mutter uns so viel Scharfsinn gab, alle Beschwerden zu überwinden, und alle Gemüther der Familie zu gewinnen, warum sollte man für den Besiz seines Glüks mehr gethan haben, als für das Wohl der Kinder dieser erworbnen Geliebten? Wie machten Sie es aber mit dem Unterricht? – denn Ihre Kinder wissen so viel.


Dieser war in den ersten Jahren immer zufällig, und der Gegenstand mußte von den Sinnen herkommen, oder zu ihnen geführt werden können.

Wie, und warum wollten Sie das?


Warum! – weil unsere Sinnen von der Natur zuerst entwickelt werden, und weil unsere Sinnen das einzige Werkzeug sind, durch welches wir unsern Geist und Seele zeigen. – Mein Wilhelm und meines Bruders Karl haben Ihnen die Geschichte des Kirschbaums erzählt – dieß ist ein Stük meines sinnlichen Unterrichts. Beyde essen gerne Kirschen. – Da lehrte ich sie die Bäume kennen, der Gärtner muste ihnen von seiner Arbeit damit erzählen, es wurde ihnen der Keim an einem Kern gewiesen, dann gestekt, [160] von dem Pfropfen gesprochen und gezeigt: so bekamen sie den ganzen Lebenslauf ihres Freundes, des Kirschbaums, in ihr Gedächtniß. Da wir nun alles, so ihnen nüzlich seyn konnte, nach der Stärke des Verstands ihres Alters einrichteten, so gaben mir die Blumen, welche immer das Sinnbild der Jugend waren, den Anlaß, auch Zwergbäumchen zu ziehen, an denen unsere Kinder die Blüthe und den Wachsthum ihrer Kenntnisse bemerken und lernen konnten. –

Aber Sie haben auch mit dem Kirschbaum so viele Moral verbunden –


Das that ich immer bey einem Anlaß, wo die Freude, so ich ihnen machte, ihr Herz auch für das geöfnet hatte, was ich ihnen sagen wollte. Denn meine Moral sollte durch Empfindung in die Seele kommen, nicht durch Auswendiglernen allein mit Worten in den Kopf gelangen.

Sie hielten also zu diesem Unterricht keine eigene Stunden –


Nein, zu allem, was das Herz rühren sollte, wurde auf schikliche Gelegenheit acht gegeben, und nie zu lang, selten mit den nemlichen Worten davon gesprochen. –

[161] Haben Sie gar keine gemessene Stunden?


O ja zu allem, was Grundlage zu Wissenschaft und Berufsarbeit ist, damit sie die selige Gewohnheit erlangen möchten, ihren Geist zu beschäftigen, und ihre Pflichten zu erfüllen: Unser Herz aber muß zu allen Zeiten thätig seyn. – Wir antworteten auf alle ihre Fragen, aber dann wurden sie wieder gefragt: der Wiz erhielt den Beyfall des Lächelns, aber ein Zug der Güte des Herzens eine Umarmung. Kinder in den Städten sind oft dem doppelten Unglück unterworfen, daß Eltern und Vorsteher den Mangel des feinen Verstandes bestrafen, als ob es Bosheit des Herzens wäre, und den Wiz als eine Tugend belohnen, und daß überhaupt die erste Jugend mehr zu glänzender als nüzlicher Kenntniß angehalten wird. Wir hatten den Muth, das lezte dem ersten vorzuziehen. Von dem nüzlichen zierlich und gut zu reden, war alle Sprachkunst, die wir sie lehrten. Der gröste Vortheil, welcher das sichere Glück meiner Kinder gründete, war, daß sie die Natur und den natürlichen Menschen kennen lernten, eh sie durch Kunstwerke zerstreut und lüstern gemacht, oder durch gekünstelte Menschen [162] irre geführt wurden. – Die ursprüngliche Gleichheit der Menschen lehrte ich sie in dem lezten Wochenbette meiner Schwägerin, da gerad auch eine arme Frau ein eben so kränkliches Kind gebohren hatte. Ich führte sie von der Wiege, worinn der Sohn des vornehmen Herrn geweint hatte, zu der, wo der arme Bauerjunge schrie, so fuhr ich fort von der Wiege an bis zum gehen und sprechen lernen, zu den Schul- und Arbeitsjahren, endlich zu der von Gott eingesezten Ordnung der Stände von dem Bauern bis zum König, – den Herren, die schützen, Weisen, die lehren, und denen, die arbeiten und folgen müssen, wie auch von ihren Pflichten vor Gott und der Welt zu reden. – Es waren immer selige Stunden, die ich mit den guten Geschöpfen verlebte, besonders die mit den ältesten Kindern, denn da hatte ich meinen edlen Wegweiser noch. Seine Eintheilung war so schön: er sprach von den Pflichten der Männer, ich von ihren Verdiensten: er lobte die Tugenden meines Geschlechts, und ich sagte, was wir zu thun schuldig seyen, wenn wir sein Lob erhalten wollten. – O Frau von Ehrenwerth! [163] Gott bewahre Sie vor dem Jammer, Waisen zu erziehen! Dabey umarmte sie Louisen mit einer Thräne, und gieng schnell weg: – gerührt und stumm sahen sie ihr nach. – Ruhmthal sprach zuerst:


Nicht wahr, meine Schwester ist Ihnen lieb?


O mehr, viel mehr, sagte Louise – Sie ist mir ehrwürdig, und ich segne den Tag, wo ich nach Wahrheim kam. –

Sie bedauerten aber, die vortrefliche Frau an ihren Verlust erinnert zu haben. – Ruhmthal beruhigte sie und sagte:


daß sie bald und ganz gelassen zurückkommen würde, weil sie jeden Kummer als eine Aufforderung, Tugend zu zeigen, und jede Schwierigkeit als Ermuntrung ansehe, die Kräfte ihres Verstandes zu üben. Und dann sagt sie: Wer hat alles, was er wünscht? – und wenn es jemand hat, wo soll dieser seine Ergebung in den Willen des Himmels, und wann der Gesunde seine Gedult in Schmerzen zeigen? –

Den nemlichen Augenblick meldete man dem Herrn von Ruhmthal, die beyde Maler wären gekommen, und fragten nach ihm. – Er ließ dem Hausmeister wissen, die zwey Herren in die für sie zubereitete Zimmer zu führen.


[164] Es ist mir lieb, daß sie schon da sind. Denn nun können Sie sehen, wie meine Schwester einen Zufall benüzt.

Es waren zwey sehr geschikte Leute in Pastel und Oelgemälden, die auch einige Stücke in vortreflich gearbeiteten Rahmen bey sich hatten. Ehrenwerth und seine Louise mußten versprechen, so lange zu bleiben, bis der Pastelmaler ihre Bilder gemacht haben würde. Sie verlangten hingegen eine Kopie von dem Familiengemälde in Oel, welches schon in der Stadt mit dem Bild des Georg angefangen war. –

Nun mußten die Arbeiten der Künstler, auf die Bitte der Frau von Wahren, beyden Herrn zu Unterredung über die Kunst und Kunstwerke dienen. Der Pastelmaler kopirte sehr geschwind und niedlich das in Oel gemalte Portrait von Georgen. Es freute die junge Leute alle, es so schön und so schnell entstehen zu sehen. – Jedes wollte den Bruder haben; jedes erhielt eine Kopie. Da war Freude, sie liefen zu den Wärterinnen und Leuten im Hause, den Georg zu weisen. – Bald aber entstund ein Jammer, da waren Farben verflogen, eines so gar verwischt, daß man nur noch den Umriß sah, – dieses wurde Stoff zum Unterricht über die Verschiedenheit der Pastel- und Oelgemälde, besonders [165] weil erstere den Kindern am besten gefallen hatten. – Bey diesen Unterredungen dienten der Frau von Wahren auch kleine vorsezliche Abwesenheiten aus dem Saale, zu fragen:


Lieber Karl, oder Wilhelm, mein Sohn! was wurde indessen gesprochen? habe ich was nüzliches versäumt?

Dadurch wurden sie aufmerksam erhalten, lernten Auszüge machen, und erzählen. – Einige Gemälde, welche die schönste Rahmen hatten, wurden aufgehängt, und vom Bild und Rahme gesprochen, ohne etwas von der Unterredung besonders an die Kinder zu wenden. Diese bewunderten das schöne Schnizwerk, und die Vergoldung; – Wilhelm holte den Hausmeister, Karl die Hausleute, welche auch meist von den schönen Einfassungen sprachen. Den andern Morgen waren die Bilder heraus, und die Rahmen allein aufgehängt. Die liebe Geschöpfe kamen zum Frühstück, und staunten die Wand an. Karl sagte zuerst:


Liebe Mamma! wo sind die schöne Bilder hingekommen?


Die beyde Herrn nahmen sie in ihr Zimmer. Aber da helfen ja die Rahmen nichts in dieser Stube? –


[166] Der Oheim sagte, die Einfassungen hätten euch so wohl gefallen, er könne die Gemälde für sich betrachten, und euch eure Freude lassen. Es ist würklich viel schöne Arbeit an den Rahmen, sie sind so verschieden geschnizt – in dieser die Perlenschnür, da artiges Laubwerk, die Schleife hier oben so niedlich geschlungen, das Gold da ohne allen Glanz – hier ist es grünlich, und dort schimmernd polirt. –

Alles wurde gezeigt und bemerkt. Die Kinder sahen und hörten zu. Wilhelm fiel doch lebhaft ein:


Aber Mamma! sie waren mit den Bildern viel schöner.
Warum, Lieber! es fehlt ja den Rahmen nicht das mindeste –
Das ist wahr, aber sie sind leer.
Seh diese hier noch einmal recht an, sie freute dich gestern so sehr, bist du denn veränderlich? –

Er sah einige Augenblicke hin, und sagte:


Ich kenne sie schon, da sind nun nichts als lauter goldene Perlen auf allen vier Seiten; aber auf dem Bilde waren Bäume und Berge, ein Wasserfall, und das schöne Schloß in der [167] Ferne. Ich möchte es wohl auch alle Tage sehen wie der Oheim. –

Ruhmthal umarmte ihn freundlich: –


Das ist gut, Lieber! du sollt auch das Gemäld haben.


Und mir, rief die kleine Charlotte, schenken Sie das Bild mit dem Schaaf, welches der kleine Junge hält, und dem ein Mädchen Graß zu essen giebt. –

Carl kam auch, und bat darum mit dem Zusatz –


Da wollten sie die Geschichte der Schaafe dabey lesen, welche Herr Oheim von dem hübschen Fräulein schrieb. –

Ehrenwerth gieng selbst, die zwey Bilder zu holen. Sie wurden dann ohne Rahme und mit der Rahme betrachtet. Frau von Wahren sagte:


Jetzo, liebe Kinder! wissen wir alle, was der Unterschied zwischen leeren Zierrathen ist, welche allein genommen das Auge ermüden: wenn aber unser Verstand etwas nützliches dabey zu betrachten findet, so genießt man ein doppeltes Vergnügen.

Nach einiger Zeit verlohren sich die Herren alle aus der Stube: – Da sagte sie noch zu den ältern Fräulein, den Carl und ihren Wilhelm in den Armen haltend: –


[168] Ich will euch, da wir allein sind, noch etwas sagen. – Ihr wißt, daß die Bediente aus Mangel einer guten Erziehung, und die Kinder wegen ihrer Jugend unwissend sind, und der Papa sagte immer, unwissende Leute lieben den Glanz mehr als Wahrheit, und werden deswegen so oft betrogen: – war es nicht gestern so? – Ihr und unsere gute Hausleute lobtet die Rahmen so sehr weit über die Gemälde. Aber es freute mich, daß ihr gleich so unruhig nach den Bildern fragtet. – Ihr habt gesehen, daß die zwey vernünftige Männer die Bilder auch ohne die Einfassung liebten, weil sie wußten, wie viel schönes ihr Verstand darinn finden würde. Mein Wilhelm hatte recht – auf der Rahme ist immer das nemliche, und also nicht so viele Kunst und Fleiß: der Oheim muß auch viel mehr Geld für die Gemälde geben, als für die Einfassungen.

Die Rahme ist doch recht schön an den Bildern – sagten die Kinder.


Wißt ihr, warum?

Wegen des vielen Goldes und des artigen Schnizwerks –


[169] Ja etwas, aber besonders deswegen, weil sie nur eine Farbe haben, und nicht zu schmal und nicht zu breit sind –

Da nun die Kinder dieß nicht so leicht faßten, so wurde eine sehr breite Blendrahme mit Goldpapier überpapt, und ein Bild darein befestigt; ein ander kleines Bild mit einer sehr schmalen Einfassung, und ein drittes mit einer in mehreren Farben gemalten Rahme ihnen vorgelegt, und darüber gefragt und gesprochen. Sie wußten am Ende aus Empfindung von dem schönen des schiklichen, und dem unangenehmen des unschiklichen zu reden. Weil man bey der färbigen Rahme nicht wüßte, was man zuerst ansehen solle – das Gemäld oder Einfassung, sie wollten lieber gar keine haben. Sie fühlten, daß eine goldene Rahme erst gefalle, wenn sie fleißig und nett gearbeitet sey, und daß zu viel Zierrath die Sachen verderbe, nicht verschönere. – Und so lehrte sie ihre Frau Mutter das Denken durch die Sachen, welche ihrem Alter angemessen waren.

Frau von Ehrenwerth, welche nun selbst Mutter werden sollte, war auf alles begierig, was die Erziehung betraf. Sie hatte also nicht vergessen, daß Karl Ruhmthal etwas von der Geschichte der Schaafe gesprochen, welche der Oheim [170] geschrieben; und sie erinnerte ihn daran. Gleich lief er, und brachte das Papier: –


Ich will es Ihnen lesen, aber wir wollen uns zu dem schönen Bild mit dem Schaafe setzen, daß wir es ansehen. Das erstemal lasen wir es, gerade wie unsere lebende Schaafe in den Hof von der Weide zurükkommen –

Frau von Wahren sagte hier:


Wäre es nicht besser, wenn du eine schöne Abschrift machtest? – da erhielte die Frau von Ehrenwerth ein Andenken von meinem Karl, welches ihr gewiß recht lieb seyn würde. –

Louise versicherte es, und er sagte so gleich:


Da können Sie auch die Geschichte nicht vergessen, und sie dann Ihren Kindern lesen.

Als er weg war, und die Fräulein auch zu ihren Lehrstunden giengen, so sagte Frau von Wahren:


Sie werden in der Schaafgeschichte einen ganz andern Gang der Gedanken und des Tons finden, als ich habe. Ich that alles, um meine Kinder zu belehren, ohne sie zu ermüden, und bat daher meinen Bruder und Freunde um ihre Gedanken über mancherley Sachen, die ich als Nachrichten von dem, was andre Kinder lernen müßten, oder schon wußten, bey den meinen gebrauchen konnte. – [171] Die Verschiedenheit des Vortrags, der ihnen bald gefiel, bald widrig war, gab mir Anlaß sie zu gewöhnen, einstens nur auf den innern Werth zu sehen, und wenn dieser gut wäre, sich vor der Ungerechtigkeit zu hüten, es ganz allein zu verwerfen, weil die Form oder der Ton nicht nach ihrem Model sey. – So lernten sie urtheilen, wählen und entschuldigen. Keine von meinen Töchtern wollte den Charakter der Charlotte, welcher in dem Gespräch vorkommt. Alle wollten Herrn Pramers freundliche Vorstellungen, – und so schafte mir alles Stof zum Unterricht. –

Nachmittag entstund bey den jungen Damen eine grosse Freude, weil die zwey Kisten mit dem Geschenk ankamen, welches Herr von Ruhmthal für seine älteste Nichte zu einem Hausvorrath bestimmte. – Ihre Vermälung mit Herrn von Schönau führte sie auf einen Landsiz. – Ihr Gemal liebte alles, was Englisch war, und unser edelmüthiger Herr von Ruhmthal richtete sich in seinem Geschenk nach diesem Geschmack, indem es alle silberne und alle porcellanene Gefässe zu einem Englischen Frühstück verfertigen ließ, welche in den zwey Kisten anlangten. Sie waren mit himmelblauem Seidenzeug ausgeschlagen, und in einem [172] die Theemaschine von Silber mit niedlichen vergoldeten Zierrathen, die verschiedene Zuckertassen, zwey Milchkannen und Theetöpfe, die Löffelgen, die Teller, die Thee- und Milchsiebgen so artig geordnet, zwölf der schönsten Dresdner Tassen, mit zwey Theebüchsen, weiß mit einem Kranz von Vergißmeinnicht und Rosenknospen eingefaßt, in der Mitte der Namenszug der Braut. Die zweyte Kiste hatte Porcellanteller von der nemlichen Art, Schüsseln zu Cremes, zu Obst, silberne Körbchen zum Brod, Buttergefässe, Löffel, Messer, alles von der äussersten Schönheit. – Als man dieses alles gesehen und bewundert hatte, sagte Ruhmthal zu seinen Nichten: –


Nun, liebe Kinder! weiset auch, was eure Liebe und eure Geschiklichkeit für die Schwester Charlotte verfertigte –

Sie giengen lächelnd hinweg, und brachten miteinander einen grossen Korb, der aus weissen Seiden-Geflechten gemacht, und mit Blumengewinden eingefaßt ware. In diesem lag einer der feinsten Strohhüte, mit einem blauen Band, und Rosen geziert, eine batistene Schürze mit den kostbarsten Brüßler Spitzen besezt, ein grosses Halstuch von eben der Art, und ein völlig fertiges Englisches Hauskleid, von welchem die Ermelmanschette von [173] den nemlichen Spitzen waren; das Kleid und den Rock aber von himmelblau und weiß schimmerndem Seidenzeug, hatten beyde Fräulein mit zerstreuten, weissen und rothen Rösgen, und ihren Blättern so niedlich gestikt, daß würklich die Blumen nur angeheftet, da zu hängen schienen: – ein eben so schöner Arbeitsack von weissem Grund, mit allem Arbeitzeug, Maaßstab, und was dazu gehört, von Gold, vortreflich gearbeitet – eine gestikte Brieftasche mit den Bildern der zwey liebenswürdigen Künstlerinnen geziert, gabe dem ganzen herrlichen Geschenk den vollen Werth, welchen die Liebe des Oheims darauf legen wollte. Alles war von so viel Geschmack als Kostbarkeit, und mußte der Braut ein grosses Vergnügen geben, da ihr Oheim sie versicherte, er hätte lange gewünscht, wieder einmal eine Tasse Thee nach Englischem Gebrauch von einer artigen Dame eingeschenkt zu trinken, und er hofte, dieses Vergnügen durch die geliebte Besitzerin dieses Theegeräthes zu geniessen.

Da Frau von Ehrenwerth den Fräulein vieles über ihre Geschiklichkeit gesagt, so unterhielt sie sich noch länger mit ihnen auch von andern Kenntnissen, und fand ihren Geist und Herz mit allem Schönen und Nüzlichen geschmükt, was irgend eine adeliche Dame bey Hofe, und auf ihrem [174] Landsiz wissen kann, und wissen solle. Sie schriebe darüber ihrem Bruder: –


Es sind zwey Grazien, die in dem Schoos der reinen Natur von der sanften Weisheit erzogen werden. – Bemühe dich, liebster Bruder! dem edelsten unter den edlen ähnlich zu werden, und dann hoffe eine Emilia von Wahren zu deiner Belohnung. Unsere Reise war glüklich, weil wir jede Absicht erreichten, und nicht nur mit gesammelter Kenntniß fremder Verdienste, sondern mit dem Unterricht einheimischer Tugend begabt, nach Hause kommen. Wir haben in Wahrheim das Urbild glüklicher Gatten, Kinder und Unterthanen gesehen, – wir sind überzeugt, daß Tugend und Geist in mancherley Gestalten unter den Menschen wandeln, und immer in den Zügen der Wahrheit und Güte kenntbar sind. Selig ist das Loos dessen, welcher beyde immer in edlen wohlthätigen Gesinnungen um seine Seele schweben fühlt!

[175]

Die zwey Schwestern.

Die sanfte Frau von Birke fühlte ihre Gesundheit allmälig verschwinden. Es beunruhigte sie aber nicht, weil sie in dem vollen Genuß ihres Lebens, wenn sie andre zu Grabe tragen sah, immer dachte, daß die Reihe auch sie treffen würde, und weil sie so lebte, daß sie sich vor dem Tod und der Ewigkeit nicht im mindesten zu scheuen hatte. Denn in ihrem väterlichen Haus war sie das Vorbild einer guten Tochter, und nach ihrer Verheurathung dieß von der besten Frau und vortreflichsten Mutter. Ihre schöne Tage, ihr Glück, ihre Frölichkeit waren mit Dank gegen Gott, mit Liebe des Nächsten und Bescheidenheit; die Tage des Leidens aber mit Gelassenheit und klugem Betragen verbunden. Ihre Schönheit und gute Erziehung hatte ihr die Liebe des fürstlichen geheimen Raths von Birke erworben, der ein artiger Mann von vielem Verstand und grossem Vermögen war. Sie gab ihm verschiedene Kinder, die meistens starben: das jüngste aber, eine Tochter, welche sie selbst erzog, konnte mit Recht [176] in ihrem achtzehnten Jahr für das liebenswürdigste Mädchen gehalten werden. Laura war der Stolz ihres Vaters, und die Seeligkeit ihrer Mutter, indem die leztere hofte, daß ihre Gesinnungen und Grundsätze in ihrer Tochter fortdauern, und auf ihre Enkel kommen würden.

Frau von Birke hatte die Reise in das Bad verschoben, um das Verlöbnis ihrer Laura abzuwarten, welche sie begleiten, und bey ihr bleiben sollte; Ihr Gemal aber reißte mit seinen zween Söhnen und Herrn von Goldbach, dem Bräutigam der schönen Laura in die Residenz des Fürsten. Laura bemerkte schon lang, daß ihre Mutter sie oft ernsthaft ansah, dann bewegt war, und mit einer Thräne im Aug ihr die Hand drükte, oder sie küßte. Dieß alles waren ihr Vorzeichen des nahen Verlusts ihrer gütigen Mutter.

Einige Tage nach ihrer Ankunft in dem Bad gab Frau von Birke ihrer Tochter ein Heft Papier, welches ihr von einem Freund geschikt worden, der es für merkwürdig hielt, weil der Aufsaz und das Miniaturgemälde dabey die Arbeit eines jungen Menschen von siebzehn Jahren war, welcher darinn die Geschichte seiner Eltern beschriebe. Laura wurde gleich von dem artigen Bild eines kleinen Hauses und Gärtgens, die ganz einsam an einer [177] waldigten Anhöhe standen, angezogen; und die vier Kinder, unter einem Nußbaum sitzend, alle ein Buch vor sich, gefielen ihr noch mehr, als die schöne Arbeit des jungen Künstlers. Begierig laß sie folgende Geschichte:


»Von langen Zeiten her waren von einem Urvater an alle Söhne der bürgerlichen Familie Hahle, lauter Tischler, weil der Vater immer seine Söhne selbst lehren, und dabey völlig erziehen konnte. Nur mein Vater wollte kein Tischler werden, sondern Theologie studieren. Aber seine Mutter, die ihn sehr liebte, hatte viele Mühe, die Erlaubnis zu erhalten, daß er in die lateinische Schule gehen durfte. – Er lernte so fleißig, daß er auf Kosten der Stadtkasse nach einer Universität geschikt, und dort erhalten wurde, wo er sich zu einem gelehrten und ehrwürdigen Manne bildete. Nach seiner Zurükkunft starb sein Vater, die Mutter mußte die übrige Kinder von dem Tischlerhandwerk durch einen Gesellen ernähren, und konnte ihrem geliebten Heinrich nicht viel gutes thun: in der Stadt war keine Stelle ledig, und keine besondere Freunde hatten sie auch nicht. Da faßte die gute Frau den Entschluß, einen Tag, da sie eine [178] artige Briefküste zu einem reichen vornehmen Mann trug, die Zeugnisse mitzunehmen, welche ihr Heinrich von der hohen Schule mitgebracht hatte, um sie dem Herrn zu weisen. Die mütterliche Liebe machte sie beredt; die Zeugnisse waren sehr rühmlich, und der vornehme Mann hatte gerad einen Hofmeister für seine Söhne nöthig, und ließ also den Magister Hahle rufen. – Das anständige Aussehen meines Vaters, seine Wissenschaften und Sprachkenntnisse, die grosse Fertigkeit im Klavierspielen, und auch die Miniatur-Malerey erhielten ihm den Beyfall des Reichen, und er nahm ihn von der Stunde zum Hofmeister an, besoldete ihn gut, und begegnete ihm mit aller Achtung. Das war ein grosses Glück für die dermalige Umstände meines theuren Vaters, und gabe ihm auch gute Aussichten für die Zukunft. – Er erfüllte sein Amt so treu, daß er von den Eltern und der ganzen Verwandschaft der jungen Herrn geliebt wurde. Er bemerkte wohl, daß der Vater einen übertriebenen Stolz auf seinen neuen Adel hatte, daß er niemand achtete, als wer diesen Vorzug hatte, und daß seine Gemüthsbewegungen äusserst heftig [179] waren. Die jungen Leute erzählten ihm auch, daß sie noch eine Schwester hätten, die älter als sie beyde wäre, die aber der Papa nicht liebte, weil sie so häßlich aussehe, und so eigensinnig sey – die Mamma aber liebkose sie immer, und besuche sie, wenn der Papa nicht zu Haus wäre. – Als mein Vater einige Monate in seiner Stelle gewesen, so wurde er während einer Reise des Herrn von Birke zu seiner Gemalin in den Garten gerufen, die ihm ihre Zufriedenheit über die Erziehung ihrer Söhne bezeugte, und hinzusezte, daß sein Charakter ihr vollkommenes Vertrauen erworben habe: – Sie entdekte ihm alsdann die Leiden ihrer Tochter, und ihres mütterlichen Herzens – »Adelinde wächst heran: Sie hat viel Geist und Thätigkeit: ich habe sie alle Art Frauenzimmerarbeiten gelehrt, um ihre Einsamkeit damit zu versüssen; aber dieß ist nun nicht mehr hinreichend, sie angenehm zu beschäftigen. Da wünschte ich, daß Sie die Lehrstunden meiner Söhne so eintheilen könnten, daß Sie, wenn mein Mann abwesend ist, die arme Adelinde Klavier spielen, und malen lehrten, und auch sonst ihrem Geist einige Vorzüge verschaften, [180] weil ich zwey Hofnungen darauf sezte, einmal das gute Kind etwas glüklicher zu sehen, und dann, wenn sie nun glänzende Talente hätte, welche nach dem jezigen Ton der Welt an jungen Frauenzimmern geschäzt werden, gewönne sie vielleicht dadurch die Liebe ihres Vaters, und beyde fänden sich besser dabey.« –


Mein Vater gieng willig in diese Bitte ein. Er kaufte ein schönes Klavier, und Farbenkästgen mit allem Zugehör zum Zeichnen und Malen, weil die Mutter alles anwenden wollte, um Adelinden einen Reiz an der Musik und Zeichenkunst zu geben. Es gelang ihr auch, denn Adelinde war entzükt, als sie die kleine Gemälde sah, die mein Vater verfertigt hatte, und ihn Klavier spielen hörte; mit Dank- und Freudenthränen küßte sie die Hände ihrer Mutter; – ihr Fleiß war zum Erstaunen. Mein Vater bewunderte das hohe Maas ihrer Fähigkeiten, und freute sich mit der Mutter über die sichere Hofnung, daß Adelinde das Herz ihres Vaters selbst durch seinen unglüklichen Stolz gewinnen würde. Er lehrte sie auch Sprachen, Geschichte, und sie machte in schönen Wissenschaften, und allem, was sie unternahm, ausserordentliche [181] Schritte. – Sie führte nicht mehr die mindeste Klage; im Gegentheil war sie voll sanfter Heiterkeit, und so vergnügtem Aussehen, daß ihre Mutter und mein Vater sie bey ihrem Singen und Klavierspiel sehr oft für schön erkannten. Es waren Jahre vorüber, und gewiß auf Erde niemand glüklicher als die Mutter von Adelinde mit ihren Hofnungen für ihre Tochter, und diese durch die erworbene Güter des Verstands, durch ihre Talente, und durch den stillen Genuß der süssesten Freundschaft für ihren Lehrmeister. Er sah sie selten allein: denn immer war die Mutter bey den Lehrstunden zugegen; er suchte es auch nicht – am wenigsten, als er die Anhänglichkeit fühlte, die für Adelinden in seinem Herzen keimte, und als er bemerkte, wie viel er für sie geworden war. Er zitterte für das arme Mädchen und für sich: denn seine Seele war edel, und tugendhaft. Er wollte in Adelindens Herzen keine Liebe anfachen, wo sie kein Glük, und ihre Verwandte keine Zufriedenheit finden würden. Der Gedanke, daß man ihn anklagen könnte, er habe die Tochter eines reichen Mannes bestrikt, war ihm fürchterlich: und er sagte der [182] Mutter nach einer Probe des Gesangs, des Spielens, und einer Darlegung der vielen schönen Miniaturstücke von Adelindens Hand, daß es nun Zeit wäre, ihren Entwurf auszuführen, und Adelinden ihrem Vater als ein Frauenzimmer zu zeigen, welches jedem Stand Ehre machen würde. Sie befolgte den Rath, und als sie glaubte, einen guten Augenblick gefunden zu haben, sprach sie mit ihrer Tochter darüber. Adelinde antwortete nur mit einem Strom von Thränen; die Mutter konnte nicht so lang bey ihr bleiben, bis sie wieder ruhig würde, sondern bat den Herrn Magister Hahle zu ihr zu gehen, um ihr den ganzen Plan zu sagen, und gefällig zu machen. – Er fand sie ruhig bey einem Buch, aber ihr Klavier war zugeschlossen, die Noten alle weggeräumt, ihr Zeichnen und Farbenkästgen fort; und Adelinde blikte ihn mit einem Ausdruck von Schmerz und Unmuth an, den er noch nie an ihr bemerkt hatte. Er that, als ob er es nicht sähe, und fragte sanft – warum das Klavier verschlossen sey?


»Weil es mir verhaßt geworden ist, und weil ich wünsche, es nie gesehen zu haben.«

[183] Mein Vater erschrack: – theures Fräulein! – was ist das?


»Ein lebhaftes Gefühl über erlittenes Unrecht. Ich ertrage den Gedanken nicht, daß Natur und Religion nichts über meinen Vater vermochten, und daß dieß, was mein Trost über seine Härte, und über die Beraubung jeder andern Anmuth des Lebens war, die ein gutes Kind von zärtlichen Eltern genießt – nun nichts, als eine künstliche Erfindung ist, wodurch meinem Vater seine Tochter als Malerin und als Sängerin beliebt gemacht werden solle; So wie es jede Fremde seyn würde, die sich diese Künste eigen gemacht hätte. Und wer! o! – wer bürgt mir, daß meine, mit so bittern Thränen erlangte Talente, daß mein lang daurender Schmerz, den Lohn erhalten werden, den meine Mutter hoft?


Mein Vater hatte Mühe sich zu fassen, denn nie hatte er diese Grundlage von Heftigkeit in Adelinden vermuthet; Er widersprach ihr nicht gerade zu: Er tadelte ihre Empfindungen nicht, aber er sagte ihr, daß gefaßte Vorurtheile zu allen Zeiten, auch die besten Menschen, zu unbilligen Handlungen hingerissen hätten, und daß kein anderes Mittel sey, sie [184] zu Erkänntniß ihres Unrechts zu bringen, als ihnen durch einen sanften Umweg den Gegenstand ihres Widerwillens auf einer Seite zu zeigen, die ihren herrschenden Neigungen gefällig seyn könnte: – es wäre wohl auch Pflicht für die weise und gute Menschen, die Schwäche der andern zu schonen, und edelmüthig über das unangenehme hinweg zu sehen, wenn Gutes dadurch entstünde –


Denken Sie, edle Adelinde! an die Freude, die Sie haben werden, wenn Ihr Herr Vater alle die Verdienste seiner würdigen Tochter einsehen, wenn er das Lob einsaugen wird, das jeder Kenner des Geists, und der Tugend Ihnen geben muß! – Sollte es Ihnen nicht lieber seyn, die väterliche Zärtlichkeit mit Hochachtung vereint zu erhalten, und beydes ihren erworbenen Vorzügen, nicht einem blinden Naturtrieb allein zu danken zu haben? und Ihre Frau Mutter! – Ach! denken Sie, was diese Freude für die würdige Frau seyn wird? –

Adelinde weinte –


»Ach Herr Hahle! alle dieß ist treffend für ein zu Recht und Güte gestimmtes Herz. Aber ich fühle, es wird auf meinen Vater nicht würken. Mein Verstand, meine Talente, [185] und das Bild meiner Leiden werden ihm als Vorwürfe über sein Unrecht erscheinen. Ein stolzer Mensch erträgt keine Vorwürfe. Geben Sie acht! ich werde elender, als ich jezo nicht bin – und – meiner Mutter – und Ihnen, mein Freund! mein Wohlthäter! ach – vielleicht Ihnen beyden selbst wird es übel dabey gehen.«

Ihr Blick, der Druck ihrer Hand bey den Worten Freund und Wohlthäter, durchdrangen das Herz meines Vaters zugleich mit einer Art Ahndung. Doch bemühte er sich, ihr die schöne Seite der möglich guten Vermuthungen zu zeigen, und sagte noch –


Selbst die Eigenliebe Ihres Herrn Vaters wird für Sie sorgen: – Es wird ihm zu sehr schmeicheln, eine solche Tochter zu haben: – Er wird Sie lieben, wie Ihre Mutter Sie liebt.


»O Herr Magister! Sie haben mehr Menschen- mehr Bücherkenntnisse als ich, aber ich glaube, daß mein Gefühl, so niemals getheilt war, in dieser Sache richtiger ist, als das Ihrige. Für Sie, für meine Mutter war ich ein Gegenstand des Mitleidens und der Großmuth. Aus Ihren Büchern habe ich gelernt, daß man die liebt, denen man gutes thut, [186] wie man den Spiegel liebt, der uns unsere Gestalt voll Schönheit zeigt, – aber auch, daß man den zu hassen geneigt ist, dessen Anblik uns unsre Seele auf der häßlichen Seite unsrer Verbrechen weißt. – Fragen Sie die Natur, fragen Sie die Menschen, ob man die Zeugen seiner Fehler liebt? – Mein Vater hat keinen edlen Stolz: er hat nur Eitelkeit.«

Mein Vater wunderte sich über die Anwendung, welche Adelinde von seinen Büchern gemacht hatte, und er schäzte nun ihren Verstand, wie er ihr sanftes Herz und ihre Talente geschäzt hatte. Ihre Mutter kam, für Freude zitternd umarmte sie Adelinden, und sagte –


Komm, mein Kind! komm! gieb mir deine Gemälde, deine schöne Auszüge aus den Schriften, die du lasest! und Sie, Herr Magister! lassen Sie das Klavier in den kleinen Gartensaal tragen. Adelinde! meine Liebe! dein Vater ist recht gut und sehr geneigt, dich zu sehen und zu hören. –

Damit nahm sie das Malerkästgen unter den Arm, und faßte Adelindens Hand, um sie wegzuführen.
»O meine Mutter! was haben Sie gethan?« schrie Adelinde, und fiel zu ihren Füssen –

[187] Lassen Sie mich ewig hier, besuchen Sie mich beyde, wie Sie bisher gethan haben: ich will sonst nichts von der ganzen Erde. Mein Vater und die Welt können mir kein grösseres Glük geben.« –

Ihre Mutter jammerte, bat, mein Vater redete ihr zu. – Endlich gab sie nach, reichte beyden die Hände, stund auf und sagte:


»Ich will! ja ich will Ihnen folgen. Sie haben beyde vieles für mich gethan, Sie verdienen ein Opfer: – aber ich geh aus einem Gefängniß, das ich liebte, weil Sie es mir versüßten, in meinen Tod – ich fühl es – weinen Sie über mich, mein Freund! weinen Sie! Adelinde wird elend.« –

Sie lehnte sich an meinen Vater, der würklich weinte. – Ihre Mutter zog sie fort, sie wandte sich, küßte ihre Hand gegen ihre Stube, mein Vater stand mit gefalteten Händen: –


Beten Sie für mich – rief sie noch –

Ihre Mutter gieng in das Kabinet zum Vater, und Adelinden klopfte das Herz, als sie die abgebrochene Töne von der Stimme ihres Vaters hörte. – Endlich winkte ihr die Mutter an der Thüre. Ihr Vater saß seitwärts an einem Tischgen, wo er ihr Miniaturkästgen und ihre Gemälde [188] vor sich hatte, und auch seitwärts nach ihr blikte. – Sie näherte sich langsam an der Hand ihrer zitternden Mutter, die ihr einen Wink zum niederknien gab. Adelinde kniet – der Vater wird roth, und verzieht sein Gesicht in dem Augenblick, da Adelindens Herz anfieng zu schmelzen. – Dieser Gesichtszug in ihrem Vater hemmt ihre Thränen, beklemmt ihre Brust, sie erblaßt, und sinkt auf die Hand des Vaters. – Die Mutter schreyt mit Angst, und die Bediente, welche in dem Augenblick das Klavier in den Saal brachten, laufen zu, und wollen der Mutter, die bey Adelinden kniet, zu Hülfe kommen. – Toll und zornig steht der Vater auf, stößt Adelindens Kopf von sich, wirft den Tisch um, und flucht die Bediente zum Zimmer hinaus. – Mütterliche Thränen bringen Adelinde wieder zu sich, und nun mußte sie von ihrem Vater hören, daß er ihr diese Komödie niemals vergeben werde – und daß sie ihm aus den Augen solle –

Adelinde geht mit gerungenen Händen und verstörtem Blick. – Auf dem Gang begegnet ihr mein Vater, der von den Bedienten gerufen, herbeyeilte, die wankende Adelinde unterstüzte, und mit Schmerz und Zärtlichkeit sie ansah. – Die Angst des Stolzes trieb ihren Vater nachzusehen, [189] ob sie mit jemand spreche, und sich vielleicht beklage. Als er die arme Unglükliche mit meinem Vater erblikte, rief er mit der Stimme eines Rasenden –


Pfaff! packe dich aus meinem Haus! – oder ich werde dich führen lassen. –

Adelinde verschloß sich in ihre Stube, mein Vater wollte sprechen, und die Sache erzählen, wie sie war. Aber der ehrgeizige Mann, der einige Minuten vorher sich geschämt hatte, daß die Bediente seine Frau und Tochter vor seinen Füssen liegen sahen, und der ihre üble Auslegungen über seine Härte fürchtete – war nun froh, einen Vorwand gefunden zu haben, der sein Betragen rechtfertigen würde. Er gebrauchte die Eröfnung, welche ihm seine Frau von dem Unterricht und den Talenten seiner Tochter gemacht hatte, gegen meinen Vater, den er als heimlichen Verführer seines Kinds anklagte, und den Hausbedienten zu verstehen gab, daß dieses die Ursache des Hinkniens seiner Frau und Tochter gewesen sey. – Adelinde ward krank, und auf das Land geführt. – Mein Vater reißte gleich aus der Stadt, in Hofnung, die Wuth des ungerechten Hochmuths dadurch zu besänftigen, nachdem er ihm in einem Schreiben die Wahrheit der ganzen[190] gemeldet, und Vorstellungen gethan hatte. – Aber diese Wahrheiten zeugten gegen den harten Mann. – Er zerriß den Brief, und bedrohte so gar die gute Mutter meines Vaters, der nun einsah, wie viel Adelinde richtiger geurtheilt hatte, als er. – Leider war es schon einigemal geschehen, daß ein Lehrmeister, der den Söhnen Weisheit predigte, die Tochter zu Thorheiten verleitete. Daher wurde diese Geschichte geglaubt. Man fand natürlich, daß ein eingesperrtes Mädchen sich leicht an einen schmeichelnden Menschen heften würde, und daß ein Magister denke, der vornehme Mann müßte ihm dann ein Amt und Vermögen geben. – Man dachte, Adelindens Vater müsse sie wohl gekannt haben, weil er sie eingesperrt hielte, – und die Achtung, welche er dem Magister Hahle immer bezeugt hatte, diente auch noch zu der Bestättigung seines Verfahrens. Was sollten nun die gekränkte Unschuldige thun? Sollte die Frau – sollte die Tochter aufstehen, und sich in langen Erzählungen auf die Kosten des Ruhms der Wahrhaftigkeit eines Familien-Vaters rechtfertigen! Sollte es mein Vater thun? Ach, er vergaß sich und sein Unglük. – Adelindens Schiksal lag ihm allein an – und – ihre Mutter – [191] Er schrieb noch einmal an den fürchterlichen Mann: –


»Sie haben die Ehre Ihres Charakters gerettet, indem Sie die meinige zu Grunde richteten. – Aber Ihr eigenes Herz muß mich in Ihren einsamen Stunden rechtfertigen. Ich nehme den Menschen nicht übel, wenn sie denken, daß es ohnmöglich sey, daß ein Vater sein Kind ohne Ursache elend mache. Ich entschuldige auch alle, die einen Mann von Verstand, der viele prächtige Beweise von Güte gab, unfähig halten, daß er den Lehrmeister seiner Söhne, den er hochschäzte, ohne wichtige Beweggründe mißhandeln sollte – alles dieses ist mir noch ein schäzbarer Beweiß, daß es viele Leute giebt, die nicht so handeln könnten, und an Gerechtigkeit glauben.


Ich entschuldige so gar Sie. Die Leidenschaft des Ehrgeizes beherrscht Sie auf eine ganz tyrannische Art, und so bald Sie fürchten, daß etwas Ihren gesuchten Ruhm verdunkeln könnte, so ersticken alle Gefühle für Ihren Nächsten, und Sie opfern ohne Nachdenken, aber gewiß nicht ohne späte Reue Wahrheit und Menschen auf. Ich sage mir selbst, daß, [192] wenn der Zufall nicht Ihre Bedienten in das Zimmer geführt hätte, als Ihre unglükliche Tochter auf der Erde vor Ihnen lag, so wäre alles nicht geschehen. – Sie können sicher seyn, daß ich niemals gegen ihre vorgegebene Geschichte reden werde. Unschuld und Güte sind in mei nem Herzen, und in meinem Leben thun Sie nur eines zu Ihrer eigenen Beruhigung. Schaffen Sie Ihrer würdigen Gattin und Ihrer verehrungswerthen Adelinde glükliche Tage, und lassen Sie sich an dem Elend der meinigen genügen.«

Dieser Brief brachte eine vermischte Würkung hervor. Jede Sylbe Wahrheit empörte den Mann, und der ruhige feste Charakter, den er darinn sah – der Eindruck, welchen der Brief auf ihn machte, gab ihm Furcht; er dachte, wenn der Mann andern Leuten auf diese Art schriebe, so möchte man ihm endlich glauben. – Er behandelte also seine Frau mit vieler Güte, und gab ihr das Vermächtnis in die Hände, welches Adelinde von ihrer Großmutter und von ihrer Taufpathe erhalten hatte: nur, sezte er die Bedingnis hinzu, daß man ihm nun nicht mehr von ihr reden solle.

[193] Adelinde war krank und tiefsinnig. Ihr Leben war ihr gleichgültig geworden; sie bat ihre Mutter nur allein vor ihrem Tod um Nachricht von dem um ihrentwillen unglüklich gewordenen redlichen Mann. Mein Vater hatte lange Zeit nichts von sich hören lassen. Endlich schrieb er an seine Mutter, daß er als Dorfschulmeister angestellt, und ganz zufrieden sey, weit, recht weit von Menschen der stolzen und so genannten glüklichen Klasse zu leben. – Adelinde war damals mit ihrer Gesundheit so zurük, daß ihre Mutter glaubte, daß es grausam wäre, ihr etwas zu versagen, das eine Erleichtrung für ihre lezte bittre Tage seyn könnte. Sie schrieb daher an meinen Vater die Krankheit, und die Gesinnungen ihrer Tochter, und bat ihn, Adelinden von seinem Wohl und seiner Ruhe zu überzeugen, damit das gute Kind ihr Leben ohne Kummer für ihn – und ohne Haß gegen ihren Vater beschliessen möge. – Sie erhielt folgende Antwort –


»Wenn die Versicherung meines Wohls das gütige Herz Ihrer Adelinde beruhigen kann, o so sagen Sie ihr, daß man allein in der Ewigkeit unter seeligen Geistern, wohin sie geht, glüklicher seyn kann, als ich es bin. Die Unschuld und Einfalt meiner Schüler macht [194] sie zu Engeln dieser Erde, in Vergleich andrer Menschen. Mein einsames Haus, die alte gute Mutter des verstorbenen Schulmeisters, und ihre zwey Enkel, die bey mir leben, mein Acker, meine Besoldungswiese, der schöne Birkenwald und der kleine Bach, welcher an meinem Gemüßgärtgen hinfließt, alles stimmt mit der Unschuld und Trauer meines Herzens. Ich wurde in dem Haus eines armen aber frommen Handwerkers geboren, und werde in der Hütte eines armen frommen Schulmeisters sterben. – Kein Glanz – kein Ruhm – noch Gold werden mich wegziehen – Ich freue mich über den nahen Tod der edlen mißhandelten Adelinde. – Ihr ewiger Vater wird sie liebreich aufnehmen! – Ihre Erinnerung ist mir der süsseste Gedanke, den ich aus dem Cirkel der verfeinerten Menschen mit hieher brachte. Die Beschreibung ihres Schiksals und ihrer Tugend soll die lezte Arbeit meiner Feder seyn, und ich will die wenige Tage nach ihr so durchleben, daß die theure Märtyrin des Vorurtheils ihre früh erlangte Krone gerne mit mir theilen soll. – Schenken Sie mir mit der Nachricht ihres Uebergangs in die bessre Welt ihr Farbenkästgen [195] und ihr Klavier. Ich will ihre verklärte Gestalt malen, und oft soll meine einsame Gegend von den Stücken wiederhallen, die sie liebte.«

Dieser Brief, der Adelinden gegeben wurde, war für sie dieß, was Thau der schmachtenden Blume ist. – Sie schrieb ihm selbst noch:


»Die Versicherung Ihres Wohls und Ihrer Freundschaft für mich sind die lezte Tropfen Freude, die ich kosten konnte. Der Gedanke Ihres Elends und Ihrer Gleichgültigkeit war das bitterste, so ich jemals empfand. Hier ist mein Klavier, noch von mir selbst gegeben. Denken Sie sich in jedem rührenden, und in jedem ernsten Ton den zärtlichen Dank von Adelinden für die Erquickungsstunden, die Sie mir durch die Mittheilung Ihrer Talente schaften, und an die Wahrheit einer reinen tugendhaften Liebe für Sie! – Segen der Hütte, in der Sie wohnen! Segen der einsamen Gegend, in der Sie Ruhe vor der Bosheit fanden! – Ach! hätte mich mein Schiksal diese Hütte mit Ihnen theilen lassen, wie ich meine errungne Krone mit Ihnen theilen will!!« –

Der Schmerz meines Vaters war groß, aber [196] sanft. Dieser Abschiedsbrief von der liebenswürdigen Adelinde, ihr Klavier, ihre Auszüge von den besten Schriften – der Wunsch, daß sie seine Hütte mit ihm getheilt haben möchte – Bilder, die er sich daraus schuf, lassen sich nicht beschreiben, nur empfinden. – Er härmte sich, und wünschte, nur so lange zu leben, bis er noch ihr Grab gesehen hätte. – Es dünkte ihn, lang nichts von seiner und Adelindens Mutter gehört zu haben, als sein Schwager, ein rechtschaffener Bürger in einem kleinen Städtgen ihm schrieb, daß seine Mutter ihn vor ihrem Tode noch zu sehen verlange: er möchte also bald zu ihm kommen, wo er die Mutter finden würde. Er eilte, nicht nur die kindliche Pflicht gegen eine gute Mutter zu erfüllen, sondern auch, weil er hofte, etwas von Adelindens Tod, und was sie angieng, zu erfahren. Er fand seine Mutter sehr krank, aber glüklich, ihn zu sehen. Sie ließ nach einiger Zeit alles aus der Stube gehen, um mit ihrem Sohn allein zu reden. – Da fragte sie nach seinen Umständen. Er versicherte, daß er nichts zu wünschen habe. – Nach seiner Gesundheit. – Ich hoffe bald zu sterben.


»O mein Sohn! und ich wollte dein Glük durch eine gute Heyrath befestigen.«


[197] Gott bewahre mich! liebe Mutter! Mein Herz ist schon in der Ewigkeit, und diese Hand soll nie die Hand eines andern Weibes berühren, als die von meiner sterbenden Mutter.


Lieber Sohn! ich weiß, wo dein Herz ist! gieb mir deine Hand. –

Er that es, und sie sagte: Gute Tochter, komm! – Ein bürgerlich gekleidetes Mädchen trat weinend und wankend hinter dem Vorhang des Bettes hervor. Mein Vater ahndete was sonderbares, aber dieß nicht, daß er hier die noch lebende Adelinde sehen würde. Aber sie war es, und reichte ihm einen offenen Brief, den ihr Vater nach ihrer Genesung an sie geschrieben: –


Du lebst noch – ich wollte, du wärest am Ende der Welt mit deinem Magister. – Da ist ein Trauschein, und das lezte Wort von deinem beleidigten Vater. –

Mein Vater sank von Kummer und Staunen niedergedrükt auf den Stuhl. Adelinde unterstüzte ihn. – Er faßte sich – und nahm die zitternde Adelinde bey der Hand –

Mein Gott! was Aendrung! wollten Sie? – Gesezt sagte sie –


»Ja! ich will deine Hütte theilen – Nimm mich auf, Freund meiner Seele! nimm mich, [198] von Stolz und Härte verstossene in deinen Schuz, und laß mich alle meine Leiden und die Welt vergessen.«


Komm Adelinde! komm in meine Arme, denn in diesem Herzen bist du schon lang. Tugend und Genügsamkeit werden uns glüklich machen.

Die kranke Mutter weinte, und segnete sie. Mein Vater sagte dann auf sie weisend –


Adelinde! meine Mutter ist an dem Ende aller menschlichen Meinungen, und Unterschieds. – Vor Gott ist, wie Klopstok sagt – Glük und Tugend einander gleich. Mit diesem einzigen Vorzug wollen wir unsern Weg fortsetzen, bis wir meine arme fromme Mutter wieder sehen.

Nachdem erzählte ihm Adelinde, daß sie ihrer Mutter diesen Zettel geschikt, und dabey geschrieben habe, daß, wenn er sich zu dieser traurigen Verbindung entschliessen könnte, so würde sie sich glüklich finden. Ihre Mutter antwortete, daß sie gewiß sey, ihr Vater wünsche es, und schikte ihr dabey die Nachricht, wo sie sich sprechen wollten. Da hätte sie sie versichert, ihr Vater wäre auf seinem Irrweg so weit gegangen, daß gar keine Wiederkehr zu hoffen sey. –


[199]

»Das wünsche ich auch nicht, war Adelindens Antwort. – Ich bin ohne mein Verschulden das Opfer eines grausamen Vorurtheils, aber die Ruhe meines Vaters stüzt sich darauf. – O! mag er Ruhe in seiner Seele geniessen, wie ich sie in der armen Hütte meines tugendhaften Freundes finden werde. – Die Liebe und der Segen meiner guten Mutter gehen mit mir. Sie haben die Tage meines Kummers gezählt und getheilt. Mein Herz und mein Leben wird glüklich. – Denn gute Mutter! meine Liebe war allein Ihnen und meinem Lehrmeister geweiht.« –

Ihre Mutter weinte viel, und gab ihr das ererbte Geld, und da sie von Adelinden hörte, daß sie sich niemand, als der Mutter des Herrn Hahle eröfnen wollte, so war sie zufrieden, auch darinn ihren Mann geschont zu sehen. Sie holte Adelinden ab, übergab ihr die verlangte bürgerliche Kleider, und führte sie bis in das Städtchen, wo die alte Tischlerin wohnte. – Adelinde gieng zu ihr, entdekte sich, und wurde von der vernünftigen Frau recht wohl aufgenommen und getröstet. – Adelinde bat sie gleich, ihrer Tochter zu sagen, daß sie die Braut ihres Bruders sey, und ihre Schwiegermutter pflegen wolle, welches [200] sie auch mit so viel Sorgfalt und Liebe that, als die Frau von einem eigenen Kind nicht erwarten konnte. Adelinde erhielt Betten und Weißzeug. Da nahm sie gleich alles davon, was der guten Kranken dienen konnte, und der Tochtermann mußte meinem Vater schreiben. Adelinde wurde an dem Bette meiner frommen Großmutter getraut, bey welcher sie blieben, bis sie Gott nahm, und nachdem zogen sie auf die Schule, wo meine liebenswerthe Mutter alle Kenntniß der bürgerlichen Hauswirthschaft, die sie neben der Krankenpflege mit meiner Großmutter erwarb, mit dem grösten Eifer und Vergnügen ausübte, und von der rechtschaffenen alten Frau, die sie im Schulhaus antraf, noch die Landwirthschaft der Armen lernte. Ihre Mutter besuchte sie einmal, und wollte vor Jammer sterben, als sie ihre Adelinde in der kleinen Hütte sah. Sie verlangte, mein Vater soll einen bessern Dienst suchen, aber weder er, noch meine Mutter wollten es. Da ließ sie noch etwas an das Haus anbauen, und nun wohnten sie köstlich, und wir Kinder wurden von den besten Eltern unterrichtet, was die Menschen wissen müssen, um immer gut und in allen Ständen glüklich zu seyn.

Mit seinem Geist, seiner Tugend, und seiner [201] Handarbeit zu nüzen, war, was mein Vater seinen Kindern als Verdienst vor Gott und Menschen darstellte, womit er uns alle Stufen zeigte, durch welche Hohe und Niedre gehen müssen, um sich diese Verdienste zu erwerben. Besonders lehrte er uns alles, was der Stand erfodern könnte, zu dem einst seine vier Kinder berufen seyn möchten. Er zeigte uns drey Knaben den Werth des Ruhms und der Zufriedenheit, den wir auf dem Weg der Kenntnisse und Geschiklichkeit finden könnten, und alle Bilder von wahrem innigem Glück, die wir auf diesem Weg antreffen: so wie er die meiste Beschwerden und die gröste Gefahr des Verlusts der Freude des Lebens uns bey den Menschen der höhern Klasse zeigte. Ich bin siebzehn Jahr alt, und habe nun auch für mich die Bücher durchgelesen, aus denen der beste Vater uns lehrte, und ich finde, daß er mehr Geist hat, als seine Bücher, denn die Naturgeschichte, die er uns gab, wurde in unserer Seele gefühlte Bewundrung und Liebe Gottes: – die Religionslehre ward Kenntniß der göttlichen Liebe für uns, und dankbare Begierde, uns in Liebe und Güte gegen den Nächsten, als seine würdige Geschöpfe zu zeigen; er lehrte uns die Sprachen mit der Geschichte des Lands, worinn sie geredt wurden; [202] die Schönheit der Gegend um unsere Wohnung machte mich zu einem guten Schüler in der Miniaturmalerey, wie unsere Nachtigallen meine ältere Schwester Lucie zu der besten Sängerin machten: Ich habe mathematische und philosophische Kenntnisse, ein redliches Herz, wie mein Vater, ich spiele Klavier, und schreibe, wie er.


O möchte alles dieses die schöne edle Braut des Herrn von Goldbach bewegen, die Bitte eines Jünglings von siebzehn Jahren zu erhören, damit der Oheim Ihres Gemahls meinem Vater die Pfarre des Dorfes gebe, welche durch den nahen Tod unsers Predigers erledigt wird. Denn führe ich die Schule fort, bis der Enkel des alten Schulmeisters seine volle zwanzig Jahre hat, damit ihn mein Vater mit dem Beyfall der ganzen Gemeine in das wichtige Amt einsetzen kann.


Laura zerfloß in Thränen, als sie durch diese Bitte sah, daß dieß keine erdichtete Geschichte sey. Sie eilte mit dem Heft in der Hand zu ihrer Mutter: –


O liebe Mamma! was hab ich gelesen? was giebt es für Männer? – wenn Goldbach einmal so seyn könnte? –

Bey diesen Worten hieng sie an dem Hals ihrer Mutter –
[203] Nein, mein Kind! ich glaube nicht, daß du zu diesen Prüfungen berufen seyn sollst –

O ich will Goldbach auf die Probe setzen, sagte Laura – er soll mich mit dem Geschenk seines Oheims thun lassen, was ich will, ohne darnach zu fragen und wenn er dieß gerne eingeht, so will ich ihn recht sehr dafür lieben. –

Was willt du aber mit dem Geld machen?


Wenn der gute Oheim mir die Pfarre bewilligt hat, dann gebe ich noch alle dieß Geld der Familie, damit sie etwas für ihre Kinder in der Zukunft haben, und daß der vortrefliche Jüngling, der seine Hofnung auf mich sezte, noch eine hohe Schule besuchen kann; bis er wieder kommt, hab ich noch mehr Kredit in der Goldbachischen Familie, und auch bey dem Papa, dann bitte ich, daß man dem jungen Mann eine Stelle giebt, und vielleicht –

Was vielleicht meine Liebe? was?


Vielleicht kann ich von meinem Nadelgeld so viel zurüklegen, daß ich die Tochter ausstatten und wohl verheurathen kann. Denn ich möchte die Kinder der Adelinde wieder empor heben: denn das wird die Mutter über den Verlust ihres angebohrnen Rechts trösten.

Frau von Birke drükte Lauren an ihre Brust – [204] O mein Kind! wie glüklich machst du mich durch dein gutes Herz!


Das freut mich, liebe Mamma! aber jezt will ich geschwind an meinen Oheim schreiben, und Sie geben mir Ihren Bedienten, der so gut reiten kann. Der meinige, den Goldbach mir gab, kann indessen auch Sie bedienen: denn ich fürchte, es möchten andre Leute um die Pfarre bitten.

Wie froh war die Mutter über alle diese Bewegungen in Laurens Seele! – Sie kam bald wieder voll Freude, daß nun der Bediente schon weg sey, daß sie ihm eine gute Belohnung versprochen, wenn er recht eilen würde. – Sie zälte die Tage an den Fingern, wenn er nun wieder da seyn, und das Dekret für die Pfarre bringen könnte: aber – fuhr sie fort – »dann will ich den jungen Menschen sehen. Er muß ein recht gutes edles Gesicht haben, und was unschuldiges dabey, denn ich sah in seiner Beschreibung, daß der Geist eines der Welt bekannten Jünglings und auch ganze Zeilen rührender Einfalt darinn waren.«

Sie laß ihrer Mutter die Stellen vor, und zeigte ihr alles schöne in dem Miniaturgemälde –


Warum hast du dieses deinem Oheim nicht mitgeschikt? –


[205] Ach, Mamma! ich fürchtete, er würde den jungen Menschen als einen Maler behandeln, vielleicht Arbeiten von ihm fodern, oder so was; denn ich kenne ja den Herrn von Adelwald noch nicht ganz.

Wenn du aber die Geschichte dazu gelegt hättest, die dich so rührte, da hätte können was gutes für den Jüngling geschehen. –


Aber, liebe Mamma! wenn der Herr von Adelwald gesagt hätte, das ist eine Romanhistorie, wie es der Papa manchmal bey den Erzählungen der Leute macht, dann hätte er nicht einmal Hofnung zu der Pfarre, und den armen Leuten hätte es wehe gethan, ihre Geschichte bey jedermann bekannt zu wissen. Es kann ja seyn, daß Adelindens Vater und Mutter noch leben, da könnten sie neuen Verdruß haben. –

Dieses feine Gefühl für die Ruhe und Ehre einer unterdrükten Familie in der Seele der jungen Laura, war der herrlichste Lohn für die Sorgen ihrer Erziehung. – Frau von Birke umarmte sie mit der grösten Zärtlichkeit, und war sicher, daß sie sich auf die Wohlthätigkeit und Verschwiegenheit ihrer Tochter verlassen konnte –


Laura! nun bin ich die glüklichste Mutter, [206] ich habe in dir eine Tochter, welche von ihrem Glük und Wohlstand den edelsten Gebrauch machen wird, so, wie meine Adelinde ihr unverdientes Elend mit Standhaftigkeit und Tugend ertragen hat –

Laura sank auf ihre Knie, und schlug die Hände zusammen –


Ewiger Gott! Adelinde ihr Kind? meine Schwester? – und mein Vater der ihrige?

Ja, meine Liebe! es ist alles so – jede Sylbe der Erzählung ist wahr –

Laura schluchzte auf dem Schoos ihrer Mutter. – Endlich nahm sie ihre Ohrringe ab, zog die Demantnadeln aus ihren Haaren, und voll edlen Unmuths legte sie das Armband weg, auf welchem das Bild ihres Vaters war, und wandte es auf dem Tisch noch um. – Ihre Mutter sah ihr erst still zu, und fragte sie dann, warum sie alle das gethan habe?


O Mamma! wie soll ich mich mit Demanten umgeben sehen, und meine Schwester so elend wissen? – wie soll ich heute meinen Vater ansehen können, ohne mein Herz gepreßt zu fühlen. – Ihr Bild – meines Goldbachs Bild allein, will ich behalten. –


Dieser Ausdruk deines Schmerzens und deines [207] Mitleidens ist recht schön, mein Kind! aber du must es auch machen, wie deine gute Schwester, und ihr rechtschaffener Mann. Sie suchten mitten in ihrem Kummer alle Beweggründe auf, um die große Härte ihres Vaters zu entschuldigen. – Du, meine Laura! bist diesen Augenblick zu einer Bewegung des Hasses gegen deinen Vater, der dich so sehr liebt, hingerissen worden, weil du eine Handlung von ihm erfahren hast, die gegen die herrschende Neigung deines Herzens geht. Denke, mein Kind! daß der allerweiseste und beste Mensch immer unvollkommen ist, und in einer Leidenschaft etwas thut, was ihm hernach sehr leid ist. – Du hast jezo auch alles gute deines Vaters vergessen, und ihn, so viel du konntest, in seinem Bild gestraft. – Sieh! so war es ihm, als Adelinde und ihr Lehrmeister ihm mißfielen. – Er gieng auch so weit, als seine Kräfte reichen konnten, und – leider! reichten sie weit.

Laura seufzte, und fragte, wie lang denn Adelinde schon aus dem väterlichen Haus verbannt sey:


Bald neunzehn Jahre, meine Liebe! denn als ich sie das erstemal besuchte, lagest du unter [208] meinem Herzen, und ich glaube, das grosse Mitleiden deiner Seele ist durch alle dieß entstanden, was ich damals für Adelinde fühlte. – Ich war traurig, wieder Mutter zu werden – ich wußte nicht, daß ich einen Engel des Trostes in meinem Busen hätte. Denn Laura, meine Liebe! du wirst einmal mehr für Adelinde und ihre Kinder seyn, als ich nicht seyn konnte. Ich war arm: und durfte mir von dem Vermögen deines Vaters nicht viel anmaßen; ich war in einer immerwährenden Furcht und Unterwürfigkeit bey meinem Mann; aber du bist reich von deiner Familie; dieses erhält schon einer Frau viel Ansehen; dein Goldbach hat ein weiches edles Herz. – Er liebt dich zärtlich, und hat auch grosses Vermögen. Da wirst du viel gutes thun können. –


Aber, liebe Mamma! wie ist es möglich, daß ein sonst vortreflicher Mann neunzehn Jahre durch jemand plagen kann. – Der Papa gieng ja in die Kirche, und laß auch in dieser Zeit viel gute Bücher. Was würkte dann die Religion und der Männer so berühmte Philosophie bey ihm?

Frau von Birke mußte lächeln, als Laura diesen Einwurf machte –


[209] Meine Liebe! du must immer an die uns allen anklebende Schwäche denken. Denn wenn diese nicht wäre, so müßten ja die Lehrer der Religion lauter Engel, die Juristen lauter Gerechte, und die Philosophen lauter Weise seyn. – Kein schöner Geist begieng eine häßliche That, und alle, die sich Christen nennen, würden gute Menschen seyn. Aber so sind wir meistens wie gewisse Familien, die von ihren Urvätern die beste Anwartschaften und Gerechtsame auf grosse Güter haben, den Titel davon führen, und keine handbreit Land davon besitzen. Mich schmerzte immer an den Männern nichts mehr, als das grosse Aufheben, welches sie von ihrer Seelenlehre machen, wo sie den Anfang, Fortgang und Würkung einer Leidenschaft beschreiben, und dann doch einen armen hingerissenen Menschen, der nun seiner nicht mehr mächtig war, so beurtheilen, als ob er mit Ruhe und kalter Ueberlegung auf den Irrweg getretten wäre. – Ach wie mancher Unglükliche würde gerettet, und wieder auf die Bahn des Guten und Schönen zurück gebracht worden seyn, wenn man es wie Hahle machte, und die Würkung der Leidenschaft [210] von dem Menschen abrechnete, wenn man es für Pflicht hielt, andre zu entschuldigen, wie man sich entschuldigt.

Ich muß doch noch etwas sagen, Mamma! – Sie sind so sanft, so einnehmend gut in allem, was Sie sagen und thun. – Der Papa liebt Sie: konnten Sie dann nicht in neunzehn Jahren einen Augenblik finden, wo Sie dem Papa auf eine rührende Art von Ihrer armen Adelinde gesprochen hätten? –


Ja, mein Kind! wenn dieß, was dein Vater that, die Würkung eines Rausches, eines Jähzorns, oder eines von Fremden ihm beygebrachten Unmuths gewesen wäre – o da hätte ich was gewagt, und hätte auch gewonnen. Aber wie sollte ich auftretten und beweisen, wie weit Eigenliebe uns ungerecht machen kann, bey einem so hohen Stolz, der den Menschen nie verläßt, dessen er sich einmal bemächtigte? – und dann wer glaubt dem untergebenen viel schuldig zu seyn? – Meine Laura! du hast viel Geist, dieser wird sich vermehren, du wirst Beobachtungen machen, und einst finden, daß deine Mutter nicht anders handeln konnte. – Da nun auch dein Vater ruhig, und Adelinde zufrieden [211] war – da wir vor Gott alle gleich sind, so giengen meine Sorgen nicht mehr auf das glänzende, das Adelinde verlohren hatte, sondern nur auf den Wohlstand ihrer Kinder. – Ich legte von meinem Nadelgeld zurük, was ich konnte, und schikte es von Zeit zu Zeit nach Einhausen. Aber jezo da meine Gesundheit baufällig wurde, verdoppelte sich mein Kummer um die holden Geschöpfe, und ich faßte den Entschluß, Ihnen dein Herz und deine Liebe, als das beste Erbtheil von ihrer armen Großmutter zurük zu lassen. – Und wenn der Tod mich nicht überfällt, so werde ich auf meinem Sterbebette für Adelinde reden. Kann ich es nicht mehr, so findet dein Vater die Geschichte von meiner Handschrift, und eine Bitte an ihn für die Familie. –

Laura weinte sanft, aber innig über den Gedanken des abnehmenden Lebens ihrer Mutter, und auch über das Bild des Schiksals ihrer Schwester. Sie hatte die Miniatur vor sich. Die kleine Wohnung, und die Familie unter dem Nußbaum würkte nun ganz anders auf sie, als des Morgens bey dem ersten Blick, wo das ländliche Gemälde ihr gutes Herz anzog, wie es immer Bilder der Einfalt und Unschuld thun. – Aber nun war die Frau, welche mit [212] ihrem Spinnrocken da saß, ihre Schwester, – der Mann, der am Baum lehnte, ein edler, unglücklicher Vater von den Kindern ihrer Schwester, und der junge Mensch, welcher mit einer Zeichnungstafel vor sich, auf dem Stamm gegenüber saß, der Jüngling, der sie heut um besseres Brod für seine Eltern bat: – –


Ist Einhausen weit von hier, liebe Mamma!


Warum fragst du, Laura!


Ich möchte gern meine Schwester sehen, und sie umarmen, an ihrem Hals weinen, und sie vor Gott versichern, daß ich, so bald ich mein Vermögen habe, es mit ihr theilen will. Denn ich bin nun gewiß, da mich der Papa bey meiner Heurath auskauft, daß ich einen doppelten Theil habe, weil meine arme Schwester ausgeschlossen ist –

Ihre Mutter umarmte sie –


Dank und Segen dem Herzen meiner Laura! – ja, mein Kind! du sollst mit mir deine Schwester sehen, so bald mein Bedienter zurük ist, ich kaufe indessen ein paar Stück Leinen, und guten wollenen Zeug, wie Adelinde es für ihre Kinder liebt. – Neue Musik und hübsche Blumenzwiebel habe ich für Lucie schon bey mir, und guten Gemüßsaamen auch.

[213] So giengen die fünf Tage hin, die sie auf den Bedienten warten mußten. Laura war in tausend Sorgen, die Pfarre sey schon vergeben, und wie sollte sie da ihre Schwester mit der fehlgeschlagenen Hofnung ansehen können? Aber sie erhielt das Versicherungsdekret auf die Stelle, neben einer Zulage von hundert Gulden bey der Besoldung, und vielem Lob, das die Gemeine ihrem guten Magister gebe. – Laura hüpfte vor Freude beynah in das Bad zu ihrer Mutter. Den nemlichen Nachmittag wurde alles, was nach Einhausen sollte, eingepakt, und Frau von Birke reißte den andern Morgen mit Laura hin. Diese hatte sich äusserst einfach gekleidet, um so viel möglich allen Unterschied des Wohlstands zwischen ihr und ihrer Schwester zu vermeiden. Es erschütterte sie sehr, als ihre Mutter ihr die Thurmspitze der Dorfkirche von Einhausen zeigte, und als sie am End des Waldes stille hielten, um die Kalesche mit dem Bedienten die Landstrasse fortfahren zu lassen, wo dann Laura mit ihrer Mutter zu Fuß gegen das Schulhaus gienge, und gerad die Bauernkinder herauswimmeln sahen, konnte das gute Mädgen kaum weiter gehen. Ihre Knie zitterten, und grosse Thränen rollten über ihre Wangen herunter. Auf einmal kam Adelinde und ihre Kinder durch das kleine Gärtgen [214] gelaufen, wohin der Waldweg führte. – Sie hieng stumm und entzükt an dem Hals der besten Mutter, die sie in vier Jahren nicht gesehen hatte. Laura betrachtete sie, faßt die Hand der äusserst schönen Lucie, und sinkt ohnmächtig gegen ihre Nichte hin. Hahle faßt sie noch auf, man bringt sie auf die nahe Bank am Nußbaum; sie erholte sich, da ihre Mutter und Schwester über ihr weinten, und Adelinde wurde erstaunend gerührt, als Laura sie umarmte, sich an sie schmiegte, und mit einem Strom von Thränen ausrief: –


O vergieb mir! ich bin unschuldig, ich wußte nichts – nie nichts –


Liebes Kind! was soll ich dir vergeben? – Du hast mir ja nichts leides gethan. Fasse dich, mein Engel! und laß mich die Wonne geniessen, meine liebenswürdige Schwester vergnügt bey mir zu sehen!

Laura sagte noch schluchzend, die Hände zusammenfaltend –


Ach! Gott sey Dank, daß ich noch nicht lebte, als meine theure Schwester aus dem väterlichen Haus hieher verbannt wurde! –

Liebe zärtliche Laura! sagte Adelinde – und küßte die Thränen der schwesterlichen Liebe von Laurens Augen und Wangen hinweg. –


[215] Habe Dank, meine Beste! für alles, was du für mich fühlst. Sey aber ruhig: Sieh mich an – geniesse ich nicht ein großes Gut in meiner Gesundheit? – Sieh auf meinen Mann – auf meine Kinder – wohnt nicht Weißheit und Unschuld bey mir? – die Liebe der besten Mutter begleitete mich hieher, wohin ich nicht ohne Zulassung des ewigen Vaters kam, um ein unscheinbares, aber wahres Glück zu besitzen. – Ich habe, so lang ich diese Hütte bewohne, keinen Schmerz der Seele gefühlt, und jede Stunde Freuden der Natur, und der Tugend genossen. Der heutige Tag aber ist mir einer der heiligsten geworden, da ich in dir eine gute, Engel reine Seele umarme. O meine Laura! Gott gieße auf alle Jahre deines Lebens Ruhe und Segen aus, so wie ich sie kenne! – glaube, daß du in mir eine glükliche Schwester umarmest! –

Nun sah Laura auf, und lächelte aus ihren noch thränenden Augen auf die Kinder von Adelinden, auf deren Brust ihr Kopf noch halb lehnte. Der älteste Sohn sagte da seiner Großmutter –


O ich möchte meine schöne Tante und meine gute Mutter so malen!

[216] Laura stund auf, umarmte den Jüngling, und gab ihm das Dekret von der Pfarre –

»Da, würdiger Sohn deiner Eltern! hast du die Antwort auf deine Bitte.« –

Die Freude des vortreflichen jungen Menschen ermunterte auch sie, und sie gieng mit Adelinde umher, die ihr nun alles zeigte, was im Haus und ausser dem Haus ihr gehörte, und immer dabey erzählte, wie zufrieden sie sey, und von ihrer Tagordnung bey der kleinen ländlichen Wirthschaft sagte:


Du ißt heut Gemüß, das ich ansäete, – diese schöne Obstbäume hat mein Mann gezogen – diese Blumen umher meine Kinder – die herrlichen Geschöpfe alle, die das Herz ihres Vaters haben – meine drey Söhne, die seinen Geist einsaugen, wie eine gesunde Pflanze den Thau des Himmels. Und meine Lucia – Laura hast du nicht bemerkt, daß sie unserer Mutter ähnlich sieht? – Laura! diese Lucia empfehle ich einst dir. Sey ihre Mutter, wenn ich nicht mehr bin! Sie ist schön, und ein Kind der reinsten Liebe. Wenn du sie ganz kennst, so wird es dich freuen, daß sie deinem Herzen so nah verwandt ist.

Nun kamen sie wieder zu der Mutter, die sie in der Hollunderlaube fanden, die an der Bach gepflanzt[217] war, unter deren Zweigen die jungen Hahle sich alle Tage badeten. Da sagte nun Adelindens Mann, daß er die Pfarre erhalten, und daß es der Wunsch der Gemeine und die Bitte seines Sohns bewürkt habe. – Er umarmte dabey seine Frau:


»Meine Adelinde wird nun in ihren ältern Tagen mehr Wohlstand genießen, und sich freuen, daß die Achtung unserer redlichen Bauern und die kindliche Treue unsers Georgs die Grundlage davon sind. – Komm Georg! komm, daß deine Mutter dich auch segne! und Laura! Ihr Herz – Ach! Gott lasse es rein und wohlthätig, bis es nicht mehr schlägt« –

Wie bescheiden, und doch voll Entzücken der rechtschaffene Jüngling da stand, als er die Freude in den Augen seiner Aeltern glänzen sah, als jeder Blick auf ihn Segen und Liebe war – o das fühlt nur eine Mutter, nur ein Vater, die sich so einen Sohn wünschen, oder ein Jüngling, der so für seine Eltern denkt. – Denn Georg Hahle sollte nach dem Willen seiner Großmutter nur einen Auszug aus der Geschichte seiner Eltern schreiben, und ihn ihr heimlich zubringen, weil sie darauf rechnete, daß Laura bewegt seyn würde, und diese Rührung wollte sie benützen, um die Schwestern einander zu zeigen. Georg sah Laura, und fand den Ausdruck [218] ihrer Seele so voll Güte, daß er noch bey seiner Großmutter die Bitte um die Pfarre hinzusezte, und wollte seinen Eltern nichts sagen, weil der Ausgang so ungewiß ware. Als sein Vater ihn fragte, warum er dann die Schule vergeben hätte, da er sie doch drey Jahre selbst versorgen wollte, so erröthete Georg, gestand aber gleich, daß er und seine Brüder zu jung und zu munter seyen, um ihre Tage einsam zu verleben: daher habe er gedacht, in drey Jahren würde sein vortreflicher Vater bey dem Patron der Pfarre bekannt werden, dieser würde alsdann für ein gutes Kind des besten Vaters eine Gnade haben: – und er wollte sich einst so gut aufführen, daß jedermann wünschen solle, einen jungen Hahle von Einhausen zu haben, und dadurch könnten auch seine Bruder versorgt werden. –


Ach Gott! sagte Adelinde – gieb jedem Vater von drey Söhnen in seinem ersten einen Georg Hahle! –

Er küßte ihre Hände, und sagte lächelnd –


Liebe Mutter! Ihr Wunsch wird sehr vergeblich seyn, wenn Sie diesem Sohn nicht auch meine Eltern geben können. –

Adelinde fragte ihre Laura –


Ist Einhausen nicht ein Paradieß, wo solche Herzen aufwachsen? –

[219] Man aß auf einem schönen Graßplaz in dem kleinen Hof zu Mittag, welcher von dem Haus beschattet wurde, und wo man daneben jenseits der Bach die Heerde weiden sah. Es ergözte Laura auch, das schöne Federvieh die Brodkrummen um den Tisch herum auflesen zu sehen, und daß jedes Kind ihrer Schwester ein Huhn rief, daß sie solche auf der Hand sitzen hatten, und ihnen auf dem Teller zu essen gaben. Nachdem gieng man wieder unter den Nußbaum. Dort war Adelindens Klavier. Sie spielte das lezte Stück, das sie in dem väterlichen Haus gelernt hatte, welches sie scherzweise ihren Marsch nannte. Laura spielte auch vortreflich, und dann Georg, der aber nur phantasirte, bald aber eine Arie anstimmte, die Lucia mit der anmuthigsten Stimme sang. Laura umarmte und bewunderte sie. – Georg und Lucia sangen ein Duett, und am Ende fiel Vater, Mutter und die zwey jüngern Knaben im Chor mit ein.

Eh sie ganz geendigt hatten, hörten sie klatschen, und Bravo rufen, da zugleich zwey Herren und ein Frauenzimmer hinter einem Busch hervorkamen. Laura und Frau von Birke erkannten gleich den Herrn von Adelwald und seine Frau Schwester von Goldbach, aber den in der Entfernung an einem Baum gelehnten hübschen Mann kannten sie [220] nicht. Laura und ihre Mutter waren sehr über diesen Besuch erschrocken. Herr von Adelwald sah die Familie Hahlen mit vieler Rührung und Nachdenken an, und gieng mit dem Magister in das Haus. Frau von Goldbach aber setzte sich zu Laura und ihrer Mutter, denen sie erzälte, daß vier Männer von der Gemeinde Einhausen den nehmlichen Tag zu Herrn von Adelwald gekommen seyen, als Laurens eifrige Fürbitte kam. Die Liebe und Verehrung, welche die Leute für ihren Magister zeigten, hätte ihn gerührt: denn sie konnten nicht aufhören, von seinen schönen Predigten, von dem Unterricht ihrer Kinder, seiner Güte, seinem Fleiß, und (liebe Frau Hahle! nehmen Sie es nicht übel) auch von Ihrer Armut und Ihren guten Kindern zu reden, daß Sie eine so gescheide Frau wären, und die uralte Schulmeisterin so in Ehren hielten, und Mutter nennten: – das war alle ohne Ordnung gesagt, aber mein Bruder fand in der Beredsamkeit des Herzens dieser Leute Wahrheit, und alle Kennzeichen eines ohngewöhnlichen Verdiensts in Herrn Magister Hahle: Einer sagte noch am Ende – Es sey gewiß, daß seit Herrn Hahle's Unterricht die Kinder alle besser, und die alten Leute gescheider wären als vorher. – Mein Bruder versicherte ihnen nun die Pfarre. Sie baten aber noch um eine Zulage der Besoldung: die Gemeinde [221] würde auch zusammenschiessen. Natürlicher Weise dachte mein Bruder einen ausserordentlichen Mann zu finden: Und da Laura ihn zu kennen schien, so faßte er den Entschluß, sie im Bad zu besuchen, und dann nach Einhausen zu gehen. Wir fanden Sie nicht mehr im Bad, und sind hieher gefolgt. – Die schöne Sängerin, und alles, was wir erblikten, hat uns in die angenehmste Bewundrung gebracht, und ich begreiffe nun wohl, warum meine liebe Laura sich so sehr um Herrn Hahle angenommen hat. Adelinde und ihre Mutter waren froh, daß die Sache so angesehen wurde. Laura fragte nach dem Fremden: – »Es ist ein junger Engelländer von vielem Vermögen, der meinen Sohn auf Reisen kennen lernte, und ihn besuchte. Er war in meiner Stube, als mein Bruder die Unterredung mit den Bauern erzälte, und mich zu der Reise hieher einladete: Da wollte er auch mit, und sagte mir gleich, als er Sie sah, Frau Hahle und ihre Tochter seyen als wie die hübsche Quäckerinnen in Engelland gekleidet.«

Adelinde hatte mit inniger Zufriedenheit das Lob angehört, welches ihrem Mann und ihr von den guten Landleuten gegeben worden. Lucia war mit ihren Brüdern in das Gärtgen gegangen, wo sie sich mit den Blumen beschäftigten. Herr Kent – so hieß der Fremde – gieng langsam hin, und sah [222] stillschweigend zu. Adelinde stund auf, und näherte sich ihm, da er ihr über ihre Kinder und die schöne Lage ihres Hauses glükwünschte, aber sie dabey nachdenkend betrachtete. Sie fragte ihn, was ihm wohl am besten gefiele? »Wenn Sie mich kennten, schäzbare Frau! so würde ich es Ihnen sagen.« Sie fuhr fort: – ich glaube, indem sie auf die Bach und den Wald deutete, daß ein Engelländer ganz gern ein Landhaus in dieser Gegend baute. – »Ich nicht wegen der Gegend allein«, sagte er, Lucien ansehend. – Nun war Adelinde etwas verlegen, die Unterredung fortzusetzen, und ein Wink von ihr entfernte Lucien. In dem Augenblick kam Herr von Adelwald mit ihrem Mann aus dem Dorf zurück. Beyde sahen vergnügt aus, und Adelwald umarmte die drey Söhne mit vieler Leutseligkeit:


Gute Kinder! ihr sollt alle auch meine Kinder werden, fahrt nur fort, eurem ehrwürdigen Vater zu folgen. –

Er faßte dann Hahlens und Adelindens Hände –


Würdiges Paar! ich danke Gott, daß er Ihre Tugend auf einen Boden versezte, der mein gehört. – Ich sehe Sie bald wieder. –

Nun waren die Gutschen vorgefahren. Man gieng dem Baum zu, als Adelwald sagte: »Wo ist dann Ihre holde Tochter?« – Hahle befahl Georgen, [223] sie zu holen. Es war schön, die zwey vortrefliche Geschwister miteinander kommen zu sehen – Georg, der ein grün gebeiztes Kaffeebrett mit Gläsern voll Milch, deren jedes einen niedlichen Kranz von kleinen Feldblümchen hatte, und Lucia, die ein flaches Körbchen mit Bouqueten aus dem Gärtchen trug: die zwey jüngere Söhne aber boten niedlich geschnittenes Butterbrod auf Tellern, die mit Rosen umlegt waren, den Fremden an. – Adelwald sagte leise zu Adelinde, Lucien ansehend: – »dieß ist die schönste Blume, die ich je sah.« – Sie wurde bey dem Abschied von allen Damen umarmet, und sie reißten mit der Versicherung des Wiederkommens ab. – Adelwald sezte sich zu Frau von Birke allein, und Kent zu den drey Frauenzimmern. –


Unsere Laura, liebe Frau von Birke! hat mir einen der glüklichsten Tage meines Lebens gegeben. Denn ohne sie wäre ich nicht so bald hieher gekommen, und diese Familie ist mir merkwürdig, so wie sie mir lieb geworden ist. –

Frau von Birke wollte ihre Bewegung verbergen, und sagte:


»Sie scheinen mit dem Mann sehr zufrieden?«


Noch mehr als zufrieden – ich bewundre ihn, da er seine Grundsäze alle ausübt, nicht nur lehrt, seine grosse Kenntnisse, und die Festigkeit, [224] mit welcher er mir selbst in dem Augenblick, wo die Thräne des Danks für eine neue Verbesserung der Pfarre über seine Wangen rollte, eine Erklärung versagte, an der mir viel gelegen ist. – Denn gewiß, dieser Mann und diese Frau mit so viel edler erhöhter Moral, und doch so simpel, so genügsam, den Bauren so lieb, und so nah durch ihr Bezeugen – diese Leute sind aus einem andern Zirkel herausgekommen, und stellen würklich das Model menschlicher Vollkommenheit vor. – Ich sagte ihm diese Vermuthung freymüthig: er antwortete: – »Ja ich bin mit meiner Frau auf eine ungewöhnliche Weise hieher gekommen, aber Tugend und Unschuld kamen in unsern Herzen mit. – Mehr kann ich, und werde ich nie sagen, weil die Geschichte unsers Lebens nicht allein uns gehört: wir schweigen aus Pflicht der Schonung des Nächsten schon zwanzig Jahre, wir sind ruhig, und ich hoffe, daß ein rechtschaffener Mann mir vergiebt, wenn ich auch bey ihm schweige.« – Ich hab ihn umarmt und versichert, daß ich ihn nie wieder fragen werde: aber zu seinem Freund soll er mich nehmen, und mir seinen ältesten Sohn, den herrlichen Jüngling, überlassen,[225] – und entweder müssen Sie oder meine Schwester Goldbach die Tochter zu sich nehmen. – Das ist eine zweyte Laura, und wenn sie einst einen würdigen Mann liebt, so will ich sie ausstatten, wie ein Kind. – Mein Neffe weiß schon, daß ich mir die Helfte meines Vermögens ganz frey behalten habe. Er ist großmüthig, und ich bin sicher, daß er selbst gutes an dieser Familie thun wird.

Frau von Birke weinte. – Wie konnte sie anders? – Alle diese menschenfreundliche Aeusserungen waren durch ihre Kinder für ihre Kinder entstanden. – Jede Tugend, die sie loben hörte, traf auf ihr Herz. Adelwald fragte: – »Kennen Sie die Leute schon lange? Wissen Sie was näheres, das ich auch wissen, oder womit ich diesen schäzbaren Menschen dienen kann? – o so sagen Sie mir es« – Sie weinte stärker, und machte eine Bewegung mit ihrem Kopf und Händen, die so viel sagte: – als – ich bitte, schonen Sie mich – der edle Mann verstand es. »Sie wissen das Geheimniß, ach Sie sollen es behalten, weil es so heilig ist: – aber ich hätte es nicht mißbraucht.« Beyde schwiegen nun bis zu ihrer Ankunft in dem Bad, wo Frau von Birke mit Laura gleich für den ganzen Abend allein bliebe, und ihre Unterredung erzählte. Laura freute sich [226] über Adelwalds Vorhaben, und sagte auch, Frau von Goldbach hätte von nichts als diesen Eltern und diesen Kindern gesprochen, der junge Fremde aber nicht eine Sylbe. – Adelwald redete bey Tisch auch davon, und seine Schwester schien mit dem Gedanken sehr zufrieden, Lucia zu sich zu nehmen. Kent schwieg immer, und ware zerstreut. – Adelwald wiederholte die Unterredung mit Hahle, und, daß er den ältesten Sohn zu sich nähme. – Der andre Morgen gieng bey dem Frühstück mit Wiederholungen von Einhausen vorüber, ausgenommen daß Herr Kent nicht dazu kam, sondern erst bey dem Mittagessen erschien, und immer vor sich, aber mit einer vergnügten Miene nachdenkend, da saß. Die zwey folgende Tage sahen sie ihn nur des Abends sehr spat.

Den vierten Morgen ritte Herr von Adelwald nach Einhausen, und wunderte sich sehr, den Bedienten des Herrn Kent bey zwey Pferden im Wald zu finden. Er fragte nach dem Herrn. – »Er ist bey dem Hirten auf der Wiese in Bauernkleidern, und kommt erst Abends wieder.« – Adelwald stuzte, und eilte um so mehr nach dem Schulhaus. – Georg begegnete ihm mit einem Brief, den er in das Bad hätte tragen sollen, worinn Hahle ihn bittet, dem Herrn Kent Vorstellungen über seinen Auffenthalt [227] in dem Wald und auf der Wiese zu machen, – weil es ihm und seiner Frau höchst schmerzlich sey, eine Nachstellung für ihre Lucia zu besorgen. – Adelwald wurde sehr mißvergnügt, und versicherte die Eltern alles seines Beystandes. – Er bemerkte selbst aus dem Hof den jungen Bauer an dem Ufer der kleinen Bach, dem Schulhaus gegen über, und Abends begegnete er Herrn Kent auf der Rükreise. Sie ritten einige Zeit, ohne sich zu sprechen: endlich ohnweit dem Bad sagte Adelwald, ob er nicht absteigen, und mit ihm den übrigen Weg zu Fuß machen wolle. Kent war zufrieden, und Adelwald sagte ihm da ganz gerad, was er Luciens Eltern versprochen habe. – Kent gestund, daß das vortrefliche Mädchen einen ausserordentlichen Eindruck auf ihn gemacht hätte, daß er sie nur öfter in ihrer ländlichen Unschuld und Freyheit sehen wollte, aber auch seit gestern entschlossen sey, sie zu seiner Frau zu begehren, da er sie auf der Stufe der Gartenthüre zwischen zwey Bauernkindern sitzen gesehen, welche sie buchstabiren lehrte. Diese Sanftmuth – diesen Ausdruck von Güte des Herzens hätte er nie bemerkt, nie geglaubt, wenn andre Menschen dabey gewesen wären.


Von Adelwald sah ihn starr an: –


Sie – Lucien zu Ihrer Frau!


[228]

Ja, denn ich bin aus einem Land, wo Tugend und Schönheit so viel als Adel und Brautschaz gilt. – Lehren Sie mich den Eltern und der Tochter gefallen, so machen Sie mich zu einem glüklichen Mann. Ich bin unabhängig, und kann also wohnen, wo ich will. Geben Sie mir den Platz um das Schulhaus! Ich will dort für mich und meine Lucia ein Haus bauen.

Adelwald freute sich unendlich über diese Erklärung. Er versprach ihm gleich, den andern Morgen wieder nach Einhausen zu gehen, und für ihn zu reden: er solle aber nicht eher hin, bis die Eltern beruhigt seyn würden. – Kent willigte in alles. Adelwald gieng zu Frau von Birke:


Sie nehmen Antheil an Hahlens Familie. – Es muß Ihnen also Vergnügen machen, zu hören, daß unsere reizende Lucia von Herrn Kent zu seiner Frau begehrt wird, und daß ich morgen als Freywerber nach Einhausen gehe. – Er will sich da ein Haus bauen, und ich gebe ihm indessen das meine zu bewohnen. –

Frau von Birke zerfloß in Thränen der Freude.


Ist das möglich! ist es kein Traum?
Laura aber kniete vor ihrem Oheim nieder, küßte seine Hände: –

[229] O mein edler gütiger Oheim! wenn Sie so für meiner Schwe...

Aber jähling schwieg sie, und blikte mit Angst auf ihre Mutter, die äusserst verlegen und bestürzt aussah.

Adelwald betrachtete beyde einige Augenblicke still. – Endlich sagte er: –


Liebe Laura! die überfliessende Freude ihres guten Herzens hat mir ein Geheimniß entdekt, welches ich schon gestern in den Thränen Ihrer würdigen Mutter ahndete. – Edle vortrefliche Frau! öfnen Sie mir Ihr Herz! – Ist Frau Hahle nicht ihre aus dem väterlichen Haus gebannte Tochter? – Gewiß jede Sylbe ihres Geheimnisses soll mir heilig seyn. –

Frau von Birke holte aus ihrem Briefkästgen ein Paquet Papiere, und gab sie Herrn von Adelwald:


Sie verdienen mein Vertrauen. – Lesen Sie dieß, was mein Mann nach meinem Tod lesen sollte, und dieß, was Laura that, eh sie hoffen konnte, zu den Füssen des ehrwürdigsten Manns ihr Herz zu zeigen. –

Adelwald nahms: – »ich gehe gleich, beste Frau! Wahrheit, die zu Rettung der Unschuld helfen soll, kann man nicht bald genug erfahren.« – Nun sah er in seinem Zimmer alles durch, und wurde mit Hochachtung und Theilnehmung erfüllt. – Er [230] dankte Gott, daß er ausersehen war, das Elend dieser vortreflichen Menschen zu endigen, und machte gleich den Plan, durch die so angesehene Heurath mit Herrn Kent den Stolz des alten von Birke zu Erkenntniß seines ungerechten Hasses zu bringen. – Er gab Herrn Kent die Geschichte auch zu lesen, weil er von dem edlen Herzen des jungen Manns vermuthete, daß er um so fester bey der Verbindung mit Lucien bestehen würde: – und dieß geschah auch, denn Kent wollte nun ohne anders mit nach Einhausen gehen, sich bey den Eltern entschuldigen, und mit ihrer Erlaubniß bey Lucien gefällig zu machen suchen.

Sie kamen still in das Schulhaus, als gerad die Familie ein kleines Frühstück nahm, wo Lucia neben der alten Frau stand, und ihr die Theeschale mit so viel kindlicher Liebe und Sorgfalt in ihrem holden Gesicht an den Mund hielt, daß Adelwald selbst sie mit Bewundrung ansah, Kent aber, rascher und jünger, zu ihr eilte, hinkniete und ihre Kleider küßte. Lucia sieht ihn mit der äussersten Bewegung an, – der Vater aber mit Sorge und Ernst. – Kent bemerkt es –


»O vergeben Sie mir! wie konnte ich anders als vor dem göttlichen Geschöpf knien? –

Lucia wand sich erröthend gegen ihre Mutter, welche [231] sie an der Hand nahm, und wegführte. Kent gieng in das Gärtgen zu dem Baum, der sein erster Bekannter in Einhausen war. Adelwald verlangte mit Herrn Hahle allein zu sprechen, und entdeckte ihm die Absichten des rechtschaffenen jungen Mannes. – Hahle ward sehr nachdenkend und bewegt, öfnete ein Fenster, sah mit thränendem Aug gen Himmel –


Ewiger Vater! was Wohlthat, was Gnade für mein Kind! – Herr von Adelwald! es ist wohl unmöglich, daß Sie mich täuschen. Nehmen Sie den Segen eines treuen, bekümmerten Vaters an – für alles, was Sie thun! ich kann nicht mehr sagen – denn – ach! zwanzig Jahre innerer Jammer – so gehoben, so ein Uebermaas von Wohl! – O Adelinde! was ein Lohn für deine Leiden! –

Er lehnte sich an Adelwalds Brust, der ihn umfaßte:


»Theurer Freund! wie glüklich bin ich, daß ich das Werkzeug geworden bin, Sie zu trösten? – Segen unserer Laura für ihr Herz, daß sie den Namen ihrer Schwester mir nannte!« –

Hahle fuhr erschrocken zurück, und seufzte.


»Seyn Sie ruhig, edler Kreuzträger! Glauben Sie, Gott wollte ein Ende machen! [232] Gönnen Sie mir die Freude, daß es durch mich geschehen soll, und kommen Sie nun, daß wir Lucia und Adelinde beruhigen! Gehen Sie zu Ihnen – ich will zu Kent – es ist ein schäzbarer junger Mann.« –

Er fand ihn an dem Baum gelehnt, den er umfaßt hielt. Traurig sah er nach Adelwald hin, der ihm aber die Hand bot, und ihn hoffen hieß. – Sie sezten sich, um von allem zu sprechen, bis sie Herrn Hahle kommen sahen, dem Adelwald entgegen eilte. –


»Dem Himmel sey Dank, – sagte der erste – daß Herr Kent ein redlicher Mann ist: – sonst wäre meine Lucia elend, denn sie liebt ihn gewiß.«

Freudig fragte Adelwald: Ist das wahr? –


»Ich kam zu ihr, und fand sie an der Brust ihrer Mutter so heftig weinend, als sie in ihrem ganzen Leben nicht weinte. Sie redete nicht, als nur da ich sagte: –


O ich wollte, daß ich diesen fremden Menschen nie gesehen hätte! – Schnell antwortete sie: –


O mein Vater! den Mann, der das gute so sehr liebt? – Erröthend blikte sie mich an, und umarmte auf das neue ihre Mutter. –

Sagen Sie, Herr von Adelwald! was anders als Liebe machte sie den Fremden gegen den Vater [233] vertheidigen? – o wie schnell würkte das süsse Gift der Anbetung und des Lobens? –


Guter, rechtschaffener Vater! ich verehre Ihre Grundsätze auch in diesem. – Sie haben recht: – großes Lob ist der Unschuld der Töchter eben so gefährlich, als der Bescheidenheit des Jünglings. Aber jezo, da Sie überzeugt sind, daß ein tugendhafter und reicher junger Mann sich Luciens Neigung erwarb, da Liebe Sie und Adelinde hieher brachte, so lassen Sie Ihre Tochter dieser Liebe auch folgen.


Ja, da es reine Liebe bey dem Jüngling ist, kann ich es mit Ruhe und Segen geschehen lassen. – Aber sagen Sie! wo in der Welt hätte ein redlicher Bewohner dieser Hütte denken können, daß seine Tochter einen vornehmen reichen Mann lieben könnte, ohne elend zu werden –


Sie haben bey tausend Reichen recht, aber Kent ist eine Ausnahme bey ihnen, wie Sie es unter jungen Männern Ihres Standes waren. Lassen Sie nun dem Verdienst des Reichen Gerechtigkeit wiederfahren, wie er sie der Tugend Ihrer Hütte schuldig ist. –


Kent! Kommen Sie, und lassen Luciens Vater in Ihrer Seele lesen.

[234] Er sprang von seinem Siz auf, und eilte zu Herrn Hahle, dessen Hand er faßte –


Verzeihen Sie! ich erkenne, daß ich fehlte, so vor allen den Ihrigen eine Liebe zu zeigen, von der ich noch nicht gesprochen, und die ich noch nicht erprobt hatte. – Aber Lucia war seit vorgestern meine erwählte Gattin. Ich fühlte, und dachte nichts anders, und als ich sie in dem vollen Glanz der Schönheit und Jugend der armen schwächlichen Frau mit Engelsgüte die Tasse an den Mund halten sah – ach da – Herr Hahle! mein Herz hat sich mitten in der glänzenden verführerischen Welt für jedes Gefühl der Tugend offen gehalten. – Sie wissen nicht, wie müde Pracht und Ueppigkeit eine gute Menschenseele endlich machen. – Ich habe den jungen Goldbach auf seinen Reisen kennen lernen, und fand in ihm einen gleichgesinnten Freund. Ich versprach, ihn nach dem Tod meines Vaters zu besuchen: der vortrefliche Charakter seines Oheims hielt mich länger, als ich anfangs dachte: Ich war dabey, als Herr von Adelwald mit so vieler Bewegung alles erzählte, was er von Ihnen gehört hatte, und wie eifrig er wünschte, Sie und die ihrige bald selbst zu sehen. Frau von Goldbach bekam die nemliche Begierde, ein Bild ausübender [235] Tugend zu betrachten. Mein Herz und mein Glück zogen mich mit hieher – aber ach! Ihr Alter – ihre ernsthafte Beschäftigungen, die Gewohnheit, diese Hütte und diese reizende ländliche Gegend zu sehen, ihre Entfernung von der Kunstwelt, und – ich darf wohl hinzusetzen, das Auge eines Vaters verhindert Sie, das hinreissende Entzücken zu begreifen, das mich ganz ausser mich sezte, als ich da an dem Baum stand, die Gegend und Sie alle erblikte, und dabey Lucien singen hörte – o mein Vater! das können Sie nicht fühlen, wie es in meinem Herzen war. Fragen Sie Ihre Frau – fragen Sie Adelwald – möchten Sie hier sehen können, wie ich denke! – (Er öfnete seine Brust) Möchte ich die Erinnerungen meines Gewissens zeigen können, wie sie vor Gottes Augen liegen! – Sie würden den guten Fremdling in ihr Haus nehmen, Sie würden Lucien erlauben, mich erst als einen Freund ihres Vaters und ihrer Tugend um sich zu sehen, und denn, wenn sie mich gut fände, würde ich durch ihre Liebe glüklich seyn.

Hahle hatte mit inniger Zufriedenheit zugehört. Er dankte Gott, daß er die reine Liebe eines unverdorbenen Jünglings für seine Lucia bestimmte. Er bewunderte den Gang seines Schiksals.


[236] »Ein Zufall, der die Bediente des Herrn von Birke zu einer unrechten Zeit in das Zimmer führte, machte mich und Adelinde auf so lange Jahre unglüklich: – Ein Zufall führte den Fremden in das Goldbachische Haus, als gerad alle das gute von mir gesagt wurde. Uebermaas der Leidenschaft des beleidigten Stolzes machte mein jähes Elend: – Uebermaas der edlen Leidenschaft des Wohlwollens und der Liebe machen mein jähes Glück. Standhafte, männliche Tugend! du hast mich durch den sorgevollen Zwischenraum geführt, dir – dir habe ich diese Auflösung zu danken!«

Er umarmte Herrn Kent, und sagte ihm:


Ich nehme Sie in mein väterliches Herz und in meine Hütte auf, wie Sie es wünschen. Gott sieht und hört unsern Bund, und ewig werde ich seine Vorsicht preisen. – Ich will zu Lucien, mein Sohn! sie weint. – Sie weinte viel um Ihrentwillen – ach wären Sie nicht redlich, wie unglüklich würde mein Kind geworden seyn! –

Kent drükte ihn an sich. Er konnte nicht reden. Hahle gieng eilfertig in sein Haus, und Kent sagte mit sich selbst –


Sie weinte um mich? – o Lucia! nie – nie [237] mehr sollt du um mich weinen, als wenn ich sterbe, mit deiner Liebe sterbe.

Er umfaßte den Baum, an dem er das erstemal sich anlehnte, als er die Familie sah. – Adelwald kam, und rief ihm zu: –


Glück, lieber junger Mann! für uns beyde! wir sind der Gegenstand des Segens dieser schäzbaren Menschen geworden, und Lucia liebt Sie. Ich gieng zu ihr und der Mutter. Ich fragte zärtlich, warum sie weine? und sezte hinzu, daß es Ihnen unendlich leid sey, ihr und ihren Eltern Unruhe gegeben zu haben, sie solle nicht bös über Sie seyn. –


»O ich bin nicht böse, ich sah wohl, daß Herr Kent mich nur wegen meines guten Herzens lobte, aber das sorgsame Wesen meiner lieben Eltern brach mir das Herz. Sie hatten Furcht vor Herrn Kent, und das that mir weh.« –


Ich versicherte nun die Tochter und die Mutter, daß Sie die Tugend über alles liebten, und sie in jedem Stand und in jeder Gestalt verehrten. – Ich habe uns dann zu dem Mittagessen eingeladen, und Lucia flog wie ein Vogel zu der Küche. Diese Zerstreuung wird ihr wohl thun. Und da ich noch weniges mit der Mutter geredt, [238] kam der Vater, und ich eilte zu Ihnen, um meinen Gedanken mitzutheilen. – Ich habe schon gestern einen Befehl in mein Haus geschikt, um Bettung und Geräthe hieher zu bringen, und ich lasse heut den ganzen Tag in dem alten Schloß raumen und säubern. Meine Schwester, Sie und ich wollen einige Zeit hier wohnen: da können Sie Ihren Weg bey Lucien fortsetzen. Goldbach wird auch bald zu uns kommen, und Einhausen für mich ein erworbenes Paradieß werden. –

Kent war unendlich zufrieden, und er sagte Adelwald auch seine Entwürfe. – Hahlens Söhne brachten nun den Tisch, und deckten ihn. Vater und Mutter kamen auch, und Kent wurde Adelinden als ihr Sohn vorgestellt. Nur Lucia und die Brüder sollten es noch nicht wissen: – das holde Mädchen trug die Suppe auf, und ihr Vater nannte ihr Herrn Kent als ihren Freund. Das einfache ländliche Mahl wurde mit innigem Vergnügen genossen.

Gegen Abend reißten die beyde Freunde ab: Kent aber bat um Erlaubniß, morgen wieder zu kommen, und er erhielt sie. – Frau von Birke war den ganzen Tag voller Unruh gewesen: nun freute sie sich aber um so mehr, als ihr Adelwald [239] sagte, wie der Besuch geendigt habe. Er reißte den andern Morgen früh ab, und Georg erschien mit einem grossen Brief von seinen Eltern an die Frau von Birke, die beynah nicht das geringste mehr von ihrer Krankheit fühlte. – Adelwald besuchte gleich Laurens Vater, der von Hof zurück war, und sagte ihm, daß er wünsche, noch vor der Trauung seines Neffen einige Tage auf dem Land zuzubringen, damit indessen in beyden Häusern die Zubereitungen für die feyerliche Verlobung recht gut gemacht werden könnte. –


Sie sollten auch mit, Herr von Birke!

Wann?

In zwey Tagen –


Da bin ich mit der Ausfertigung der Papiere zu Ende – wollen Sie nicht sehen, wie ich es mit meiner Laura halte?


Ich bin sicher, daß Sie alles sehr großmüthig machen. – Thun Sie nur Ihren andern Kindern durch Laurens reichen Brautschaz keinen Schaden!

Birke wurde durch dieses und den ernsten Ton des Adelwald etwas betretten, faßte sich aber gleich, und sagte –


Da, lesen Sie auch dieses, welches eine Art Testament ist. – Sie werden sehen, daß [240] meine Söhne genug haben, und daß auch meine Frau, wenn sie mich überlebt, stands gemäß besorgt ist. –

Adelwald laß und bekannte, daß alles sehr gut und in schönster Ordnung sey. – Aber, sagte er, seinen Stuhl näher zu Birke rückend, und ihn bey der Hand nehmend – »Spricht Ihr sonst so rechtschaffenes Herz gar nicht für Adelinde?


Birke riß seine Hand los, und stund auf –

O! nennen Sie diese nicht! – sie hat, was sie verdient.
Gewiß nicht – denn sonst wäre sie und ihre vortrefliche Kinder nicht arm. –

Birke glühte, und wollte heftig über Hahle reden. Adelwald blieb kalt, und sagte –


Hören Sie! die Natur hat Ihnen viele schäzbare Eigenschaften gegeben: Sie sind ein hochachtungswürdiger Mann – aber Ihre heftige Gemüthsart macht ein grosses Gegengewicht. Durch diese haben Sie Adelinden zum Elend verdammt, in welchem allein die Wunder der Tugend und der Beystand des Allmächtigen sie erhielten. Ich verehre Adelinde und ihren Mann, als die würdigste Menschen, die ich je sah. – Ich schätze auch Sie: – Sie wissen's, aber Sie müssen diesen Flecken aus ihrem Leben hinweg nehmen – [241] der gröste Mann kann eine Zeitlang irren, aber der edle Mann erhebt sich, und übt Recht an dem geringsten seiner Nebenmenschen, ja an seinen Feinden. – Birke! gehen Sie in ihr Herz, und werden Sie mein Verwandter durch Ihre Grundsätze, so wie Sie es durch Ihre Laura werden!

Birke war etwas niedergedrükt, aber sein Stolz fand an dem Gedanken – der gröste Mann irrt sich – eine Stütze, und wirklich edel sagte er –


Ja, ich war auf einem Irrweg. Verachten Sie mich nicht! ich will zurück: ich will gerecht an meiner Adelinde handeln – Sagen Sie mir nur, hat sie über mich geklagt? hat es ihr Mann gethan?


Nein, keines von beyden mit einer Sylbe – ich schwöre es.


Woher wissen Sie aber ihre Geschichte?


Diese mußte ich erfahren, als ich die schöne Tochter des Herrn Hahle für unsern Engelländer zu seiner Frau begehrte.


Wie! Herr Kent heurathet eine Tochter von Adelinde?


Ja, und er nähme sie, wenn er Herzog wäre. Meine Schwester wollte sie zur Tochter annehmen, und ich sie ausstatten.


Wo wohnen sie dann? wo sahen Sie die Familie?

Auf meinem Gut Einhausen, wohin ich in zwey Tagen wieder abgehe – wollen Sie mit?
[242] Gerne! aber nun muß ich ein ander Testament machen –
Das ist nicht nöthig, denn Goldbach soll Laurens Brautschaz mit Adelinde theilen –

Hier zerriß Birke alle seine Papiere. – Adelwald betrachtete ihn still. – Birke sagte –


Nicht wahr! Sie achten mich als einen ehrlichen Mann und glauben, daß ich Wort halte, wenn schon diese Papiere in Stücken sind. –


Gewiß, um so mehr, da Sie der Natur und der gerechten Güte wieder ganz angehören – Sehen Sie meine Vorstellungen als den grösten Beweiß meiner Freundschaft an, ich kenne das Vergnügen des Wohlthuns. Gern hätte ich meine Hahle allein genossen, aber der Vater soll die Freude der Versöhnung fühlen und geben.

Sie reißten auch auf den bestimmten Tag nach Einhausen. Adelwald stieg mit Birke in dem nun ganz zubereiteten Schloß ab, und sie giengen dann durch einen Umweg nach dem Schulhaus.

Adelwald verließ Birke auf der Moosbank. Er eilte in das Haus, um Adelinde zu holen, die er zu ihm führte. Birke stand auf, sank aber zitternd zurück – Adelinde umfaßte seine Knie, und er küßte sie ohne reden zu können – Hahle mit seinen drey Söhnen, und Lucia standen umher. Birke blikte auf alle, und abgebrochen sagte er:


[243] O Kinder! alles – alles vergessen –


Von ganzem Herzen! war die Antwort.

Adelinde zeigte ihm, und nannte ihre Kinder – Birke sagte, er wundere sich nicht, daß die Tochter Lucia genannt wurde, wie seine Frau – aber den ersten Sohn Georg, wie mich? –


Sie waren immer mein Vater!

Gerührt sagte er –


Nein Adelinde! ich war es nicht – aber ich will es seyn – glaubt mir Kinder, und er reichte ihr und ihrem Mann seine Hände, die sie küßten. –


Adelinde! warest du immer hier?

Ja, mein Vater! es ist ein glüklicher Boden – Mit Thränen benezt, unterbrach er sie –

Meine Kinder sind dadurch gut aufgewachsen, und Sie mein Vater hieher gekommen. –

Bald darauf kamen die andre alle aus dem Bad zu ihnen. Birke gieng mit Adelinden an einer, und Lucien an der andern Hand seiner Frau entgegen. Sie lief mit ausgebreiteten Armen ihm zu, und umfaßte ihn:


O jezt sterbe ich glüklich. – Gott lohne dich, Lieber! für deine edle Handlung!

Kent küßte Luciens Hand, und Adelwald führte ihn dem Herrn Birke, als den Bräutigam seiner Enkelin, zu. – Alles war frölich, und gegen Abend giengen sie in das Schloß, wovon der Saal recht schön beleuchtet ware. – Birke umarmte den [244] Adelwald, und dankte ihm, den Entschluß der Aussöhnung in ihm erwekt zu haben. –


Es ist ein Stein von meiner Seele gewälzt. Denn meine Rache machte mich nur die erste Zeit glüklich. – Oft, sehr oft drükte es mich hier – und seit einer Stunde bin ich höchst vergnügt. Meine Laura liebt mich doppelt, wie mich dünkt, und Adelinde scheint so wohl. – Sie ist ein artiges Weib.

Adelwald und Hahle entfernten sich einige Augenblicke. Laura und Lucia waren auch weg, aber bald kam Adelwald in den Saal zurück. Alle fühlten, daß er die Seele ihrer Freude war, und umgaben ihn als von einer unsichtbaren Macht gezogen. Er genoß diesen Augenblick des herrlichsten Vorzugs eines Menschenfreunds, Glükliche gemacht zu haben. Eine Thräne glänzte in seinem Aug: – alles schwieg, und er fieng an. –


Ich sehe mit unaussprechlichem Vergnügen Ihre Freundschaft für mich, und Ihre Zufriedenheit. – Wir wollen den Tag ganz heilig machen – Kent! Goldbach! Ihr liebt eure würdige Bräute. – Ihr habt den väterlichen Segen. – Kommt, liebe junge Männer! ich will euch auch dem Priestersegen entgegen führen. –

Er faßte beyde, und gieng einer doppelten Thüre zu, die den Augenblick aufgemacht wurde. Herr Hahle stund in seiner Amtskleidung auf einer erhöhten, [245] und mit einem schönen Teppich gedeckten Stufe; Laura und Lucia weiß gekleidet, mit einem Schmuck von Perlen geziert, neben ihm. Alles war überrascht. – Die beyde Mütter drängten sich zu ihren Töchtern, die sich niederknieten, und um den Segen baten. –


Vater Birke! rief Adelwald – geben Sie Ihre Laura meinem Neffen? – und ich meine Tochter Lucia seinem Freund. –

Und so wurden, eh sich alle recht besinnen konnten, die Verlobten eingesegnet. Nach den Umarmungen und Glükwünschen sagte der edle liebe Mann noch:


Nun Kinder! sind wir mit unsern Herzen über alle Disteln und Dörner der Ceremonien und Pracht hinweg. – Morgen geben wir den Armen des Kirchspiels dieß, was Verschwendung im eitlen Pracht gekostet hätte. –

Alle waren höchst glüklich, – Adelinde bekam einen Brautschatz, wie Laura ihn erhielt. – Birke nahm Georg Hahlen mit sich. – Kent kaufte Einhausen für sich und seine Lucia, und alle Jahre kam Laura mit ihrem Gatten, das Wiedergedächtniß-Fest des schönen Tags zu feyren, der sie mit Adelinden und mit Goldbach vereinigt hatte. Adelwald verlebte seine alte Tage mit Hahlen, [246] dessen Söhnen er noch einen Theil seines Vermögens gab.


Tugend! thätige Tugend! du bist möglich in allen Umständen des Lebens. Man kann Adelinde im Unglück, und Laura im Wohlstand seyn.

[247]

[1] Zweyte Sammlung

Das wahre Glück ist in der Seele
des Rechtschaffenen

Sir Weldone, ein reicher Englischer Erbe, wurde auf einem Landgut, weit von der Hauptstadt und der Menge ihrer gekünstelten und verdorbenen Menschen, erzogen, so daß er die grosse Welt nur aus der Geschichte alter und neuer Zeiten kannte. Sein Vater gab ihm Grundsätze der Ehre, der Großmuth und der Liebe des Vaterlands, sein Lehrmeister Verachtung der Unwissenheit, und Anhängen an hohe moralische Ideale, seine Mutter edle feine Gefühle für das Schöne der Natur, für Wahrheit und Wohlthätigkeit: Eltern und Lehrer trugen Sorge, daß unter ihren benachbarten Freunden und Bekannten nur diejenige einen vertrauten Umgang genossen, deren Geist und Herz mit Kenntnissen und Tugend geschmükt waren. Die Hausbediente alle, bis auf die Gärtner und Jägerjungen, waren lauter gute und in ihrem Gefach vortrefliche Leute.

[1] Durch diese sorgsame Auswahl der Gesellschaft und Bedienten wollte man den geliebten einzigen Sohn mit lauter Modellen des schäzbaren und untadelhaften in allen Ständen umgeben, damit er durch den, den Kindern gegebenen Nachahmungsgeist nichts als gute und schöne Gesinnungen erlangen, und auch nie nichts anders wählen möge. Die guten Leute erreichten ihren Zweck auf das vollkommenste: denn niemals kam ein junger Mann von beynah zwanzig Jahren mit einem lebhaftern Gefühl für die Verdienste des Wissens und der guten Handlungen in die weite Welt. Er sezte durch fleißiges Studiren den Anbau seines Verstandes mit vielem Eifer fort; und dies war sehr glüklich für ihn, denn sonst würde er mit seinem Herzen noch viel mehr traurige Erfahrungen gemacht haben, weil der äusserliche Schein von Güte, Freundschaft und Edelmüthigkeit ihn oft betrog, seinem offenen und sich mit so viel Inbrunst anheftenden Herzen Kummer gab, und ihn viel von seinem Vermögen kostete. Dann verwundete ihn auch der eitele Stolz und Uebermuth, das Unrecht, rohe Sitten und Niederträchtigkeit. Er sagte einst, da er ganz im Besitz seiner Güter war, und einige Beyspiele der Verderbnis der Sitten und des Körpers gesehen hatte:


[2] Ich bin auch jung – reich – unabhängig – ich liebe auch die Freuden des Lebens – aber möge mich ein früher Tod bey dem ersten Schritt erhaschen, wenn ich das Vergnügen auf dem Weg der Ruchlosigkeit, in einer unedlen That, oder in dem Schlamm einer sittenlosen Ergözlichkeit suchen werde!

Ein andermal rief er aus: –


Mein Vater, seine Freunde und Pächter, seine Bediente und Arbeitsleute waren auch Menschen – Sterbliche wie die ich hier sehe – Sie hatten nicht mehr Geisteskräfte – keine bessere Religion – Sie nährten, kleideten und beschäftigten sich mit den nemlichen Dingen – aber alles trug das Gepräge guter Grundsätze, wovon die Leute hier immer sprechen, und immer anders handeln. –

Er fieng an, Mißtrauen und Abscheu zu fühlen, aber doch siegte immer die angebohrne Güte seiner Seele, so, daß wenn er von einem Menschen sich abwand, er bald wieder die Hand eines andern faßte, der ihm besser und wahrer schien. Endlich aber glaubte er von einem eigenen feindlichen Schiksal verfolgt zu seyn, welches ihm jede Freude des Herzens entzog, und für alles gute, was er wollte und austheilte, nur Mißvergnügen einerndten [3] ließ. Dieser Gedanke sezte sich so fest in seiner Seele, daß er allen Umgang, alle Verbindung abbrach, und nur mit einem treuen Bedienten aus seinem väterlichen Haus einen Theil von Europa durchreißen wollte. Er nahm sehr wenig Gepäcke, und nur eine leichte Callesche für zwey Personen mit sich: der Bediente mußte den nemlichen Rock tragen, wie er, und ihm versprechen, nie mit ihm zu reden, als wenn er ihn was fragte, denn so weit hatte ihn seine Unzufriedenheit mit den Menschen schon gebracht, und die sanfte Neigungen seines Herzens hiengen nur noch an den Gegenständen der Natur und der Kunst. Denn bey schönen Aussichten stieg er aus seinem Wagen, kletterte auf Anhöhen, oder gieng einem freundlichen, einsamen Fußpfad nach, und in Städten besuchte er Naturforscher und Künstler, lernte von den ersten, und kaufte immer schöne Stücke von den letztern. In Bibliotheken und Buchläden sezte er keinen Fuß, weil er mit der moralischen Menschenwelt nicht das mindeste Verhältniß mehr haben wollte. Er dachte,


da Religion, Gesetze und Philosophie in England selbst so wenig dauerhaftes Gute hervorgebracht hätten, so belohne es die Mühe nicht, anderwärts darnach umzusehen –

[4] indem er von andern Nationen noch viel geringer dachte.

Er wollte also nur die sinnliche Welt ganz sehen, ganz wissen, was der menschliche Geist für unser physisches Leben und Vergnügen erfand, und die Würkung davon beobachten. An Orten, wo er ein neues Gebäude in einem edlen Geschmak aufführen sah, oder, wo ein Garten angelegt wurde, von welchem der Plan etwas großes anzuzeigen schiene, da fragte er nach dem Baumeister, oder Gärtner, und suchte sie zu sprechen, um zu sehen, ob die Züge des edlen und schönen wirklich in der Seele des Mannes lagen, oder nur eine Würkung des ohngefähr hingeworfenen Gedankens seyen, worinn der Zeichner etwas neues darstellen wollte. – Mit dieser sonderbaren Stimmung des Geistes, da Sir Weldone den Fortgang der Kenntnisse im Denken, und in den Gesinnungen gar nicht mehr bemerken wollte, sprach er doch mit jedem Bauren und Handwerker, bey denen er einen vorzüglichen Fleiß oder Geschicklichkeit wahrnahm. Denn er wünschte entdecken zu können, welche Handarbeit den besten und tiefesten Eindruck auf den Charakter des Menschen mache, und diese Beobachtung wollte er durch alle Klassen durchsetzen. – In Engelland hatte er schon gesehen, wie roh und unempfindlich Matrosen und [5] Seefahrer wurden, die von Jugend auf mehr in Schiffen, als in Städten gewesen. – Die Schottische Berge und Insuln, das einsame und mühselige Leben ihrer Bewohner – dieß von den Arbeitern in den Minen, und von den Landleuten war ihm bekannt, und er rief sich alle diese Bilder seines Vaterlands zurück, um die von andern Gegenden damit zu vergleichen. Da war dann Lisbon, Neapel, Brest, Amsterdam, und Petersburg auf der Liste bezeichnet, wo er den Gesinnungen der Seeleute nachspüren wollte: – Rom, Paris, Wien, und Berlin waren zu Merkstäben der schönen Künste bestimmt. Fabriken, Acker- und Weinbau, Theateranstalten, öffentliche Belustigungen, große Kirchenfeste zählte er zu mechanischen Bewegungen der Seele, gieng hin, betrachtete den Anstand, die Kleidung, und den Ausdruck in den Gesichtszügen. Er hielt sich auch bey hohen Schulen auf, besuchte die Hörsäle, war aufmerksam, die verschiedene Vorträge und das Bezeugen der Lehrer, und ihren Einfluß auf die jungen Leute zu kennen. – Durch dieß alles sammelte unser Sir Weldone vieles, so ihn zu sicherer Menschenkenntnis führte: aber der finstere Beweggrund, der ihn auf diesen Weg geleitet hatte, war immer Ursache, daß er alles von einer düstern Seite ansah, und also nicht die Hälfte des Guten [6] erblikte, das in allen Dingen liegt – dennoch beurtheilte er das ganze. – Auf diese Art kann auch das edelste Herz eine schiefe Wendung nehmen, eigensinnig und ungerecht werden, wobey dann auch immer das eigene Glück des Lebens verlohren geht, wie es bey Sir Weldone geschah. Denn erst hatte das Mißtrauen sein Herz erkältet, und ihn von aller Seligkeit der Freundschaft und der Liebe fortgerissen, nachdem erstikte er auch großen Theils die Hochachtung, die er für Wissenschaften und Künste genährt hatte, weil sie nach seiner Berechnung zu wenig für die Veredlung und Besserung der moralischen Gefühle würkten. – Er wurde in seinem äussern Betragen trocken und störrisch, so daß man sich oft wunderte, wie ein schöner junger Mann, mit Augen und Zügen voll Geist, so viel bitteres und düsteres in seinen Blicken und Minen zeigen könnte. – Er schrieb in seinem Tagebuch alles auf, was er merkwürdiges gehört, gesehen, und darüber gedacht hatte. – Dieses Tagebuch ist eines der lesenswürdigsten, so je von einem vernünftigen und gefühlvollen Menschen geschrieben wurde: besonders sind die Stücke vortreflich, wo er sich den Empfindungen des Wohlwollens, und der in seiner Seele liegenden Liebe alles Guten und Schönen überließ, und dadurch sein Herz erleichterte, indem [7] er unter seiner angenommenen Feindseligkeit einen drückenden Schmerz fühlte. Oft blikte er mit Sehnsucht auf Menschen, die vertraut und liebend mit einander zu sprechen schienen; er bog sich aus seiner Gutsche heraus, um sie so lange zu sehen, als er konnte. Sein Bedienter, ein verständiger und seinen Herrn aufrichtig liebender Mann, wurde oft ängstlich für ihn besorgt, weil er ihn meistens vor sich hin schauen, und hie und da seufzen hörte – dann auf einmal mit der heftigsten Bewegung um sich blicken sah, wie es auf dem Weg nach Hamburg geschahe, da sie Sonntags Mittag bey schönem Wetter zwischen allen den herrlichen Gärten, und durch die Vorstadt St. Georg reißten, und so viele Familien auf den großen Bänken vor ihren Landhäusern sassen, oder mit jedem Ausdruck der nachbarlichen Treue und Fröhlichkeit miteinander auf- und abgiengen. – Fahr langsam! rief Sir Weldone dem Postknecht zu, und verschlang dann ganz eigentlich mit immerwährendem hin- und hersehen alle die liebevolle Bilder des wahren Menschenlebens, an denen sie da vorüber kamen. Auf einem freyen Platz ausser der Vorstadt ergriff er die Hand seines Dieners: –


Richard! sag! haben sich die Leute wohl aufrichtig lieb?

[8] Warum nicht, theurer Sir! – sie haben alle so gut geschienen –

Da stieß er Richards Hand zurück, und mit bitterm Lächeln wiederholte er –


Ja – gut geschienen – so sah ich viele, die dabey das ärgste Bubenstück in ihrer Seele brüteten. – Liebe – Güte – o ihr Schattenbilder!

rief er mit Zusammenschlagen seiner Hände aus, und schwieg dann wieder mit mehr Düsternheit. Einmal ließ er schnell den Wagen halten, und gieng ein paar Handwerkspurschen zu, die Abschied von einander nahmen, da der zurückbleibende seinem Freund den Bündel auf den Schultern befestigte, den er ihm, als den letzten Liebesdienst, aus der Stadt getragen hatte. Sir Weldone gab jedem etwas Geld, drükte ihnen die Hände, und sagte:


Seyd Freunde! seyd redliche Freunde!

und stieg wieder in seine Callesche Ein andermal rief er bey dem Anblick einer Frau, die ihren Säugling mit inniger Zärtlichkeit küßte –

Mutterliebe! auch du – bist nicht immer treu. Diese traurige Erscheinungen in dem Gemüthe des Sir Weldone machten seinem Richard die größten Sorgen. Er fürchtete entweder eine Zerrüttung seines Verstandes, oder endlich einen Anschlag zu Selbstmord. Er verdoppelte also seine Wachsamkeit, [9] und jedes Kennzeichen der treuen Ergebenheit, so viel er bey dem gebottenen Stillschweigen zeigen konnte, um seinem Herrn wenigstens von einer Seite einen Beweiß von redlicher, ohnunterbrochener Liebe zu geben. Er kannte ihn von dem sechszehnten Jahr an. Immer war Sir Weldone ein menschenfreundlicher Jüngling, voll sanfter Heiterkeit und Offenherzigkeit gewesen: doch da Richard sah, daß die Gesundheit seines Herrn ziemlich gut blieb, so hofte er auch einmal eine Aenderung in seinem Gemüth – aber es gab noch manchen seltsamen Auftritt unter ihnen, ehe diese Zeit kam, wovon nur folgende von Richard aufgezeichnet wurden. Einst kamen sie bey stürmischem Wetter durch ein Gehölze auf einen Berg: es war kalt, und nirgend keine Wohnung zu sehen, doch hörten sie singen, und erblikten zwey Kinder von zwölf bis dreyzehen Jahren unter einem Baum, die dem Regen ganz ruhig zusahen, und ein Hirtenlied für ihre Kühe sangen, die um sie herumweideten. Sir Weldone rief wieder in vollem Eifer halt, und lief den zwey jungen Leuten zu, umarmte und beschenkte sie, kam naß vom Regen, und mit einer Thräne im Aug zurück, grüßte die sich bückende Kinder noch, und sagte auf sie sehend –


[10] Gute Geschöpfe! bey den Stürmen der Natur kann das gute Menschenherz wohl singen, aber wenn Menschen Boßheit unsere Tage trübt, ach dann! –

Er führte einen ledernen Beutel voll Scheidmünze mit sich, wovon Richard den Armen, besonders Arbeitsleuten, die an der Heerstraße fröhnten, austheilen mußte, weil er sie als Sklaven bedauerte, und dabey fürchtete, daß sie über ein ganzes Stük Geld in Zänkerey gerathen, oder nicht jeder einen gleichen Antheil erhalten möchte. Er sagte:


Sie arbeiten auch für mich, und so genießen sie auch einen Dank.

Ein andermal mußten sie, in einem sehr traurig liegenden Dorfe, lange auf Postpferde warten. Sir Weldone gieng aus dem Hause, weil ihm zu viel Leute darinn waren, und schlenderte zwischen Gartenhecken herum einem abgesonderten Hause zu, und sah einen Knaben von vierzehn Jahren blas und wankend unter einigen spät blühenden Kirschbäumen herumgehen. Sir Weldone bog sich über die Hecke, und redete den jungen Menschen an, welcher ihm sagte, daß er schon so lange mit dem Fieber geplagt sey, und sein guter Vater könne ihm nicht viel Arzneyen kauffen, weil die Pfarre sehr arm sey, und er noch sieben andre Kinder zu besorgen [11] habe. – Krankheit und Wahrheit, die in gleichem Maas auf dem jugendlichen Gesichte des Knaben ausgedrükt waren, rührten Sir Weldons Herz, er gab ihm einige Stücke Gold, und sagte ihm liebreich, dafür solle er sich einen Arzt und Arzneyen holen lassen. Die Freude überwältigte den schwachen Jungen, er wollte danken, hielt das Geld in zitternden Händen, und sank endlich hin. Den Augenblick sprang Weldone über die Hecke, faßte den Knaben auf, und suchte ihn zu ermuntern. Der Pfarrer hatte aus seinem Fenster gesehen, daß jemand mit seinem Sohn redete, daß dieser Fremde seinen Arm über das Gesträuche gebogen, und wenige Augenblicke hernach der Junge auf den Knien lag. – Nun eilte er seinem Kind zu Hülfe, und fand den Knaben in den Armen eines schönen wohlgekleideten Fremdlings, dessen Augen mit vieler Empfindung auf den Knaben geheftet waren, und der sanft mit ihm sprach. Der Pfarrer blieb staunend und wundernd stehen, als sein Sohn ihn erblikte, und die Hand mit den Goldstücken in die Höhe hielt –


Vater! – dieser fremde Herr!

aber vor Freude und Mattigkeit nicht mehr sagen konnte. Sir Weldone fieng an:


Mein Herr! ich habe Ihrem guten Sohn etwas [12] zu einem Hülfsmittel gegen das Fieber gegeben, und sein dankbares Herz wurde so sehr bewegt, daß ihm schwach wurde, deswegen unterstütze ich ihn.

Sir Weldons edle Gesichtszüge, der Ton voll wahrer Güte, in welchem er sprach, durchdrang den rechtschaffenen Pfarrherrn – er stammelte:


Gott lohne Ihr Herz – theurer Fremdling! O sagen Sie mir, wer Sie sind!


»Ein redlicher Mann – Sie haben acht Kinder, ich keins – ich bin reich – Sie nicht.«

Während diesen Reden hatte er den Pfarrer betrachtet, und nun suchte er seine Brieftasche, und bat, der Pfarrer möchte ihn in seine Stube führen, wo er einen Brief siegeln wolle, und gieng mit dem Knaben an der Hand langsam dem Haus zu, worinn alle Spuren des Mangels, der Arbeitsamkeit und Reinlichkeit zu sehen waren. Diesen Anblick hatte Weldone gewünscht, als er seine Brieftasche nahm, einen Wechsel zu suchen, den er den acht Kindern bestimmte, da ihn das kummervolle und ehrwürdige Aussehen des Vaters schon eingenommen hatte. Nun schloß er den Wechsel in einen kleinen Brief an den Pfarrer, indem er nur sagte:


Guter Vater! Gott gebe, daß dieses dein Leben versüsse. –

[13] Er schrieb die Adresse des Pfarrers, siegelte den Brief, legte ihn um, und bat, ihn zu besorgen, küßte den kranken Knaben, und eilte wie ein Vogel dem Posthaus zu, wo ihn seine Calesche schon lang erwartete. Er war also schon weit von dem Ort entfernt, ehe der gute Pfarrer, der ihm bis auf die Strasse nachgelauffen war, wieder in seine Stube kam, um dem entflohenen Fremden seinen Dank für das dem Knaben geschenkte Geld in guter Bestellung des Briefs zu bezeugen, – als er aber seinen Namen, und nachher auch den Wechsel fand, mit seiner ganzen Familie eine entzückende Freude genoß, und dem großmüthigen Mann Segen wünschte und erbate.


Ach! möchte jeder Reiche Sir Weldons Herz haben, oder jede gute Seele sein Vermögen!

Der Wechsler schickte ihm den Brief des Pfarrers, und unser Engelländer glaubte, daß der Segen dieser ehrlichen Leute die Grundlage seiner wiederkehrenden Gemüthsruhe geworden sey. – Da sich sein Herz, wieder zu seinen verbrüderten Mitmenschen geneigt, wie der liebte, und wieder lebte. Kurze Zeit nach Empfang dieses Briefs kam er am Ende eines sehr schwülen Tags an das Ufer des R..hns, wo man die Gutschen in einer Fähre überschiffen muß. Diese war gerade mit andern Reisenden abgegangen, [14] und also Sir Weldone verbunden, auf ihre Rückkunft zu warten. Dieß machte ihn etwas ungedultig, doch sah er um sich, und konnte seine Seele ohnmöglich vor dem herrlichen Anblick verschliessen, den er vor sich hatte – der Fluß, die schöne mit Obstbäumen besetzte Felder, die Weinberge, und der am jenseitigen Ufer stehende junge Wald, in welchem die nun schief einfallende Stralen der Sonne das verschiedene Grün der Bäume beleuchteten, und verschönerten: Auf der kleinen abwärts liegenden Insel waren Fischernetze zum trocknen aufgehängt, und zwey Weidenstämme hielten die Wände einer Hütte, welche der Fischer seinem fleißigen Weibe zu lieb da aufrichtete, damit sie gut für die kleine Leinwandbleiche sorgen könnte, welche sie angelegt hatte. Mann und Weib sassen auf einem Block vor der Thüre, freundlich und genügsam ihr Abendbrod essend, während ihre zwey Kinder die Hälfte des ihrigen den Schwanengänsen zuwarfen, die im Schilfe herumplätscherten. Dreyßig Schritte von seinem Wagen aufwärts stund ein artiges Haus, von dessen zweyten Stock eine Altane gegen das Wasser zu auf Bogen ruhte, zwischen denen man unten einen Vorplatz des Hauses sah: der Strom floß an der Länge der einen Brustmauer vorbey, von der andern Seite gieng man in den [15] Garten, und die dritte hatte einige Stufen gegen die Strasse zu; blühende Agacius Bäume wölbten sich über den Bogen, und dem Geländer der Altane. Die Lage und das einfache Zierliche des Hauses gefiel unserm Sir Weldone, aber die Familie, welche er in dem Vorsaal erblickte, reizte seine Neugierde auch – zwey Frauenzimmer, ein Mann, und zwey schöne junge Leute stunden in dem Vorsaal vor einer Wand, einer von den Knaben las Stücke aus einem Brief, als der andere auf einmal auf den nächsten Stuhl stieg, und mit einer Hand verschiedene Stellen der Mauer andeutete, welche von allen mit der größten Aufmerksamkeit betrachtet wurden, und ehe der muntere Junge von seinem Stuhl heruntersprang, hatte er noch eine Hand geküßt, und sie auf eine Stelle der Landkarte aufgedrückt, und eines der Frauenzimmer umarmte ihn dafür. Diese Scene hatte Sir Weldone sehr wohl gefallen, und er vermuthete gutes von der Familie, die einem abwesenden Freund so viel Liebe zeigte. Die Frauenzimmer setzten sich nach einem ruhigen Blick auf seine Gutsche wieder an ihre Näharbeit, ein Knabe gieng in das Haus, der andere aber hüpfte an das Ende des Saals, und beschaute die vier Postpferde, der Mann sah nach dem Fluß und der Fähre, kam dann mit dem Gang und Bezeugen, wel che das [16] Leben in der großen Welt zurückläßt, zu Sir Weldons Wagen, da er ihn mit einem offenen Gesicht anredete:


Die Fähre, mein Herr! wird wegen dem großen Wasser mehr als eine Stunde nöthig haben, bis sie wieder zurückkommt, es ist noch sehr heiß, Sie stehen in der Sonne, wollen Sie nicht in meinen Vorsaal kommen, und dort etwas frische Luft genießen?

Sir Weldone sah starr auf Herrn Felsen, (denn so hieß der Rechtschaffene) und sagte ganz trocken:


Sie sind sehr höflich, mein Herr! aber was bringt Sie dazu?

Lächelnd antwortete jener:


Es ist mir leid, wenn Sie nicht sehen, daß ich keine andere Ursache haben kann, als den Gedanken ihrer beschwerlichen Lage hier in der Sonne, und den von der Erleichterung, die Sie in meinem Hause fänden.

Dabey machte er eine kleine Verbeugung, und drehte sich zur Rückkehr in sein Haus. Diese Art von sanftem Troz gefiel unserm Weldone, und er rief:


Warten Sie, mein Herr! ich nehme Ihren Vorschlag mit Vergnügen an.

Herr Felsen kam gleich zurück, und führte ihn mit sich. Sein jüngerer Sohn aber gieng, dem Postknecht[17] zu sagen, daß er nun auch die Pferde in den Schatten führen sollte. – Beyde Frauenzimmer grüßten unsern Sir Weldone mit vielem Anstand. Er sah aber gleich nach dem Stück Mauer zwischen den zwey Thüren des Hauses, wo er den Auftritt der ganzen Familie bemerkt hatte. – Europa und Amerika waren mit allen den dazwischen liegenden Inseln mit der äußersten Genauigkeit auf die Wand gemalt, aber so groß, als man nie eine Karte finden kann. – Sir Weldone trat näher, und fragte dann nach den grünen Strichen, die nicht zu der Zeichnung gehörten. Da erklärte ihm Felsen, daß er einen Sohn bey der französischen Armee in Amerika habe, deswegen hätten die Jüngern diese Karte gezeichnet, um bey den Zeitungen und Nachrichten von ihrem Bruder sogleich mit den grünen Strichen jeden Marsch und jeden Aufenthalt anzuzeigen. Sir Weldone lobte den Einfall der brüderlichen Liebe, und die Geschicklichkeit der jungen Leute, aber so kurz und kalt, daß Herr Felsen diese Unterredung ganz abbrach, indem er merkte, daß Weldone ein Engelländer, und ihm nicht angenehm sey, mit einer amerikanisch gesinnten Familie zu sprechen. – Er fragte, ob Sir Weldone ein Glaß Limonade, oder eine Schale Milch nehmen wollte – Weldone nahm die Milch an. Sie giengen indessen [18] einige Zeit in dem Garten still und langsam nebeneinander. Sir Weldone sah überall um sich, und schien mit dem, was er sah, vergnügt; aber sie waren am Obst und Gemüßgelände vorbey, sehr bald an das Ende des Gartens gekommen, von wo man die Felder der Bauern sehen konnte, und giengen zwischen Bäumen zurück einer Mooßbank zu, von welcher man die Aussicht auf den Fluß und die Landschaft umher hatte, und wo Sir Weldone seine Schale Milch, weises Brod, Zucker, und ein Körbchen mit Blumen fand. Er blikte zufrieden hin, lehnte sich aber schweigend an einen Baum, um den Nachtigallen zuzuhören, welche auf der kleinen gegenüber liegenden Insel ihr Abendlied ertönen liessen. Als sie aufhörten, sagte er Herrn Felsen: –


Ihr Wohnsitz ist schön, aber Sie haben doch nicht immer hier gelebt? –


Nein, es sind nur wenige Jahre, aber woher vermuthen Sie das?


Aus allem, auch aus Ihrem Gang und Zügen – Sie sind noch nicht alt – Sagen Sie mir, was führte Sie her? Da Ihre Güter nicht groß sind, wie ich sehe, so können diese die Ursache nicht seyn. –


Sie sind es auch nicht – denn es war Sturm, der mich herbrachte. –

[19] Sir Weldone setzte seine Schale weg, sah mit Ernst und Theilnehmung auf Herrn Felsen, und sagte:


Ich verstehe Sie – aber ist es denn schon so lange vorbey, daß Sie so ruhig von einem Sturm sprechen können? –


Nicht so sehr lang, aber da dieser erlittene Sturm Ursach ist, daß der Abend meines Lebens eben so heiter und ruhig vorübergehen wird, als wir jetzo diesen schönen Strom unter dem klaren Himmel zwischen den niedern Sträuchen hinfließen sehen, warum sollte ich noch über die Ursache zürnen, die mir dieses Glück verschafte? –

Der Engelländer ergriff schnell, und mit sichtbarer Bewegung seiner Seele Felsens Hand –


O gewiß war Menschen Boßheit und Menschen Betrug der Anlaß dazu. – Nicht Bliz vom Himmel, der Ihre Wohnung und Vermögen verzehrte – keine Ueberschwemmung, die alles wegspülte, was Sie besassen – kein allgemeines Weh des Kriegs, keine eigentliche Räuberbande, die Ihnen Gold und Silber nahm, – denn in dieser liegt noch mehr gutes, als in dem heimlichen Verläumder und Neider, der Jahre lang jeden Schritt des [20] Redlichen, den er haßt, beschleicht, jede seiner Minen beobachtet, einzele Sylben, die er verkehren kann, aufzeichnet, und im verborgenen lauter Werkzeuge daraus macht, womit er den Bau eines truglosen Menschen untergräbt, und ohnversehens einstürzen macht.

Herr Felsen wurde durch dieß so lebhafte Bild seines Schicksals etwas erschüttert, weil es ihm so ganz ohnverhoft dargestellt ward. Aber dieser Fremde erlangte dadurch auch mehr Aufmerksamkeit und Vertrauen von ihm. – Er antwortete so ruhig, als er konnte:


Ja, mein Herr! es waren unverdiente Feinde, die meinen Wohlstand zerstörten, aber der edelste Freund, und das Zeugnis meines Herzens stärkten mich, den ersten Anfall zu ertragen, und nun segne ich mein Schicksal für das vergangene und gegenwärtige.

Weldone fiel lebhaft ein:


Herr! Sie sind ein Mann, wie ich einen zu sehen wünschte. Sie sind sicher, einen geprüften Freund zu haben, und können mit Heiterkeit von Unglück reden. – O! Sie müssen mir erzälen, wie Sie dieses Glück und diese [21] Kunst fanden. – Ich bleibe hier – es wird wohl eine Schenke in dem Dorfe seyn?


Ja, mein Herr! und dazu recht gute Leute. So führen Sie mich hin, denn ich will den übrigen Abend in völliger Ruhe zubringen, und morgen dann wieder herkommen auf diesen Plaz, wo man, wie Sie sagen, das Bild Ihrer jetzigen Tage vor sich hat. –

Er wieß da auf den Fluß, der würklich in kleinen, von den Sonnenstralen flimmernden Wellen, mit dem Graß und Blumen des Ufers spielend, einen Kahn vorbeyführte. – Felsen verließ ihn an der Schwelle des Wirthshanses, und nachdem er ihn zu guter Pflege empfolen, kam er zu seiner Familie zurück, welcher er seine Unterredung mittheilte. Sir Weldone war auf seiner Seite über den Carakter des Herrn Felsen erstaunt und erfreut: – dann wunderte ihn auch die große Reinlichkeit, und der gute einfache Geschmack, den er im Haus, und in den zwey Zimmern fand, die man ihm angewiesen hatte. Er wollte schon vorher den Wirth nach der Felsischen Familie fragen, und fieng nun sein Gespräch mit dem Wirth mit dem Lob der Ordnung an, die er in seinem Gasthof bemerke, und fragte, ob er gereißt seye? –


Nein, er wäre nie von dem Ort gekommen, [22] und die gute Einrichtung, welche Ihre Gnaden zu loben geruheten, habe er Herrn Felsen zu danken, welcher mit Frau und Kindern weit hergekommen, und sich also auf gute Bewirthung verstünde, dieser hätte ihm und seiner Frau alles so angegeben, damit die Fremde gern bey ihm einkehren möchten.

Nun fragte Sir Weldone weiter nach diesen Leuten, nach der Zeit ihres Aufenthalts, und ihrem Betragen. – Der Wirth konnte nicht aufhören, gutes von den Felsen zu sagen – wie liebreich sie mit den Bauern umgiengen, sie manches lehrten, die Kranke besuchten, oder Sonn- und Feyertage bey der großen Linde etwas erzälten, was so für Dorfleute eine Freude seyn könnte. – Sie gäben den Armen oft eine Suppe aus ihrem Topf, und ein Glas Wein, auch wohl Geld, ob er schon wisse, daß sie nicht reich seyen. – Seine Nahrung, fuhr er fort, hätte sich durch die Felsische verdoppelt, indem viele Vorbeyreisende sich ihnen zu lieb aufhielten, und denn bey ihm logierten. – Frau Felsen habe seine Frau etliche gute Speisen kochen lehren, und die Betten und Weißzeug geordnet, dadurch habe er viele Kundschaft bekommen, indem immer ein Fremder es dem andern gesagt, und angerühmt habe, so wie er hoffe, daß es Ihro Gnaden thun würden, [23] wenn Sie nun die gute Bedienung erfahren hätten. – Diese Unterredung gab ein neues Stück in Sir Weldons Tagbuch, an welchem er den ganzen Abend und folgenden Morgen fortschrieb, und dem Zufall dankte, der ihn aufgehalten hätte. Er fühlte seine angebohrne Menschenfreundlichkeit wieder aufwachen, und es war ihm wohl dabey, wie es immer bey den Empfindungen der Tugend uns wohl ist. Er gieng früh zu den Felsen, und trank Thee mit ihnen in ihrem Saal, an dem offenen Bogen gegen den Garten, der von Rosen und Geißblatstauden umgeben ist, und deren artige Schatten durch die Morgensonne auf den Theetisch geworfen wurden, und wo die Luft, neben der angenehmen Bewegung, welche sie den Blättern gab, zugleich den süssen Geruch der Blumen mit in den Saal brachte. – Alles dieß scheint klein, aber wie wenig glükliche Gefühle hätten die Menschen, wenn nicht die väterliche Vorsicht des Schöpfers Millionen kleiner Freuden um uns her entstehen liesse? – wie arm ist der, welcher sie nicht bemerkt, und wie elend das Herz deßjenigen, der sie verspottet!

Die zwey schöne, den Jünglingsjahren entgegen blühende Söhne des Herrn Felsen waren auch da, als Bild des heitern Morgen unsers Lebens. Ihre Mutter, welche mit Zärtlichkeit auf sie blickte, [24] und, wie Sir Weldone sagt, bey Darreichung ihrer Tasse Thee, den mütterlichen Segen dazu in ihrem Aug ausdrükte, und ihn an seine glükliche Jugend zurückdenken machte, wo auch oft ein solches Mutteraug auf ihm geruht hatte, nur daß Frau Weldone diese Seligkeit ungetrübt genoß, indem sie wegen ihres großen Vermögens, nicht nöthig hatte, wie Frau Felsen es that, bey dem Weggehen ihrer Söhne einen bekümmerten Blick in die Zukunft zu werfen. – Die junge Leute giengen in ihre Lernstunden, und Frau Felsen zu ihren Hausgeschäften, ihr Mann und Weldone in den Garten, wo sie die Moosbank aufsuchten. – Aber ehe sie sich niedersetzten, faßte der Engelländer Herrn Felsen, und sagte:


Warum fragen Sie dann mich nicht, wer ich bin?

Felsen erwiederte lächelnd –

Weil ich es gleich errathen habe, und weil ein jeder Moment meine Vermuthung bestättigt.

Sir Weldone stuzte in etwas zurück, trat aber gleich wieder vorwärts, sah Herrn Felsen stark an, und sagte lebhaft –


Wie dann! wer bin ich?

Sanft und freundlich antwortete Felsen:


Sie sind ein edler junger Mann, der bey seinem [25] Eintritt in die Welt lauter herrliche Sachen zu finden hofte, und auch lauter Entwürfe zu schönen Thaten machte, sein Herz und sein Vertrauen hingab, weil er alle Menschen für eben so gut und redlich achtete, als er selbst war, sich betrogen fand, und wie bey dem frühen Erwachen aus einem schönen Traum mit der Natur zürnet, daß sie ihn wekte.

Sir Weldone rief –


Bey Gott! das ist meine Geschichte – O! wiegen Sie mich in keinen neuen Schlaf!
Nein, junger Mann! sagte Felsen ganz ernsthaft:

Sie sollen die Wahrheit und die Menschen mit offenen Augen bey uns sehen –
Sir Weldone fragte dann etwas düstern:

Aber warum behandeln Sie den Schmerz, den Böse Menschen mir gaben, als Traum?


Weil eine jede Art von Täuschung Traum ist, mein theurer Fremdling! und weil ich überzeugt bin, daß wir alle in einem Theil unsers Lebens träumen, wenn wir uns die Vergnügen der Ehrenstellen, des Reichthums, die von der Liebe, und dem vollkommnen Verdienst voraus bezeichnen, einen Plan zu ihrem Genuß entwerfen, und [26] da ganz natürlich auf allen Seiten dieses Ideal nach unserm Sinn bilden: – Solang es noch in uns liegt, können wir es wohl thun, denn der Bug unserer Gedanken ist ja unser, wie dem Maler die Lazurfarben gehören, die er auf seine Gemälde tragen will. Wenn nun aber die Zeit kommt, wo wir in Verbindung mit andern Menschen leben und handeln sollen, die nicht denken wie wir, da wachen wir auf, und fühlen den großen Unterschied zwischen Idee und Sache, zwischen dem Vorbild der Tugend, und dem, was von ihr in das tägliche Thun und Lassen verwebt wird. –

Weldone faßte diese Wahrheiten auf, und sie erzälten sich den Gang ihrer Schicksale und ihrer Denkart. Am Ende ergözten sie sich an der verschiedenen Würkung, welche die Kenntniß und die Erfahrung in der wahren Welt gegen die Idee der möglich guten auf sie beyde machte. – Herr Felsen bekannte dabey, daß, wenn er nicht einen großen Vorrath Kenntnisse in seine Einsamkeit gebracht hätte, so würde sie ihm zu einer eisernen Last geworden seyn, so wie er gewiß dem Anfall des plözlichen Kummers unterlegen wäre, wenn nicht der Genius der großmüthigsten Freundschaft ihn gestärkt und [27] aufrecht gehalten hätte – Er sezte mit vieler Bewegung hinzu: –


O Bild des Chr-st-ph v. H-h-nf-ld! Möchte ich dich in Erz und Marmor der Nachwelt in deiner edlen Gestalt aufbewahren können – Möchte man dich sehen, wie du mit deiner Rechten mich unterstüzt, und meine zwey jüngere Söhne von deiner linken umfaßt, den heiligen Eid des Beschützers und Vertheidigers schworest – oder in dem Augenblick, als du, mit der Freude des Menschenfreunds, die, welche du aus dem Schiffbruch rettetest, in dein Haus einführtest, und unsern Dank und Seegen mit eben so viel Bescheidenheit anhörtest, als Grösse in dir ist. O wie sehr verdienst du das Zeugniß des ehrwürdigen Greisen Bodmers, der von dir sagt, daß du ein Beyspiel von Adel der Seele gegeben, dessen er unser Jahrhundert nicht mehr fähig hielt. –

Es wunderte hier unsern Sir Weldone, den Mann, der lauter Ruhe und Kälte zu seyn schien, mit so viel lebendiger Wärme sprechen zu hören. Herr Felsen sagte ihm noch, als einen auszeichnenden Zug seines Geschiks, daß seine junge Jahre von dem Gr-f Fr..d.r.ch v-n St-d..n, [28] einem der würdigsten Männer, die Teutschland jemals gehabt, gepflegt, gebildet und besorgt wurden, wie jetzo seine alte Jahre an der Seite eines der edelsten hinflössen. –


Von dem Zwischenraum dieser Zeiten meines Lebens, fuhr er fort, sind mir tausend Erinnerungen geblieben von genossener Freude und Achtung, von erworbener Wissenschaft und ausgeübtem Guten – die Bekanntschaft einer Menge verdienstvoller Personen von allen Völkern in Europa: besonders aber würde er bis in den lezten Augenblick an jede schöne, wohlwollende Seelen denken, die an der Veränderung seines Glüks so vielen Antheil nahmen, deren Charakter und Gesinnungen er vielleicht nie so vollkommen hätte kennen lernen, wenn es nicht in dem Ungewitter seines Lebens geschehen wäre. – Seine Bibliothek unterhalte seine Kenntnisse, und durch artige Einrichtung einer Lesegesellschaft, die er in der Gegend angetroffen, geniesse er noch seinen Antheil Freude an dem Fortgang der Aufklärung für die Nachkommen, und die Lage seines Wohnhauses habe ihm nicht nur das Vergnügen gegeben, viele schäzbare Menschen kennen zu lernen, und in ihnen [29] das Bild der Geschäfte der Welt, und ihrer Aenderung in einem beweglichen Gemälde zu sehen, sondern er habe auch Gelegenheit gehabt, einigen zu dienen. Er lebe nun mit der Natur und guten einfachen Menschen, deren Jubel bey der aufkeimenden Saat, bey der Blüthe ihrer Obstbäume und Weinberge, der Erndte und dem Herbst ganz ein anders Gefühl sey, als das von den Städten, wenn er im May einen Spaziergang macht, auf das neue Grün umher schaut, im Sommer Mähen, Garbenbinden, oder auch die Weinlese sieht. – Für mich

setzte er hinzu –


ist kein Sonnenstral, kein Thautropfen, und kein Graßhälmgen gleichgültig, und die ganze wohlthätige Muttererde, ihre Tage und Nächte haben einen doppelten Werth erhalten, und so oft mein edler würdiger Freund von einer Reise zurückkommt, so oft wird jede Freude neu belebt.

Sir Weldone erquikte sich an dem heitern Ton, in welchem Herr Felsen von den Widerwärtigkeiten seines Lebens sprach. Doch bat er ihn um eine Beschreibung des Gefühls, welches seine Seele im ersten Anfall durchdrang. – Felsen sagte:


[30] Es war das Staunen über einen Donnerschlag, der aus heitern Wolken kam, und der bittere Schmerz, den Bau des Glücks meiner Kinder einstürzen zu sehen, da ich mir doch keines Mangels meiner Pflichten, keines Unrechts in Gesinnung und Vermögen bewußt war. Meine Feinde dachten wohl, daß es mich schmerzen würde, sonst hätten sie die Sache nicht so angelegt: aber es wäre noch viel schlimmer, als Feinde es wollen, wenn in solchen Fällen das Zeugniß unsers Gewissens, Kenntniß der Welt und des wahren Werths alles dessen, was die Welt geben kann, wenn Wissenschaft und männlicher Sinn uns nicht unterstüzten, wenn der mächtige Gedanke es ist ein Gott – uns nicht empor hielt? – Ich habe nie mit Vorsatz beleidigt, aber ich bin Mensch, und kann unversehens jemand gestossen haben. Und das weiß ich auch, daß der, welcher Jahre lang auf Rache denkt, und mit Ergötzen an dem Gedanken des Kummers sich weidet, den er nun über eine ganze Familie hinströmen sieht, dieser Mensch ist nicht fähig, Beleidigungen zu vergeben, sie mögen noch so klein, noch so unvorsezlich seyn. – Aber, [31] das alles mag meine Kinder lehren, auf den guten Schein des Glücks nie zu viel zu bauen, und daß die gröste Redlichkeit des Wandels uns nicht vor Feinden schüzt. – Einen Freund zu verdienen, mit mäßigem Ansehen und Auskommen sich zu begnügen, und einen Vorrath von Tugend und Weisheit zu sammeln, die ihnen in Zeit der Noth zu Mantel und Obdach dienen können, – geschieht dieß, o! so ist Gewinn in meinem Verlust, und meine unschuldige Söhne leiden nicht so viel von dem Weh, das man über meine erlebte Tage goß.

Herr Felsen wurde nun unserm Sir Weldone eben so ehrwürdig, als ihm sein Vater gewesen. Ein kleiner Regen nöthigte sie in das Haus, wo in Felsens Zimmer auf einer einfachen Papiertapete eine Reihe von Wollet gestochenen Englischen Gärten aufgehängt ware. Diese unvermuthete Erinnerung an sein Vaterland rührte unsern Engelländer ungemein, und nun öfnete er sich ganz durch die Erzählung von seiner Jugend und Erziehung. – Herr Felsen konnte an dem Plan und Grundsätzen nichts anders tadeln, als daß er sagte, sie wären nicht für Menschen dieser Welt, sondern für die seelige Schatten in den Elyseischen [32] Feldern gewesen, wo man ohne Leidenschaft allein nach edlen Gefühlen lebte. – Er bat den liebenswürdigen Schwärmer, aus den Lehrstücken seiner Eltern und aus seinen Erfahrungen zusammen einen neuen Entwurf für das Glück seiner künftigen Tage zu machen, worinn er dem Hang seines Herzens folgen könnte, das ihn immer zu guten Menschen hingezogen habe; er versicherte ihn dabey, daß es ihrer viel mehr gebe, als der bösen, ob sie schon nicht so oft gezählt und bemerkt würden: – das Heiligthum seines Herzens sollte er in Zukunft nicht mehr jedem schönschwäzenden Buben öfnen, und auch vor der süssen Schmeicheley einer gewissen Gattung Weiber verschlossen halten, bis ihm der Himmel eine edle und sanfte Gefärtin des Lebens zuführte, die übereinstimmend mit dem Geschmack seines Geists den Weg der schönen Kenntnisse an seiner Seite fortgehen, und mit kluger Güte das Elend lindern helfe, welches er immer in jedem Zirkel seines Wohnsitzes antreffen würde. – Herr Felsen widerrieth unserm Weldone, sich in ein öffentlich Amt zu begeben, weil er bey dem tiefen Gefühl, das er von Recht und Unrecht habe, immer zu viel leiden würde, und weil man ohne vollkommene Obergewalt selten was gutes stiften könne. – Nun wurde auch sein Tagbuch in der Felsischen [33] Familie gelesen, und darinn deutlich erkannt, wie nöthig es sey, jungen Leuten neben der Idee des möglich vollkommenen Guten auch das Gegenbild zu zeigen, welches böse Neigung des Herzens, irrige Begriffe des Verstands, oder eine versäumte Erziehung hervorbringen, damit sie Menschen im thätigen Leben nicht nach denen beurtheilen, die ihnen in Büchern und Lehre als ganz untadelhaft vorkommen: Dadurch würde einem doppelten Schaden vorgebogen – edle gute Jünglinge, wie Sir Weldone, würden vor blindem Vertrauen auf guten Schein, und vor Trübsinn bewahrt, und andere vor der Zügellosigkeit, mit welcher sie sich auch jeder Abweichung von dem bezeichneten Weg oder dem lauten Tadel alles dessen überlassen, was nicht nach dem ihnen zuerst gegebenen Modell geformt ist, welches ihnen mit Unrecht übel genommen wird, Mißtrauen in sie giebt, und auch oft ihrem Glück schädlich ist. Felsen nahm sich vor, dem irrgegangenen Weldone die Welt und die Menschen in einem gefälligen Licht zu zeigen, und nachdem er ihm die zwey Regentage über den Zirkel der Beschäftigungen in seinem Haus gewiesen hatte, führte er ihn auch auf das Feld und bey den Bauren umher, damit ihm die Vergleichung mit dem glücklichen Leben der englischen Pächter auch diesen [34] Theil seines Vaterlands wieder vorzüglich angenehm mache. Herr Felsen, der einen reichen Bauren mit seinem Sohn und Knecht auf dem Acker eines Armen arbeiten sah, vermuthete, er habe den Acker gekauft, und bereite ihn so fleißig zu seinem Nutzen. Er fragte ihn darüber, und hörte mit Vergnügen die Antwort –


O nein, ich baue ihn für meinen guten Nachbar, der krank liegt, und noch dabey sein Ackerpferd verlohren hat. –


Ehrlicher Mann! sagte Felsen, Gott segne euch für eure Nächstenliebe! –


Er hat es schon gethan – erwiederte der Bauer – meine Erndte ist sehr reich gewesen.

Nun giengen sie weiter, und Felsen nahm Sir Weldons Hand – Lieber Jüngling! Sie glauben doch an dieses gute Herz?


Ja! sagte er mit Bewegung. – Nehmen Sie auch hier zu einem neuen Pferd, und zur Hülfe für den Kranken –

wobey er Herrn Felsen eine schöne Summe gab. – Ein paar Tage nachher fanden sie eine Bäurin mit zwey Säuglingen auf ihrem Schooß, vor der Thüre ihres Hauses. –


Gute Frau! sagte Felsen, habt ihr die gesunde Zwillinge so weit gezogen?

[35] Das Weib blikte mit Vergnügen auf beyde Kinder, und auf ihre Brust, an welcher das eine lag:


Es sind keine Zwillinge, Herr Felsen! dieses Mädchen – sagte sie, das säugende Kind an sich drückend, gehört einer armen Frau, die noch im Feld arbeitet: der gute Wurm weinte, und ich stille es, bis seine Mutter wiederkommt.

Indem kam eine Frau, mit einem hohen Bund Gras auf ihrem Kopf, den sie gleich bey einer Hütte gegenüber niederwarf, und zu der Säugerin hinlief.


Gott vergelte dir es, liebe Nachbarin!

sagte sie, und wollte das Kind nehmen, aber die Bäurin litte es nicht.


Laß es doch satt trinken, du hast zu viel gearbeitet, du kannst nicht viel Milch haben. – Geh, und sorge noch für deine Kuh. –

Einfacher ländlicher Auftritt! wenn deine Erzählung jemand mißfiel – o wie würde ich den Menschen bedauern, der sein Gesicht von dir abwenden könnte! – Weldone gieng der Frau in die Hütte nach, beschenkte sie, und gab auch der freundlichen Pflegerin etwas zum Andenken, ob sie es schon nicht nehmen wollte – und gerührt gieng er an Felsens Arm zurück, der ihm sagte:


Sir Weldone! in der ganzen Welt sind gute Seelen.

[36] Nachdem führte er ihn in die ohnweit liegende Wohnstadt eines großen Fürsten, wo jede schöne Kunst, und jeder verdienstvolle Mann, der sich mit ihr beschäftigt, so wie auch die beynah namenlose Zahl der Unterarbeiter und Handwerker, welche durch die Bau- Garten- und Bildhauerkunst, durch die Gemäld-Naturalien- und Büchersammlung, auf so vielfache Weise ernährt und glüklich gemacht werden, von Herrn Felsen seinem scheuen Fremdling, als Vorbild der seligen Tage, gezeigt wurden, welche er in Engelland geniessen könne: – da Sir Weldone und sein Vermögen in allem unabhängig sey, so könne er einen Theil des Jahrs auf seinem Landsitz jede reine Freude der Natur um sich haben, und sich dann in kleinen Reisen das Vergnügen schaffen, Arbeiten des Geists, und geschikter Hände seines Vaterlands zu sehen. – Er sagte dabey:


»Der Gedanke der Vollkommenheit hat sich Ihrer bemächtigt, mein Lieber! zeigen Sie ihn in sich durch einen vollkommenen Geist der Duldung! sehen Sie fehlerhafte Menschen als so viele Kranke an, welchen Sie, da Sie kein Arzt sind, nicht helfen können! Suchen Sie überall das Gute, und vereinigen in sich das Beste!«

Als Herr Felsen bemerkte, wie sehr alles dieß in [37] Sir Weldon's Seele gedrungen war, so führte er ihn noch zu dem vortreflichen jungen Mann, der seiner Augen beraubt, auf alle die tausendfache Freuden und Kenntnisse des Sehens versagen mußte, aber diesen Verlust durch den Reichthum des Wissens und Denkens zu ersetzen suchte. Das gefühlvolle Herz unsers Weldone wurde äusserst bewegt und erschüttert, als er einen artigen Mann von seinem Alter sah, für den der herrliche Genuß jeder Schönheit der Natur und Kunst, von welchem er würklich herkam, völlig verlohren war. Er hörte ihn sprechen, sah ihn auf seiner bereiteten Karte die Grafschaft anzeigen, in welcher Sir Weldons Güter lagen, und alle Städte und Flüsse weisen, die er auf seinen Reisen angetroffen haben müßte. Weldone umarmte den werthen Blinden, der mit so viel Gelassenheit und Treue, mit dem Ueberrest der Fähigkeiten wucherte, die ihm sein grausames Schicksal gelassen hatte. Als sie nach Haus giengen, sagte Felsen:


Sir Weldone! vergleichen Sie sich mit diesem jungen Mann, und denken Sie an das Uebermaß von Glück, so Ihnen bleibt!

Weldone bat jetzo Herrn Felsen, ihm zu sagen, ob er nicht von der Gesellschaft sey, die, wie man ihn versichert hätte, in Teutschland mit der edlen großen Verbindung verbreitet sey –


[38] Wahrheit und Güte in ihre alte Rechte einzusetzen, und das Wohl der Menschen zu bevestigen – O sagen Sie mir es, ich bitte Sie, und nehmen Sie meinen Dank und Verehrung für sich und Ihre edle Verbündete an! gönnen Sie mir die Freude, zu denken, daß ich von der Hand eines dieser wohlthätigen Weisen auf den Weg der Zufriedenheit geleitet, und von ihm geliebt wurde! –

Felsen verweigerte dieses Geständniß, und sagte, daß er in keinem andern Bund stünde,


als dem, die Pflichten eines guten Menschen in allen Fällen auszuüben.

Sir Weldone reißte einige Zeit nachher mit ermuntertem Glauben an thätige Tugend nach Engelland zurück, wo er seinen Aufenthalt in Deutschland segnet, und nach Felsens Grundsätzen lebt, die ihm täglich beweisen, daß


wahres und dauerhaftes Glück in der Seele des guten und rechtschaffnen Mannes wohne.

[39]

Miß Kery und Sophie Gallen.

Herr Gallen, ein teutscher Gelehrter, hatte die einzige Schwester eines jungen Kaufmanns zu seiner Frau. Er wohnte in dem Haus seines Schwagers, welcher das Vermögen der Frau Gallen in seiner Handlung behielt, und reichliche Zinsen davon bezalte. Gallen und seine Gattin waren äusserst glücklich, da er durch das Vermögen seiner liebenswürdigen Frau in den Stand gesetzt wurde, armen Familien in ihren Rechtshändeln ohnentgeldlich zu dienen, und also mit seinem Geist und Herzen eine Wohlthätigkeit auszuüben, die er sich bey einer minder reichen Frau nicht hätte erlauben können, weil er alsdenn verpflichtet gewesen wäre, zuerst auf die Versorgung der Seinigen bedacht zu seyn. Frau Gallen freute sich über die Tugend ihres Mannes, und hörte ihm mit Vergnügen zu, wenn er ihr mit Entzücken von der gewonnenen Sache eines Armen erzälte, und der Segen, den ihr Mann von den dankbaren geretteten Leuten empfieng, schien ihr mehr werth zu seyn, als die Einkünfte von ihrem Vermögen. Sie hatten von etlichen gutartigen Kindern nur eines bey Leben erhalten, und dieß war eine Tochter, die Sophie genannt [40] ward, welche ohne vorzügliche Schönheit als ein liebliches Mägdchen heranwuchs. Frau Gallen machte sich aus der Erziehung ihrer Tochter die Hauptbeschäftigung ihres Lebens, und da einst von mehrern Personen gesagt wurde, daß die kleine Sophie eine unbeschreibliche Aehnlichkeit der Gesichtszüge und Neigungen ihrer beyden Eltern in sich vereinigte, so sagte Frau Gallen ihrem Mann:


»Der Himmel hat mir in meinen Söhnen die Freude genommen, dich in ihnen erneuert aufwachsen zu sehen, aber jedermann sagt, unsere Sophie habe deinen Geist und deine Augen, so wie man zugleich behauptet, daß sie meinen Mund, meinen Wuchs, und meine Geberden hat. Jede Hofnung auf andere Kinder ist verlohren: – da möchte ich wohl, mein Bester! daß wir die Aehnlichkeit, welche dieses einzige Kind mit uns theilt, auf das vollkommenste machen. Gieb, mein Lieber! dem guten Mägdchen jeden Anbau deines Geists, denn es sollte mich sehr freuen, wenn ich einen Theil deines Verstands von Lippen wiedertönen hörte, die den meinigen gleichen. Ich will sie in allen weiblichen Arbeiten unterrichten: – Unsere Liebe aber soll sich in ihrem Herzen vereinen.«

[41] Herr Gallen war es zufrieden, und sie erzogen Sophie nach diesem Plan zu einem schätzbaren, reizenden Mägdchen auf. Sie war mit siebzehn Jahren nicht nur in blühender Gesundheit mit einer anmuthigen Gestalt geschmückt, sondern mit jeder Tugend der Seele, einem feinen Geist, und allen schönen Talenten begabt. Der Oheim und Tante liebten das Mägdchen eben so sehr; und da sie keine Kinder hatten, so wurde Sophie als Erbin eines großen Vermögens betrachtet, geschmeichelt, gesucht, und in Puz und Bedienung daran gewöhnt. Frau Gallen starb, eh ihre Tochter verheurathet war, und nun lebte Sophie unter der Aufsicht ihrer Tante fort, bis auch diese bald darauf in dem ersten Wochenbett mit ihrem kleinen Sohn in die andere Welt gieng. Beyde Schwäger blieben unzertrennlich, und es schiene, als ob ihr beyderseitiger Verlust ihre Freundschaft verstärkt habe.

Sophie bekam eine Gattung Hofmeisterin, oder vielmehr Gesellschafterin, weil sie über den Verlust ihrer zwey Mütter untröstlich war, und in eine stille Schwermuth versenkt wurde. Diese Frau, eine junge Wittwe, war munter, hübsch und listig. Sie bemächtigte sich nach und nach des Herrn Elbe, Sophiens Oheim. Dieser hatte seine [42] Nichte die Englische Sprache gelernt; Madame Bach wollte nun auch mitlernen, und sie brachte nicht nur dieses, sondern viele andre Sachen in dem Haus nach ihrem Sinn, wohin sie es wollte. Man machte Reisen in Bäder und Gesundbrunnen; man gab Gesellschaften, und endlich wurde Mad. Bach – Frau Elbe. Die Handlung fieng an zu wanken – doch reißte man nach Frankreich, und nahm Sophien mit, die natürlicher Weise Vergnügen daran fand. Am allerliebsten aber hörte sie, daß es gar nach Engelland gehen sollte. Doch hatte sie keine Ruhe, bis ihr Vater auch dazu gebetten wurde. Der Brief, in welchen er einwilligte, kam noch nach Paris. Er sagte, daß er mit einem Holländischen Schiff überfahren, und vielleicht bälder als sie in Großbritannien landen würde. Sie schiften von Calais aus, kamen nach London, und fanden dort wirklich Herrn Gallen vor ihnen. Aber bald klagte Frau Elbe wegen ihrer Gesundheit, und man mußte in ein Bad. Alles dieß geschah mit einer Eile und Unruh, die endlich unserm Gallen bedenklich wurde, noch mehr aber, da Herr Elbe immer viele Briefe von Haus erhielt, aber Herr Gallen nicht einen. Er sprach mit seinem Schwager von der Sorge, die er wegen seiner Handlung fühle, und daß er ihm doch von seinen Briefen mittheilen möchte, indem [43] er aus ihm unbegreiflichen Ursachen gar keinen erhielte. Elbe beruhigte ihn, und sagte, da sie gerad eine Lustreise machen wollten, solle er nur bis den andern Morgen Gedult tragen, wo er ihm dann alle nöthige Briefe zeigen würde. Sie reißten auch alle viere nach einem artigen kleinen Ort, wo ein schöner Park und Landhaus zu sehen war. Und da sie ein paar Tage dort bleiben wollten, so kam ein Koffer mit gemeinsamen Weißzeug und leichten Kleidern mit. Sie speißten Abends in dem Park, und blieben lang munter, mußten aber in zwey verschiedenen Häusern schlafen, weil in dem, wo Herr Gallen mit seiner Tochter eingezogen war, nur zwey kleine Betten in zwey eben so kleinen aber netten Zimmern neben dem Speißsaal waren, und Herr Elbe ohne anders wollte, daß Sophie und ihr Vater am besten besorgt seyn möchten. Gallen und seine Tochter schliefen recht wohl; besonders war Sophie sehr glüklich, eine so hübsche Stube, so nettes Weißzeug, und einen Baumgarten vor ihrem Fenster zu haben, welches sie offen ließ, um den süssen Duft der blühenden Linden, und das sanfte Rauschen des kleinen, an des Wirths Garten vorbeyfliessenden Bachs zu geniessen. Denn ohngeachtet sie in einer grossen Stadt erzogen ward, und selten etwas anders, als man kann sagen, steife, gezierte [44] Kunstgärten gesehen hatte, so war doch ihre Seele mit dem feinen Gefühl für Wahrheit und Natur durchdrungen; und wenn Herr und Frau Elbe ihre Reisen in England nach dem Sinn von Sophien eingerichtet hätten, so würde zuerst jede Gegend besucht worden seyn, die Thomson besungen hat: Denn würde sie Hagley als einen heiligen Grund und Boden durchgegangen haben, weil sie nichts ehrwürdigers kannte, als den Charakter des edlen Litleton. Aber Sophie sollte in Großbritannien noch manche Trauerstunde durchleben, ehe sie den gewünschten Anblick dieser schönen Anlage genoß.

Ihr guter würdiger Vater schlief sanft und lang den letzten sorgenfreyen Schlaf, und Sophie freute sich, daß sie vor ihm erwacht war, und sich leise angezogen hatte, um bey ihm, ihrem Oheim und Tante die Stelle der Wirthin bey dem Frühstück zu versehen. Es war alles in der Laube des Gartens bereitet. Herr Gallen kam munter und über seinen langen Schlaf scherzend zu Sophie in die grosse Stube, weil sie da an dem Fenster war, und nach dem Laden des Hauses umsah, wo Herr und Frau Elbe wohnten, um ihnen gleich einen guten Morgen zuzuwinken. Da es aber bald eilf Uhr wurde, und sich kein Fenster öfnete, oder jemand sehen ließ, so gieng sie, Thee mit ihrem Vater zu [45] trinken, und schickte jemand aus dem Haus nach ihrem Oheim. Aber, wie staunte ihr Vater und sie, als die Antwort kam, der Herr und die Dame wären gestern Nachts abgereißt, und gar nicht in das Haus gekommen? Stumm und betäubt einander ansehend, giengen sie eilend in ihre Stube, wo der Koffer war, aus welchem Frau Elbe ihr und ihres Mannes Schlafzeug geholt, und er noch, ehe sie weggiengen, ein Buchfuteral hineinlegte, weil es ihn, wie er sagte, in seiner Tasche beschwerte. Sie fanden es noch, und alle ihre Kleidungsstücke. Gallen wollte aus Bescheidenheit das Futeral seines Schwagers nicht öfnen, weil er dachte, diese Abreise wäre nur eine jähe Capriçe seiner Schwägerin, und sie würden Abends wieder eintreffen. Aber da auch die Nacht ohne die geringste Nachricht kam, und jemand von den Einwohnern sagte, sie wären in einer leichten Gutsche mit vieren, die auf der Landstrasse gehalten, abgefahren, so nahm er endlich das Futeral, und fand darinn eine Menge eröfneter Briefe an ihn, wo von dem vollkommenen Banquerout seines Schwagers geschrieben wurde, worinn nicht nur das ganze Vermögen von Sophiens Mutter zu Grund gegangen sey, sondern auch Herrn Gallens Ehre, weil man mit Recht vermuthete, er habe von allem gewußt, und deswegen die Reise[46] nach England mitgemacht: daher auch seine Bibliothek und alles Geräthe mit dem Hause an die Gläubiger gefallen sey. Ein mit zitternder Hand geschriebener Zettel seines Schwagers lag dabey, worinn stunde:


»Verzeiht mir, daß ich alles verhehlte, und daß ich flieh. Die hundert Guineen werden euch wieder nach Haus bringen, wo Gallen als guter Advokat leben, und Sophie mit diesem Ring und ihrer liebenswerthen Person gewiß eine Heurath treffen wird. – Mich seht ihr nimmer. Adjeu.«

Ob ein feiner giftiger Dunst in diesem Futeral gewesen wäre, oder diese Papiere, so war die Würkung immer tödlich. Gallen blieb starr und unbeweglich sitzen, die Augen auf den Zettel geheftet, Thränen und Zurufen von seiner Tochter – alles war umsonst. Sie schrie um Hülfe. Die Wirthsleute kamen, und versuchten, was sie konnten. Endlich lief die Magd nach dem Pfarrer, der so gleich kam, und erweckenden Geist mitbrachte. Gallen kam zu sich, und konnte sagen, daß sein Herz gebrochen sey. Sophie aber glaubte ihn wieder ganz zu haben, da er wieder reden konnte, und sogar einige Schritte auf und ab gieng. Die Schwester des Pfarrers, welche von dem Zufall des [47] Fremden gehört hatte, und dabey von dem Jammer seiner schönen Tochter gerührt wurde, kam auch in die Stube, um zu sehen, ob sie nicht dem jungen Frauenzimmer in etwas helfen könnte. Gallen stand gerad an dem offenen Fenster, und hatte beyde Arme gen Himmel erhoben. Sophie kniete zu seinen Füssen, und der gute Pfarrer durchlaß die Papiere. Die ehrwürdige Matrone gieng sachte mit einer Thräne im Aug zu ihrem Bruder, und fragte ihn leise, auf Sophie weisend:


Bester! kann ich hier etwas helfen?

Er drückte ihre Hand:

Ja – geh hin, und sey Mutter! ich möchte mit dem Manne allein reden.
Frau Sarah faßt Sophien bey der Hand, und der Pfarrer umfaßt Herrn Gallen:

Guter Mann! Sie glauben doch, daß Gott und die Tugend ewig sind?

O ja! aber der Bruder – von Sophiens Mutter – uns so elend machen – Mein Gott! wie littest du das? –
sagte er mit Händeringen, und der Pfarrer antwortete freundlich, und eindringend –

damit Ihre Tugend sichtbar werde –

Bey wem? – wer kennt mich hier?


[48] Gott und Ihr Gewissen. Kommen Sie, sagte er, Gallen umarmend: – Kommen Sie, wir wollen über ihre Umstände reden. – Meine Schwester bleibt bey ihrer Tochter.

Hier sah Herr Gallen um sich, und betrachtete Frau Sarah, die auf einem Stuhl saß, und Sophiens Kopf auf ihrem Schoß liegen hatte, weil diese bey der Annäherung des Pfarrers ihre Arme von den Füssen des Vaters abzog, sie sinken ließ, und die gute Alte sie an sich bog. – Gallen schwieg einige Zeit, umarmte alsdann Frau Sarah:


Ach – ehrwürdige Frau! werden Sie Mutter dieser Waise –


Gewiß, gewiß – antwortete sie!

und Gallen ließ sich, nachdem er wieder in staunendes Schweigen gesunken war, von dem Pfarrherrn wegführen. Seine Schwester ermunterte Sophien, mit ihr in den Garten zu gehen, und Muth zu fassen, ihr Vater würde wieder gesund werden, denn ihr Bruder sey Medikus, so gut als er Seelsorger sey. Sophie gieng an ihrem Arm in die Laube. Die gute Frau bemerkte, daß die einfallende Sonnenstralen eine Bewegung in Sophiens Seele machten, und faltete fromm ihre welke Hände, gegen die nemliche Seite schauend:


Gott der Sonne! und der unsere! du bestimmest [49] das Weh, und die Freude der Tugend! O gieb dieser meiner Tochter die Stärke, alles zu tragen, was du willt, das sie tragen soll!

Sie hatte bey dem Wort – Tochter – Sophien an ihre Brust gedrückt, und am End ihres Gebets küßte sie selbige.


O Religion! wie wohlthätig bist du in der Seele des Menschenfreunds, der nicht zufrieden, den Weg seiner ewigen Glückseligkeit in dir zu sehen, auch die thätige Menschenliebe auf Erden mit dir vereinigt! – ach dann bringst du einen Pfarrer Watson, und eine Matrone wie Sarah zum Trost der Leidenden hervor!

Gallen hatte indessen dem Pfarrherrn sein Herz geöfnet, und ihm alles gesagt. Seine jähe Ruhe ängstigte Herrn Watson sehr. Er hätte ihn lieber in Abwechslung gesehen. Am Ende, da Hr. Gallen den Ring für Sophien, die hundert Guineen und sein noch übriges Geld dem Pfarrer vorgelegt hatte, sagte er ihm:


Ich fühle, daß ich diesen Schlag nicht überlebe: Sagen Sie! was wollen Sie mit meiner Tochter thun! – die arme – hat von allen Menschen niemand als Sie – und von grossem Reichthum nichts als das –

[50] wobey er mit Schmerz auf das Geld und den Ring zeigte.


Theurer, rechtschaffener Mann! – sagte Watson – Sie sollen leben, und nach dem Wunsch eines Ihrer Freunde in Ihr Vaterland zurück, um Gerechtigkeit zu erhalten, wie Sie es verdienen. Gott und mein Zeugniß werden Sie unterstützen.

Gallen schüttelte den Kopf, wie jemand, der des Gegentheils von dem, was er hört, ganz sicher ist.


Ach – sagen Sie mir, was thun Sie mit meiner Sophie, wenn ich sterbe?


Sie soll meine Tochter und die Gespielin von Mis Kery seyn, die auch ohne Vater und Verwandte, aber mit einem schönen Vermögen unter meiner Sorge steht:

Gallen erhob seine Hände, und sprach mit erhabener Stimme:


Gott! du hast das Versprechen eines deiner Diener gehört! O gieb, daß er es erfülle!

Herr Watson wollte Gallen aus dem Gasthof weg in sein Haus nehmen, aber er sagte:


Nein, mein Freund! ich will hier endigen, damit Sophie in Ihrem Haus nichts, als die Spuren der göttlichen Güte in ihrem neu gefundenen Vater Watson erblicken möge, [51] und keine Stube mit dem geheimen Schauer öfnen sehe, wo ihr Herz sagte: – Ach! – hier starb – mein Vater.

Gallen machte einen Aufsatz der ganzen Geschichte seines Lebens, und der Ursache seines Todes, mit einer Eile, die den Herrn Watson zu Thränen brachte. Denn er sah, daß dieser Zustand von Gallens Seele, obschon alles in Ordnung zu seyn schien, der Vorgang einer Zerrüttung oder des Tods wäre. Er betete für ihn, und gieng einen Augenblick in den Garten, seiner Schwester zu sagen, Sophien zu Mis Kery zu führen, daß sie sich kennen lernten. Sophie wollte nicht fort, ehe sie ihren Vater gesehen hatte. Denn sie glaubte, Herr Watson wollte sie nur von seinem Sterbebette entfernen. Als sie ihn aber, wie sie glaubte, aufmerksam und ruhig schreiben sah, und Herr Watson bey ihm blieb, so kam sie gerne mit Frau Sarah nach ihrem Haus. Herr Watson hatte, während Sophie nach ihrem Vater sah, seiner Schwester geschwind gesagt, mit Sophien von Mis Kery recht zärtlich zu sprechen, daß die arme von ihrem vierten Jahr an die Mutter verlohren, und seit sechs Jahren nichts von dem Leben oder Tod ihres Vaters wüßte, welcher aus Traurigkeit über den Verlust seiner Gattin nach Indien gieng. Watson [52] wollte dadurch Sophiens Schmerz über den bevorstehenden Verlust ihres Vaters eine Gefärthin geben, indem die Gemüthsart von Mis Kery ohnehin etwas sehr trauriges hatte. Frau Sarah faßte alles dieses sehr gut, und erzählte es Sophien unterwegs, nur als ob sie ihr die Geschichte von Mis Kery sagen wollte, und überließ es Sophien, eine Anwendung auf sich selbst davon zu machen. Diese Erzählung hatte auch so sehr gewürkt, daß, als Frau Sarah Sophien und Mis Kery einander vorstellte, Thränen aus Sophiens Augen strömten. Sie umarmte die Mis, wie eine Schwester die andre, wenn sie ein gemeinsames Unglück miteinander zu tragen haben. Dieser Ausdruck von Weh, und die von Trauer und Angst ganz verstellte Gesichtszüge unserer Sophie Gallen hatten einen sichtbaren Einfluß auf das Herz von Mis Kery, in welchem von Natur alles tief wurzelte. Und zu ihrem Unglück hatte ein mit Haß vermischter Gram diese Anlage ihres Charakters zuerst beschäftigt. Frau Sarah bemerkte, daß Mis Kery Sophiens Umarmung mit einer Art zärtlicher Bewegung erwiederte, sie dann mit Staunen ansah, und nach ihren Thränen fragte. Nun sagte Sophie:


Ach – Mis! ich bin ganz fremd, und mein Vater wird hier sterben. Dann habe ich [53] nichts mehr auf Erden, als die Barmherzigkeit von Herrn Watson und Frau Sarah.

Wer kennt wohl alle die verschlungene Wege, durch welche Gutes und Böses in unsere Seele kommt? – wer hätte gedacht, daß, nachdem der vortrefliche Mann Watson und die so vollkommen gute Frau Sarah viele Jahre lang jedes Mittel vergeblich anwandten, um den Wachsthum des Neides und der Feindseligkeit in Mis Kery zu hindern, nun auf diesem schwarzen Grund die edelste Gesinnungen aufblühen sollten. Denn Mis Kery sagte sogleich:


Frau Sarah wird Ihnen gern zur Mutter dienen, wie sie es bey mir that, und ich will alles mit Ihnen theilen, was ich im Vermögen habe. – Bleiben Sie bey uns, Mis! – ich habe auch keinen Vater mehr –

Sie faßte Sophien bey der Hand, und sah sie voll Mitleiden und Liebe an. Bald darauf kam eine Bottschaft aus dem Gasthof, die Frauenzimmer möchten doch miteinander hinkommen.


Ich will mit, sagte Mis Kery, ich will Ihren Vater sehen, und ihm sagen, daß wir sie alle trösten wollen.

Sophie war sehr gerührt, und hielte die junge Mis, welche eben 15 Jahr alt war, für eines der besten Geschöpfe auf Erden. Herr Gallen saß ruhig [54] neben Watson am Fenster. Sophie eilte zu ihm, hieng mit Freudenthränen an seinem Hals, weil sie ihn für ganz wohl hielt. Sie erzählte, wie viele Güte Frau Sarah und Mis Kery ihr bezeugt hätten: die liebe Mis Kery, fuhr sie fort, weiß schon so lange nichts von ihrem guten Vater, und ich – habe Sie noch! –


Ja, Sophie! – wir waren sehr glüklich, in das einsame Rosehill zu kommen, wo mich Rechtschaffenheit und Güte über Bosheit und Betrug trösten, und wo du eine Mutter und eine Schwester fandest. Vergieß nie, mein Kind! daß Geist und Tugend uns unterstüzten, und uns dieser Hülfe würdig machten.

Er zeigte ihr, daß noch ein Brief und ein Kasten von ihrem Oheim gekommen sey, worinn ihre Kleider und Weißzeug wären:


Es sind die Lappen, welche der Räuber uns noch zuwirft, unsere Blösse noch einige Zeit decken zu können.

Herr Watson gab ihm Medicin. Aber des Nachts wurde Gallen sehr übel. Er redete viel mit dem ehrwürdigen Pfarrer, der ihn nicht verlassen wollte, und bey Tages Anbruch mußte Sophie ein Blat unterschreiben, in welchem Gallen seinem Schwager alles beleidigende vergab, und worinn auch [55] sie versichern mußte, ihre Empfindlichkeit zu unterdrücken. Sie that es mit den Worten, die der Vater ihr vorschrieb, und Herr Gallen übergab das Papier dem Pfarrer, wobey er sagte:


Nun, meine Tochter! habe ich das letzte gute für dich gethan. – Ich lehrte dich dem vergeben, der uns elend machte. Die Dankbarkeit gegen den gefundenen Wohlthäter Watson wird dein Herz dich lehren, verlaß ihn nie, und mache keinen Schritt ohne seinen Rath!

Das arme Mädchen war wie betäubt, denn sie hatte sich um zwölf Uhr mit dem Glauben an ihres Vaters Leben und Ruhe schlafen gelegt, und jetzo hörte sie vom Tod und letzten Willen. Denn ihr Vater umarmte sie, und übergab eine ihrer Hände Herrn Watson.


Sie lehrten mich gelassen sterben. – Lehren Sie meine Sophie gedultig leiden und leben.

Um fünf Uhr kam Frau Sarah, nach dem Kranken und nach Sophie zu sehen. Herr Gallen sagte da seiner Tochter:


Du warest immer ein folgsames Kind, und nie hatte ich eine Klage über dein Leben. Gott wird dich erhalten und segnen! – gieb mir auch jetzo einen Beweis deines Gehorsams.[56] – Geh mit Frau Sarah nach Haus, und bleibe bey ihr, bis ich dich wieder hieher rufen lasse. Es kommen zwey Aerzte, die für mich sorgen werden.

Er drückte sie noch an seine Brust, und Sophie gieng seinem Befehl nach, wurde aber nicht wieder gerufen, denn Gallen starb an einer Operation, die nothwendig an ihm gemacht werden mußte. Aber der Gram hatte sein Herz gebrochen, und sein Ringen nach Gelassenheit vermehrte das krampfige Zusammenziehen der Nerven, welches der Kurart völlig entgegen war. Er schrieb noch an Sophie:


Gott ruft mich – murre nicht – folge der Tugend und Watsons Rath – dann werden wir ewig uns glüklich sehen!

Es dauerte lange Zeit, ehe Sophie ruhig und heiter ward. Herbst und Winter giengen sanft traurend vorüber. Doch hatte Watson gleich von ihr erhalten, der jungen Mis Kery ein Beyspiel von gedultiger Unterwerfung ihres Willens nach dem Willen der Vorsicht zu geben. Er erzählte dann der Mis Sophiens Schicksal, und beobachtete dabey den Hauptzug von Mis Kerys Charakter, denn die fürchterliche Idee, welche sie von der Armuth hatte, brachte sie wechselsweise in Bewegung des [57] Mitleidens und Wohlthuns, und gleich darauf in Angst des Geitzes, daß es ihr einst fehlen mögte. Ihr Wohlwollen für Sophie erhielt sich; sie wollte als Schwester mit ihr theilen, und sagte Herr Watson, daß er es gleich mit den Spielgeldern anfangen möchte. Er lobte sie über diese Grosmuth ihrer Seele, und setzte hinzu: dieß will ich Mis Gallen sagen, und da wollen wir sehen, was sie dagegen thun wird.

Sophie hatte während der Zeit, als Herr Watson mit Kery sprach, ihren grossen Koffer ausgepackt, und alles in Schränke geordnet, die ihr angewiesen wurden. Diese Beschäftigung hatte ihr viele Freude gemacht, weil sie ihre Laute, ihre schöne Zeichnungen und Musik in dem Koffer fand. Denn es war ihr lieb, ihre Talente zu üben, und sie zu zeigen. – Eigenliebe – wird man sagen – Ach! möchte niemand keine andre haben, als Sophie in diesem Augenblick hatte, so würden die Pflichten der Nächstenliebe nie beleidigt! – Herr Watson kam in Sophiens Stube, als sie an ihrer Laute stimmte. Er sagte ihr, wie sehr es ihn freue, noch einmal den Ton einer Laute zu hören, indem der erste Begriff von Musik, und das erste Gefühl von Harmonie durch das Spiel einer Laute in seine Seele gekommen sey, und nie hätte ihm eine andre Gattung [58] Instrument das nemliche Vergnügen gegeben. Sophie sagte ihm mit einer Thräne im Aug, und seine Hand küssend:


Auch diese Aehnlichkeit haben Sie mit meinem ersten Vater. O! hören Sie auch, was er so gern mich spielen hörte.

Es war ein schönes Andante. Watson dankte ihr, und sagte: – Ihre Laute wird den Abend meines Lebens doppelt verschönern, denn ich hoffe, sie soll den bittern Haß, der die junge Seele von Mis Kery vergält, völlig besiegen helfen. Sophie sah neugierig ihn an.

Ja – meine liebe Tochter! fuhr Watson fort, ich zähle auf Sie, als auf das letzte Hülfsmittel, durch welches die Liebe Gottes und des Nächsten in die Seele meiner Pflegtochter gebracht werden soll. Mis Kery ist das einzige Kind zweyer vortreflichen Eltern. Ihre Mutter starb, als sie vier Jahr alt war. Sir Kery wurde so traurig, daß er, um sich zu zerstreuen, eine Reise nach Indien vornahm. Aber noch vorher die Hälfte seines Vermögens auf Mis Kery versicherte, und sie seiner einzigen Schwester zur Erziehung und Vorsorge übergab. Da er wenig Zeit vorher Rosehill ausgebaut hatte, welches seiner Schwester Lady Brade wohl gefiel, so schenkte er dieser die Hälfte des Gebäudes mit der kostbaren [59] Einrichtung zu ihrem Landhaus, und mich zog er hieher, um Mitvormünder über seine Tochter zu seyn. Sie wuchs mit Mis Brade recht artig heran, bis in ihr eilftes Jahr. Ich trug für den Unterricht der beyden Mis gleiche Sorgfalt. Lady Brade machte auch keinen Unterschied, den wir bemerken konnten. Sie wurde von Mis Kery Mutter genannt, wie von ihrer Tochter. Nur einmal zankten die Mädchen sich. Mis Kery hatte das Recht auf ihrer Seite, und drohte Mis Brade, alles der Mutter zu sagen. Diese antwortete, – das möge sie thun: ihre Mutter würde wegen einer Bruderstochter, die ihr so viele Mühe mache, ihrem eigenen Kind kein Misvergnügen geben. – Und würklich wußte sie die Sache der Mutter so vorzutragen, daß Mis Kery mit aller ihrer Versicherung, daß sie die Wahrheit sage, zurückgewiesen und gestraft wurde. Ich war den Tag abwesend. Die Leute im Haus wollten nicht gegen die Tochter der Lady reden. Sir Kery war schon sieben Jahr weg, und wir hatten seit zwey Jahren nichts mehr von ihm gehört. Mis Brade war auch einzige Tochter, sehr reich, und ein Jahr älter als unsere Kery, die bald nach diesem Vorgang noch einmal der Unwahrheit beschuldigt wurde, wo sie im Zorn sagte: – Leute, die in meinem Hause wohnen, sollten [60] mir besser begegnen. – Da folgte wieder eine unvernünftige Strafe, und mitten in den Tagen, wo Mis Kery mit Vorwürfen geplagt wurde, brachen bey ihnen die Blattern aus. Es mag seyn, daß die heftige innerliche Verbitterung das Gift der Krankheit verstärkte, oder daß auch in der That die Leute weniger Sorge für Mis Kery, als für die Tochter der Lady hatten. Sie wurde so verstellt, daß man keinen einzigen Zug ihres Gesichts mehr erkennen konnte: es bliebe nichts ungekränkt, als ihr Auge, und ihr Wuchs. An Mis Brade aber hatte der Zufall, oder die Wartung alles artige erhalten, und von dem Augenblick der Genesung der beyden Mis wurde die Seele der Schönen mit Stolz, die von der armen Verunstalteten aber mit Haß und Neid erfüllt, der bey Miß Kery auf das höchste stieg, als ihre Tante von einer Reise nach London sprach, und die Unbesonnenheit hatte, erst lang von allen Ergözlichkeiten und Schönem der Stadt zu sprechen, und dann ihrer Nichte auf einmal anzukünden, daß sie hier bleiben müßte, weil ihr Gesicht gar nicht nach London tauge. Miß Kery wurde halb todt in mein Haus gebracht, weil sie über dieses Bezeugen erst in eine Art Wuth, und dann in Gichter fiel, die sich erneuerten, so oft sie einen Spiegel, eine schöne Person, oder nur ein [61] Bild in dem Haus ansichtig wurde. Da ich nun dieses bemerkte, so bat ich, daß sie bey mir und meiner Schwester wohnen möchte, wo sie nur mich alten Mann, Frau Sarah mit ihren ehrwürdigen Runzeln, und unsere gute, aber auch alt aussehende Magd vor Augen haben würde. Es sind bald vier Jahre, und noch nie hat sie den Namen ihrer Tante ausgesprochen, noch nie einen Fus in das Haus von Rosehill gesetzt, und keine wohlgebildete Person als Sie mit Menschenfreundlichkeit angeblickt. Ich habe alle Beweggründe versucht, die mir für ihr Alter faßlich schienen: keiner däuchte mich gewürkt zu haben. – Nur das Mitleiden mit Ihnen war ein Strahl Hofnung zu moralischer Güte, der durch die finstere Gemüthsart von Miß Kery durchzudringen scheint. – Helfen Sie mir, Sophie! diese junge Seele mit dem Gefühl der Güte bekannt machen. – Sie hat nie Musik gehört, nie einen Bleystift zum Zeichnen in einer Hand gesehen. – Wenn ihr beydes gefiele, o! so sagen Sie gleich, daß Sie es sie lehren wollen. Sie liebt Vorzüge, und haßt zugleich alle, die sie nicht besitzt. Sie hat viel Anlage zu Geist – helfen Sie mir alles das benützen, gute, theure Sophie! –


Herzlich gerne, bester Vater! Ach wenn der Verlust meines Glücks der Gewinst der Tugend [62] für Miß Kery würde! – wenn Mitleiden ihr Herz öfnete!

Herr Watson betrachtete Sophien mit Bewegung: –


O meine Tochter! eine Seele, die auf meinen Vorschlag diese Antwort giebt, hat ihr Glück nicht verlohren. Es lebt in ihr, als eine lebendige Quelle. Sey heiter, edles Geschöpf Gottes! und glaube, du bist zu einer schönen Laufbahn berufen.

Sophie war gerührt, und weinte. Miß Kery kam in die Stube. Herr Watson drückte Sophiens Hand, und sagte:


Da ist Miß Kery selbst, dieser können Sie nun gleich für ihre Güte und Liebe danken.

Sophie bemerkte, was er wollte. Watson gieng nach seinen Geschäften, Sophie aber eilte gegen Miß Kery, und umarmte sie: –


Theure, gütige Miß Kery! nehmen Sie den ganzen Dank meines Herzens für alles das an, was Sie für mich thun wollen! – Herr Watson hat mir so eben Ihre großmüthige Gesinnungen entdeckt.

Miß Kery sah freundlich auf Sophie, und fragte:


Freut Sie es dann recht, daß ich Sie liebe?


Ja, beste Miß! es freut mich innig, daß mich Gott die Liebe einer so schönen Seele, wie die [63] Ihrige ist, finden ließ.

Schöne Seele! wiederholte Miß Kery mit einer brennenden Röthe, und etwas Bitterkeit in ihren Zügen verbreitet. Sophie that nicht, als ob sie es sähe, und sagte ihr mit dem süssesten Ton der Liebe und Ueberzeugung.


Ja, mein Engel! Güte und Edelmüthigkeit sind die Eigenschaften einer schönen Seele vor Gott und Men schen, und jedermann, der hören wird, was Sie für mich thaten, wird mit Ehrfurcht sagen, daß die junge Miß Kery eine schöne edle Seele hat, und die Hochachtung und Liebe aller guten Menschen verdient.

Bey dem Ausdruck – Hochachtung und Liebe, sah Miß Kery ganz fest auf Sophien, mit dem artigen Lächeln, wie dieß, wenn man auf seinem Weg eine schöne Aussicht erblickt, welche man näher zu sehen hoft: Aber da indessen der Wagen weiter rollt, entzieht uns eine Krümme, durch welche ein Wald oder ein Berg vorkommt, diese Aussicht wieder, Und nun ändert sich das Lächeln in halben Verdruß und halbe Trauer ab. – So war es mit Kery, die gleich wieder durch die Erinnerung der Vorwürfe von Häßlichkeit ihres Gesichts auch neuen Zweifel und Mißvergnügen in ihrem Auge zeigte. Sophiens Laute und alles lag noch auf dem Tisch. [64] Miß Kery sah neugierig hin, und fragte endlich, auf die Laute zeigend,


was haben Sie da?


Meine Laute, die ich in freudigen Tagen spielte, und dazu sang. – Ich habe sie mit allem, was ich weiß, hervorgesucht, um zu sehen, liebe Miß! ob Sie nicht ein Verlangen zu etwas bekämen, was ich besitze, weil ich es Ihnen so gern mittheilen wollte, wie Sie mir von Ihrem Golde geben.

Mis Kery sah auf die artige Zeichnung, auf die schöne Stickerey der grossen Tasche, worinn Sophie ihre Musikalien hatte, auf welcher der Schattenriß ihres Vaters und Mutter mit dem ihrigen, nebst den Noten der kleinen Lieblingsstücke von jedem recht nett gestickt war. – Mis Kery kam wieder zu der Laute zurück, berührte sie sorgsam mit einem Finger. Denn sie war schön mit Ebenholz und Elfenbein eingelegt. Sophie ergriff sie, und zeigte sie ihr von allen Seiten, legte sie an, und ließ nur äusserst sanfte harmonische Töne hören. Mis Kery staunte, aber die Begierde mehr zu hören, war in allen ihren Zügen. Sophie fragte:


Darf ich Ihnen etwas spielen? Mis! –

Kery sprach nicht. Sie nikte nur eifrig – ja. Nun hörte sie bald die rührendste, bald die stärkste, erhabenste [65] Stimmung. Mis Kery betrachtete bald die eine, bald die andere Hand von Sophien – dann ihr Gesicht und ihre Stellung – dann horchte sie mit niedergeschlagenen Augen. Endlich weinte sie, und umarmte Sophien:


O Mis Gallen! wenn sie mich dieses lehren könnten, wie würde es mich freuen, denn ich liebe die Musik gar sehr.


Haben Sie niemals Musik gelernt?

Kery sagte erröthend vor sich hinsehend:


Nein! Klavierspielen hätte ich lernen können, aber die Person, die es zuerst spielte, war mir zuwider, und da mochte ich nichts anrühren und nichts haben, was sie angieng.

Hier blickte sie seitwärts nach Sophien hin. Diese sagte ganz theilnehmend:


O das geschieht oft, daß böse Menschen uns auch das angenehme verdrießlich machen. Es ist mir um so viel mehr Freude, daß Sie meine Laute und mich lieben.

Kery sagte dann:


Es ist wohl sehr schwer zu lernen? –


Für Sie nicht, liebe Mis! denn Sie haben Geist, alles zu fassen, und die Begierde zu lernen dabey, da wird alles leicht. –

Nun hieng sie Mis Kery die Laute an, legte ihr [66] die Finger, und machte sie durch alle Saiten rauschen. Kery bebte, fühlte aber, da sie würklich ein sehr feines Ohr hatte, daß sie lauter Einklang hervorgebracht habe, und von der Stunde an hörte sie nicht auf zu lernen, bis sie in der That eben so weit, ja bald geschickter als ihre Meisterin war.

Watson und seine Schwester wurden entzückt zu sehen, daß diese Beschäftigung Sophiens Traurigkeit verminderte, und etwas sehr sanftes und wahrhaft Gutes in Mis Kery hervorbrachte. Die Gemüthsruhe, welche Sophie genoß, da Herr Watson nicht nur alles gütige Bezeugen eines nahen Verwandten für sie hatte, sondern auch durch die Sorge, mit welcher er für den Verkauf des von ihrem Oheim zurückgelassenen schönen Rings, und einem Paar Ohrgehenke, nebst den Spitzen und andern in der Einsamkeit zu Rosehill unnöthigen Kostbarkeiten bedacht ware, hatte Sophie auch einige hundert Guineen erhalten. Denn das Taschengeld ihres Vaters war für die Kosten der Krankheit und des Begräbnisses hinreichend. Sie behielt also auch die hundert Guineen des Oheims für sich, und Herr Watson hatte dabey eine vollkommene Ehrenrettung für Herrn Gallen nach seiner Vaterstadt geschickt, und die Abschrift seines Testaments dabey gelegt. Die Antwort darauf [67] war auch so befriedigend für unsere Sophie, daß sie von dem Tag an wieder heiterer wurde. Denn man hatte darinn ihre Eltern und sie gelobt. Durch alles dieß kam sie wieder in den früh gewöhnten Gang ihrer täglichen Beschäftigungen. Sie übte alle ihre Talente. Sie laß viel, besonders die Geschichte von England, und die Schriften der Poeten und Moralisten. Herr Watson verabredete mit ihr die völlige Heilung der Mis Kery, und bewunderte, daß Sophie den Weg zu diesem Herzen viel sicherer gefunden hatte, als er. Sophie sagte einst darüber:


Sie haben Mis Kery die Strahlen der Wahrheit zu früh ohne Schleyer gezeigt, ich aber habe ihr den Werth des Lichts zuerst in den Farben des Regenbogens an einem noch düsternen Himmel gewiesen. Ihr Verstand konnte nur durch ihre Empfindung erleuchtet werden, und ich war durch mein Geschlecht und Alter näher bey ihr, als der Geist eines Mannes sich herablassen kann.

Mis Kery war mit dem Wort Schönheit ausgesöhnt, und Sophie gab immer der Anmuth den Vorzug. Sie lehrte Kery auch tanzen, und konnte mit Recht von ihr sagen, daß jeder Schritt und jede Wendung, die sie machte, einer Grazie würdig [68] seyen. Darüber entstund zwischen Sophie und Mis ein langes Gespräch, worinn die Gesinnungen von Mis Kery völlig geändert wurden. Denn Kery fragte einst: –


Wie ist es möglich, daß Sie mir so oft schon sagten: – dieß war schön?


Weil ich es so fand, liebe Mis! –


O, ich müßte mich sehr geändert haben, denn vor fünf Jahren wurde ich wegen dem Mangel der Schönheit gehaßt und verachtet, und das machte mich sehr unglüklich: – ich wünschte oft zu sterben.


Arme Kery! Sie dauren mich darüber.

Ach Sie wissen nichts von diesem Kummer, denn Sie sind schön –

Meine theure Mis Kery hat wohl noch nie eine wahre Schönheit gesehen, weil sie mich dafür hält.

Sophie holte das Miniaturgemälde von ihrer Mutter, welche eine der schönsten Frauen gewesen, und in Miniatur es also noch mehr schien. Sie zeigte es Kery:


Sehen Sie, Mis! – das ist Schönheit – nun vergleichen Sie mich damit.

Mis Kery betrachtete Sophien und das Bild Zug für Zug, und sagte freymüthig:


[69] Das ist wahr – bey diesem Bild sind Sie gar nicht schön; aber Sie dünken doch mich und alle Leute hübsch, und gewiß sind Sie in Rosehill auch noch schöner geworden, als Sie anfangs nicht waren.


Sie haben Recht, liebes Kind! daß ich jetzo besser aussehe als damals. Ich war mürrisch gegen die Vorsehung, daß sie mich arm werden ließ, und mir meinen Vater nahm. Ich war voll Zorn und Haß gegen meinen Oheim, der uns in das Elend gestürzt hatte, und mich nun allein, von allen Verwandten entfernt, in dem einsamen Rosehill sah. Es schmerzte meinen Stolz, daß ich, die zu Reichthum geboren und erzogen war, nun froh seyn mußte, daß ein armer Pfarrer mich aufnahm, und ein anderes junges Frauenzimmer meine Wohlthäterin würde. Alle diese Fehler der Seele verstellten mich häßlich. Aber da ich nach und nach die Verfügung der Vorsicht mit kindlicher Gelassenheit ertrug, meinem Oheim alles von Herzen vergab, und meine Talente wieder vorsuchte, um dadurch Ihnen, liebe Mis! meine Dankbarkeit zu zeigen, und dem würdigen Herrn Watson und Frau Sarah meinen Umgang angenehm zu machen, so verschönerten diese gute Gesinnungen meines Herzens auch meine Gesichtszüge [70] immer mehr und mehr. Denn in meiner Jugend wußte man auch nicht ganz, was aus mir werden sollte, und meine Mutter sah viel schönere Mädchen, als ich war. Ich bemerkte es auch, und wollte immer den Putz der schönern Mädchen haben. Da kam ein Freund, und sagte: Sophie, der Putz vom Krämer wird es nicht thun – aber lernen Sie viel schöne und gute Sachen, da werden Sie das schönste Mädchen von der Welt. – O wie fleißig lernte ich alles, was Sie sehen, daß ich weiß? wie gern laß ich gute Bücher, um so mehr, als ich bemerkte, daß ich würklich etwas angenehmes in mein Gesicht bekam, das vorher nicht darinnen war?

Noch nie hatte Mis Kery auf alles so eifrig gehorcht, was Sophie ihr sagte:


Liebe Mis Gallen! es ist sehr viel Aehnlichkeit in Ihrer Geschichte mit mir. Sie haßten Ihren Oheim, und ich meine Tante – Sie waren mit Gott unzufrieden, daß er Ihren Vater nahm – o ich war es auch oft. Es verdroß mich auch bey Herrn Watson zu bleiben, weil ich durch die Blattern häßlich geworden war, so wie es sie wegen Ihrer Armuth verdroß – und hören Sie – auch ist es wahr, seitdem ich Sie liebte, und mein [71] Vermögen mit Ihnen theilen wollte, da sagten Sie mir gleich etwas von meiner schönen Seele, – und wissen Sie! daß Sie mir dieß auch öfters sagten, da ich die Laute gut spielen lernte, und dann das Französische leicht fort sprach. O Mis Gallen! – lehren Sie mich noch alles – alles was Sie wissen – daß ich Ihnen ganz ähnlich werde. Dann gehen wir einmal nach London, und ich zeige dann meiner Tante, daß ich eben so liebenswerth bin, als Mis Brade.

Frau Sarah, Sophie und Watson dankten Gott, daß das Gift von Haß endlich so weit aus Mis Kerys Seele vertilgt war; denn der kleine Entwurf von Rache und Eigenliebe bey der Reise nach London war ein natürlicher Nachhall aller widrigen Stimmung, die schon so viele Jahre in ihr wohnte.

Noch giengen zwey volle Jahre vorüber, und von Herrn Kery war nicht die mindeste Nachricht gekommen. Herr Watson wurde immer älter, seine Schwester kränklich, und die zwey Mädchen blühten an Geist, Liebenswürdigkeit und schönen Jahren fort. Denn wie bey dem Tod des Herrn Gallen angemerkt wurde, sproßte damals in dem garstigen Grund von Neid, der in Mis Kery lag, Tugend und Anmuth empor. Sie bekannte jezt frey, daß, [72] wenn Mis Gallen an dem Tag ihres ersten Besuchs mit Frau Sarah so heiter und reizend ausgesehen hätte, als jezt, so würde sie eben so neidisch und gehäßig über sie geworden seyn, als sie es über andre war: – aber ihre dickgeweinte Augen und Lippen hätten Mis Gallen so verstellt, daß sie sich mit samt ihren Blatternarben für hübscher gehalten hätte, indem sie niemals über die Würkung der Thränen auf den Gesichtszügen nachgedacht habe: sie hätte Mitleiden gefühlt, weil Mis Gallen ihren Vater verlohr, und auch Freude, einmal eine jüngere Person als Frau Sarah um sich zur Gesellschaft zu haben: deswegen hätte sie gleich ihr Vermögen mit Sophie theilen wollen. – Auch sezte sie mit Erröthen hinzu, weil sie ganz fremd war, und meiner Tante und Mis Brade nichts von mir schreiben konnte. Jetzo aber, meine Sophie! theile ich mit Ihnen aus Dankbarkeit, weil Sie mein Herz dem Glück der ausübenden Tugend geöfnet haben. Denn was wäre ich nun für ein elendes Geschöpf, wenn mit dem Wachsthum meines Körpers und meiner Jahre alle die widrige Gesinnungen meiner Seele, sich verstärkt hätten. – Sie wandte sich zum Pfarrer: – Ach lieber Herr Watson! wie viel Kummer muß ich Ihnen gemacht haben, da Sie mich so lange bösartig sahen? wie oft weinte meine gute [73] Frau Sarah über mich. Frau Sarah, Sophie und Herr Watson umarmten hier Mis Kery auch mit Thränen: und zeigten ihr die zärtlichste Hochachtung für die edle Offenherzigkeit, mit welcher sie von den Quellen ihrer Fehler und ihrer Tugenden sprach. Herr Watson sagte:


Ich sah diese edle Grundlage immer in Ihrer Seele. Und da nur zufällige Umstände Sie erbittert hatten, so hofte ich, daß die Hand der Vorsehung diese einst wegräumen, und Sie in eine Lage bringen würde, wo Ihr Geist und Ihr Herz ihren ursprünglichen guten Gang nehmen können.

Mis Kery war gerührt, und fragte:


Ist es gewiß, daß Sie immer ein edles Herz in mir sahen?


Ja, theure Mis! denn ich sahe die Keime des Guten in Ihrem vierten Jahr, und ihr erster Unmuth entstand über ein starkes Gefühl von Unrecht, so Ihnen geschah, so wie Ihre Menschenliebe auch wieder bey der Ueberzeugung erwachte, das Mis Gallen Ihrer Güte Gerechtigkeit erzeigte.

Nun breitete sich das angenehmste Lächeln über Mis Kerys Gesicht. Sie sah zugleich nach dem Fenster, und sagte dann:


[74] Ich bin jetzo mit allen Menschen ausgesöhnt, und da will ich auch mit den leblosen Sachen wieder Freund werden. Es ist schön Wetter: wir könnten diesen Nachmittag meiner lieben Sophie mein Haus in Rosehill zeigen.

Dieser Vorschlag wurde mit Freuden bewilligt, und es war seit sechs Jahren das erstemal, daß Mis Kery ihr Haus nannte und zu sehen verlangte. Sie kleidete sich sorgfältig und äusserst artig dazu an. Niemand that, als ob man diese Sonderheit bemerkte, und sie begehrte, Herr Watson möchte den Weg durch das Stück des Gartens nehmen, das sie auch aus Eigensinn so lang nicht betretten hatte, weil es das vorzüglich geliebte Stück ihrer Tante war. Sophie, welche mit einer unendlichen Fühlbarkeit jede kleine, und jede grosse Schönheit der Natur betrachtete, wurde über diesen würklich schönen Theil des Gartens von Rosehill, da alles in Blüthe war, ganz entzückt. Mis Kery beobachtete es, und sagte ihr mit Trauer:


O vergeben Sie mir, liebe Gallen! daß ich Sie des Vergnügens, welches Sie wirklich empfinden, so lang beraubt habe, weil ich meinen unartigen Widerwillen erst jezt überwand.


Seyn Sie ruhig, liebe Mis! denn, wenn ich es nun schon so oft gesehen hätte, als [75] die übrigen Stücke des Gartens, so würde mein Vergnügen nicht so neu, und nicht so stark seyn, wie es diesen Augenblick war.

Mis Kery fiel Sophien um den Hals, und sagte ihr zärtlich:


Geliebtes Vorbild jeder Tugend! wie werth machen Sie mir den Platz, da Sie mir zeigen, wie alles – alles zu unserer Ruhe in einem guten Sinn genommen werden kann?

Sie durchgiengen alle Zimmer des kostbaren edlen Gebäudes das für Mis Kery eben so neu schien, als für Sophie selbst, welche diesen Flügel des Hauses nicht gesehen hatte. Da sie in dem grossen Saal waren, ließ Mis Kery alle Fenster aufmachen, und sagte dann zu Sophie:


Kommen Sie mit vor diesen Spiegel, den ich vor sechs Jahren mit einem Hammer zerschlagen wollte, nachdem mich meine Tante bey meinen anhaltenden Bitten nach London zu kommen, herführte, und mir alle Flecken und Masern meines Gesichts zeigte. Mis Brade stand neben mir, wie jezt Mis Gallen. Aber sie war bey dem Anblick ihrer Vorzüge nicht so bescheiden, als Sie es sind; denn sie sagte, was ich mit meinen Rissen und Flecken in Hydepark und Ranelagh thun wolle.

[76] Nach diesem sah Mis Kery stillschweigend nach sich und Sophie in dem Spiegel, der so groß war, daß man die ganze Figur darinn sehen konnte. Herr Watson und Frau Sarah waren nun auch näher gekommen, Mis Kery küßte beyden die Hände, und umarmte Sophien:


Haben Sie Dank, alle drey! – für alles, was Sie an Gedult und Güte für mich gethan haben. – Ich bin in dem innersten meiner Seele mit allem zufrieden, was ich bin, und bekenne jetzo frey, daß ich mich heut wegen diesem Spiegel so hübsch kleidete, weil ich fürchtete, daß ich ohne sorgsamen Putz neben Mis Gallen zu tief herunter sinken würde. Aber Sie haben mich so umgebildet, daß ich nun meine Gestalt recht gerne behalten will.

Watson antwortete ihr: –


Sagten wir dann nicht immer, daß Sie Ihrem edlen schönen Vater ähnlich sind und artig aussehen?


Ja, aber ich fühlte dann auch immer mit meinen Fingern die Backengruben in meinem Gesicht. Deswegen mochte ich nie in einen Spiegel sehen. Nur gefiel mir mein Schatten im Teich, und dann auch im Gehen schien ich mir angenehm zu seyn, wie Mis Gallen es[77] sagte. Dann ich habe oft, wenn wir gegen Abend auf dem breiten Gang spazieren giengen, ihren Schatten und den meinigen gegen einander betrachtet, wie ich jetzo ihr Gesicht und meines im Spiegel ansah. Ich machte mit kindischer Eigenliebe manche Bewegungen der Arme und des Kopfs, wenn ich allein gieng, um zu sehen, ob es mir gut stünde. Nach und nach wurde ich immer vergnügter, weil ich mir liebenswürdig schien, und Sie wurden mir alle lieber, weil ich überzeugt war, daß Sie mich in nichts betrogen hatten, und alles thaten, um mich zu verschönern: – denn – ich kann mir nicht helfen – ich wollte liebenswürdig seyn. –


Theure Mis Kery! sagte Watson, Sie zeigen uns heut eine so schöne Seele, welche die gröste Zierde einer jeden Gestalt seyn würde. Bleiben Sie bey den jetzigen Gesinnungen, und – glauben Sie mir – jeder geistvolle Kenner des wahren Schönen wird Sie hochschätzen und lieben.

Mis Kery dankte mit vieler Anmuth durch eine Verbeugung voll edler Würde: –


Ich freue mich über diese Versicherung. Aber, lieber Vater! wie konnten Sie meinem unartigen Eigensinn, dieses Haus nie zu betretten – jede [78] schöne Person, ja das Wort selbst zu hassen, so viel nachsehen?


Weil ich überzeugt war, daß Mis Kery einmal ein sehr kluges Frauenzimmer seyn, und sich in einer Stunde von allem diesem losmachen würde. Der Besuch in diesem Haus war nicht nöthig. Er hätte Sie auch durch den Anblick der Bildnisse Ihrer Eltern noch auf einer andern Seite betrüben können, wie der Spiegel mit Ihrem eigenen Wiederschein es that. Sie müssen selbst fühlen, ob irgend ein Zwangsmittel bey Ihnen gefruchtet hätte, und ich kannte die menschliche Seele zu wohl, um nicht überzeugt zu seyn, daß bey einem Kind von eilf und zwölf Jahren, in welchem Anlage zu Stärke der Seele ist, jeder gewaltsame Bug etwas verderbt. Ich sprach Ihnen von gelehrten Damen, und unterrichtete Sie im Lateinischen, um dem Stolz Ihrer Seele eine Aussicht auf edle Vorzüge zu öfnen. Ich wollte Sie auf den Weg der Wissenschaften führen. Die Geschichte und das Rechnen besonders freute Sie –

Hier fiel Mis Kery ein:


O Vater Watson! warum sagen Sie, daß das Rechnen mich besonders freute? – nicht [79] wahr, weil ich immer mir Guineen rechnen wollte?

Watson lächelte, und sagte:


Ja, Mis! – es war eine schmerzliche Entdeckung für mich, in Ihrer Seele einen Hang zu Geiz zu sehen – in der Blüthe des Lebens, wo man sonst alles mit vollen Händen wegwirft.


Die Schuld lag nicht in mir, sondern in der Person, die meine Tante mir und Mis Brade zugegeben hatte. Diese erzählte uns immer von dem Glück und Vergnügen, welches schöne und reiche Ladies genössen. Wir waren beyde Erbinnen und hübsche Mädchen; und so jung wir waren, so machten wir doch Entwürfe zu prächtigen Kleidern, und Aufzügen bey Ball und in Bädern. Die Blattern raubten mir jede Hofnung zu Schönheit: die Person suchte mich durch den Reichthum zu trösten, den mein Vater aus Indien bringen würde. Und da nach so vielen Jahren keine Nachricht von ihm kam, verlohr ich auch diesen Trost, und wollte also nichts mehr weggeben, um zu sparen, damit der Ruhm von Reichthum mir einmal ein Ansehen gebe.


Warum sagten Sie mir dieses nicht, Mis Kery? wie nützlich wäre es für Sie und mich gewesen, [80] wenn ich die verkehrte Art gewußt hätte, womit diese unglückliche Person Ihnen und Mis Brade das Herz verdarb, und beunruhigte.


Sie wissen, lieber Vater! daß ich einigemal wegen Klagen über diese Person vielen Verdruß hatte. Ich wollte sie also nicht mehr nennen, um keines Hasses beschuldigt zu werden, und dann redeten Sie oft gegen die Belustigungen der Reichen, die mir doch so angenehm vorgestellt waren, daß ich sie immer wünschte. Da dachte ich nur reich und groß zu werden, wo ich thun könnte, was ich wollte, um mir Freunde zu machen.

Watson faltete die Hände:


O Gott! wie höchst wichtig ist das erste Bild des Glüks und Vergnügens für eine junge Seele! Möge es jeder Wärterin von einem Engel eingegeben werden, weil der verkehrte Begriff davon in dem ersten Umriß dieses Bildes besteht, den diese Leute den Kindern geben!

Sophien war der Gedanke des Lateins aufgefallen.
Sie drohte Mis Kery mit dem Finger. –

Sie wissen das Lateinische? und haben mir nie etwas davon gesagt?

Mis Kery war würklich betretten, und sah, indem[81] sie Sophiens Hand faßte, mit Verlegenheit nach Herrn Watson, der auch das Wort nahm, und sagte:


Liebe Sophie! Sie müssen mir und Mis Kery vergeben, und die Ursache unseres Schweigens hören. Sie wissen, auf was für eine edle Art Sie unserer Kery alle Ihre schöne Kenntnisse mittheilten, und wie begierig sie alles faßte und trieb, weil sie an dem Ende die gewünschte Aenderung ihrer Züge zu sehen hofte. Diese Aussicht konnte ich ihr bey meinem alten Latein nicht geben, und Sie hatten bey dem, was Sie von ihrer Erziehung sagten, nichts davon angemerkt, sondern nur bey einem Anlaß erhoben Sie die Kenntniß dieser Sprache, als einen Vorzug der Männer. – Mis Kery bat mich, Ihnen nichts davon zu sagen, weil sie keinen ausgezeichneten Vorzug vor Ihnen haben wollte, und ich schwieg auch aus der Ursache, weil würklich das Latein nichts zu der Liebenswürdigkeit und Sanftmuth des weiblichen Charakters beyträgt.

Sophie antwortete:


daß sie dieses gerne glaube. Denn sonst würde es mit ihrer und so viel tausend anderer Mädchen ihren Hofnungen auf Liebe und Achtung [82] sehr übel aussehen. Mis Kery aber würde durch die Aufopferung eines schon erworbenen Talents zu viel thun. – Ich wüßte nicht, ob ich dieser Grösse der Seele zu Schonung der Eigenliebe eines andern fähig gewesen wäre. Mis Kery sollte doch das versäumte nachholen, und mir erlauben, daß ich ihr Gesellschaft leiste: es könnte eine schöne Winterarbeit werden.


Kery sagte: ja – dadurch theilen wir den Vorzug der Männer, auf den sie so stolz sind.

Würklich setzten sie dieses Vorhaben durch, und es gab Herrn Watson manchen angenehmen Tag. Bey Mis Kery aber entstunden zwey neue Bewegungen der Seele, von welchen sie durch keine Vorstellung abzubringen war. Die eine kam ihr bey Erklärung der so genannten Steinschrift, wo alle Grabmäler in der Westmünster Kirche durchgegangen wurden. Da mußte Watson ein Denkmal für Herrn Gallen ausarbeiten lassen, welches in einer Piramide bestund, mit der Aufschrift:


Dem Andenken eines edlen und rechtschaffenen Mannes, Johann Gallen, aus Niederteutschland, dem unverdientes Unglück das Leben raubte – von der Freundin seiner [83] Tochter Sophie, welche das Erbtheil seiner Tugend und Kenntniß mit mir theilte.

Anna Kery.


Es wurde in einem schönen Theil des Parks, welchen Sophie am meisten zu lieben schien, aufgestellt. Der ganze Gedanke war so edel, daß es Herr Watson gerne eingieng, und nur wünschte, daß jedes heftige Verlangen eines reichen Jünglings oder Mädchens auf Gegenstände gerichtet seyn möchte, die ihrem Geist und Herzen eben so viel Ehre und Vergnügen geben könnten, als dieser Wunsch für Mis Kery hervorbrachte. Sophie wurde von diesem Beweis der Liebe und Achtung ihrer Freundin äusserst gerührt, bat aber, daß man sie das erstemal allein hingehen lasse. Herr Watson fand es billig, weil die Ergiessung der innersten Gefühle unserer Seele ein Heiligthum ist, welches allein von dem Allerheiligsten gesehen werden solle.

Sophie gieng früh, da alles noch ruhte, hin. Aber Kery und Watson hatten der menschlichen Neugierde nachgegeben, und sich in das nahe zwischen den Bäumen versteckte Kabinet geschlichen, von wo sie unbemerkt alles sehen konnten. Sophie war in einem weissen Leibrok, ohne Hut, ihre braune Haare nachläßig geordnet, keine Handschuh, keinen Stock. – So gieng sie, erst eilend durch den verwundenen [84] Gang, in den man aus dem Kabinet zwischen den Aesten der Bäume sehen konnte. Als sie aber aus diesem Gang heraus kam, und die Piramide erblickte, blieb sie mit Zusammenfaltung ihrer Hände stehen, und näherte sich dann langsam, bald nach dem Himmel, bald nach der Piramide sehend. Je näher sie aber dem Denkmal kam, je stärker flossen die Thränen über ihre Wangen herunter. Sie kniete auf der ersten Stufe nieder, betete leise mit gegen die Piramide ausgebreiteten Armen, stund auf, und wankte die vier Schritte, welche sie über die Platte des Fusgestells machen mußte, laß die Aufschrift, und heftete ihren Mund auf den Namen ihres Vaters, weilte lang mit vielen Thränen und geschlossenen Augen auf diesem Platz, laß dann weiter, und küßte innig den Namen Anna Kery mit vieler Zärtlichkeit, umfaßte dann, so weit ihre Arme reichten, den Stein, küßte Kerys Namen wieder: –


Gott segne dich! edle – edle Seele! –

rief sie aus: – und auf ihre Knie sinkend, erhob sie ihre bittende Hände:

Ewiger Gott! lohne Kerys Güte durch das Wiedersehen ihres Vaters!

Dann gieng sie um das ganze Denkmal, betrachtete es, fühlte es an. Ein Zug Gefälligkeit und Vergnügen[85] schimmerte in ihren Augen und Mienen. Sie berührte jeden Buchstaben, legte ihr Gesicht an die Aufschrift, küßte sie noch, und eilte hinweg. Mis Kery war froh, weil sie nun laut schluchzen konnte. Denn Sophiens Gebet für sie, ihre Küsse auf ihren Namen hatten sie unendlich gerührt. Aber es entstund auch eine neue Bildidee in ihr. Sie sagte Herrn Watson:


Wie schön würde dieser Platz, wenn Sophiens Gestalt so wie sie war, als sie die Piramide umfaßte, in weissem Marmor da stünde, und auf der Seite ein Altar, an dessen Stufen ich kniete, und die Aufschrift sagte, da meine Freundin mich, und ich sie anschaute. »Bey dem Denkmal deines verstorbenen Vaters bete ich um Erhaltung des meinigen.«

Watson versprach ihr, Erkundigung nach den Kosten und den Anstalten einzuziehen, die man machen müßte, um die Bilder ähnlich zu haben. Denn er hatte sich vorgenommen, in Kerys empfindlicher Seele keinen entstehenden Gedanken zu bestreiten, von dem ihr Verstand und Gefühl ihr sagte, daß er schön und gerecht sey, wie es in der That dieser Einfall war. Er dachte, »wenn ich ihr nun zu dem Ausmalen dieses Entwurfs helfe, so genießt sie die Schönheit der Blüthe eines Wunsches, dessen Erfüllung [86] möglich ist, und den sie um so mehr liebt, weil die Hofnung auf den Beyfall jeder schönen Seele mit dabey ist. Der Zufall führte den Anlaß der Entstehung her, er kann auch ihrem Verstand die Hindernisse der Ausführung deutlich zeigen, und sie hat sich indessen an dem schönen Bild ergözt, und halb gesättigt.« Er urtheilte ferner, daß Miß Kery von diesem Entwurf eher abgehen würde, als sie von Gallens Denkmal zurück wäre, weil dieses vielmehr auf sie träfe, weil eine edle Seele immer eher einen Wunsch, der sie angeht, aufopfert, als das Verlangen, welches für das Wohl eines andern in ihr liegt.

Mis Kery heftete sich nun mehr an Sophie als vorher. Aber sie gieng nun auch beynah alle Tage in Rosehills Zimmer, wo die Bildnisse ihrer Eltern waren, und sog gleichsam an dem Bild ihres Vaters neues Verlangen nach ihm, und nach ihrem gedachten Altar ein. Herr Watson mußte einmal mit ihr zu diesem Bild, und sagen, welche Züge ihr Vater wohl noch so ganz kennbar mit zurückbringen würde; denn, daß seine Gesichtsfarbe braun seyn werde, sagte sie selbst. Herr Watson sagte ihr darüber alles, was muthmaßlich dreyzehn Jahre vermehrtes Alter, die Beschwerden der Seereisen, vielleicht auch Reisen zu Land in diesem Welttheil würken konnten. Wenige Tage nachher traf es sich, [87] daß etwas in Ovids Elegien gelesen wurde, und gerad die Stelle vorkam, wo der Dichter die Beschreibung eines Schifs, und die Sorgen des Untergangs in einem Sturm malt. Herr Watson hatte es erst vorgelesen, und Mis Kery war so durchdrungen, daß der Gedanke, ihr Vater sey auf dem Meer umgekommen, sie nicht mehr verließ: sie wollte auch den Altar nicht mehr haben, sondern sagte zu Sophie:


Jetzo, Liebe! kannst du mich zu dem Denkmal deines Vaters mitnehmen. Ich bin eben so unglücklich als du.

Sie nahmen ihre Lauten mit, und Sophie mußte nach ihrer vorzüglichen Kenntniß in der Musik auf der Laute einen Gang finden, wozu Ovids Verse über den Schifbruch gesungen werden konnten. Sophie jammerte bey Herrn Watson darüber, daß sie an einem der schönsten Tage diese traurige Stimmung in Mis Kery unterhalten müsse: Er sagte ihr eben so gerührt, aber ruhiger:


Gehen Sie immer mit hin, liebe Tochter! es wird aufhören, und gewiß kommen eben so glänzende Freudentage für Sie beyde. Lassen Sie Mis Kery alles sagen, alles thun, was in ihrem Herzen liegt. Nur singen Sie auch, wenn heut die Idee von Ovids Klaglied wieder [88] mitgehen sollte, die Verse der Landung etwas munter nach, und sehen, was sie würken!

Sophie folgte Herrn Watsons Rath. Mis Kery horchte ihr zu, lächelte:


Ach Sophie! Landung – ja, was nüzt es mich, daß mein Vater in Indien landete, wie er uns schrieb? – mich dünkt, in Engelland landet er nimmer.


Liebe Kery! von den Todten ist wohl keine Wiederkehr. Aber so lange Gott den Körper und Seele vereinigt läßt, so muß Hofnung auf jedes Vergnügen beybehalten werden. Halten Sie Ihre Hofnungen wachsend und zunehmend, wie es die schöne Anlage des Parks vor uns ist.

Sophie zeigte ihr dann die schöne Aussicht, die man von den Stufen von Gallens Denkmal, auf denen sie sassen, von zwey Seiten hatte. Kery sah hin und sagte:


Ich fühle wohl, daß es schön ist – dieses abwechselnde Grün, und die Blüthe der mannigfaltigen Stauden und Bäume. – Ich sehe mit Theilnehmung die erneute Freude in der ganzen Natur. Aber bald, meine Sophie! geht es in meiner Seele, wie in der Seele des [89] guten Amerikaners, der über den Verlust seines Sohnes die Sonne und das Grüne der Felder nicht mehr achtete. Die innere Trauer um meinen Vater sagte mir schon oft, wenn ich den Park ansahe: – »diese von ihm so sorgsam gepflanzte Bäume blühen nicht für ihn«, und wenn ich dieses denke, so verliehren die Blumen ihre Schönheit, und alle Anmuth des Gartens dünkt mich nichts, als die Verzierung seines Grabs zu seyn.

In dem nemlichen Augenblick hörten sie hinter der Pyramide gehen, und deutlich – Liebe Kery! ausrufen. Herr Watson kam mit drey Fremden hervor, wovon einer die Arme ausstreckte, und mit der nämlichen Stimme – Kery! rief. Die Mädchen waren gleich bey dem Geräusch aufgestanden. Mis Kery schaute schreckhaft nach dem Fremden hin, warf sogleich ihre Laute weg, und sank auf ihre Knie. – »Mein Vater! Er war es« – Herr Watson hatte ihn hingeführt, damit er die Liebe seiner Tochter sehen möge. Herr Kery warf sich zu ihr, umfaßte sie. Sophie gab ihr Geist zu riechen. Sie erholte sich, und hing dann sprachloß an seinem Hals. Sophie, Watson, und die zwey Fremde hatten Thränen in den Augen. Mis Kery bemerkte einen Blick, den Sophie auf die Pyramide [90] heftete, und die von Natur höchst edle Seele von Mis Kery fühlte diesen Blick. Sie reichte mit einem Arm nach ihr: –


O Sophie! vergieb dem Schicksal, daß ich meinen Vater bey dem Denkmal des deinigen wieder finde. – Komm! – Er soll auch dein Vater seyn.


Theure Mis Sophie! sagte Herr Kery, da er ihre Hand nahm, welche seine Tochter ihm darbot – ich will alles für Sie seyn, was ich kann!


O mein Vater! ohne Mis Gallen verdiente ich nicht Ihr Kind zu seyn.

Mit unaussprechlichem Ausdruck bey Erhebung ihres Kopfs fuhr sie fort mit gefaltenen Händen zu sagen: –


Ewiger Vater! ewigen Dank für –

Sie konnte nicht ausreden, sondern umfaßte den Arm des Herrn Kery mit einem Gefühl, das man in ihrer ganzen Stellung laß. Endlich weinte sie, und wurde ruhiger, um Fragen zu machen, und zu beantworten. Ihre Laute war auf dem Stein in Stücke zerfallen. Sie sah bey dem Weggehen darauf, und sagte lächelnd:


Es ist recht – du sollt nicht mehr tönen – Trauerlaute!

Sie küßte auch Watsons Hände:


[91] O Vater Watson! was Glück haben Sie mir gegeben! – Sie – Sie haben mein Leben für diese selige Stunde erhalten.

Bald darauf ertönte ganz Rosehill von der Freude der Einwohner, über die Wiederkunft des Herrn Kery. Alle Pächter, Weiber und Kinder liefen zu. Alle Gänge des Parks wimmelten von alten und jungen Leuten. Alle hatten ihre Arbeit und ihre Häuser verlassen, und liefen mit der Frage: – wo – wo ist er? – Segen, Freudenthränen, Willkommrufen – Glück für Mis Kery, die an ihres Vaters Hand gieng, alles das war ein Schauspiel für Engel.


O Menschen, die ihr Herrn über andre Menschen seyd! – Ach! liebt eure Gewalt und euren Reichthum um des Wohlthuns willen, – um der Liebe willen, die der gemeine Mann so gern giebt, wenn er Güte sieht!

Herr Kery hatte bey seiner Abreise seinen Pächtern zu einem Andenken von ihm ein halbes Pachtjahr geschenkt, nachdem er immer sehr liebreich mit ihnen umgegangen war. Sie bekamen wieder das nemliche Geschenk bey der Ankunft. Sie sagten aber alle, »sie würden gerne die Abgaben zahlen, wenn er nur jetzo da bliebe.«

Frau Sarah war in Rosehill, und hatte schon angeordnet, wo die zwey Fremde wohnen sollten. [92] Auch hatte sie das Abendessen besorgt. Herr Kery fragte seine Tochter, wie sie ihn denn gleich erkannt habe:


Ach! weil Sie das Kleid von Ihrem Bild, und die ganze Stellung davon hatten, und weil Herr Watson mir vor acht Tagen alles von Ihren veränderten Zügen so deutlich vorsagte.

Herr Kery umarmte sie, und erzählte nun, daß er denselben Nachmittag schon in Rosehill gewesen sey, und alles gehört habe:


O mein Vater! das sind ja schon so viele Tage – wie konnten Sie mich noch seufzen lassen?


Ich mußte meine zwey liebe Pflegsöhne abholen, und war mit der Freude zufrieden, dich vorbereiten zu lassen. Vater Watson und seine Tochter Sophie haben es gut gemacht, obschon Sophie nichts wußte. – Ich hatte in London von einem Bedienten meiner Schwester, der mich nicht kannte, gehört, daß du in Rosehill geblieben, weil dich die Blattern so häßlich gemacht hätten. – Das schmerzte mich sehr – (sagte er einen von den zwey Fremden ansehend) denn meine kleine Kery war ein so schönes Mädchen, als ich abreißt.

Mis Kery erröthete, und schien verlegen, aber ihr Vater fuhr fort: –


[93] Sey zufrieden, Liebe! du bist mir das schönste Geschöpf, und hier mein Sohn Reland sagte mir, daß du mit Anmuth übergossen seyest.

Der junge Mann bückte sich mit dem edelsten Anstand gegen Mis Kery, die bescheiden ihre Augen niederschlug, und von ihrem Vater herzlich umarmt wurde.

Sie verschwazten mit unterbrochenen Fragen und Erzählungen die halbe Nacht, bis Herr Kery sagte: »Ich hoffe, meine Lieben! noch Jahre lang von meinen Reisen zu sprechen. – Ich will nun schlafen, und Morgen früh meines Watsons Tagbuch auslesen, damit ich meine Anna und ihre Freundin Sophie ganz kennen möge.« Die zwey Fremde begleiteten die Frauenzimmer nach Hause, die sich dann vieles zu sagen hatten von der Rückkunft des Herrn Kery, und von den zwey Fremden, die sie sehr artig fanden, ob sie schon nicht auf Europäischen Boden gewachsen wären.

Herr Kery kam mit ihnen zu frühstücken, und umarmte beyde mit gleicher Zärtlichkeit, indem er sagte: »Nun weiß ich und meine Söhne alles, was seit meiner Abreise hier vorgieng. Ihr habt beyde viel gelitten, und viel schönes gethan. Kery! dein Herz sagt dir selbst, wie viel du Mis Sophie schuldig bist. Ich möchte wohl, daß sie meine zweyte [94] Tochter würde.« – Mis Kery faßte gleich Sophien bey der Hand:


Komm! knie dich mit mir zu unserm Vater! – Laß dich von ihm segnen! – Sey gern meine Schwester, wie du meine Freundin warest!

Herr Kery segnete beyde herzlich, und nach dem Frühstück erzählte er ihnen, Herrn Watson und Frau Sarah einen Auszug seiner Begebenheiten in Indien, besonders aber von der Freundschaft, welche er von den Eltern der zwey jungen Relande genossen hätte: »Wenn meine Briefe alle richtig eingekommen wären, so müßte euch diese Familie schon bekannt seyn. Ich habe dem redlichen Vater dieser zwey vortreflichen Jünglinge alle das große Glück zu danken, das ich mitgebracht habe. Er sorgte als Bruder für mich, und dem Himmel sey Dank! daß ich es ihm noch vergelten konnte.«

Herr Kery sagte dieses mit einer Rührung, die alle um so aufmerksamer machte, und er fuhr fort:


Mich freut, meine Anna! daß du so ganz meine Tochter bist, daß alles so fest in dir haftet, wie in mir. Doch mein Kind! ist es Glück, daß dieses Festhalten auf lauter Gutes verwendet wurde, sonst könnten wir die Qual der besten Menschen geworden seyn. Die Trauer um deine Mutter riß mich aus meinem [95] Vaterland. Ich mußte ein großes Gegengewicht haben, um den Schmerz zu überwiegen, den ich fühlte. Die Mühseligkeit und Gefahr der Seereise schien mir kaum so viel Stärke zu haben, als die Empfindungen, welche in meiner Seele waren. Aber endlich drangen so viel neue Gegenstände um mich, daß mein Geist erweckt wurde, und ich wollte nun das Land und die Leute nach meiner Art kennen lernen. Reland bot mir die Hände zu allem, was ich thun wollte, und gab mir zugleich jede Süßigkeit der Freundschaft zu geniessen. Vor fünf Jahren machte ich eine große Reise in das Innere des Lands, nachdem ich zwey von ihren Sprachen vollkommen gelernt hatte. Ich blieb beynah zwey Jahre aus, und war in meinen Bemerkungen und meinem Handel für mich und Herrn Reland sehr glück lich, freute mich ohnendlich, als ich sein Haus wieder erblickte. – Aber – wie erschrack ich, ihn und seine Frau elend aussehend, und in voller Verzweiflung zu finden. Vier Sklaven hatten ihre beyde Söhne entführt, und sie wußten seit einigen Monaten nicht, wo ihre liebe Kinder waren. Mein Herz zerriß auch um die Eltern und die holde gute Knaben. [96] Ich wußte nichts als Thränen zu geben, aber der Entschluß folgte gleich nach: »Ich will eure Söhne suchen. – Wir müssen doch wissen, ob sie todt oder lebend sind. Sie wollten es nicht zugeben, ob es sie schon freute.« Da gieng ich Nachts mit sechs der treuesten Leute fort, brauchte aber noch einige Monate, bis ich sie fand, und loskaufte. Sie waren von dem einen Bösewicht sehr mißhandelt, und noch dazu voneinander getrennt worden. Und kaum erkannte ich noch die Gestalt der Söhne meines Freunds, weil sie nur als Gerippe mit Narben bedeckt in meine Arme kamen. Richard der ältere hatte am meisten gelitten, weil er dem grausamsten der Entführer zu Theil geworden. Er wurde auf einer Matte zu mir getragen, denn er hatte den Morgen noch unmenschliche Schläge erhalten. O was litte ich bey dem Anblick der noch träufelnden Wunden des guten Jünglings, der sich kaum bewegen, kaum sprechen konnte, und nur mit einem sterbenden Aug seine staunende Freude und Hofnung ausdrückte, als ich zu ihm auf die Erde kniete, ihn küßte, und über ihn weinte. [97] Sein Bruder warf sich neben ihn, und schluchzend sagte, Richard! wir sind frey!

Mis Kery und Sophie weinten bey dieser Erzählung, und küßten die Hände ihres Vaters. – O Gott! segne Sie ewig! sagte Sophie, edler, wahrer Freund! –

Herr Kery, der zwischen seinen Töchtern saß, lächelte sanft auf beyde, und küßte sie:


Ich ließ, fuhr er fort – den armen Richard durch meinen Bedienten verbinden, und bat Gott, ihn zu erhalten, denn er war äusserst schwach und entkräftet. Der Vorgesetzte der Maratten, so bey der Verhandlung war, bot mir eine Strafe gegen den grausamen Sklaven an. Ich verwarf es, nachdem ich Richarden gefragt hatte, ob er sich zu rächen wünsche? Er sah gen Himmel, und sagte: »Nein – nein – aber fort – in Sicherheit, bey meinem Vater sterben.«


Armer, guter Jüngling! – sagte Sophie.

Herr Kery drückte ihre Hand mit einem bedeutenden Blick auf sie, und endigte seine Erzählung:


Ich gab meine Geschenke, und erhielt meine junge Freunde, die ich tragen ließ, und mit meinen Leuten abwechselte, als die acht Maratten den zweyten Tag von uns giengen, [98] die der Vorgesetzte mir als Träger mitgegeben hatte. In der Nacht kam ein schöner junger Mann von ihnen zu uns, und rief nach John Reland, der schlief, aber geweckt wurde, und den Maratten umarmte, der ihn auf den Knien bat, ihn mitzunehmen, und mit ihm zu thun, was er wollte. John bat mich, es zu thun. Denn dieser Jüngling habe Sorge für ihn getragen, und ihn, nachdem er das viertemal grausam geschlagen wurde, loßgebeten, mit zerkauten Kräutern bedeckt, geheilt, und geschützt. Er kam mit, und wurde gut belohnt. Ihr werdet ihn sehen, denn er ist Johns Bedienter.


O das freut mich! sagte Mis Kery.


Denke dir, meine Tochter! die Freude der Eltern, und den Segen, den sie auf ihren Knien über mich ausschütteten, und lasse dir es lieb seyn, daß dein Vater diesen Segen erwarb.

Mis Kery kniete sich, küßte seine Hände, und versicherte, daß sie sich glücklicher achtete, seine Tochter zu seyn, als die eines Fürsten.

Herr Watson freute sich, daß Gott des Herrn Kery Bemühung gesegnet habe, und Frau Sarah sagte: Sie wundere sich jetzo nicht über die Liebe, [99] welche die zwey junge Männer für Herrn Kery hätten. Er wäre wohl mehr als Vater für sie gewesen. – Herr Kery erwiederte:


Ach! ich wurde es nur zu bald. Die Mutter hatte sich so sehr gegrämt, daß die Freude, über das Wiedersehen ihrer Söhne nicht mehr hinreichte, ihre Gesundheit wieder herzustellen. Sie beschwor ihren Mann und mich, daß wir nach Europa zurück sollten, und ihre Kinder in England festsetzen möchten. Die Söhne mußten ihr versprechen, Indien nie wieder zu betretten. Mein Freund war es auch zufrieden, und wir machten alle Anstalten, uns und unser Vermögen glücklich überzubringen. Aber es verzog sich bis jetzo, weil Herr Reland bald krank bald gesund war, und endlich auf der Reise, die er ohne anders antretten wollte, starb, da er mich zum Vater und Vormund seiner Söhne machte. Ich erzählte ihnen unterwegs, daß ich hofte, ihnen in meiner einzigen Tochter eine liebenswerthe Schwester zu zeigen, ja, daß ich wünschte, zwey recht gute Töchter zu haben, die sie lieben könnten, so würde ich sie beyde recht gerne noch näher mit meinem Herzen verbinden.

[100] Beyde Mägdchen errötheten hier, weil Herr Kery auf beyde blickte, aber fortsprach:


Richard sagte nichts, aber John wollte, daß ich ihm von meiner kleinen Anna erzähle. Ich that es als Vater. Er hörte mit Vergnügen zu, und zählte nach, wie alt meine Kery nun seyn müßte, – er wolle mich an mein Versprechen erinnern, wenn wir in England seyn würden. Denn gewiß werde Mis Kery liebenswürdig seyn, und er würde sich bemühen, ihr zu gefallen, um ganz mein Sohn zu werden. Er sah darüber seinen Bruder ernsthaft an, und sagte ihm: »Richard! wenn du sie liebst, wenn du von ihr geliebt wirst, so mußt du der Glückliche seyn.« – Aber mein Richard wieß ihm die zwey starke Narben über seiner Stirne. – Ein artiges Mägdchen, sagte er mit trauriger Stimme, wird einem verunstalteten Gesicht nicht viele Achtung gönnen.« – John erwiederte gleich: »Ja, wenn sie keinen Verstand hat.« So vergiengen die letzten Tage meiner Ueberfarth, und eh wir aus dem Schiff stiegen, begehrten beyde Brüder noch allein mit mir zu reden. Jeder faßte eine meiner Hände, und kniete sich. – Richard sagte: »Vater Kery! eh wie unser [101] neues Vaterland betretten, nehmen Sie noch unsern Dank für alles, was Sie für uns gethan haben! – Segnen Sie uns, und versprechen, unser Vater und Führer zu bleiben, und uns nie von sich zu entfernen!« Ich war sehr gerührt, und umarmte beyde, indem ich ihnen bey Gott schwur, in allen Fällen ihr treuer redlicher Pflegvater zu seyn.

Sie verdienen es, – sagte Sophie – die zwey gute Leute. Ich danke Gott, daß sie auf Englischen Boden, und bey Vater Kery sind. Er lächelte zufrieden nach Sophie hin:


Ich bekenne, liebe Anna! daß ich in dem Augenblick, wo Richard sprach, herzlich wünschte, daß einer von den zwey Brüdern durch dich mein Sohn werden möchte. Denke aber, wie ich erschrack, als mir in ihrer Gegenwart von deinen verstellten Zügen gesprochen wurde. Ich war mein ganzes Leben der beste Bruder. Nun fühlte ich Haß gegen Frau Brade, und eilte hieher, wo Gott meiner Anna in Watson und Sophie mehr gab, als Frau Brade und ich nie hätten seyn können!«

Er endigte, und umarmte Herrn Watson und Frau Sarah mit Dank.


[102] »Wir wollen jetzo, meine Freunde! unsere übrige Tage miteinander geniessen.«

Die zwey junge Frauenzimmer standen mit so viel Ausdruck eines gerührten Herzen neben ihm, daß er diesen Augenblick benützte, ihnen zu sagen: –


Meine würdige, edle Mägdchen! es freute mich, während meiner Erzählung zu bemerken, daß meine Söhne Reland euren Herzen theuer geworden sind. Ihr wißt, daß ich mir zwey Töchter wünschte, um das Glück dieser Söhne zu machen. – Anna! mein John wurde von deinem Anblick und von dem, was er in Watsons Tagbuch laß, ganz für dich eingenommen, wie es Richard für Sophie ist. Edlere Männer werdet ihr nie sehen. – Doch, meine Kinder! sollt ihr frey seyn. – Laßt nur meine theure Söhne mit euch reden, und hört sie selbst.

Nun gieng er mit Watson nach seinem Haus, und die zwey Mägdchen sahen sich an. Mis Kery redete zuerst:


Sophie! warum bist du so nachdenkend? möchtest du, daß John dich liebte? –


Nein, meine Liebe! nein – Richards Freundschaft ist mir theurer, als mir Johns Liebe nie seyn würde. – Bedenke aber, wie jäh [103] alles auf mich stürmt, ob es schon lauter Gutes ist – einen edlen Vater, einen würdigen, theuren jungen Mann zum Gemal, in einem Tag, und dieß durch meine Kery, die nun meine doppelte Schwester wird.

Sie umarmten sich, und sagten dann ihre Gesinnung der Frau Sarah, daß sie weder ihren guten Vater, noch seine Söhne lang auf ihre Entschliessung warten lassen wollten, sondern sie würden es freymüthig sagen, daß es sie freuen werde, die gute Brüder alles Weh vergessen zu machen. Frau Sarah lobte sie deswegen, und Herr Kery hatte ein großes Vergnügen, als die zwey Mägdchen Hand in Hand zu ihm kamen, und sagten:


Lieber Vater! bestimmen Sie, was wir thun sollen. – Ihre Söhne sind uns beyden sehr lieb, und wir wollen vereinigt den besten Vater unser ganzes Leben lieben und ehren.

Er dankte ihnen herzlich, verbot aber, daß sie noch nichts davon zeigen sollten. Nur, da man zu dem Essen in den Saal wollte, sagte er zu den Brüdern:


Da, meine Söhne! – sucht euch diesen liebenswerthen Schwestern angenehm zu machen.

Aber sein Aug und seine Stimme war so bewegt, daß die junge Leute fühlten, ihr Glück sey sicher, und daß sie also mit vieler Freudigkeit zu Tisch [104] giengen. Nach dem Essen besuchten sie Gallens Denkmal. Richard blickte auf Sophien, und küßte den Namen ihres Vaters und den ihrigen. Herr Kery sagte: »Anna! ich werde deinen Altar bauen lassen, und er soll der Liebe geweiht werden.« Einige Wochen nachher stattete er seine Anna und Sophie als seine Töchter aus. Sir John mußte den Namen Kery annehmen, – und Herr Richard behielt den von Reland. Dieser kaufte ein Stück Land in der Nachbarschaft, baute sich ein schönes Haus, und nahm noch mehr Pächter an. Denn er wollte nur Feldbau und Viehzucht haben. Aber der artige Hügel ohnweit seinem Haus wurde angelegt, und dieses, um das Denkmal, welches er Herrn Kery errichtete, mit schönen Spaziergängen zu umgeben. Es stund auf der Höhe, in Gestalt des Tempels der Minerva; aber anstatt der Göttin war das Brustbild des Herrn Kery aus schönem Marmor auf einem erhöhten Altar. Eine Hand aus herrlich gearbeiteten Wolken hält den Sternenkranz über ihn: auf dem Altar steht: »Nur der Ewige kann dich lohnen.« Auf beyden Seiten sind vier Tafeln in halberhobener Arbeit, wo in einer Sklaven gebildet sind, die mit wilder Geberde zwey Knaben nach einem Gebürge schleppen; in der zweyten eine traurende Frau und Mann, die [105] einen andern bey der Hand halten, und ihm die Gebürge weisen, auf der dritten der nemliche Mann, unter einem Haufen Wilden, denen er Geschenke giebt, und sie ihm die Knaben; auf der vierten das Gebürg in der Ferne, und der Mann, der den Eltern die Jünglinge zuführt: – überall eine simple Unterschrift, und über dem Eingang des Tempels: – »dem edlen Kery geweiht.« Von den Marmorbänken, die auf beyden Seiten dieses Tempels stehen, übersieht man eine große von Reland angebaute Strecke Lands, seine zwey Pachthöfe, und einen Flügel von Rosehill, den Herr Kery bewohnet. Er wurde gebetten, nicht zu dem Bau zu gehen, bis er geendigt seyn werde. Aber alsdann gab Reland ein Fest, und Herrn Kery bey der Hand fassend, sagte er: »nach sechs Jahren, die als Tage verflossen – was für eine glückliche Stunde! da ich an der Hand meines Erretters und Wohlthäters fruchtbare Gefilde voller Wohlthaten der Natur übersehe!« Als sie aber gegen den Tempel kamen, ertönte eine vortrefliche Musik, und verschiedene Kinder von den Pächtern des Herrn Reland, niedlich gekleidet, mit Blumen bekränzt, und schönen Körbchen voll Blumen, hüpften zwischen den Rosenhecken hervor, und streuten mit lieblicher Freude der Unschuld Blumen auf den Weg des [106] Herrn Kery. Je näher dieser zum Tempel kam, je sanfter wurde die Musik, und endlich hörte man nur eine süß tönende Flöte, und das Spiel von zwey Lauten. – Anna Kery und Sophie waren in dem Tempel als Priesterinnen gekleidet; – Sophie in einem weißseidenen Gewand, einen blaßgelben Schleyer von Flor halb zurückgeschlagen, und bis auf die Erde hängend, eine Krone von Rosen auf dem Kopf, ihr Kleid mit einem gelben Gürtel gebunden, mit ihrer völlig von Gold und Silberstreifen schimmernde Laute stand an dem Altar – Anna Kery in feinem roth, einen weisen Schleyer, und wie Sophie mit Rosen bekränzt, kniete auf einer Stufe des Altars auch mit ihrer Laute. Ihre zwey Knaben und Sophiens kleine Anna mit ihrem Bruder, in den Farben der Mütter gekleidet, eilten mit Händen voll Blumen Herrn Kery entgegen. – Sophie sang: »Vater! nur der Ewige kann dich belohnen.« – Dann fiel ein Chor viel schöner Stimmen ein, und wiederholte abändernd:


Ja, nur der Ewige kann Kerys Tugend lohnen,
Die er in entfernten Zonen
Als ein Menschenfreund geübt.
Beyde Brüder sangen dann, neben ihn trettend, ein jeder eine Hand von ihm fassend –
[107]
Edler! der für unser Leben
Gold und Ruhe hingegeben. –
Nimm was unser Dank dir giebt.
Der Chor sang wieder:
Allen Söhnen wahrer Britten,
In Pallästen und in Hütten
Soll der Tempel heilig seyn,
Den wir Kerys Tugend weihn.

Welche Feder sollte die Gefühle beschreiben, die des edlen Kery Seele durchdrang? – und wer soll erzählen, was für eine Empfindung von Wahrheit und Schönheit der Tugend allen Zuschauern eine heilige Ehrfurcht einflößte? – Nicht ein Auge blieb ohne Thräne der Rührung, als Herr Kery seine Arme ausbreitete, und seine theuer erworbene geliebte Söhne an seine Brust drückte, und die edle junge Männer sich an ihn schmiegten. O! wie verschönerte das sympathetische Gefühl der Tugend jedes Menschengesicht? – Denn es war nicht eines von allen, in welchem nicht die Züge eines zur Seligkeit geschaffenen Wesens hervorglänzten. Alle wurden bewirthet, allen die Geschichte der Marmortafeln erklärt, und Abends baten auch alle um Erlaubniß, eine Blume von [108] den Gewinden der Säulen und des Altars zum Andenken mitzunehmen. Herr Watson sagte:

Nehmt sie, meine Kinder! aber nehmt auch das Andenken des Bilds der Menschenliebe mit, die ihr hier sahet!

[109]

Herrn von Wohlheims Geschichte, bey einem Besuch erzählt von Frau B.. an Frau L..

Hier, meine Freundin! unter dem Schatten dieser letzten Reihe von Bäumen, mit welchen einer der edelsten Menschen seine Felder umpflanzte, wo wir das Haus sehen, worinn er seine kummervolle Jugend zubrachte, und da wir auch den ganzen Bezirk vor uns haben, in welchem er als Mann so viele Weisheit und Güte zeigte – da will ich Ihnen seine Geschichte erzählen, so wie ich sie von einem würdigen Zeugen seines Lebens hörte.

Diese Anhöhe an unserm Neckar war auch ein Lieblingsspaziergang des Herrn von Wohlheim; da war er des Abends nach heissen Sommertagen in der kleinen Bucht, welche die Krümmung des Flusses hervorbringt, und gab seinen Söhnen die Freude, sich mit ihm, oder doch unter seinen Augen zu baden, so daß sie auch darinn, wie in allem andern, ihren Vater zum Fürbild und zur Gesellschaft hatten, wodurch die vier junge [110] Wohlheime einen unendlichen Vortheil genossen. Denn der edle Anstand, welcher alle Leibesübungen, den Gang, Bezeugen und Sprache des Herrn von Wohlheim begleitete, gab auch seinen Söhnen unvermerkt das feine natürliche Wesen, das immer ein Unterscheidungszeichen von guter Geburt und Erziehung ist.

Herr von Wohlheim war der zweyte Sohn einer alten, aber durch viele Güterabtheilung etwas herunter gekommenen Familie. Sein Vater war ein schöner, aber dabey sehr harter Mann, der den Aufwand liebte, an dem Mark seiner Unterthanen saugte, und gegen seine liebenswürdige Gemahlin rauh und heftig war, weil sie ihm zu viel Kinder gab, und zu gut mit den Leuten umgieng. Er freute sich würklich, als sie kurz nach der Niederkunft mit Zwillingen starb, und die beyde Kinder ihr folgten, indem die arme Geschöpfe dabey noch Mädchen waren.

Es blieben ihm doch drey Söhne, davon der älteste schön, stolz, und eben so rauher Gemüthsart, wie der Vater, war. Er durfte als Stammherr seinen Brüdern, den Bedienten und Bauern tückisch und bösartig begegnen, so gar gegen seine Frau Mutter Grobheiten begehen.

[111] Der zweyte, Junker Karl, hatte hingegen viele Aehnlichkeit mit seiner Frau Mutter – edles sanftes Wesen, Mitleiden, Güte. Er hatte von dem ältern Bruder unsäglich viel zu leiden, aber seine Mutter und der Pfarrer trösteten ihn, und thaten ihm gutes, so viel sie konnten. Er erhielte, da man ihn zum Soldaten bestimmte, keinen andern Unterricht, als den von dem Dorfschulmeister und dem Pfarrer. Der erste lehrte ihn teutsch lesen und schreiben, neben etwas rechnen und Violin spielen: – der andre aber Religion, Latein, die Geschichte der Völker und Natur, nebst den Anfangsgründen der Mathematik und Philosophie. Karl, der mit einem herrlichen Geist und Herzen begabt war, machte sich alles eigen, was man ihn lehrte. Er war von edlem Wuchs, voll edler Ruhe der Seele, und einer immer gleichen, etwas melancholischen Stimmung des Gemüths, die durch den Tod und das Abschiednehmen seiner Frau Mutter noch bestärkt wurde. Denn sie hatte ihre letzte Kräfte noch gesammelt, um mit ihrem geliebten Karl einige Worte zu sprechen, und ihn zu standhafter Ertragung aller widrigen Zufälle des Lebens zu ermahnen, und ihn zu bitten, immer auf dem Weg der wahren Ehre und Güte zu bleiben. Sie dankte ihm zärtlich für alle Freude,[112] die er ihr von der ersten Kindheit an gegeben habe, segnete, umarmte und empfahl ihn dem anwesenden Pfarrer zu fernerm Unterricht und Trost, bat auch besonders ihren Karl, seinem kleinen Bruder Georg zum Beispiel eines edlen und tugendhaften Jünglings zu dienen, ihn zu lieben, und sich einst um ihn anzunehmen. Karl der damals vierzehn Jahr alt war, hob den kleinen dreyjährigen Georg auf seinen Armen zu der segnenden Hand seiner Mutter, und gelobte ihr mit heiligem Eifer, alles getreu zu erfüllen, was sie von ihm wünschte. Sie gab ihm auch den Auftrag, ihrem Gemal Lebewohl zu sagen, denn er war abwesend, als sie starb. Der gute Baron Karl war untröstlich, und meistens immer um den Pfarrer, ob er schon diese Stunden, ja sein fleißiges Studieren, sein Stilleseyn, und das Weinen in der Stube seiner Frau Mutter, mit Spott, mit Vorwürfen, und den mindesten Fehler oder eine Antwort, die seinem Bruder misfiel, so gar mit Schlägen und dem Einsperren in ein Gewölbe büssen mußte. Er lernte bis nach seinem sechszehnten Jahre alles, was ihm der wackere Pfarrer als nüzlich und gut empfahl. Dieser lehnte überall Bücher zusammen, um die Wißbegierde seines Zöglings zu befriedigen, ihn dadurch auf dem Weg der Rechtschaffenheit zu erhalten, und auch mit einer Schuzwehr [113] gegen die lange Weile, und den Müßiggang zu bewafnen, indem die Verführer der Sitten nur in diesen zwey Fällen die grosse Gewalt über junge unerfahrne Herzen erlangten.

Mit diesen Neigungen und Anbau des Geists kam Karl von Wohlheim zu einem Regiment, sezte da in jeder Gelegenheit seine Studien fort, und befliß sich auch auf den Dienst, so daß er einer der geschiktesten Officiers wurde. Der kleine Georg aber kame zu einer Tante, die ihn erziehen wollte. Einige Jahre darauf starb der alte Herr von Wohlheim, und sein ältester Sohn bekam nun die Güter. Er wirthschaftete aber mit seiner Gesundheit und seinem Vermögen so übel, daß er viele Schulden machte: aber da er ohnvermält ge blieben, so hatte doch keine Frau dabey zu leiden. – Junker Karl stieg indessen zu einer Hauptmannsstelle, und hatte eine höchst liebenswerthe Dame zu seiner Gemalin. Die Geschichte seiner Heurath macht der ganzen Menschheit Ehre, und verdient erzählt zu werden.

Er lag mit seinem Regiment in Schlesien nah bey den Gütern des Herrn von Freyhof, der ihn nebst den andern Officieren mehrmal zum Essen bat. Herr von Wohlheim konnte das Fräulein Emilie von Freyhofen nicht oft sehen, ohne sie zu lieben. Aber nie sagte sein Mund: – ich liebe Sie. – Er [114] war nur Lieutenant, und ohne Vermögen – warum sollte er eine junge Dame zu bestricken suchen? seine Liebe war zu fein und zu edelmüthig. Aber Fräulein Emilie, welche nur drey Jahr jünger als er war, bemerkte bald seine Liebe, seinen Geist, Gestalt und Sitten – mit vielem Vorzug in ihrem Herzen. Aber sie kannte auch ihren Vater zu gut, um sich das mindeste merken zu lassen, weil er sogleich dem Herrn von Wohlheim das Haus verbotten, und sie also die Freude verlohten hätte, ihn zu sehen, und seine Liebe für sie zu nähren, wobey Herr von Wohlheim auch den Vortheil verscherzt haben würde, den er nach Aussage ein paar älterer Officiere von dem öftern Speisen in Freyhof zöge, weil er beynah nichts von Haus bekäme, und doch immer in seinem Leben und Kleidung als Edelmann erscheinen wolle. – Dieß gefiel dem Herrn von Freyhof, der ihn nun öfter einladen ließ, besonders auch, weil ihm die Kälte und Gelassenheit des jungen Manns erfreute, da ihn Fräulein Emilia einmal, da er weg gegangen, einen Eiskloz nannte. Aber ihr Herr Vater nahm sich Wohlheims an und sagte: – sie würde wohl lieber einen freyen tändlenden Gecken um sich haben, der ihr die Hände küssen, und mit ihrem Vogel spielen sollte. Wohlheim sey ein vernünftiger rechtschaffener Kavalier, der Ehre im Leib hätte, [115] und die Tochter eines guten Hauses nicht zu einer vorübergehenden Buhlschaft reitzen wolle, da er sich vorstellen könne, daß Emilie Freyhofen nicht für ein Lieutenantchen gebohren sey. –


Da thut er ganz recht – sagte das Fräulein: ich hätte so nur meinen Scherz mit ihm getrieben, weil er so sehr ernsthaft und gescheid seyn will. –


Pfui, Emilie! pfui – es ist eben so niederträchtig von einem Frauenzimmer, wenn sie einen braven Jungen zu ihrem Possenspiel macht, als es schlecht ist, wenn Mannspersonen ein gutes Mädchen zu ihrem Zeitvertreib elend machen: – und eine junge Dame sollte keine Kokettenstreiche in sich haben, wenn ein junger Kavalier als wahrer Edelmann an ihr und an ihrem Vater handelt.

Das war dem Fräulein Deutung genug, um versichert zu seyn, daß ihr Vater wahre Hochachtung für Wohlheim hegte. Sie baute entfernte Hofnungen darauf, beobachtete sich aber so genau, daß keine Seele das geringste von ihrer Neigung entdecken konnte. Ihre Frau Mutter war vor kurzer Zeit gestorben, und ihr einziger Bruder mit einem Herrn von Hochwald auf Reisen.

Sie war eine schöne Brunette, hatte Geist, Anmuth und einen eigenen starken Charakter. Man [116] wußte, daß sie Vermögen von ihrer Frau Mutter geerbt, und nach der Liebe ihres Vaters für sie müßte auch ihre Ausstattung reich seyn. Es bewarben sich also immer entfernte und benachbarte Edelleute um ihre Hand.

Herr von Wohlheim hatte so viel Vertrauen bey Freyhofen erhalten, daß er ihm von allem sprach, die Briefe seines vortreflichen Sohnes wieß, und ihn aufmunterte, die Landwirthschaft zu studieren, wie sie bey ihm geführt würde. – Wohlheim gieng in alles ein, was Emiliens Vater von ihm verlangte, wurde aber in seiner Aufführung um so vorsichtiger, als ihn Herr von Freyhof einmal wegen seines wahrhaft adelichen Betragens gegen Fräulein Emilie lobte, und hinzu sezte, »daß er ihn scharf beobachtet hätte, und ihm besonders wegen dieses Punkts sein Vertrauen geschenkt habe«: –


Denn ich liebe meine Tochter, wie meine Ehre. Die geringste Beleidigung dieser zwey Gegenstände entzündet in mir einen tödtlichen Haß, und ich will ohnehin meine Tochter einem Kavalier in der Nähe geben, weil ich so an sie gewöhnt bin, daß es mir ohnmöglich ist, sie weit von mir zu lassen. – Ich kann sie auch nicht reich machen, ohne meinem Sohn und meinem Namen zu schaden, [117] und es würde mir unerträglich seyn, wenn meine Emilie mit Sorgen leben, und mit Sorgen Kinder erziehen müßte – meine Emilie immer einen Rock, und ihre Kinder die Kleider so lang tragen müßten, bis die arme Wichte ganz daraus gewachsen wären, daß das Ende der Ermel am Elenbogen und die Roktaschen unter den Armen stünden. Dafür soll mich Gott bewahren, und wenn der Vater dazu ein leibhafter Engel wäre.

Herr von Wohlheim gab ihm recht, sezte aber doch ganz nachläßig hinzu:


Er dächte, es würde wohl in der Nachbarschaft Kavaliere von Ansehen und Verdienste haben, welchen das Fräulein ihre Hand ohne Widerwillen geben könnte.

Freyhof antwortete: –


Hm – nicht so viel, daß ein eigensinniges Mädchen eine grosse Auswahl hätte. Aber Emilie ist nicht besser, als ihre Mutter war, und andre brave Damen sind. Man muß sich an uns Männern etwas gefallen lassen, die eine Frau links, die andre rechts, und auch eben deswegen will ich keine leere Anbeter um meine Tochter herum haben, weil diese durch ihr Schönthun und Aufwarten [118] dem Mann das Spiel verderben, der nicht immer so hätschlend seyn kann. –

Es war ein Glück, daß Herr von Freyhof die Gewohnheit hatte, seiner Tochter bey dem Frühstück immer in einer Art von Auszug alles zu erzählen, was er Tages vorher gethan und gesprochen hatte. Dadurch erfuhr sie alles, was Wohlheimen angieng, hörte immer neues Lob von ihm, und auch dieß, was er gesagt habe, neben den Anmerkungen ihres Herrn Vaters, welche sie zu ihrem Leitfaden machte. Sie sah auch in dem Gedanken von Wohlheim, daß man sie wählen lassen sollte, eine feine Besorgnis seiner Liebe, und die Neugierde zu erfahren, ob sie etwa schon bestimmt sey. Dieses freute sie, aber die Aeusserungen ihres Herrn Vaters rückten ihre Hofnung nicht dahin, wo sie sie wünschte. – Herr von Freyhof war nicht gerne in Gesellschaft von Damen, wenn also welche da waren, so entfloh er gleich in seinen Garten oder Wald, und Wohlheim begleitete ihn. Die Damen hielten sich darüber auf, daß ein so schöner junger Mann so trocken um Frauenzimmer herum seye, und vermutheten, daß Fräulein Emilie nicht viel Unterhaltung von ihm haben würde. Sie bestättigte es, sezte aber hinzu, daß es sie nur freue, daß ihr Herr Vater so viel angenehmes in dem Umgang dieses jungen [119] Philosophen fände. – Da wurde von einigen artigen Damen der Plan entworfen, in der nächsten Gelegenheit an dem schönen Holzstock zu necken, um zu sehen, wie er sich ausnehmen würde. Es war Emilien nur halb recht, denn das Fräulein von Baumbach, die mit in die Verschwörung trat, war sehr reizend. Doch wollte Emilia dem Spiel mit aller Ruhe zusehen, kleidete sich auch zu dem Gastmal, das kurz darauf in dem von Baumbachischen Schlosse gegeben wurde, sehr einfach, und hielt sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen bey den ältlichen Damen. Wohlheim kam mit seiner gewöhnlichen Miene, und wurde bey der Tafel zwischen die zwey schönsten und muntersten Damen gesezt. Er war höflich, aber äusserst kalt, und schiene die größte Aufmerksamkeit für Herrn von Freyhof zu haben. Bey dem Konfekt, als die Bedienten meistens aus dem Zimmer, und ein höherer Grad von Munterkeit in den Köpfen war, fienge man an, den Herrn von Wohlheim über die Damen seines Landes zu fragen. Er sagte aber:


Ich kenne, leider! keine, denn in dem Ort, wo ich erzogen wurde, ware nur meine Frau Mutter, und seitdem habe ich nichts als Soldatengesichter auswendig gelernt.


Lauter Soldatengesichter? sagte eine Dame. [120] Gehören wir auch dazu?

Wohlheim erwiederte:


Ich hoffe, daß meine ehrerbietige Bewundrung die Damen überzeugt, daß ich weiß, was ich jetzo vor mir sehe.

Man scherzte fort, und er sagte endlich:


weil man so nah an ihn dringe, so müsse er sein Geheimnis sagen. Er dörfe, ehe er Obrist sey, keiner Dame von ihrer Schönheit und von seiner Liebe sprechen: sonst stünde ihm das gröste Unglück bevor.

Er wurde ausgelacht, aufgezogen und ausgefragt. Aber er behauptete, daß er diese Verbindlichkeit mit dem Schwur seiner Ehre eingegangen seye, und sie auf Kosten seines Lebens halten würde.

Man fand ihn abgeschmakt, und ließ ihn von diesem Tag an ruhig.

Emilie sagte nachher, wie ängstlich ihr bey dieser Unterredung gewesen sey, und wie froh sie war, daß Wohlheim allen muntern und galanten Damen misfiel. Herr von Freyhof hatte ihn aber gelobt, und auch allein mit ihm darüber geredt, wo ihm Wohlheim sagte, daß er diesen Vorsatz nach seinen Umständen gerichtet habe. Denn da er einer Dame kein Glück und keinen Rang anbieten könne, so hielte er es für Pflicht, zu schweigen: – er wäre [121] nun auch so gewöhnt, daß sein Dienst, seine Bücher, und ein Freund alles für ihn seyen.

Er wurde nun völlig der Liebling von Freyhofen, und wünschte sich auch der von Emilien zu seyn, konnte aber nichts errathen, und nichts fodern, besonders da er nicht redete, und nicht reden durfte. – Ein einzigesmal erschien ihm eine schmeichlende Aussicht: es war aber nur wie die ohngefähre Trennung dichter grauer Wolken, mit denen man den ganzen Horizont überzogen sieht; eine kleine Erschütterung der höhern Luft bewegt, und öfnet sie, und läßt den schönen blauen Aether durchscheinen: Aber kaum ist der Blick hingeheftet, so fliessen die graue Wolken wieder zusammen, und dünken dann düsterer als vorher.

Wohlheim zeichnete sehr schöne Landkarten. Herr von Freyhof, der ihn bey einem Besuch daran arbeiten sah, bat ihn um eine Karte von der Freyhofischen Herrschaft. Diese wurde ganz vortreflich ausgearbeitet. Während er noch mit der Fertigung beschäftigt war, hatte sich ein Herr von Großberg mit seinem Sohn, einem aus Frankreich zurückgekommenen, ganz neu geformten, aber würklich artigen Kavalier eingefunden, um Fräulein Emilie zu werben. Sie wohnten beyde im Schloß Freyhofen, und der junge von Großberg war mit aller [122] möglichen Galanterie um Emilien. Sie arbeitete an einem sehr schönen Feuerschirm. Da sie aber mit den Blumen der Einfassung nicht ganz zufrieden war, sagte sie eines Tags, sie wünsche, daß ihr jemand andre Blumen dazu malte. Der junge von Großberg hatte dieses Talent, und brachte in wenigen Tagen einen sehr schönen Blumenkranz, wie er zu dem Mittelstück paßte. Wohlheim war dabey, als er mit einer zu stolzen Selbstzufriedenheit mit dem ausgebreiteten Papier in der Hand hergezogen kam, und so viele Bewegungen damit machte, als ob es eine Siegesfahne gewesen wäre. Vielleicht aber gab die Eifersucht, die unsern guten Wohlheim befiel, der Sache ein schlimmeres Ansehen, als nicht darinn lag. Fräulein Emilie war auch gleich mit sehr lebhaften Lobsprüchen da, bemerkte aber bald in dem Beyfall, den Wohlheim der Arbeit des Herrn von Großberg gab, seine eifersüchtige Liebe, besonders in dem folgenden Ausdruck, da er sagte, daß Herr von Großberg durch das Lob der feinen Kennerin des Schönen belohnt sey, und nun alle Tage das Vergnügen haben würde, die Augen des Fräuleins darauf geheftet zu sehen. – Es freute sie anfangs, daß Wohlheims Klugheit gescheittert hatte. Aber sie wollte ihm den Schmerz nicht lassen, den er über das gepriesene Verdienst seines [123] Rivalen empfand. Es reute sie, Großbergs Arbeit so erhoben zu haben, und sie wünschte sich den Anlaß zu einem Ersatz für Wohlheim zu finden. Der Zufall diente ihr gleich Nachmittag.

Der Kaffe wurde immer in Emiliens Zimmer getrunken; die gemalte Blätter des Herrn von Großberg lagen auf der Nährahme des Fräuleins, welche sie ihrem Vater zeigte. Dieser gieng darauf weg, und holte die Rolle der Zeichnungen, die ihm Wohlheim des Morgens ohne allen Prunk und Pralen gebracht hatte:


Milchen! sagte Herr von Freyhof, wenn Großberg dein Maler ist, so ist Wohlheim mein Zeichner. – Da sieh! was das für schöne Arbeit ist, (zeigte er mit dem Finger,) nicht ein Strauch, nicht ein Hügelchen ist vergessen – sieh! wie mein Schloß und dein liebes Bauerhütchen so niedlich da stehen – und auf dem Feld hier die Schaafheerde weidet – wie der Bach an den Ulmen hin der grossen Bannmühle zufließt! Sieh! wie mein altes Ahnenhaus noch so stolz und schön in seinen Ruinen da oben herunterstrozt. Ich will auch Wohlheims Rath folgen, und den jungen Nachschuß der Bäume des Schloßhügels zu einem gedeckten Gang aushauen, [124] und umbiegen lassen – dann aber in dem Gebäu, wo die Mauren des Saals noch fest sind, soll man die alte Treppe reinigen, und eine Altane auf das hohe Gewölb führen: – dann gehen wir im Sommer hinauf, und sehen auf mein neues Haus herunter, und ich danke dann meinen Ahnen, daß sie brave Leute und gute Hauswirthe waren. – Vielleicht erfährt es noch einer davon in der andern Welt, und freut sich über meinen Dank, und daß ich den alten Steinhaufen noch in Ehren halte.

Emilie sah unverwandt die Karte der Freyhofischen Güter und die daneben so schön gezeichnete Landschaft an. Herr von Wohlheim war an ein anders Fenster gegangen, und schlürfte dort nachdenkend seinen Kaffee ein. Herr von Freyhofen gieng zu ihm:


Wohlheim! Sie müssen mir Wort halten, und das alles ausführen helfen, denn ohne Sie hätte ich nie daran gedacht.

Ich werde immer zu ihrem Befehl seyn – sagte Wohlheim mit einer bescheidenen Verbeugung und Stimme. – Der alte Herr fuhr fort: –


Milchen! du must morgen mit mir hinauf reuten, und dich im alten Hof umsehen. Es [125] gefällt dir gewiß, ob dich schon alles klein und enge dünken wird. Aber es haben Ehrenmänner und stattliche Damen darinn gewohnt. – Meine Urälter Mutter war eine schöne Frau, und noch dazu Erbin.

Hiemit endigte er, rollte die Risse zusammen, und legte sie auf Emiliens Rahmen, nahm seine Tasse Kaffe, und gieng damit zu Wohlheim an das Fenster. – Herr von Großberg, der keinen Kaffe trank, überreichte der Fräulein ihre Tasse, und nahm die Rolle mit den Rissen in die Hand, indem er zu ihr sagte:


Geben Sie acht, mein Fräulein! Sie werden das alte Schloß und die ganze Karte sticken müssen. Hängen Sie doch meinen Blumenkranz an der Altane umher.


Gewiß nicht, denn diese alte Mauren sind mir zu ehrwürdig, als daß ich sie mit Spott behängen sollte.


Ey die Siegeszeichen der Enkelin würden ja dem Rittersaal der Ahnen zur Zierde dienen.

Sie wurde lebhafter, und sagte etwas bitter, mit dem Finger auf seine gemalte Blätter weisend:

Siegeszeichen nennen Sie das?

Es ist doch immer ein Beweiß, daß Sie einem [126] Großberg befehlen konnten, für Sie zu arbeiten.

Während dem kleinen Gespräch hatte Großberg die Rolle in seinen Händen hin und her gedreht, das Fräulein stund auf, hielt die halbe Tasse von Kaffe in der einen Hand, und reichte mit der andern nach der Rolle, indem sie sagte:


Geben Sie mir die Rolle, denn Sie zerknätern sie ja mit ihrem Getändel.

Er wollte mit dem hin und her wanken der Rolle scherzen, aber da er die Schale wanken sah, so ließ er sie gehen. Da dieses aber mit einem gewaltsamen Anziehen von der Hand des Fräuleins geschah, so fiel die obere Tasse auf den Rahmen, und ergoß sich über die schöne Großbergische Malerey. – O die verdammte Risse! rief er, indem er die Blätter in die Höhe hob, und den Kaffe abträufeln ließ. Fräulein Emilie sah lächelnd zu, und sagte: – Das freut mich, die Bescheidenheit ist erhalten, und der Stolz zu Grunde gegangen.

Herr von Freyhof, der mit Wohlheim ganz ernsthaft über die Ausführung seines Plans gesprochen, sah bey dem Klirren der zerbrochenen Schale um sich, und kam mit Wohlheim gegen das Fräulein gerad in dem Augenblick, als diese die leztere Worte aussprach, und dieser Augenblick war für [127] Wohlheim ohnendlich angenehm. Er näherte sich der Rahme, und sagte:


O die schöne Stickerey ist auch verdorben!


Das macht nichts, sagte Emilie – wir Frauenzimmer trösten uns leicht über Zufälle, ich bin nur froh – (sagte sie gegen ihren Herrn Vater,) die Rolle gerettet zu haben, weil Sie so viel daraus machen. –

Hatte die eifrige Rettung seiner Risse, und der Ausdruck Bescheidenheit, der ihn angieng, Wohlheims Herz zu dem Gefühl von Glück und Hofnung erhoben, so schlug ihn diese lezte Stelle wieder zu Boden, weil sie eine geheime Geringschätzung anzeigte. – Das Fräulein sah diese Würkung ihrer Rede, aber sie mußte es so lassen, (sagte sie nachher) um ihren Wohlheim vor der rächenden Bosheit des beleidigten Stolzes von Großberg sicher zu stellen, Sie dachte auch, daß Wohlheim ihr gerne vergeben, und daß sie andre Gelegenheit finden würde, diese anscheinende Härte zu vergüten. –

Großberg drang endlich auf eine Erklärung des Fräuleins. Diese schlug seinen Antrag aus, und sagte ihrem Herrn Vater, daß sie gesinnt sey, auf den jungen Hochwald zu warten, der mit ihrem Bruder reißte. Ihr Vater war es sehr zufrieden, besonders da die Hochwaldische Güter an die seinige [128] gränzten, und dadurch die zwey Freyhofische Geschwister, die sich sehr liebten, leicht zusammen kommen und sich immer sehen könnten. Die Großberge reißten ab, und Wohlheim sah also einen furchtbaren Rivalen entfernt. Aber er war bestimmt, jedes Vergnügen des Lebens mit Jammer zu kaufen. Denn nun wurde Herr von Freyhof um so eifriger, auf die Verzierung des Bergs und des Reitpfads, weil gleich hinter dem alten Schloß ein Holzweg vorbey zog, der nach Hochwalden führte. Auf den Berg wollte er keine Fahrstrasse machen lassen, denn der Name Rittersitz zeige an, daß seine Ahnen immer nur hinauf geritten seyen. Alle Tage sagte er dem guten Wohlheim sehr viel von dem Reichthum der Hochwalde, und wie glüklich seine Emilie seyn würde, u.s.w. – Endlich mußte er auch mit ihm nach diesem Schlosse, und Abends bey der Zurükkunft bey Tisch alles erzählen helfen, was sie dort prächtiges und schönes gesehen hatten. Nun war der letzte Keim von Wohlheims Hofnungen zernichtet, aber seine Liebe nicht. Fräulein Emilie fühlte, was für Qual in seiner Seele lag, als ihr Vater so oft ihr sagte, daß er sich auf die Zeit freue, wo sie die Frau von dieser grossen Herrschaft seyn würde. – Sie sagte am Ende, da sie ihm lange zugehört, wie er ihre künftige glänzende Tage beschrieb:


[129] Lieber Papa! Sie müssen nicht so viel davon reden, denn die Zeit wird mir sonst lang, bis die Leute wieder kommen.

Sie wollte ein kleines Uebel haben, und verursachte ein grösseres, denn Herr von Freyhofen versprach ihr, seinen Sohn und ihren Geliebten bald zurück kommen zu lassen. – Das war der lezte und härteste Stoß auf Wohlheims Herz, und er hatte alle Kraft seiner Vernunft nöthig, um sich nichts merken zu lassen, und Emilie litte selbst darüber so viel, daß sie einen Vorwand nahm, um früher schlafen zu gehen. Als sie weg war, sagte Herr von Freyhof: –


Da seh einer die Mädchen! – hat sie nicht immer so kalt und so gleichgültig gegen alle Mannsleute gethan, und nun bekennt sie auf einmal, daß sie voll ungedultiger Erwartung ist. Aber die zwey Schwärmer sind nun in Engelland, und kommen vor End des Herbsts gewiß nicht – da muß mein Milchen indessen singen oder pfeifen. Hätte die tückische Hexe vor der Abreise geredt, so würde ich die Sachen so eingerichtet haben, daß die Vermälung geschehen wäre, und vielleicht hätte sie jezt schon einen Enkel für mich, der uns die Zeit verkürzte.

Wohlheim mußte auch etwas sprechen, und fiel ein: –


[130] Vielleicht hätte aber Herr von Hochwald seine Gemalin mitgenommen, und da wären Sie völlig allein geblieben.


Da haben Sie recht, lieber Wohlheim! das wäre geschehen, und ich hätte mich todt geärgert. Es ist besser wie es ist. – Milchen mag Gedult haben.

Unser Wohlheim schlief diese Nacht keine Stunde, und viele Tage kämpfte er mit sich selbst, und suchte seine Liebe unter das Joch der Umstände zu beugen. – Aber sein Herz konnte unter dieser eisernen Last nicht so ruhig athmen, daß es seiner Gesundheit nichts gekostet hätte. Er wurde blaß und hager, auch viel tiefsinniger wie sonst. Da kamen ein paar Soldaten zu Herrn von Freyhof, und baten ihn, ihrem Lieutenant einen Doktor holen zu lassen, weil sie fürchteten, ihn zu verlieren: – er sey krank, brauche nichts, schlafe nicht, und wäre doch immer mit dem nemlichen Eifer im Dienst. – Sie sezten hinzu: das ganze Regiment würden Ihro Gnaden danken, wenn Sie den braven Herrn wieder gesund machen liessen.

Freyhofen war sehr gerührt, und fragte die Leute, warum sie denn ihren Herrn von Wohlheim so liebten? –


Weil er uns liebt, nichts von uns fodert, wo [131] er nicht mit dem Exempel voraus geht, es sey in der Subordination im Dienst, – in dem Muth in Gefahr, in der Mäsigkeit; er ist mit Nahrung und Quartier zufrieden, wie es ist, wenn nur wir vorher versorgt sind: – er thut so väterlich an uns, wenn einer krank ist, sollten wir da nicht auch für ihn sorgen? –

Der zweyte sagte –


Ja wärs in einer Bataille, wir stünden Mann für Mann ihn zu decken, und die Kugeln aufzufangen. – Aber was können wir da im Frieden, wenn er einen Feind im Leibe hat, wovon wir nichts verstehen.

Herr von Freyhof liesse gleich in ihrer Gegenwart einen Reitknecht mit Pferden nach dem Doktor abgehen, und er gieng mit ihnen zu Wohlheim, der an seinem Fenster umsah, und sich wunderte, wie Herr von Freyhof und die Soldaten zusammen kämen. Aber die Liebe seiner Leute machte ihm grosses Vergnügen. – Emilia hatte die Bitten der Soldaten mit angehört, und war froh, daß ihr Vater weggieng, um sich den Bewegungen ihres Herzens zu überlassen, worinn sie sagte: –


Wie glüklich sind diese Soldaten? sie dörfen gerad aus sagen, wie lieb ihnen ihr Wohlheim ist. – Mein Vater darf auch alles thun, was [132] ihm sein Herz eingiebt – und ich – ich muß schweigen, muß meine Zärtlichkeit verbergen. Vielleicht nagt der Gram einer hofnungslosen Liebe an Wohlheims Leben. – Edler junger Mann! warum hast du meine Gesinnungen nicht errathen, wie ich die deinige. Glaubst du nicht an Sympathie? was hinderte deinen sonst so scharf sehenden Geist, Bemerkungen über dieß, was ich liebe und verabscheue, zu machen, das hätte dir beweisen können, daß ich dich hochachten, daß ich dich lieben muß, ohne daß du mich darum bittest? – Du kennst meinen Vater und seine Grundsätze, du richtetest dein Betragen darnach. – Muß ich nicht meine Aufführung auch nach seinem Ton stimmen? – warum vermiedest du jede Gelegenheit, mir deine Liebe zu zeigen, wie ein Mädchen ihre Neigung verbergen muß. – Sollte ich anfangen? –

Unter solchen Selbstgesprächen der guten Emilie vergieng die Zeit. Ihr Vater kam wieder, und erzählte ihr, daß Wohlheim würklich übel zu seyn schien, ob er es schon nicht bekennen wolle, und mit Gewalt mit ihm auf den Berg gegangen sey, wo er schon alles so schön eingerichtet habe, daß es eine Lust wäre: – und dieß hätte er alles durch die [133] Soldaten seiner Kompagnie machen lassen, da er ihm doch die Frohnbauern angewiesen habe, welche nun nichts als das abgehauene Buschwerk heimzuführen hätten. Der Arzt kam, und sprach dem Herrn von Freyhofen mit vieler Hochachtung von dem jungen Officier, und rieth nur, man sollte ihn zu zerstreuen suchen, denn er leide an einer Gemüthskrankheit. Als er wegritt, waren über 20 Soldaten am Weg, ihn zu fragen, ob ihr Lieutenant wieder gesund würde. Abends kam Wohlheim ins Schloß. Emilie war auch bewegt, und zeigte ihm ihre Sorge für seine Gesundheit, mit einer Stimme, welche ihm der feinste Ton der Zärtlichkeit zu seyn dünkte. Er wurde etwas erheitert und besser. Einige Tage darauf gieng man nach den alten Ruinen, wo Herr von Freyhofen sämtlichen Officieren ein Abendbrod gab, und mit vielem Lob von dem Geist und Güte des Herrn von Wohlheim sprach. Der Weg war sehr bequem, im Schatten überhangender Bäume, und die Altane fertig. Wohlheim hatte bey Wegräumung des Schutts ein grosses Gewölbe entdeckt, und ließ auch dieses ganz rein machen. Da fand sich ein Fusboden mit kleinen blau und gelben glasirten achteckigten Blätgen, und an den Fenstern und Bogen des Eingangs Spuren, daß alles so gemahlt gewesen, so wie die Bänke umher auch mit [134] den Blätgen besezt waren. – Die alte Sträuche und Kräuter aber, die im Hof und zwischen den Mauren gewachsen waren, ließ er mit Sorgfalt stehen; nur den Keller hatte er mit dem Schutt ausgefüllt, so daß man nun mit Sicherheit die Aussicht geniessen, und alles wilde der Zerstörung noch vor sich haben konnte. Man gieng auf den Waldweg, nach Hohen-Waldau. – Wohlheim kam durch den Zufall nahe bey Emilien, und das zum erstemal ganz allein. Sie sagte ihm:


Auf diesen Weg hätten Sie nicht so viele Mühe wenden sollen.

Er antwortete mit vieler Bewegung:

Wie? – auf den Weg? den Sie in Zukunft so oft machen werden?
Ernsthaft erwiederte sie: –

Das hoffe ich nicht.

Ich habe Sie doch vor einigen Wochen vieles davon sprechen hören?


Ja! ich habe damals ein entferntes Uebel zur Hülfe gegen ein nah an mich dringendes genommen. Die Großberge waren ja da –

Emilie sagte dieses mit Erröthung und niedersenkendem Aug. – Wohlheim versezte nur halb athmend:


Herr von Hochwald ist also auch ohne Hofnung?


[135] Gänzlich – aber verrathen Sie mich nicht, (sagte sie mit einem Blick, der ihm alles zeigte, was er wünschte, und sich nicht zu glauben getraute.)

Stammelnd an einen Baum sich lehnend, antwortete er: – ich – ich – Sie verrathen – ach Emilie!


Guter Wohlheim! warum nehmen Sie alles was ich sage, auf der schlimmen Seite? Sie haben unrecht.

Hier kam die Gesellschaft Ihnen so nah, daß ihr Gespräch endigte. – Aber bald hatte Emilie den Anlaß, Herrn von Wohlheim ihre Gesinnungen noch deutlicher zu zeigen.

Der Hauptmann von Thal, unter dessen Kompagnie er stund, war in eine zärtliche Verbindung mit dem Fräulein von Mooßburg getretten, – die eine Erbin, aber Mündel des Herrn von Freyhofen war, ohne dessen Einwilligung sie ihre Hand nicht vergeben konnte, und Wohlheim wurde gebetten, mit dem Vormund zu sprechen.

Er lobte anfangs nur die persönlichen Eigenschaften des Herrn Hauptmanns von Thal, und sezte hinzu, dieser habe ihm die Soldaten zu der Schloß-Arbeit bewilligt. Endlich machte er auch seine Wünsche bekannt. Freyhof sagte dann:


[136] So – so – deswegen wurde mein Berg von den Soldaten gepuzt. Was doch verliebte Leute alles aussinnen, um die Vernunft der Eltern und Vorgesezten zu bestricken. – Aber warum, Herr von Wohlheim! haben Sie sich nicht an die Erbin gemacht.


Ich habe kein Vermögen, und bin nur Lieutenant – Thal ist Hauptmann, und selbst auch reich.

Hätte Ihnen aber das Fräulein von Mooßburg nicht gefallen?

Sie ist sehr artig, aber ich würde sie doch nie geliebt haben.


Wohlheim! Ihre Melancholie thut Ihnen manchen Schaden. Es hätte mich gefreut, Sie zu meinem Nachbar zu bekommen, denn Mooßburg ist nur zwey Stunden von hier. – Aber da hätte man gesagt, ich gebe mein reiches Mündel meinem Liebling, und diesen Vorwurf möchte ich eben so wenig haben, als wenn ich sie meinem Sohn gegeben hätte. – Eher soll sie ein Stockfremder erhalten. – Es macht mir und Ihnen Ehre, daß wir Freunde und ohneigennützig sind. Aber Herr von Thal muß warten, bis ein gemeinschaftlicher Proceß zu End ist, den die Mooßburg [137] und ich gegen einen dritten haben. Es geht scharf darauf loß.

Herr von Thal beruhigte sich, und zeigte Herrn von Freyhofen seine Titel und Güter an. Dieser wurde krank, und verlangte nach seinem Sohn, welcher auch mit der Eile der kindlichen Liebe, so bald möglich, erschien. Die Krankheit hatte zugenommen, und Wohlheim seinen Freund bewacht, besorgt und getröstet. Herr Freyhof war über dieses sehr dankbar und gerührt, er empfahl seinem Sohn den Herrn von Wohlheim als einen Bruder. Der junge von Freyhofen war ein edler vortreflicher Mann, der seine Schwester ohnendlich liebte, und mit der Aeuserung des Vaters, sie dem Hochwald zur Gemalin zu geben, gar nicht zufrieden war, weil er ihm Emiliens unwürdig zu seyn schiene. Er entdeckte auch besser als sein Vater die Neigung, welche sie und Wohlheim, ohne sich zu sprechen, für einander hatten, that aber nicht dergleichen, sondern bewieß ihnen nur alle Achtung und Liebe, die nothwendigerweise ihre Herzen an ihn heften, und auch endlich aufschliessen mußte. Die Umstände des Vaters wankten lang zwischen besser und schlimmer. In den guten Tagen nahm er Familiengeschäfte vor, und die Nachricht des gewonnenen Processes erquickte sein Herz, weil er seine Vormundschaft rühmlich [138] endigte, seinem Sohn noch mehr Vermögen zurückließ, und seiner Emilie noch etwas großes schenken konnte, ohne ihrem Bruder zu schaden. Er ließ die Frau von Mooßburg und ihre Tochter zu sich bitten, um die Freude zu haben, ihnen die fröhliche Nachricht selbst zu geben. Als Emilie nun das Entzücken ihrer Baase sah, daß sie ihren geliebten Thal nun noch glücklicher machen könnte, so umarmte sie sie mit einer Thräne im Aug, und sagte ihr dabey:


O meine Freundin! wie seelig muß das Gefühl seyn, einen würdigen Geliebten zu beglücken? dieß ist der einzige Werth, den ich an dem Reichthum eines Mädchens finde, und auch das einzige, was ich beneide. O meine Mooßburg! wie glücklich bist du!

Ihr Aug war da gegen Wohlheim gewandt. Ihr Bruder hatte alles bemerkt, alles gehört, und die tiefe Empfindung, welche durch Wohlheims Seele gieng, war ihm auch nicht entflohen, da nahm er sich vor, seiner Schwester dieses Glück zu schaffen. Er bekam den Auftrag mit dem Herrn von Thal wegen der einzigen Bedingniß des Fräuleins von Mooßburg zu sprechen, nemlich daß er die Kriegsdienste verlassen, und zu Mooßburg wohnen sollte. Er war es gleich zufrieden, und der junge Freyhofen [139] bat ihn, seine Kompagnie niemand als dem Wohlheim zu geben, und ihn als den Zahler anzunehmen, aber ja nichts zu sagen, daß sie bezahlt sey, sondern mit Wohlheim einen edelmüthigen Akkord zu treffen: da er die Kompagnie errichtet habe, und Wohlheim seine Heurath besorgt hätte, so wäre genug Vorwand zu einem vortheilhaften Kauf da. Wohlheim war froh und verlegen, rühmte die edle Denkungsart seines Hauptmanns, doch nahm er das Anbieten nur mit der Einrichtung an, daß er alle Jahr eine gewisse Summe bezahlen, und wann er vor völligem Abtrag stürbe, so solle von Thal wieder Besitzer seyn. Der gute alte Freyhofen hatte so viele Freude über das Glück von Wohlheim, daß er sich ausbat, daß die Uebergabe der Kompagnie in seinem Schloßhof vorgenommen werde. Sein Sohn besorgte auch dieses, und verabredete noch eine Scene mit dem Herrn von Thal. Es war ein schönes Fest, den Abschied des einen braven Manns, und den Antritt des andern zu sehen. Herr von Thal besetzte noch die Fähndrichstelle, weil die Officiere alle nachrückten. – Er gieng durch alle Reyhen, sprach mit den Soldaten, und umarmte die Officiere, der Obriste trat vor, nahm den Herrn von Wohlheim bey der Hand, und rief:


[140] Hier, meine Kinder! euer neuer Hauptmann von Wohlheim.

Kaum hatte er ausgesprochen, als ein Jubel unter den Leuten entstund, Drommel und Pfeifen so lärmten, und die Soldaten sich umhalßten, und sich glückwünschten, daß allen Zuschauern die Thränen der theilnehmenden Freude über die Wangen liefen. Die Soldaten dankten dann dem Herrn von Thal für alle seine genossene Güte, besonders aber für ihren neuen Hauptmann, um den sie sich drängten, seine Hände, Kleid und Degen küßten. Sie verlangten dann die Braut zu sehen. Herr von Thal holte sie; laut wurde sie gelobt, und bekam Glückwünsche zu dem braven Mann. Das Fräulein von Mooßburg hatte sich vorgesehen, und schenkte jedem Gemeinen einen Thaler, den Unterofficieren zween, und hatte für die Herren Officiere selbst Hut- und Degenbänder bereit, die sie ihnen mit vielem Anstand übergab. Herr von Thal überreichte Wohlheimen seinen Regimentsdegen, und bat ihn, daß er zu seinem Andenken getragen werden möchte. Nun ließ der alte Freyhofen zwey schöne Reitpferde durch einen recht hübsch gekleideten Purschen vorführen, die er dem neuen Hauptmann mit Sattel und Zeug schenkte. Da entstund wieder Freude, und – Vivat der alte Herr! – Dann [141] bekamen die Leute Wein und Braten die Fülle; Freyhofen und die Damen waren auf dem Balkon des Hauses. Auf einmal riefen einige Soldaten: Der gute alte Herr solle ihrem neuen Hauptmann seine schöne Tochter geben, diese würden eine brave Race von Officieren ziehen. Emilie erschrak über diesen Einfall, und Wohlheim auch. Sie gieng vom Balkon weg, und ihr Herr Vater auch hernach in sein Zimmer. Da kamen zwey Unterofficiere, dankten für alle Gnade, und wiederholten den Wunsch der Kompagnie. Wohlheim wollte sie schweigen machen, aber Wein und Liebe waren stärker, als seine Befehle. Der junge von Freyhofen erzählte es seinem Vater, der von dem Auftritt der Vorstellung ganz erweicht, da er ohnehin für Wohlheimen so viele Neigung hatte, die Bitte seines Sohns und der Soldaten erfüllte.


Lieben sie sich dann? fragte er:

O! wie soll ein junger Mann unsere Emilie sehen, und nicht lieben?

Ich bemerkte es niemals. Haben mich die junge Leute betrogen?


Nein, bester Vater! denn es wird heut das erstemal seyn, daß Wohlheim mit meiner Schwester von Liebe spricht. Der edle Mann wäre eher zu grundgegangen, als daß er sich entdekt hätte. –

[142] Dieses und mehr günstiges rührte den Alten, daß er sagte:


Er ist immer rechtschaffen gewesen, ich wollte Emilie könnte ihn reich machen.

Nun wurde Emilie und Wohlheim von ihrem Bruder aufgefodert, von ihm umarmt, und wankend zu dem Stuhl ihres Vaters geführt, bey dem sich Emilie kniete, und ihr Gesicht verbarg, bis Wohlheim durch die liebreiche Aufmunterung des jungen Freyhofen den Muth bekam, sich neben sie zu knien, und seine Liebe zu bekennen. Sie erhielten da Einwilligung und Segen von ihrem Vater, mußten sich dann auch den Soldaten zeigen, und ihre Glückwünsche anhören. Den Abend erzählte ihnen der Bruder, daß er ihre beyderseitige Liebe, und den Zwang bemerkt habe, den sie ihren Herzen aufgelegt hatten, und daß er gleich den Plan entworfen habe, sie zu vereinigen. – Der alte von Freyhofen lebte noch einige Monathe recht glücklich mit seinen drey Kindern, welche alle wetteiferten, ihn zu bedienen, und seine Leidenstage zu versüssen. Nach seinem Tode blieben die Wohlheime noch mehrere Jahre bey ihrem Bruder, der mit einer vortreflichen Dame vermält wurde, und auf die großmüthigste Art das Glück seiner Schwester befestigt hatte. Denn er machte noch einen großen [143] Zusatz zu der Ausstattung von Emilien, und das unter dem Vorwand, daß es noch mündlicher Befehl seines Herrn Vaters gewesen seye.

So giengen sechs herrliche Jahre vorbey. Emilie war Mutter von zwey Söhnen und einer Tochter geworden. Ihr vortreflicher Bruder und seine edle Gemalin thaten alles, um das Glück der Wohlheime zu vermehren. Nun kam die Nachricht, daß die Familiengüter durch das Ableben seines Bruders an Karl von Wohlheim gekommen seyen. – Die erste Briefe waren von dem Vikarius des alten Pfarrers, der indessen blind geworden war. Aber dieser hatte den Brief angegeben, und darinn seine Freude für sich und die Unterthanen gezeigt, daß sie nun den Baron Karl wieder sehen, und ihn zu ihrem Herrn haben würden. Die Antwort des edlen Wohlheims war so schön, daß der alte Pfarrer die Unterthanen der fünf Dörfer auf einen Sonntag zusammen in die Kirche bat, und dann nach dem gewöhnlichen Gottesdienst neben seinem Vikar vor den Altar stund, eine Anrede an die Gemeinde hielt, und sie zu Treue und Liebe für ihren neuen Oberherrn ermahnte, sie glüklich schäzte, daß sie ihn würden sehen können, da er dieses Trosts beraubt sey. Doch wäre er sicher, sagte er, daß der Baron Karl ihm seine männliche Hand eben so freundlich reichen[144] würde, als er ihm seine Knabenhand so oft mit Dank für seinen Unterricht und Ermahnung dargeboten habe: der Segen seines alten Seelsorgers wäre ihm noch lieb, wie sie aus dem Brief hören würden, den er zum vorlesen hergab. Der Vikarius las dann vor. Der Herr von Wohlheim hatte so viele Liebe für seine Unterthanen, und so viele Ehrerbietung für den Pfarrer ausgedrückt, alle gegrüßt, und sie dem Beamten anempfolen, daß die Bauren alle gerührt waren, und weinten. Der Pfarrer betete dann mit der wärmsten Andacht für ihren Herrn und sie, ermahnte sie dann, sie möchten doch Sorge tragen, daß die Amtsprotokolle nun nicht mit bösen Händeln oder mit Beweisen angefüllet würden, daß es schlechte Leute unter ihnen gebe: Er versicherte sie, Herr von Wohlheim würde gewiß ihrer Last und Armuth Erleichterung und Hülfe geben.

Frau von Wohlheim freute sich, daß nun ihr Gemal eigene Güter, und ihre Kinder Hofnungen hätten, die ihrer Geburt angemessen seyen. Ihm war aber heimlich bange, wie es aussehen möge. Er fragte nach, man sagte ihm freylich, es seyen Schulden da, und vieles an den Gebäulichkeiten eingegangen. Aber keiner hatte den Muth, die Sache zu beschreiben, wie sie war, und ohnmöglich [145] konnte er sich es so denken. Er übergab seine Kompagnie einem braven Officier, und reißte mit seiner Gemalin und Kinder nach Wohlheim. Er hatte mit Fleiß die Zeit seiner Ankunft verborgen, um die Unkosten eines Empfangs für die Unterthanen zu sparen. Man richtete sich also im Schloß ganz langsam auf seinen Eintritt.

Herr von Wohlheim hatte eine Art Vorbedeutung in sich. Denn er wollte seine Gemalin und Kinder in der nächsten Stadt lassen, und erst allein auf das Schloß. Seine Gemalin sagte aber: Es möge aussehen wie es wolle, so würde ihr das Haus, wo er gebohren worden, lieber als der schönste Pallast seyn. Er ließ es also geschehen. Aber wie schauderte ihn der Anblick des zerfallenen Gebäudes, des zu grundgerichteten schönen Walds, der morastigen Wiesen, verwilderten Weinberge, und das magere Aussehen der Schloßfelder, und auch der Aecker seiner Unterthanen, die Bauerhäuser und ihre Bewohner armselig, ein Stück der Ringmauer des Schlosses eingefallen, die Kirchenfenster zerbrochen, oder mit alten Brettern zugenagelt. Er wurde blaß und starr. – Seine Gemalin, die alles dieß in seiner Seele sah, faßte ihn bey der Hand.


Mein Wohlheim! ich sehe, daß hier dein Geist nicht herrschte, aber es ist Platz da, wo wir [146] beyde viel gutes bestellen können, gräme dich nicht, mein Bester! die gute Ueberreste des Hauses zeugen von dem, was deine Ahnen waren, und wir wollen zeigen, was wir sind. Sey munter! Sey mir willkommen auf dem Boden, der dich aufwachsen sah. O glaube, mein Wohlheim! er ist ein Paradieß für deine Emilie.

Nun waren sie im Schloßhof, wo fünf Jagdhunde ein schreckliches Gebelle anfiengen, viele Bauren und Jungen waren nachgelaufen, um die zwey Gutschen anzugaffen, altes Holz, Schubkarn, Dünger, Steine, Fässer, Schutt, und eine Kalchgrube sperrten den Platz so, daß der erste Wagen kaum bis an die Thüre kommen konnte. Maurer, schmutzige Mägde und Knechte liefen hin und her; der rauhe Amtmann kam unwillig, und brummte, daß der gnädige Herr nichts von der eigentlichen Zeit seiner Ankunft habe wissen lassen. In dem Haus, wo man tünchte, roch es nach Kalch, verschütteten Wein, und Tobaksrauch. Keine Wand war noch weiß, kein Boden gereinigt, kein klares Fenster im ganzen Haus. Die Wohnzimmer des alten Herrn zur Gewehr- und Kleiderkammer des Schreibers, und die von Wohlheims Mutter von den Mägden eingenommen, Bettvorhänge und Tapetten von Motten [147] zerfressen, und mit Spinnen und Staub gedeckt, Wohlheims Herz wurde ohnendlich gepreßt:


O meine Emilie! wo habe ich dich hingeführt? – Vergieb mir, alles, was ich sehe, ist mir tödtlich.

Sie nahm seine ringende Hände in ihre, und sanft, aber doch feyerlich sagte sie:


Mein Wohlheim! du beleidigest meine Liebe mit diesen Besorgnissen, und dich selbst. – Der Himmel weiß, daß ich an nichts denke, als wie wir alle dieß recht bald verbessern werden.

Sie gab dann munter ihre Befehle die Wagen abzupacken, und die Koffer zu ihr zu bringen. Mitlerweile kam der alte Pfarrer, von seinem Vikarius geführt, mit seinen ganz weiß überzogenen Augen, und aus Freude und Schwachheit zitternd.


Wo ist mein gnädiger Herr Karl?

sagte er bey dem Eintritt in die Stube. Herr von Wohlheim lief ihm entgegen, und fiel dem alten Mann mit Thränen um den Hals, und küßte ihn.


O mein ehrwürdiger väterlicher Freund! Gott sey Dank, daß Sie noch leben!

Der alte Pfarrer hatte sein klein Käpgen von dem grauen Kopfe genommen. Er ließ es fallen, und seine welke zitternde Arme umfaßten seinen nun zum Mann gewordenen Zögling.


[148] Ach! Es ist noch die Stimme des edlen, redlichen Herzens, (sagte er) Gott segne Sie, gnädiger Herr! so wie ich Sie segne! meine Wünsche sind erfüllt. Sie sind Herr – Sie können, Sie werden gutes thun, und meine arme Wohlheimer haben nun einen Vater.

Er jammerte dann, daß er Herrn von Wohlheim, seine Gemalin und Kinder nicht sehen könne. Die Frau von Wohlheim nahm ihn sehr gerührt bey der Hand, und dankte ihm für alles, was er beygetragen, sie durch die Tugenden ihres Gemals zu der glücklichsten Frau zu machen. Der gute Mann freute sich darüber, und erkannte auch an der Stimme eines jungen Wohlheim den Ton, den Baron Karl im nemlichen Alter hatte. Es soll eine schöne Gruppe gewesen seyn, die Familie mit dem Ausdruck von Ehrerbietung um den Greißen herum zu sehen. Der Vikarius wurde gerufen, er kam aber bald zurück, und sagte:


Baron Georg möchte gerne seinem Herrn Bruder aufwarten.

Wohlheim sprang auf –

Wo! – wo ist mein lieber Georg?

Er war unter der Thüre des zweyten Zimmers, und sah einen großen jungen Mann in einem schlechten grünen Rock, mit einem Flor um den Arm, kurzen[149] Haaren, braunen Gesicht und Händen, ein wahrer Waldjunge. – Dunkel ahndete ihn – Georg! aber er verwarf die unfreundliche Ahndung, doch sagte der Vikar:


Da! gnädiger Herr! ist Junker George!

Wohlheim rief: – Ewiger Gott! und mit Schmerz umarmte er den zu einem Forstknecht verwilderten Bruder, der ihn demüthig anblickte, und in ein Fenster nahm, weil er ihn um eine Gnade zu bitten habe.


Lieber Bruder! sagte Wohlheim, was Gnade, sey aller Liebe versichert. Wo wohnest du? Unten im Nebenbau mit meinen Forstleuten, denn der Herr Bruder selig hat mir das ganze Einkommen vom Oberförster gegeben, und ich bitte ferner um die Gnad, denn ich weiß recht gut, was zu Wald und Wild gehört.

Wohlheims Herz war zerrissen. Er war gerad der Thüre des Zimmers gegenüber, wo er seiner Frau Mutter das Gelübde gethan, sich um den armen Georg anzunehmen. Er machte sich Vorwürfe, nicht eher an ihn gedacht zu haben. Aber man hatte ihn immer versichert, Georg seye wohl und vergnügt. Er weinte über ihn.


Mein Bruder! mein noch einziger Bruder! o ich will alles thun, was dich freut. Liebe [150] mich nur, und öfne mir dein Herz.

Junker Georg sagte gegen den Vikar:


O Herr Vikar! wie ist mein Herr Bruder so gut mit mir, nicht wahr! ich darf manchmal bey ihnen seyn –

sagte er, den Herrn von Wohlheim anblickend.


Mein theurer Bruder! ich verdiente keinen Athemzug in dem väterlichen Hause, wenn ich es nicht mit dir theilte. –

Er hielt da Georgs Hände, und sah mit Wehmuth ihn an. Dieser küßte ihm die seinige, und versicherte, er wolle alles thun, was er befehle, er möchte nur immer so gnädig bleiben, der Papa und der Herr Bruder seelig wären es nie so gewesen, und er hätte keinem je was zu leid gethan. – Diese Scene war für den edlen, gefühlvollen Mann äusserst traurig. Er hörte nachdem, wie übel man dem guten Baron Georg begegnet wäre, und wie man ihn vernachläßiget hätte.

O! was Mühe kostete es dem vortrefflichen Mann, bis alles das Ansehen erhielt, das es jetzo hat. Er verkaufte seine Kompagnie, und seine würdige Gemahlin ihre Juwelen und silbernen Nachttisch, Spizen, und andere Kostbarkeiten, um die Güther schuldenfrey zu machen. Das Haus wurde nett, aber ohne Pracht eingerichtet. Sie nahmen [151] den alten Pfarrer in das Schloß, und mit diesem theilte der Herr von Wohlheim den Unterricht seiner Kinder. Dieses war für den lieben Mann ein angenehmer Zeitvertreib; die gute Kinder führten ihn oft in den Garten, so wie wechselweiß der Herr von Wohlheim und seine Gemalin ihn zu der Kirche führten, bis endlich zwey Jahre hernach ein Augenarzt, den Herr von Wohlheim kommen ließ, ihm den reifen Staar wegnahm, und er noch seinen Baron Karl und dessen Kinder sehen konnte. Ich war dabey, als der ehrwürdige Greiß die Operation ausstund, und mit Entzücken vor Herrn von Wohlheim niederkniete, um Gott und seiner Menschenliebe für sein wieder erhaltenes Gesicht zu danken. Der Amtschreiber war abgeschaft, und keiner mehr angenommen, weil man auch dieses Geld sparen wollte. Kleine Zwistigkeiten der Unterthanen verglich der Baron, oder die zwey Pfarrherrn. Und da die Bauren nicht gedrückt, und durch Belohnung und Ehre zu fleißigen Arbeiten und guten Sitten ermahnt wurden, so verlohren sich Unordnung und Streit von selbsten. Herr von Wohlheim that das Beste und Edelste, was ein Herr thun kann. Er trug zu der Verbesserung der Feldgüter seiner Unterthanen mit Rath und That bey, denn sie genossen nach der Reihe die nemliche Hülfe, die er seinen [152] Schloßgütern hatte geben lassen. Es war auch keiner so nichtswürdig, daß er nicht mit Dank und Sorgfalt das Gute unterhalten hätte. Der Segen keimte und wuchs überall sichtbar auf. Nirgends wird man einen adelichen Ansitz so schön und fruchtbar sehen. Oben bey dem alten Wartthurm laß Herr von Wohlheim seinem Bruder und seinen Söhnen die Geschichte der Zeit, wo man diese Thürme erbaute; dort wurde im Sommer ein Zelt aufgeschlagen, die junge Leute mußten jeder etwas tragen, und helfen; die Feldküche kam auch mit, und da wurde nach Soldaten Manier gekocht und gespeißt, alsdann Bücher und Zeichnungen vorgenommen, worinn die junge Herrn die alte und neue Art Waffen, Befestigungen und Krieg zu führen sehen konnten. Hier in der Ebene gab er ihnen die Geschichte ihres Vaterlands, und der Veränderungen, welche sich damit ereignet. Am Ufer des Nekars kam die Naturgeschichte der Flüsse und ihrer Nutzbarkeit, so wie die von den Gebürgen und Bergwerken auf dem Felsberg vorgetragen, und also ganz sinnlich gemacht wurde. Ihre Ergözungen waren kleine Reisen in Steinbrüche, Salzsiedereyen, Glaßhütten, Papiermühlen, und alle andre Gattungen Fabricken, hier Mechanik kennen zu lernen. Damit verband der vortrefliche Mann die natürliche und [153] politische Geschichte des Lands. Frau von Wohlheim lehrte ihre Kinder französisch und englisch; sie las Fabeln und Poesien mit ihnen; ihr mußten sie wieder in einem Auszug erzählen, was sie bey ihrem edlen Vater gelernt hatten. Der Vikar, der Pfarrer geworden war, lehrte sie Latein und Religion, Herr von Wohlheim Mathematik und Zeichenkunst. Baron Georg wurde ganz umgeschaffen, und ist würklich Forstmeister an einem Hofe. Sie können denken, wie dieser seinen Bruder und Schwägerin liebte, und aller Orten, wo die Wohlheimische Söhne sind, werden sie als Beyspiel und Beweiß edeln Geists und Sitten geschätzt –

[154]

Gürdenhall und Mis Elma.

Gürdenhall der Wohnsitz einer alten Familie, liegt auf einer Anhöhe in England, von welcher man die See und die Insel Anglesey vor sich, und dann rükwärts schöne Waldungen und Gebürge sehen kann. Das in einem sehr edlen Geschmak erbaute Haus steht in dem schönsten Park, der sich gegen das Meer in einer Wildbahn öfnet. Dort ist eine Halle auf Säulen gestüzt, worinn man in schönen Tagen speißt, oder die Nachmittage hinbringt, die See, die Insel und hin und wieder seglende Schiffe übersieht. An einem End der Halle liegt ein grosser Teich, mit Enten und Schwanen besezt, auf dem sie, da er durch das Haus und die hohe Bäume vor den Stürmen geschüzt ist, freudig hin und her schwimmen und flattern, wenn unten am Berg die Quellen des Meers schaumend brausen, und die Schiffe herum schleudern. An dem andern Ende sind Blumenbeeten auf einer Art Halbinsel angelegt, welche durch den in zwey Arme getheilten Abfluß des Teichs hervorgebracht wird. Hollunder- und Rosengesträuche neigen sich über die zwey Bäche, die am[155] Ende sich wieder vereinigen, dann in manchen Krümmungen den Lustwald durchlaufen, und sich endlich in ein stärkeres Wasser ergiessen, mit dem sie gemeinschaftlich über Felsenstücke hin der See zufliessen, und auf ihrem Weg kleine angenehme Wasserfälle bilden, die auch einen Theil von Gürdenpark verschönern. Auf der Fläche gegen dem Gebürge liegen Pachterhöfe zerstreut, deren Bewohner durch die vortrefliche Herrschaft sehr glüklich sind.

Diese ist die 64 jährige Lady, Mutter von Sir John, und lezte Erbin der Güter und des Namens von Gürden, aus deren Gesichte sanfte weibliche Weisheit und wahre Güte hervorstralen, die sich freut, daß Gott ihr bey den hohen Jahren noch den Genuß ihres Gesichts und Gehörs so gnädig läßt, um auf dem nemlichen Schauplatz, wo die Scenen ihrer Jugend vorüber gleiteten, wo sie ihre geliebte Eltern sah und hörte, nun unter dem friedlichen Dach des von ihrem Vater für sie so schön erbauten Hauses, und unter dem Schatten so mancher von ihm gepflanzten Bäume, den süssen Umgang ihres geliebten Sohns und Tochter geniesse, holde Kinder von ihnen sehe, und noch den Segen der Enkel von den Pächtern ihres Vaters, und den Gesang der Vögel höre, [156] weil sie diese und jene ungestört in ihren Besizzungen gelassen habe. Sir John, ein großer edelgebildeter Mann, voll gedämpften Feuers, das ehemals sehr sprühend war, aber jetzo allein wie reine etherische Funken, in Ausströmung seiner Liebe für seine Mutter, seine Gemalin und Kinder, oder für die Wissenschaften bemerkt wird.

Lady Elma, o! wer wird diese Frau malen! Angelika oder Reynolds können den Umriß ihrer Engelsgestalt für unsere Nachkommen bewahren. Die Züge ihrer schönen Seele sind in den Thaten ihres Lebens, in den Herzen der glücklichen, die sie umgeben, und in der durch sie zurückgerufenen Tugend ihres Gemals; sie keimen in ihren Kindern, und werden gewiß von ihrem Schutzgeist gezält. Sie ist keine geborne Engelländerin, aber wie eine in besseres Land verpflanzte Blume, wuchs sie da zu jeder Vollkommenheit des Geists und des Körpers empor. Auch ich danke dem Himmel, daß er mich hieher kommen, und diese Menschen sehen ließ.

Gürdenhall – wo ich Vorbilder und Beweise von edler Größe und edler Glückseligkeit sah – o möge jeder Blick auf dein Bild, jede, auch die leiseste Erinnerung deiner Bewohner allezeit erneute Liebe und Eifer für das Schöne und Güte [157] hervorbringen! Ich will meinem Gedächtnis zu Hülfe kommen, und die Geschichte von Lady Elma aufschreiben, so wie sie mir von dem ehrwürdigen Doktor Williams erzählt wurde.

Ich war früh mit ihm ausgegangen, und wir hatten bey einem Pächter zu Mittag gegessen, weil ich die ganze Einrichtung und Lebensart dieser Englischen Landleute kennen wollte. Gegen Abend giengen wir durch den Park zurücke. Es war ein herrlicher Tag für mich gewesen, durch den heitern Himmel, und durch die Gesellschaft eines weisen, die Menschenseele kennenden Pfarrers, durch unsere Beobachtungen über die Pächter, ihre Familien, Knechte und Mägde, die alle mit Bearbeitung unserer guten Erde beschäftigt waren, sicher, daß sie Abends den Schweiß ihres Angesichts in der ruhigen Hütte abtroknen, und dann schlafen können – der Anblick der durch die Wellen hineilenden Schiffe, worinn auch Menschen ihre Kräfte und ihren Muth verwendeten, um Nahrung und Wohlstand zu erwerben, aber nicht mit Versicherung des Schlafs, zu ihrer Ruhstätte kommen, wie der Hirt, und der Ackersmann zu der ihrigen.

Der Jäger von Sir John begegnete uns im Triumph mit der Beute seines geschossenen Wilds; der Gärtner und sein Junge trugen mit [158] gelassenem Schritt Körbe mit Gemüß und Blumen dem Hause zu, welches wir unter diesen Betrachtungen bey der niedergehenden Sonne erreichten, und wo wir Menschen einer höhern Klasse und sorgfältigerer Erziehung mit allen Gütern des Geistes und feinem Vergnügen begabt antrafen. Es war ergötzend für mich, in einem Tag so verschiedene Gewerbe und Gebräuche physischer und moralischer Kräfte und Vermögens zu sehen.

In dem Vorzimmer der alten Lady hörten wir singen. Ich stuzte. Doktor Williams winkte mir stille zu stehn. Eine höchst reitzende Stimme sang zu dem Spiel einer Harfe ein englisches Abendlied. Es war Lady Elma, die auf der Altane vor dem Zimmer ihrer Schwiegermutter saß, und in sanften melodischen Tönen die nemliche süsse Ruhe in die Seele des Sohns und der Mutter ergoß, die sich mit dem erblassenden Schimmer der Abendröthe über die Natur verbreitete. Sir John lehnte sich mit diesem Wonnegefühl seiner Elma gegen über an das Geländer der Altane. Die drey holde Kinder sassen auf Küssen um ihre Grosmutter herum; die kleine Mis Jenny mit ihrer Puppe auf der Schoos, welcher sie Mienen machte, und mit dem Finger auf Lady Elma deutete. Der zweyte Sohn Eduard hatte seinen [159] Hund zwischen den Knien, hielt ihm mit einer Hand das Maul zu, und mit der andern hatte er ganz muthwillig die beyde Lappen der langen Ohren gepakt, und oben über dem Kopf zusammen gefaßt, um ihn auch der Musik zuhören zu machen. – O! wie angenehm war diese Gruppe der edel erwachsenen und blühenden Welt! – Lady Elma ganz weiß gekleidet, ihren schlanken Leib mit einer Binde umgürtet, ohne Hut, ihren feinen Kopf und Nacken gegen die Abendseite hingebogen. Ich konnte mich nicht enthalten zu sagen:


O mein Freund! Gürdenhall ist unter dem Schutz seeliger Geister, sehen Sie? fühlen Sie es nicht wie ich?

Er drükte meine Hand, und sagte leise:


Noch besser als Sie. Aber diese Stimme brachte einst Lady Elma an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung – ihr Gebet rettete sie, und! – Gott sey Dank – durch mich –

Ich fragte hastig: wie das wäre? da nahm er mich mit in seine Stube, wo wir zu Nacht assen, (denn Abends speißte die Familie allein bey der alten Lady,) und er erzählte mir bis ein Uhr nach Mitternacht die Geschichte von Lady Elma – und fieng an:

[160] Ich war Hofmeister bey Sir John von seinem fünften Jahr an bis in das zwanzigste. Er wurde nach Anlage der Natur und den Bemühungen seiner Mutter, neben dem Anbau, den ich ihm geben konnte, der liebenswürdigste Jüngling. Seine Mutter betete ihn an. Er war ihr einziges Kind, denn Mylord sein Vater starb bald, und sie wollte sich nicht wieder vermälen, um allein für ihren Sohn zu leben. Zum Unglück unsers Sir John kam ein alter Vatersbruder mit großen Reichthümern aus Ostindien zurück, suchte seine Verwandte auf, fand Sir John in der schönsten Blüthe von Geist und Gestalt. Das freute ihn, aber er war sehr unzufrieden, daß sein Neffe noch niemals in London gewesen, und noch nicht gereißt sey. Er versicherte ihm sein ganzes Vermögen, und zog den jungen Mann so an sich, daß dieser äusserst bey seiner Mutter anhielt, mit seinem Oheim reisen zu dürfen. Milady mußte es bewilligen; sie dachte ich käme mit. Aber der Ostindienfahrer sagte: Er könne die Pfaffen nicht leiden; weil sie, wie er behauptete, aus den jungen Leuten lauter Sklaven bildeten, und jede Triebfeder des Großen und Edlen zerknickten.

Da nahm sich unsere theure Lady gleich vor, selbst nach London zu gehen, um ihren Liebling [161] doch von ferne zu bewachen. Aber der Abschied hatte sie so stark bewegt, daß sie sehr krank wurde, und lange Zeit zu ihrer Erholung nöthig hatte. Als wir nach dem ersten Brief in zwey Monaten keine Nachricht von Sir John erhielten, mußte ich nach London, um ihn selbst zu sehen. Aber sein Oheim hatte ihn nach Frankreich geschleppt, und er durfte seiner Frau Mutter nur alle drey Monate schreiben. Die Briefe waren bald von diesem, bald von jenem Ort datirt; so, daß obschon Milady vieles Geld aufwandte, um durch andere Leute Nachricht von ihrem Sohn zu erhalten, es doch immer vereitelt wurde. Endlich gieng sie selbst nach Frankreich über und ich kann sagen, daß wir dieses Land und beynah ganz Italien durchstreiften, je nachdem wir Spuren fanden, auf denen wir die Reisende zu haschen glaubten. Stellen Sie sich, nach einigen Monaten vergeblicher Mühe den Jammer der Mutter vor, als wir Briefe aus Konstantinopel erhielten, mit der Anzeige, daß sie nun nach Athen wollten. Die mütterliche Liebe und Hoffnungen erhielten sie bey Leben, denn ihr Kummer war unaussprechlich. Und so mußte sie vier Jahre leben. Denn erst zu Anfang des fünften starb der rauhe eigensinnige Mann, der sich eine Freude gemacht hatte, sie zu quälen, weil er [162] ihre mütterliche Zärtlichkeit als Schwäche eines Weibes verachtete, und seine Reichthümer als Gegengewicht jedes Verdiensts und jeder Freude des Lebens ansah. So wie er in seinem Gold die Bekräftigung der Rechte eines Oheims fand, die ihm die väterliche Gewalt beylegten. Seefahrer und Geldsammler sind immer stählernen Herzens und Sinnes.

Sir John hatte seiner Frau Mutter den Tod des Oheims gemeldet, und hinzugesetzt: Er würde sich noch einige Zeit in Neapel aufhalten, und dann nach Engeland zurückkommen. Die Begierde ihren Sohn wieder zu sehen, und wieder zu haben, führte Milady in großer Eile nach Italien, wo er aber nicht hingekommen, sondern schon lange in Paris war. Nun flogen wir auch hin, und hatten freilich die Freude unsern Sir John lebend, aber nicht gesund, weder am Leib noch an der Seele, anzutreffen. Seine so edle Gesichtszüge waren verzerrt, erniedrigt, seine Gesichtsfarbe blaß und gelb. Ach! Er war wie eine von giftigen Insekten angefressene Knospe, der man noch ansah, welch eine herrliche Frucht daraus geworden wäre, hätte nicht ein unseliger Zufall Verderben über sie gebracht. O! glauben Sie, es ist für einen Mann, der den Genius seiner Nation kennt und liebt, und der[163] einen freyen edlen Engeländer für diesen Genius erzog, ein unausstehlicher Anblick, einen solchen jungen Mann in einen mißrathenen Franzosen verwandelt zu sehen, dessen Geberden, Ton und Kleidung die Hände anzeigen, durch die er umgebildet wurde. Spieler und Buhlerinnen hatten den sanften, schönen Jüngling, dessen Gestalt, und die mit ihr so sehr harmonirende Seele ihn zunächst an das Bild eines Apolls stellten, zu einem Faun herabgewürdigt. Der ursprüngliche Zug seiner Muskeln und Nerven, die von der Natur bestimmt waren, jede edle, erhabene Bewegung der Seele auszudrücken, wurden nun durch schlechte Gesinnungen widrig und heftig gespannt. Er konnte nicht mehr geistvoll lächeln. Sein Blick war nicht mehr offen; sein Aug sagte nicht mehr: Ließ in meiner Seele. Er verzog den Mund, und blinzte mit halber Scham und halber Frechheit unter seinen langen Augenwimpern hervor. Sein Oheim hatte, wie gewisse Bäche die Eigenschaft haben, eine steinerne Hülse um sein sonst so gefühlvolles Herz gelegt. – Die Freudenthränen, das Entzücken und die Umarmungen der mütterlichen Zärtlichkeit trafen auf diese Steinschale, und der erkünstelte Petitmaitre antwortete elendes Zeug. Ich sprach gar nichts, und hatte ihm nur eine seiner Kleidung und Betragen [164] gemässe Verbeugung gemacht; aber mit Aufmerksamkeit ihn betrachtet, wie das verstümmelte Bild einer Gottheit. Er vermied meine Blicke, und suchte Verachtung anzudeuten, als sein Aug im Weggehen flüchtig über mein ihn scharf fassendes Aug hinwegeilte. Er wußte nicht, daß ich diesen Versuch zu einem Beweiß machte, daß er noch nicht unwiederbringlich verlohren sey, und daß ich den Trost darauf baute, dessen seine Frau Mutter damals mehr bedurfte, als wenn sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hätte.

Unser Aufenthalt in Paris ward ihm zuwider, und er gieng so weit, es seiner Mutter zu schreiben. – Sie können denken, was dieses für eine Würkung auf sie machte, ob er schon dazu setzte:


»Daß sie mit dem Vermögen seines Vaters und dem ihrigen thun möge, was ihr gefiele, indem er von seinem Oheim so viel geerbt habe, daß ihm nichts als Freyheit und Leben zum angenehmen Genuß fehle. Und dieses würde sie ihm als eine so gute Mutter wohl gönnen.«

Wir reiseten ab, machten aber unsern Weg über Rohan, gewiß durch einen Antrieb der göttlichen Vorsehung. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, warum wir in einem kleinen abliegenden Dorf an [165] der Seine blieben, als weil wir dort unser von der Vorsicht bestimmtes Geschäft ausführen sollten; denn unsere Abreise war auf morgens drey Uhr festgesetzt. Ich war nicht ganz wohl, und legte mich, ohne zu Nacht zu essen, in mein Bette, das in einem engen Kämmerchen gerade an der Lady ihrem Zimmer stund. Die Fenster giengen auf die nahe am Haus fliessende Seine. Ich konnte lange nicht schlafen, weil noch immer so viel Getöse in dem Hause war. Endlich schlummerte ich ein, aber kurze Zeit darauf däuchte mich, daß man ganz nahe an meinem Bette spreche, und ich endlich eine Thüre öfnen, und deutlich eine weibliche Stimme sehr innig um Verschonung und Zurückführen in ihre Heimat bitten hörte. Man antwortete:

»Sie wäre ein Kind, und all ihr Verstand nütze ihr zu nichts, so wenig als ihre übertriebene Moral. Denn wenn ihr diese, und ihr Beten etwas hülfe, so würde sie nicht in seine Hände gekommen seyn. Der Himmel bekümmere sich weniger um sie als er, da er ihr zu der Vollkommenheit ihrer Talente geholfen, und sie nun in einen glänzenden und angenehmen Zustand bringen wolle; – sie möchte sich bis morgen neun Uhr mit diesem Portrait und den Zeichnungen des schönen Hauses und Gartens unterhalten; denn früher würde er sie nicht sehen, weil [166] er zu thun habe. – Die weibliche Stimme sagte dann unter vielem Schluchzen: Gott vergebe Ihnen, und schütze mich!

Nun wurde die Thüre zugemacht und verriegelt. Ich hatte mich mit Staunen und Neugierde in meinem Bett aufgerichtet, und meinen Vorhang gefaßt. Dieser deckte die Thüre des Zimmers, woher die Stimmen kamen. Ich hörte das Frauenzimmer seufzen, und eilend ein Fenster aufmachen, indem sie sagte:


»Nein, das Bild eines Verführers und seines Hauses soll nicht mit mir in einem Zimmer seyn.«

Es klatschte im Wasser, weil sie beyde zum Fenster hinauswarf. Ich hörte sie auf ihre Kniee fallen, und Gott um Beystand anrufen. O wie ängstig war ihre Stimme? – wie durchdringend, als sie bat:


»Ewiger Vater! gabest du mir Schönheit und Gesang zu meinem Verderben? – warum Tugend in mein Herz, – warum Glauben an dich, wenn du mich verläßt? Du hast mir meine Eltern, meine natürliche Beschützer genommen, und giebst mein Leben und meine Unschuld in die Gewalt eines Bösewichts? O meine Mutter! siehst du dein Kind nicht? fühlst du mein Elend nicht? betest du nicht [167] für mich? – Ich kann nicht mehr beten – der Gott, bey dem du bist, sieht meinen Jammer, und hilft mir nicht! –«

Ich wurde äusserst gerührt und erschüttert, stund auf, zog mich an. Ich hörte sie auf- und abgehen, seufzen, die Hände ringen und zusammenschlagen. Ich weckte Milady, und bat sie, dieses arme Geschöpf zu retten, weil der Bösewicht erst den andern Morgen wiederkäme. Ihre Klagen gegen Gott näherten sie der Verzweiflung. Es grämte meine Seele. Ich hätte ihr nicht zurufen mögen, weil ich fürchtete, eine Männerstimme verhindere ihr Vertrauen; aber wenn Milady spräche, so würde der Gedanke einer Mutter, einer Beschützerin in ihr erwachen. Milady kam gleich, und horchte mit mir. Sie sprach aber nur noch abgebrochene Worte der Verzweiflung, und auf einmal sagte sie heftig:


»Nein! Gott kann es nicht verargen, wenn ich ehender mich in den Fluß stürze, als den morgenden Tag erwarte. –«

Sie fiel auf ihre Kniee, wo sie unverständlich fortwinselte. Milady rief an der Thüre mit dem zärtlichsten Ton:


»Kind! gutes armes Kind! vertraue dich mir, Gott sieht meine redliche Seele! –«

[168] Ein Schrey des Schreckens war alles, was wir darauf hörten. Ich hob mit einemmal mein Bette von der Stelle, riß die Thür auf, Milady stieg mit mir über das Bett des Frauenzimmers, dessen Vorhänge wie bey mir die Thüre deckten; sonst würde sie der Elende nicht da gelassen haben. – Wir fanden Mis Elma, denn sie war es, in einem Reißkleid, mit auseinandergerissenen Haaren, Rock und Weste aufgeknöpft, an dem offenen Fenster vor einem Stuhl auf der Erde, ihre Arme an dem Gesims hinaufgestreckt, Mund und Augen starr offen, und ihr mit der Todesblässe bedecktes Gesicht gegen die Wand gedreht, wo die Stimme von Milady hergetönt hatte. Meine edle Lady brach in Thränen aus, und drückte den Kopf dieses Bilds der Verzweiflung an ihre Brust. Ich machte ihre Hände loß, die das Gesims mit einem krampfigen Zug der Nerven festhielten, und bat nur um Stille. – Ich holte aus der Cassette von Milady stärkenden Geist, womit wir sie rieben, und ihr etwas in den Mund träufelten. Sie kam zu sich, sah sich um, erhob ihre Hände, und rief mit einem durchbohrenden Ton:


»O retten – retten« – und sank wieder lebloß hin.

Wir wurden voll Angst. Ich sagte aber, da sey[169] nichts zu thun, als sie aus dieser Stube wegzubringen, weil man in Milady ihrer ehender ein Geräusch wagen dörfe. Ich dachte alle Augenblicke, ihr satanischer Verführer möchte uns überraschen. Wir hoben sie auf, und brachten sie endlich auf das Bett von Milady, wo wir sie nach einer Viertelstunde völlig ermunterten, und Miß allein bey Milady blieb, die sie ihres mütterlichen Schutzes versicherte, und daß sie gleich mit ihr abreisen sollte. Die schöne Elma warf sich mit einem Strom von Thränen zu Milady Füssen, konnte nicht reden, sondern deutete auf den Himmel, auf ihr Herz, und küßte die Hände ihrer Erretterin.

Ich hatte indessen das Zimmer der Elma wieder zugemacht, und ließ ihren Hut neben dem Stuhl am Fenster auf der Erde liegen, damit der Bösewicht denken möge, sie habe sich in den Fluß gestürzt. Mein Bette brachte ich auch wieder an seinen Platz, und Miß Elma kam, in einen Kaputrock von Milady gewickelt, unerkannt und glücklich zu ihr in die Gutsche, wo zwey wehrhafte Bediente vornen aufsassen. Doch waren wir mit unserer Beute nicht eher ruhig, als da wir im Paquetboth in unsern Betten lagen. Eine Freundin von Milady schrieb in einiger Zeit, daß sich in dem Wirthshaus, wo wir über Nacht gewesen, ein schönes Mädchen [170] ersäuft habe, und daß sich darüber zwey Mannspersonen hätten ermorden wollen. Das war uns genug, und unsere Miß Elma verlangte nichts anders, als bey Milady zu bleiben. Jeder Tag und jede Stunde zeigten uns neue Vollkommenheiten des Geistes und der Schönheit an ihr. Es sind eilf Jahre seit diesem Vorgang verflossen.

Stellen Sie sich Lady Elma mit achtzehen Jahren vor. Sie ist eines teutschen Offiziers Tochter; ihr Vater starb als sie siebzehn Jahre hatte. Er war mit seinem Regiment in Italien gelegen, hatte sich dort verheurathet, und dieses einzige Kind seiner Liebe vortreflich erzogen. Denn sie hat richtige und ausgebreitete Kenntnisse, wie sie ein Frauenzimmer, ohne als eine Gelehrte berühmt zu seyn, haben kann. Ihre herrliche Stimme wurde in dem Vaterland der Musik leicht zu der Vollkommenheit gebracht; sie zeichnet und malt, spricht Französisch und Teutsch; Italienisch ist ihre Muttersprache, und unser Englisch lernte sie in kurzer Zeit. Ein heilloser Kerl, der sie als Harfenist und Sänger unterrichtet hatte, entführte sie nach dem Tod ihrer Mutter, um sie einem reichen Wollüstling in Frankreich zuzubringen, der eine schöne und noch reine Sängerin dieser Nation haben wollte; und in dem Haus, wo wir sie fanden, sollte sie übergeben werden.

[171] Ich bemerkte, daß die gute That, welche Milady an Miß Elma bewiesen, ihre Seele wieder zu freudigen Gefühlen geöfnet hatte. Sir John war auch nach Engeland zurückgekommen, und beschäftigte mein Herz. Denn ich ließ ihn genau beobachten. Die Rettung von Miß Elma machte mich auch die seinige wünschen. Ich dachte auf Mittel, und sagte mir endlich:


Ein durch sinnliche Vergnügen verdorbener Mensch kann nur durch Reize neuer Vergnügen zurückgezogen werden. Schöne Buhlerinnen bestricken Sir John, und halten ihn von seiner Mutter und seinen Pflichten zurück. Sollte nicht die schöne Miß Elma, ihre Stimme, ihr Harfenspiel ihn reizen, zu seiner Mutter zu kehren, um sie zu seyn, und also Miß Elma die körperliche Erscheinung der Tugend für ihn werden? Man nimmt so gern den Ton und Sitten des geliebten Gegenstandes an. – Sir John beweißt es; er ist wie seine Gesellschafterinnen –

Ich sagte Milady meine Wünsche und meine Hofnungen. Sie faßte sie auf, und wir giengen ohne unserer Elma ein Wort zu sagen, nach einem wohl überlegten Plan zum Werk.

Sir John hatte seiner Frau Mutter geschrieben, [172] daß er auf ihr Vermögen Verzicht thue: sie könne thun, was ihr beliebe. Alle Welt wußte, wie er der besten Mutter so kalt und schlecht begegnete. Wir bauten auf diesen Brief, giengen nach London, und ich fragte Rechtsgelehrte um Rath, auf den Fall, daß Milady nach diesem Brief handeln, und eine junge Miß an Kindesstatt aufnehmen wollte. Die Sache wurde richtig, und Miß Elma mit aller Feyerlichkeit von Milady Gürden zur Tochter und Erbin angenommen. Sir John war zu Tunbridge, als es geschah; aber alle Zeitungen und Pamphlets waren voll von diesem Vorgang, besonders aber von der Schönheit der Miß. Milady führte sie in Schauspiele und auf Spaziergänge. Ueberall wurde sie gelobt und bewundert. Aber sie erschien nur einmal: dann war immer Miß Elma kränklend und verschlossen. Sir John hörte diese Geschichte, lachte und spottete anfangs. Doch da er so viel von der Schönheit der Miß reden hörte, wurde er neugierig, suchte Milady auf, und kam mit ziemlicher Artigkeit, sein langes Ausbleiben zu entschuldigen. Milady empfieng ihn heiter, aber kalt, wie einen ganz fremden Menschen, antwortete ihm ganz gleichgültig, und arbeitete fort. Er war verlegen, sah um sich, so oft sich nur das mindeste hören ließ, aber Miß [173] Elma erschien nicht. Ihre Harfe war in dem Kabinet von Milady; er sah dem Lehnsessel seiner Mutter gegenüber einen Stuhl, nahe an der Stelle, wo die Harfe hieng. Da, dachte er, sitzt Miß bey meiner Mutter. Die schöne Auflage der Werke von Lord Litleton lagen aufgeschlagen da; ein Miniaturstück nicht ganz ausgemalt daneben. »Dieß ist Arbeit von Miß.« Er sah alles an, doch fragte er nicht; und da Besuche kamen, und Miß nicht erscheinen wollte, so gieng er, fragte aber Milady, ob sie noch einige Zeit in London bliebe? – kalt sagte sie, sie wisse es nicht. Ihre Kälte und Ruhe war ihm sehr aufgefallen, und er war abends selbst in seiner lustigen Gesellschaft nicht so munter als sonst.

Milady ließ nun unsern Reynolds kommen, und begehrte von ihm den Entwurf eines allegorischen Gemäldes, auf welchem sie und Miß Elma so abgebildet wären, daß es als ein Denkmal der Aufnahme an Kindesstatt angesehen werden könnte.

Nun sprach erst der Kenner jeder Grazie von den Annehmlichkeiten der Miß Elma, und man wollte sie schon ohne Entgeld malen, und in Kupfer stechen. Durch alles dieses wurde die Neugierde von Sir John so stark, daß er einen alten Bedienten von Milady, der ihn ehmals besorgt hatte, zu [174] sich kommen ließ, und ihm so viel Guineen bot, als er wollte, er solle ihm doch sagen, woher Miß Elma sey, und was alles mit ihr vorgienge. – Der Bediente war unterrichtet, sprach nicht anders als von einem Engel, und mischte mit einer Thräne im Aug einen Gottesdank unter das Lob, weil Miß Elma die gute Lady über das lange Ausbleiben von Sir John getröstet, und bey Leben erhalten habe. – Nun wollte er in dem Hause versteckt werden, um Miß zu sehen. Richard fand, es sey beynahe unmöglich; denn Miß schliefe in Milady Zimmer, und sey den ganzen Tag bey ihr: er wolle aber mit seiner Betti sprechen, die Kammermädchen bey Miß sey; denn er möchte Sir John wohl gönnen, daß er seine schöne Schwester einmal sähe! Richard bekam eine handvoll Guineen, und Reynolds einen Besuch, als das Bild in sein Haus kam, um ausgemalt zu werden.

Beyde Ladies stehen in Lebensgröße in einem auf Säulen ruhenden Tempel. Auf dessen Vorderseite steht, »der Sympathie geweyht.« Milady Gürden in einem violetten Wittwengewand, eine weisse Binde mit langgeknüpften Schleifen um ihren Leib; ein halbzurückgeworfener Schleyer wallt in edlen Falten an ihrem ehrwürdigen Gesichte herunter; sie steht auf der obersten Stufe eines antiken [175] Altars, auf welchem Blumenkränze und Blumenketten liegen, von denen sie eine an einem Ende hält; das andere, so etwas über den Altar hinunterhängt, wird von Miß Elma gefaßt, die erst mit einem Fuß auf der Stufe ist. Milady zieht die Kette gegen ihre Brust, und sieht mit einem Gemische von Würde, Liebe und Vergnügen gegen Miß Elma hin. – Diese in einem weissen Kleid mit Falten, welche allein in dem Gewand einer eilenden Huldgöttin entstehen können, hat den rechten Arm ausgestreckt, mit dem sie die Blumenkette hält, ihr Oberleib ist in der edelsten Stellung etwas vorwärts gebogen, und in ihrem holden Gesichte liegt bescheidenes Entzücken, Dank und Zärtlichkeit ausgedrückt. Die herunterhängende Ende des rosenfarbenen Gürtels, der um ihre feine Gestalt liegt, sind auch nach den Falten des Kleids etwas fliegend gemalt; ihre linke Hand hält Blumen, wovon sie schon etliche zu den Füßen von Milady gestreut hat. Auf dem Altar steht: –


Lady Gürden nimmt Miß Elma zu ihrer Tochter an.

Das Gemälde wurde täglich mehr besucht. Milady selbst erhielte Ehrenbezeugungen und Briefe von Lords aus großen Familien, welche um die Erlaubniß baten, Miß Elma aufzuwarten, und ihr [176] Hand und Rang anzubieten. Unsere Leute wurden bald von diesem, bald von jenem gereitzt, um Versprechungen und Gold, Briefe an Miß zu bestellen, oder eine Unterredung zu verschaffen.

Sir John wurde unruhig über dieses Geräusch, und war auch einige Tage nicht wohl; und was noch mehr war, er versagte seinen Bekannten ihre Besuche; Richard mußte wieder zu ihm, und wurde eifriger als je nach Miß Elma gefragt, wer sie sehe? wem sie Milady wohl zudächte? – Richard wußte nichts: er vermuthete aber, daß Milady etwas vorhätte, denn sie habe seiner Betti gesagt, gleich nach der Rückreiße von Gürdenhall, wohin sie in zwey Tagen giengen, würde Miß Elma vermählt.

Nun foderte Sir John von dem alten Richard eine Probe seiner ehmaligen Liebe für ihn, daß er ihm Gelegenheit schaffe, Miß zu sehen oder zu hören, ehe sie wegreißten: er wolle sich verkleiden; man denke in seiner Mutter Hause so nicht mehr an ihn, besonders da er nicht ausgehe.

Richard ließ sich bewegen, brachte ihm den andern Tag seinen Livreerock, und führte ihn ganz sorglich in die Stube von Betti, wo er versteckt seine Mutter und Miß Elma auf den großen Saal gehen, und wiederkommen sah. Bey dem Zurückkommen [177] hielt sich Milady bey Betti auf, und fragte, ob alle Kleider von Miß fertig und gut gepackt seyen? Betti versicherte es, und Miß Elma dankte, für die nur zu reichliche Sorge, welche Milady für sie trage. Diese antwortete ihr mit einem Kuß: Bald, meine Elma! hoffe ich dich als meine geliebte Tochter ganz auszustatten, ob dich schon der glückliche Mann, auch ohne nichts, als den köstlichsten Schatz betrachten wird.

Damit giengen sie vorüber, aber der Stachel war tief durch Liebe und Furcht in die Seele unsers Sir John gedrungen, Miß Elma, und alle ihre Reize waren immer vor ihm, mit dem Gedanken, daß seine Mutter sie nun einem andern geben müßte, da doch ehmals ihre Liebe alles für ihn gethan haben würde. Er ließ einen Beutel mit Guineen in des alten Richards Rock, und folgte uns auf dem Fuße nach Gürdenhall. Denn kaum waren wir zwey Tage da, als mich der Sohn des Pächters, bey welchem wir heute zu Mittag assen, zu seinem Vater rief, der mich an die Thüre des obern Zimmers führte, und allein hineingehen hieß. Sir John, der am Fenster saß, sprang auf, und gieng einige Schritte hastig gegen mich, blieb aber auf einmal mit erröthetem Gesicht, und einem gegen mich ausgestrecktem Arm stehen. Ich stockte [178] freylich auch einige Augenblicke, aber es war staunende Freude über seinen Anblick, und über die Gewißheit, daß er nun Gürdenhall und der Tugend wieder gegeben sey. Ich warf meinen Hut und Stock hin; Thränen stürzten aus meinen Augen, und mit beyden Armen schloß ich den moralischen Findling an mein Herz. Nun hieng er an meinem Hals, weinte auch, und küßte mich, drückte dann meine Hand, sah mich an:


Doktor! Sie lieben mich also noch?


Ja, Sir John! von ganzem Herzen liebe ich Sie, und danke Gott, daß er mich den Tag erleben ließ, wo Sie diesen Boden wieder betreten, wieder ganz Sir John sind. Ach! was göttliche Freude für Ihre Mutter!

Er sagte mit einer Art Schmerz:


O meine Mutter ist so kalt gegen mich geworden.


Daran, lieber Sir John! war Ihre eigene Erkältung Ursache; aber glauben Sie mir, das mütterliche Herz wird bey der Rückkehr ihres Sohnes schmelzen.

Wir setzten uns nach dem schweigend auf eine Bank, Hand in Hand, zusammen. Sir John sah nachdenkend vor sich hin, und ich mit Wonne auf ihn. Es däuchte mich, als ob unter seinen Thränen der Reue jeder moralische Zug seines Gesichts [179] sich neu entfaltete, wie Thau die welkende Blätter einer durch Sonnenhitze versengten Pflanze erquickt, und ihr neues Grün und neuen Wachstum giebt. Ich bat Gott in meiner Seele, die gute Bewegungen, die ich in der Seele meines Zöglings sah, zu segnen, und sie reifen zu lassen. Während diesem innerlichen Gebet drückte ich sanft eine seiner Hände, die ich hielt. Er blikte mich fest und untersuchend an.


Doktor! ist Ihnen alle diese Liebe ernst? machen Sie mir keine Vorwürfe da innen? –

Er legte hier eine Hand auf meine Brust.

Nein, bey Gott! – sagte ich,

da ich zugleich seine Hand fest an meine Brust drückte –


Ich fühle nichts als Freude, und wahre Liebe; ich wünschte, Sie in meiner Seele lesen lassen zu können.


Sie müssen doch sehr unzufrieden mit mir gewesen seyn?


Ja, lieber Sir John! das war ich. Aber immer war Liebe dabey; denn wie konnte ich das Bild Ihrer schönen Jugendjahre, alle die herrliche Anlagen Ihres Geistes und Herzens vergessen? – ich weinte nur, daß der wilde Strom der Leidenschaften Sie mit fortgerissen[180] hatte, und hofte immer auch, die Vorsicht würde ein so edles Geschöpf nicht zu Grunde gehen lassen. – Sie sind gerettet! ich fühle es – Sie sind gerettet!

rief ich mit einer Umarmung aus. Eine ruhige schöne Thräne glänzte in seinem Aug. Er küßte mich dankbar, und sagte:


Guter Mann! Sie sollen, wie ich zu Gott hoffe, Ihre Erwartung erfüllt sehen, und ich will Ihnen gleich einen Beweiß von der völligen Rückkehr meines Herzens geben. – Ich bekenne, daß mich nicht die schuldige Liebe für meine gute Mutter, nicht das Gefühl von Reue über meine Ausschweifungen, sondern die Liebe für Miß Elma hieher brachte. Aber das ist auch wahr; ich konnte Gürdenhall nicht sehen, diese Luft nicht einathmen, ohne daß tausend Bilder und Gefühle in mir erwacht wären, welche das süsse Andenken jeder reinen Jugendfreude zurückruften. Das Händeschütteln des guten Pächters, als ich gestern Abend ganz allein hiehergeritten kam, seine staunende Freude mich zu sehen, sein Jammern, als ich nach seiner Frau fragte, die meine Kinderjahre gepflegt hatte, – daß sie nicht mehr lebe, und den Trost nicht habe, mich wieder gefunden zu sehen, – o das bewegte mich! [181] noch mehr aber, als er zusetzte: – Ach! sie war nur Ihre Magd. Ihre Mutter! – die wird Trost geniessen – die verdient's. Theurer Sir! bleiben Sie jetzo bey Ihrer Mutter! –

Doktor! fuhr Sir John fort: –


mein Herz war bestrickt, meine Seele verblendet, aber nicht so ausgeartet, daß ich mich gegen die treuherzige Neigung dieses Mannes verhärten konnte. Ich war unendlich gerührt, und bat ihn, Sie morgens in aller früh holen zu lassen. Ich wollte bey ihm über Nacht bleiben, um meine Frau Mutter nicht so spät zu beunruhigen. Es gefiel ihm, daß ich meine Mutter schonte, und der redliche Greiß freute sich, den Sohn seiner Lady zu beherbergen. Er sah meinen Wunsch nach Ihnen als ein gutes Kennzeichen an, und erlaubte dann seiner Tochter Sally, das Essen zu bringen, und in der Stube zu seyn. Dieß erschütterte mich. Mein böser Ruf hatte die ehrliebende Seele meines Pachters mißtrauisch gemacht, und die Tugend meines Lehrmeisters war so tief in dem Mann gewurzelt, daß er vermuthete, ich müsse auch gut seyn, nur weil ich so eifrig nach Ihnen gefragt hatte. Ich lag die halbe Nacht am Fenster; die hohe weisse Stirnwand von Gürdenhall, und die Vasen [182] von einer Seite des Dachs glänzten sanft im Mondlicht zu mir herüber. Die Bäume des Parks säusselten, und schienen mich willkommen zu heissen. Mein Herz wurde erweicht, und innig wünschte ich meiner Mutter einen süssen Schlaf. Ich fürchtete mich vor Ihnen, sagte mir aber, daß ich Vorwürfe verdiente, und sie gerne tragen wolle, wenn sie nur nicht zu bitter seyen. Denn, mein Freund! o glauben Sie mir, wer einst die Tugend liebte, und sie verläßt, macht sich beym Wiederkehren selbst Vorwürfe genug. Aber Sie haben mich als Vater aufgenommen, und bewießen mir, daß wahre Tugend nie ohne vollkommene Güte ist.

Ich war versunken in unaussprechliches Wonnegefühl. Ich knieete zur Erde, und prieß Gott für die Seeligkeit, welche die Rede des jungen Manns über mich ausgegossen hatte. Ich bat ihn, den Jüngling zu lohnen, und ihm Beharrlichkeit des Wandels auf diesem schönen Weg zu geben. Sir John umfaßte mich, und lehnte seinen Kopf auf meinen. Meine Thränen benetzten ihn, ich wollte sie abwischen, aber er litte es nicht.


Nein, Doktor! ich bin nun wieder zu Ihrem Zögling geweyht, und ich will es bis in meine Grube bleiben. Leiten Sie mich wieder,

[183] (sagte er, als ich an seiner Hand aufgestanden war, und er mich noch hielt:) Aber, fuhr er fort,


Lohnen Sie mich auch! machen Sie, daß ich an der Hand von Miß Elma mein Leben fortführe, daß meine Mutter mir ihren Liebling giebt, nicht dem glücklichen Lord Sirham, (den er für ihren Bräutigam hielt.)

Ich versprach ihm, alles für ihn zu thun: er solle sich nur bey Miß Elma beliebt machen; von dem Herzen seiner Mutter könne er alles versichert seyn. Nun mußte ich auf hundert Fragen antworten. Der Mittag kam. Ich sagte, ich wollte nach Haus, weil Milady heut früher speise, um den Nachmittag in Johns Lauben zuzubringen, wo sie der Miß Elma sein Bildnis zeigen wolle. Er wurde von diesem Gedanken durchdrungen, schlug seine Hände zusammen, und rief aus: –


Ach! da wird meine Mutter über mich klagen, und Miß Elma mich verabscheuen!

Hierauf wurde er einige Augenblicke still, und fieng dann an:

Doktor! wollen Sie das Siegel auf Ihre Freundschaft drücken?

Ich sagte, ja, recht gern. –


Nun, so schreiben Sie meiner Mutter, daß Sie bey Pachter Edward zu Mittag essen, [184] und führen Sie mich dann in den Park, daß ich meine Mutter sehen und hören kann, ehe sie weiß, daß ich hier bin.

Ich schrieb; meine Hand zitterte vor Freude. Denn dieses Billet war das Losungswort für Milady, daß Sir John wieder gefunden, und ihrer ganz würdig sey. Sie ließ mir nur sagen, sie hoffe, daß ich abends nach Johns Lauben kommen, wo er sie und Miß finden würde, indem beyde den ganzen Nachmittag da zubringen wollten. Sir John war in dem größten Entzücken über allerley Hofnungen, die er sich machte. Aber der Gedanke, Miß Elma zu sehen, war die glänzendste davon.

Wir giengen bald vom Tisch, aber durch einen ziemlichen Umweg nach Johns Lauben, die man so nannte, weil alle Bäume dort auf den Geburtstag von Sir John angepflanzt worden, und auch ein sehr artiges Gartenhaus hingebaut ist, das in einem ovalen, in der Mitte durchschnittenen Saal besteht, der auf beyden Seiten der durchschneidenden Mauer kleine, auf Säulen gestützte Gänge hat. Alles ist mit einem Italienischen Dach und Vasen geziert, und zwischen den Säulen des halben Ovals und der Gänge sind Stufen, so daß man von allen Seiten in den Park gehen kann. Die Hälfte des Saals ist mit Mauern und Fenstern[185] gegen die See zu. Ueber dem Kamin ist das Gemälde von Sir John, als er sechszehn Jahr alt war, da er neben einem schönen Pferd steht, welches ihm sein Großvater geschenkt hatte. Man kann in Wahrheit nichts Angenehmers sehen, als diese Jünglingsgestalt, voll Muth und Fröhlichkeit über das schöne Pferd. – Dort war Lady Gürden mit Miß Elma hingegangen, um den entscheidenden Augenblick zu befördern, der das Glück ihres Sohns und das ihrige festsetzen sollte. Sir John gieng bald schnell, bald langsam ganz stillschweigend neben mir; sah oft auf mich, wenn wir bey Plätzen vorbeykamen, wo die Ruhbänke waren, auf denen ich mit ihm gesessen, und ihn unterrichtet hatte. Ich bemerkte wohl, daß alles einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Endlich winkte er mir, zurückzubleiben, und schlich sich zwischen der Galerie in die Ecke des Kabinets. Ein kleines verabredetes Zeichen sagte Milady, daß Sir John da wäre, wo er seyn sollte. Miß Elma mußte da ihre Harfe nehmen, und spielen, und ein kleines Lied dazu singen, damit auch diese Kette um sein Herz geschlungen würde. Aber bald sagte Milady:


Höre auf, meine Elma! ich werde durch dein Spiel und Singen zu wehmüthig, besonders da ich das Bild meines verlohrnen Sohnes [186] vor mir habe.


»Liebe Mutter! wie alt war Sir John, als er gemalt wurde?«

Sechszehn Jahre, meine Liebe!

»Er war sehr schön, und hat viele Aehnlichkeit mit Ihnen.«


Ach Elma! wenn diese Aehnlichkeit in den Zügen seiner Seele gewesen wäre, so würde ich noch eine glückliche Mutter seyn; aber diese äusserliche Gleichheit hat nicht einmal Liebe für mich gewürkt.


»Theure Lady! darf ich was fragen?«

Was du willst mein Kind!
»Haben Sie alles gethan, ihn zurückzurufen?«

Gewiß, meine Elma! habe ich nichts unversucht gelassen.


»Ich will es glauben, liebe Mutter! aber waren Sie es selbst, oder andere, die Sir John Vorstellungen machten?«


Warum fragst du dieses?


»Weil ich fürchte, daß andere nicht edelmüthig genug, nicht liebend genug mit dem jungen Mann umgiengen, oder zur Unzeit mit ihm sprachen, da gerade eine ergötzende Leidenschaft in ihm herrschte, und da konnte er ja niemand anhören.«


[187] Ach, liebe Elma! wenn du wüßtest, was ich und sein Lehrmeister alles thaten, und ihn immer kälter und verdorbener fanden – den so vortreflichen jungen Mann, in welchem alles Edle und Gute bis in sein zwanzigstes Jahr in voller Blüthe war.


»Theure Lady! das kann nicht ganz erstickt seyn – es ist unmöglich, jeder Zug seines Gesichts sagt es. Und, liebe Mutter! seine Aehnlichkeit mit Ihnen verspricht es meinem Herzen, er wird gewiß einst für Sie, und für jede Tugend leben.«


O Elma! du Fremdling! den das ohngefähre Schicksal in meine Arme brachte – du giessest Balsam in das Herz, das von meinem einzigen geliebten Sohn zerrissen wurde. – Holde, liebe Tochter! Gott segne dich für die Hofnung, welche dein das gute so gern glaubendes Herz mir giebt.

Hier, mein Freund! war Sir John seiner nicht mehr mächtig. Er stürzte in den Saal zu den Füssen seiner Mutter, die in diesem Augenblick ihren Kopf in der vollen Bewegung ihres Herzens auf Miß Elma gelehnt hatte, und Miß eine Hand der Lady küßte.

Sir John lag vor ihnen, beyde Arme ausgestreckt,[188] konnte nichts sagen – als –


O meine Mutter! O Engel Elma!

dann, von tausend Gefühlen überströmt, halb ausser sich, auf den mütterlichen Schoos sank, seine Mutter ihn umarmte, an sich drückte, und süsse, süsse Thränen der Freude über ihn hinweinte – O! was war dieser Anblick für mich – der so glückliche Erfolg meines Nachdenken und Anordnung.

Milady erhob sich, hatte aber noch einen Arm um den Hals von Sir John, und mit der andern Hand hielt sie seinen Kopf in die Höhe, um ihr mütterliches Auge an dem Anblick ihres Sohns zu erquicken. Miß Elma, über deren schöne Wangen große Thränen herunterträufelten – Sir John, der seine Hände bittend erhob:


Vergebung, o meine Mutter Vergebung!

Milady dann seine Hände in ihre schloß, und so feyerlich ihm sagte:

von ganzem Herzen, mein Sohn! – Bleibst du aber jetzt mein?
setzte sie zärtlich hinzu,

All mein übriges Leben, theure Mutter! Segnen Sie mich wieder.

Betend waren ihre Hände über dem bittenden Sohn gefaltet, und sie segnete ihn nach sechs kummervollen Jahren wieder das erstemal auf der nemlichen [189] Stelle, wo er ihren Abschiedskuß erhalten hatte. Ich war gegenüber an der Thüre angelehnt, und genoß die herrliche Frucht meiner Hofnungen. Sir John küßte die Hände seiner Mutter, die mit Wonne ihn ansah. Miß Elma stund auf; dann sie war erst ganz frey geworden. Sir John wand sich, noch da knieend, gegen sie:


Edle Fürsprecherin für den verblendeten Sohn! haben Sie Dank, – ewigen Dank für jede Sylbe, die Sie sagten, für jeden Blick auf mein Bild! – O Elma! wie tief ist das Ihrige in meiner Seele.

Miß machte eine anmuthsvolle, sittsame Verbeugung, und Milady lächelte auf ihre Kinder mit Entzücken hin, führte dann ihren Sohn, wie eine köstliche Beute, triumphirend nach Gürdenhall, stellte ihn dem ganzen Haus wieder vor. Alle hatten unaussprechliche Freude, Sir John zu sehen; sie wurden beschenkt, und im ganzen Kirchsprengel alle arme Jungen gekleidet, so wie von diesem Tag an, jedes Jahr vier versorgt werden.

Aber auch von diesem Tag an ist Sir John der beste der Menschen, und wir dadurch die glücklichsten. Schnell sproßten alle erstickt geschienene Verdienste des Geistes und Karakters wieder in ihm empor, und eben so schnell wuchs seine Liebe für [190] Miß Elma. Es war Anbetung in der Flamme seiner Zärtlichkeit. – O wie hiengen seine Blicke an ihr, wenn sie malte, arbeitete, oder etwas vorlaß! wie lauschte er ihrem Gesang, ihren Reden! wie leicht errieth er, was sie liebte! und wie mußte das alles geschehen. Lange versagte er sich die Freude, von seinen Gesinnungen zu reden, aber endlich ertrug er sein Schweigen nicht länger; doch sagte er seiner Mutter zuerst seine Wünsche nach Miß Elma, bat sie um Erlaubniß zu reden, und um ihre Fürsprache. Wie glücklich war er, als er sagen durfte: ich liebe – und wie viel glücklicher, als er hofte – geliebt zu seyn; und die Mutter, und wir alle, die nun dieses Bündnis voraussahen! – Sehnsucht fieng an, das Herz von Sir John zu nagen, da redete Milady mit Miß Elma, und diese versprach ihr, auf den Namenstag von Sir John ihre völlige Tochter zu werden. Miß entwarf eine Scene voll Liebe auf diesen schönen Tag in Johns Lauben. Zehen Pächtermädchen, und eben so viel Jungen wurden grün und weiß gekleidet, und bekamen weisse Strohhüte mit Blumenkränzen gezieret. Die Bäume in Johns Lauben wurden mit Blumengewinden behängt. Miß unterrichtete die junge Leute, was sie thun sollten. Ihre Eltern und der Pfarrer wurden auch geladen, festlich da zu seyn. Miß gieng, mit dem [191] Segen von Lady begabt, Morgens in den Park, wo die junge Leute und die Pächter schon waren. Sie hatte während der Brautzeit ein Kleid für Sir John gestickt, und gab es ihm zum Geschenk auf diesen Tag. Sie war ganz weiß gekleidet, aber die Einfassung war auch im nemlichen Rosengewinde gestickt, wie das Kleid ihres Sir Johns. Ein Kranz von Perlen, Rosenknospen und Myrthen lag reizend auf ihrem Kopf, ihre Haare hiengen in langen Loken um ihren schönen Hals, und eine Rosenkette war ihr Gurt. So saß sie auf einer Mooßbank unter Blumengesträuchen mit ihrer Harfe, an welcher ein Kranz hieng, so dem ähnlich war, den sie auf dem Kopf trug. Als man die Lady mit Sir John gegen den Platz kommen sah, spielte sie einen artigen Englischen Landtanz, nach welchem die Knaben und Mädchen zwischen den Bäumen mit Kränzen und Blumen in den Händen herausgehüpft uns entgegen kamen, Blumen vor uns herstreuten, und sich dann tanzend auf beyden Seiten theilten, als Miß Elma, mit der vollkommensten Grazie, ihre bekränzte Harfe haltend, gegen Sir John gieng, einige Verse sang, die ich gemacht hatte, den Kranz von der Harfe nahm, und ihn um Sir Johns Hut legte, der Liebe und Wonne trunken ihre Hände küßte. – Alsdann fieng eine von mir in dem Wäldgen versteckte Musik [192] an, und die Knaben und Mädchen schlossen tanzend mit ihren Kränzen einen Kreiß um Milady und das Brautpaar, und wir sangen in einem Chor:


Edles, schönes, würdigs Paar!
Welches auserlesen war,
Unsere Mutter zu entzücken,
Und uns alle zu beglücken,
Lebe, lebe viele Jahr!
Edles, schönes, würdigs Paar!

Und so giengen wir in den kleinen Saal von Johns Lauben, wo ich als Vater die liebenswürdige Miß Elma an meinen geliebten Zögling übergab, und alle nach der Trauung und den Glückwünschen der guten Pächter und Bedienten in der Halle zu Mittag speißten, und Lady Elma noch durch unnachahmliche Anmuth im Tanzen ihren Gemal auf das neue entzückte, und von diesem Tag an Edelmüthigkeit, Güte, Weisheit, und alle schöne Freuden des Lebens in ihre Handlungen und Tage verwebt sind.

[193]

Ursprung des kleinen Baurenhofes treue Magd.

Meindorf, ein fürstlicher Rath, konnte zu einem Beweiß dienen, daß es Familien giebt, in welchen sich Tugenden des Herzens fortpflanzen und verstärken, wie sich Gesichtszüge von den ältesten Ahnen her in gewissen Geschlechtern auszeichnen. Meindorfs Vater und Großvater waren geschickte und rechtschaffene Männer, deren Andenken von Greisen und Enkeln vieler Unterthanen gesegnet wurde. Denn mancher Bürger, mancher Bauer, und viele redliche Leute in niedern Bedienstungen sagten unserm Meindorf oft noch mit Dank und Verehrung: Mein Pachtbrief, mein Hauskauf, oder das Dekret meiner Anstellung ist von Ihrem Vater, von Ihrem Großvater unterschrieben, und das ist mir so lieb wie mein Dienst, so lieb wie mein ererbtes Haus. Die Bauren sagten, dieser Name hätte den Segen Gottes auf ihr Feld gebracht, und mehrere, die in Aemtern stunden, rühmten, daß sie einem dieser Männer ihre Talente und Rechtschaffenheit zu danken hätten. Herrliches, wünschenswerthes Erbe von Adel der Seele! möchtest du auch ausgebreitet [194] und gesucht werden! möchten unsere Nachkommen auch diese Art von Stammbäumen finden? um wieviel würde unser Jahrhundert glänzender seyn, als viele vorhergehende?

Meindorf, von welchem ich spreche, war einziger Sohn, und der Himmel hatte ihm auch nur einen Erben gegeben, dessen Geburt seiner vortreflichen Mutter das Leben kostete, und den Vater untröstlich machte. Eine verwittibte Schwester seiner geliebten Gattin zog, weil er sich nie wieder verheurathen wollte, in sein Haus, und half den kleinen Ernst besorgen. Eine glückliche Stunde hatte in dem holden Knaben alle Verdienste des Vaters und alle Liebenswürdigkeit der Mutter vereiniget. Es gab keinen schönern, und auch keinen edlern Jungen in der ganzen Gegend, und nie sah man so viel Güte mit so viel Festigkeit des Karakters verbunden, als man von den ersten Jahren an in dem kleinen Meindorf entdeckte. Sein Auge und seine Seele waren immer offen, und freymüthig sagte er seine Gedanken und seine Empfindungen. Sein Vater, der seit dem Tod seiner Frau an nichts Vergnügen fand, als an seinem Sohn, und ihn in den Stunden, wo er von Amtsgeschäften frey war, selbst zu bilden suchte, hatte mit einer würklich ohngewohnten Lehrart angefangen. Denn er erzälte seinem [195] Ernst bey dem Namen der Gegenstände, nach denen der Knabe fragte, so viel und so deutlich er konnte, die Geschichte des Ursprungs und der Verarbeitung der Sachen, welche ihm aufgefallen waren: – zum Beweiß, bey dem Brod zeigte er ihm die Kornähren auf dem Felde, lößte ein Paar Körner aus, führte ihn in eine Mühle, wo er ihm alles zeigte, was ihm einen deutlichen Begrif von der Zubereitung des Mehls geben konnte: – dann wurde der Becker besucht, bey welchem Ernst alles sah, was geschehen mußte, um ihn das gute Brod essen zu machen, das er liebte. So wurde er über das Wachsen der Pflanzen belehrt. Erst sah er die trockene Saamenkörner, die in die Erde gelegt wurden; dann hob sein Vater nach dem Zeitpunkt des Keimens wieder einige aus, und sprach ihm darüber. So gieng es mit allem. Meindorf machte die Fragen entstehen, die er beantworten wollte und konnte; auf diese Art wußte der kleine Ernst viel bälder alle Materialien, und kannte alle Arbeiten, die zu dem Bau eines Hauses gehörten, als er nur von ferne wußte, was ein Mann wie sein Vater thun und lernen müsse, um als ein geschickter Rath darinn wohnen zu können, denn sein Vater führte ihn immer daneben zu den geschicktesten und redlichsten Handwerksleuten, wie er ein Kleidungsstück brauchte, wie etwas von dem[196] Geräthe in dem Haus neu angeschaft wurde. Alles war Unterricht in den mechanischen Künsten, und dieses wurde die Grundlage der Hochachtung, welche der junge Meindorf für die Kunst und den Fleiß aller Art Handarbeiten bekam, und war auch die Ursache, warum er in seinen männlichen Jahren, und bey aller großen Güte seines Herzens, seine Wohlthätigkeit allein in Unterstützung alter oder durch Unglück verarmten Handwerksleute, und in Bezahlung der Lehre für arme Jungen zeigte. Wie er anwuchs, und Kenntnisse erlangte, so wünschte er sich Gelehrsamkeit, um andere unterrichten zu können, wie die Schriften der alten und neuen Weisen ihn unterrichteten. Lang wollte er Bildhauer werden, und grossen Männern Denkmäler ausarbeiten; dann wäre er gern Erbprinz eines grossen Fürsten gewesen, weil er da allen Dürftigen helfen, Arbeit geben, alle Bedrängte schützen, und alles Unrecht strafen wollte. So war er bis zu dem vierzehnten Jahre neben den gewohnten Anfangsgründen der lateinischen Sprache aufgewachsen, als seine Tante starb, und ihn zum Erben ihres schönen Vermögens machte, welches seinen Vater bewog, nur allein für seinen Sohn zu leben, und dadurch bey sich einen Wunsch zu erfüllen, den vielleicht schon tausend Väter gemacht hatten, ohne daß die Umstände es[197] ihnen erlaubten, ihn zu vergnügen. Die Aenderung, welche auch bey Hof entstanden war, beschleinigte seinen Entschluß, die Stelle, welche er bekleidete, niederzulegen, und sich ein artiges Landgut, so eben verkauft wurde, anzuschaffen, und seinem Ernst einen Geschmack an dem ruhigen Landleben zu geben, weil er leicht urtheilte, daß des jungen Menschen Anhänglichkeit an Wahrheit, Treue und Recht ihm unter Nebenbedienten aller Art Feinde zuziehen, und das Glück seines Lebens zerstören würde. Er wußte aus seiner Erfahrung, daß es Zeiten giebt, wo der Mann nicht belohnt, nicht geschätzt wird, der das allgemeine Beste dem Ueberfluß und dem Mißbrauch einiger wenigen verhärteten und übermüthigen Menschen vorzieht, und daß man sich mehr Unheil zu erwarten hat, wenn man seine Pflichten genau erfüllt, und als Vorgesetzter die andere genau zu ihren Pflichten anhält, als wenn man seinen Eid verletzt, und die Unterthanen niederdrückt. Ehe Meindorf aber einen letzten entscheidenden Schritt machte, so wollte er seinen Ernst prüfen, und blieb unter dem Vorwand einer Unbäßlichkeit einige Tage zu Hause, wo er seinen Sohn um sich hatte, und ihn beobachtete. Seine Freude über den Fortgang, welchen der Verstand und das Herz seines Ernst in Wissenschaften und Tugend gemacht [198] hatten, war ausserordentlich: der junge Mensch war daneben, wie eine Eiche in ihrem wahren Boden zu Schönheit und Stärke emporwächst, groß, gutgebildet, ungekünstelt in seinen Bewegungen, und in dem Wohlwollen seines Herzens. Die Reinheit seiner Sitten und seines Bluts gab seinem Gang, seinen Blicken, und all seinem Bezeugen etwas eigenes und sehr gefälliges. Sein Vater fragte ihn in diesen Beobachtungstagen nach den Wünschen und Entwürfen, die er für sich machte, und sagte ihm, daß es nun Zeit wäre, daß sein Ernst und er miteinander überlegten, welche Beschäftigung des Geistes, oder welche Kunst sein geliebter Sohn wählen, und sich darauf befleissen wollte. Er eröfnete ihm dabey den Ertrag seines Vermögens, und wie sein Ernst ohngefähr davon würde leben können, wenn er sich nur einigen Lieblingskenntnissen wiedmen wollte, und was er dadurch für einen Rang in der menschlichen Gesellschaft erhalten, und wie weit er auf Ehre und Hochachtung in den Seelen rechtschaffener Leute würde zählen können. – Dann zeigte er ihm den Ruhm, den Nutzen und die Verdienste, die er in der Laufbahn der Gelehrten als Theolog, Jurist und Medikus erlangen könnte. Der Militairstand, und jede Klasse der Künstler und Handwerker kam auch vor, und er redete dem Jüngling [199] immer mit dem Ton der Verehrung, die das wahre Verdienst aller Stände von dem gerechten einsichtsvollen Mann erhält, wobey Meindorf seinen Sohn versicherte, daß er, er möge wählen was er wolle, damit zufrieden seyn würde, weil er sicher sey, daß sein Ernst in jedem Stand des Lebens als ein rechtschaffener Mann erscheinen, und seine Talente edel und auch glänzend zeigen würde. Sein Sohn sagte, er wünsche kein Amt und keinen Titel, aber ein Landgut, und auf diesem eine Fabrike, wo arme Jungen leicht etwas lernen könnten, ihr Brod zu gewinnen, und diese Jungen wollte er dann in Ordnung halten, daß sie gut unter sich wären, und fleißig bey ihrer Arbeit. Meindorf war über diese Erklärung sehr vergnügt, und beredete sich nun mit seinen zwey Jugendfreunden, Söhnen eines Kaufmanns, die brüderlich die Handlung ihres Vaters fortführten, das Vermögen unsers Meindorfs mit einschlossen, und bey den größten Gewinsten mittheilen liessen. Seltenes Beyspiel von Freundschaft und Wohlwollen, das nur in den Söhnen eines edelmuthigen B...e wahr seyn konnte. – Diese Brüder überlegten die Sache, und in acht Tagen reißten sie mit Meindorf auf das Land, wo sie eine sehr vortheilhafte Lage zu einer Handlungsfabricke fanden. Einer von ihnen übernahm die [200] Sorge der Fabricke, und der andere behielte die von der Handlung in der Stadt. Meindorf schenkte ihnen den Theil des Erdreichs von seinem Gut, worauf ihre Gebäude geführt wurden, und die übrige Kosten wurden gemeinschaftlich getragen. Zwey artige Wohnhäuser kamen an das Ufer des Flusses, der Zwischenraum wurde zum Hof-Bau- und Packplatz bestimmt. Mitten in der Tiefe dieses Platzes erhob sich das Vorraths- und Arbeitshaus, und von diesem zu beyden Seiten, gegen die hübsche Häuser der Herrn stunden vier artige Wohnungen, jede für zwey Familien der Arbeiter, mit kleinen Höfen und Gärtgen dazwischen, nicht nur wegen der Verschönerung des ganzen, sondern auch um bey entstehendem Feuer die Gefahr so klein zu machen, als möglich. Der Zufall wollte, daß von Meindorfs Hausplatz hin der vorige Gutsherr von dem ehemals dagestandenen Wald ohngefähr hundert Morgen aufrecht erhalten hatte, da ließ Meindorf das Ackerfeld von dem Haus an bis an das Gehölze mit lauter hochstämmigen Obstbäumen aller Art besetzen, um den herrlichen Genuß blühender Bäume ganz nah an seinen Wohnzimmern zu haben. Schöne Staudengewächse, Blumen und der Gemüßgarten erhielten ihren Boden gerad an der Seite des Hauses längst dem Fluß, um die [201] Aussicht auf das Dorf Ruhberg und auf die Felder der Bauren frey zu halten. Die Erhöhung des untersten Stockwerks über den Hof und Garten betrug sechs Stufen. Dort ließ er gegen den Garten zu niedere Gewölber mit runden Fenstern machen, worinn der Gärtner Gewächse und Handwerkszeug aufheben konnte. Zwischen den Fenstern wurden Spalierbäume, Rosen, Jasmin und Weinstöcke gesetzt, und ihre Zweige über die runden Fenster gezogen, und niedrige Pflanzen stunden an ihren Füssen, über diesem Gartengewölbe lief ein offener Gang, auf den man aus den daran stossenden Zimmern gehen konnte. Die Brustmauer, die Wand, und die breite Stiege in den Garten waren mit Blumentöpfen von der schönsten Form, und den artigsten Blumen besetzt; gegen den Fluß zu deckten Weinreben eine halbe Laube. Dieses alles ordnete der alte Meindorf an, ehe er seine Stelle mit Erhaltung einer Pension niederlegte, und dann mit seinem Ernst und einem armen aber geschickten jungen Maler nach Rom abreißte, um als Mann mit seinem Sohn zu geniessen, was er als Jüngling sich oft gewünscht hatte. Einfache Kleidung, Mäßigkeit in ihrer Nahrung, ohne den Prunk eines Bedienten, und aller Ausgaben der Eitelkeit, konnten sie von ihren Einkünften recht [202] artig leben. Nun lehrte Meindorf seinen Ernst noch ganz Latein, und die alte römische Geschichte. Cicero, Horaz, Tacitus, Virgil, Plinius, und andere wurden auf Plätzen in der Stadt und auf dem Lande gelesen, wo er seinem Ernst sagen konnte: »hier, mein Sohn! bist du auf der Stelle, die der grosse Mann ehemals betrat: – hier redete Cicero für die Freyheit und Recht: hier schrieb er an seinen Attikus« – Er führte ihn zu den Ueberresten seines Landhauses, und auf den Platz, wo Cicero das größte that, da er so ruhig seine Sänfte halten ließ, und seinen Mördern den Kopf darbote. »Da sann vielleicht Horaz das erstemal auf die Ode, welche die erste war, die du fassen konntest, und dich so darüber freutest.« – Mit dem Eutropius in der Hand besuchten sie das Kapitol und das Koliseum. – Meindorf bedauerte wie die edle Madame du Boccage, daß Trajans Aschenkrug von seiner Stelle gestossen wurde, dessen grosse gute Seele ein Hauch unsers Gottes war, wie unsere Tugenden es sind. Bey Virgils Grabmal sagte er: »hier ruhet die Asche des friedlichen Sängers der Schönheiten der Natur: gewiß nährten die aufgelößten Theile seines Körpers den ersten Lorbeerbaum, der sein Grab beschattete, und die, welche wir sehen, sind ehrwürdige Enkel dieses ersten[203] Baums.« Dieß alles gab dem Karakter des Jünglings eine Würde und Erhabenheit, die ihn glücklich und schätzbar machte. Die Geschichte des neuen Roms und der Künste lernte Ernst in der italienischen und griechischen Sprache, durch welche sein Vater zugleich seinen Geschmack bildete. Die Naturgeschichte des Landes endigte ihren Aufenthalt, der drey Jahre gedauert hatte, während welchen sie ganz Italien durchstreiften. Indessen hatte der Maler seine Talente zur Vollkommenheit gebracht, Ernst selbst zeichnete sehr schön und leicht jedes Bild, jede Gegend, und jede Gedanken, die er darstellen wollte. Nun besuchten sie die griechische Inseln, nachdem auch Spanien, Portugall, Engelland und Frankreich, unser Teutschland, und besonders die Schweiz. Kein Wunder der Natur, keines der menschlichen Kunst blieb ohngesehen und ohnverehret. Am Ende des achten Jahrs ihres Herumwanderns kam Ernst im halben May als ein vortreflicher junger Mann in sein Vaterland zurück. Meindorfs Freunde hatten Nachricht von dem Tag der Ankunft, und alles war nach seinem Willen zubereitet. Denn er hatte von jedem fremden Land, das er mit seinem Sohn durchreißte, die beste Karte in das Grosse zeichnen lassen, die Hauptstadt, das prächtigste Gebäude und den schönsten [204] Garten gemalt, das Bild der damals schönsten Frau, und dieß von einem dort gefundenen Freund in der Nationalkleidung, und das von einem auszeichnenden Volksfest hatte er sich auch geschaft, so wie die Risse der Stühle, Geräthe und Bettung, nebst den in dem Land verfertigten Zeugen zu Küssen und Vorhängen, wie er es bey Leuten seines Standes gefunden hatte. Damit wurden der Saal des zweyten Stocks und vier Zimmer verzieret, und in jedes auch die Geschichte des Lands, und die Werke der vornehmsten Schriftsteller aufgestellt. Der Saal wurde dem italienischen Geschmack geweyht; Brustbilder, Vasen und zwey Genii zierten ihn. Der erste Stock aber war ein willkürlicher Auszug und Mischung alles dessen, was ein vernünftiger Mann in fremden Landen als nützlich und angenehm ansieht, und in seine Heimat mitbringt, wodurch unser guter Meindorf dem teutschen Geist folgte, der sich immer die Erfindungen anderer Nationen gefallen läßt, und sie annimmt. Dieses war also eine Art Grille in dem so schätzbaren Mann. Aber es machte ihm Freude, und vergnügte auch alle, die es sahen, ohngemein, wenn sie sich nun so in der Stube eines griechischen Kaufmanns, eines Spaniers, oder in Engelland und Frankreich dachten, oder in dem römischen [205] Saale herumspazirten. Die Fabricke war in völligem Gang, die Bäume alle, und die Stauden schön gewachsen, und in völliger Blüthe, der Kaufmann sehr vergnügt, die Arbeiter wohl und zufrieden, alle auf den Abend der Meindorfe ihrer Ankunft festlich gekleidet, alle Fenster mit farbigen Glaskugeln, die als Blumengewinde aufgehängt waren, beleuchtet, die Mäste, Segelstangen und Vordertheile der zwey grossen Schiffe, und die Bäume am gegenseitigen Ufer auch damit umwunden: auf dem grossen Vorrathshause laß man: – Es lebe Meindorf. – In dem Hof stunden drey Zelten, wovon die zwey größte den Arbeitsleuten, und die in der Mitte für die Meindorfe und gebettene nachbarliche Freunde ware. Niemand erinnerte sich, jemals einen so fröhlichen Abend gelebt zu haben. Auf den Schiffen war eine artige Musik, die erst aufhörte, als alles schlafen gegangen war. Meindorf hatte wohl so etwas gewünscht, um seinem Ernst den künftigen Aufenthalt gleich bey dem ersten Anblick recht gefällig zu machen, aber dieses so ordentliche und liebliche Fest hatte er nicht erwartet. Sein geliebter Sohn schien nicht allein vergnügt, sondern gerührt, und dieß freute seinen Vater noch mehr. Ernst gefiel sich bey den Arbeitsleuten, und er gefiel auch [206] ihnen durch seine freundliche offene Mine. Einer von ihnen sagte:


»Sie hätten immer vermuthet, er würde eine hübsche junge Frau aus den fremden Landen mitbringen. –«

Ernst war aber artig genug, um zu sagen:


»Daß er ein teutsches Mädchen wolle, und auch hoffe, daß, da sie alle so glücklich gewesen, liebenswürdige Frauen zu finden, so würde auch eine für ihn gewachsen seyn.«

Die Weiber waren alle über diese Höflichkeit sehr vergnügt, und baten ihn, jetzo mit seinem braven Vater dazubleiben, und für ihre Kinder sorgen zu helfen, wie er für die Eltern sorgte. Diese Bitte bewegte des edlen jungen Mannes Herz. Er sah um sich, und umfaßte ein paar Knaben, die am nächsten bey ihm standen: –


»Ja, meine Lieben! ich bleibe jetzo hier. Meine Kinder sollen mit den eurigen erzogen werden, und ich will alles thun, was ich zu eurem Wohl beytragen kann, denn von meiner ersten Jugend an waren arbeitsame und geschickte Hände meinem Herzen werth. –«

Was für ein inniges Vergnügen verbreitete hier der junge Mann über alle die guten Leute, und wie viel stillen und lauten Segen erhielt er dafür? seiner [207] Ankunft zu lieb hatten sie sich gepuzt, und ihre Häuser geschmückt, aber seinem guten Herzen gaben sie das ihrige, und wünschten nun sich und dem alten Meindorf Glück.

Den andern Morgen führte Meindorf seinen Sohn auf den grossen Gang von welchem man den schönen Wald blühender Obstbäume, und die über ihn hervor ragende Gipfel der Birken und Tannen sehen konnte. Ernst war entzückt, und freute sich, daß in diesen acht Jahren ihrer Abwesenheit Gebäude und Gewächse so vollkommen geworden seyen, und daneben so viele gute Menschen nützlich und vergnügt da lebten. –


»Dieses Jahr essen wir schon Früchte, die wir damals nur pflanzen liessen – wir wohnen in dem angenehmen Haus, wozu wir nur die Stelle anzeigten, und ich sehe alle Leute arbeiten, die ich vor unserer Abreise erst wünschte. – Lieber, theurer Vater! haben Sie Dank für alles, was Sie diese acht selige Jahre für mich waren! – Gott lasse Sie nun Ihre Ruhe in Meindorf glücklich geniessen.«

Sein Vater umarmte ihn:


»Lieber Ernst! ich danke Gott herzlich für die Seele, welche er dir gab. Ich besitze in dir alles gute doppelt, was er in mich legte. [208] Diese blühende Obstbäume sind mir das Sinnbild deiner Jahre, jede Gattung des Verdienstes eines guten Weltbürgers blüht in deinem Geist und Herzen. – Gott leite dich bis zu der Reife, und lasse mich die würdige Früchte von der Blume sehen, die mich erquickte!«

Viele Tage giengen nun mit Besuchen der Menschen und der Gegend vorüber. Ernst wollte nach der Reihe alles sehen, und in der Fabricke alles lernen. Er sah bald, daß der würkliche Kunst- und Handlungsgeist eine ganz andere Gattung ist, als der von den Gelehrten, von welchen oft das größte Genie nicht fähig wäre, einen Handlungsplan auszuführen, da man im Gegentheil Beweise genug hat, daß Kaufleute neben ihrer Handlung sich in wichtigen Theilen von schöner Kenntniß rühmlich zeigten. Beyde Meindorfe hatten in den acht Jahren ihres Herumwanderns einen so grossen Vorrath von gründlichen Kenntnissen, Erfahrung und Nachdenken mitgebracht, der noch vielen zu einer Würze von Weisheit und Klugheit dienen konnte. Sie freuten sich still, ohne pralen, dessen, was sie gesehen, und über dieß, was sie zu Haus antrafen. Meindorf hatte mit vieler Ueberlegung seine Reisen mit den nördlichen Gegenden unsers Europa [209] beschlossen, um eine allmälige Aenderung in die Bilder und in die Gefühle zu bringen, welche sein Sohn auswärts gefaßt hatte, damit der Unterschied, wenn er nun sogleich von Rom und Paris nach Meindorf gekommen wäre, nicht schmerzlich seyn möchte. Ernst war über die Gegend und das Landgut äusserst vergnügt, und sein Vater gab ihm die vier Zimmer des dritten Stockwerks ganz, um sie nach seinem Geschmack einzurichten. In diese brachte er seine Bibliotheck, und der schätzbare Pfarrer von Ruhberg war oft bey ihm, um eine Sammlung mathematischer und physikalischer Instrumenten zu ordnen, und zu gebrauchen. Zwey grosse Welt, und Himmelskugeln, Sehrohre – alles dieß wurde dort aufgestellt, und Ernst Meindorf bat, im Sommer auch da wohnen zu dürfen, weil die vier kleine Zimmer nur über den Mauern des Saals in der Mitte stunden, und hingegen auf beyden Seiten schöne Altanen mit Vasen besetzt waren, ihm Neapel zurückriefen, und er sich freute, Nachts bey einem gestirnten Himmel, den er mehr als den Mondschein liebte, noch lang, wenn alles umher ruhig war, wenn die ganze Natur schlief, sich dort aufzuhalten, und tausend Erinnerungen zurück in seine Jugend, und Wünschen für seine künftige Tage nachzuhängen. – Er konnte wohl einsame [210] Stunden ertragen, und den ganzen Himmel über sich offen sehen, denn er liebte die Tugend und Gott. Er war mit unverletztem Herzen und Sitten in seiner Heimat angelangt. Sein vortreflicher Vater hatte die hohe Kunst gefunden, die Idee des Vergnügens auf den Weg der Wissenschaften zu leiten. Kenntnisse waren das Ziel des Ehrgeitzes und der Freuden des jungen Meindorf bis zu seinem zwey und zwanzigsten Jahr, da er mit seinem Vater zurückkam.

Er bemerkte bey seinem nächtlichen Aufenthalt auf der Altane, viele Zeit immer Licht in einem abgelegenen Hüttgen, während daß sonst nirgends ein Funke zu sehen war. Es gab ihm die Begierde zu wissen, was wohl in diesem Hüttgen vorgehen möchte, und da er gelehrt worden, daß eine großmüthige Seele niemals eine Vermuthung mittheilt, aus welcher jemand eine Unruhe oder ein Schaden entstehen könnte, so sagte er nichts von diesem Licht, und von seinem Verlangen, die Ursache zu wissen. Aber er gieng einst, nachdem alles schlief an das kleine Gärtchen vor der Hütte, stieg über die Hecke, und beobachtete zwischen den Zweigen einer Hollunderstaude, was in der Stube vorgieng. Das erste, so er sah, war eine liebenswürdige Person von neunzehn Jahren, die an dem Tisch stund, und mit [211] der traurigsten Mine aus einem Medicinglaß Tropfen in einen Löffel zählte, indem stille Thränen über ihre Wangen herunterträufelten. Ihre Kleidung war von geringem Zeug, aber nicht nach bäurischer Art gemacht, sondern in der Form, wie Leute eines gewissen Standes sich tragen. Sie war ohne Haube und Halstuch, hatte schöne braune Haare, eine gefühlvolle Bildung, weiß, aber sehr blaß, edlen Wuchs, und Anstand in allen Bewegungen. Er staunte, und beobachtete um so eifriger. Das Mädchen nahm die Lampe von dem Tisch und trug sie zu einem Bett, worinn eine kranke Frau lag, welcher sie den Löffel mit Arzney gab, und mit der rührendsten Stimme dabey sagte: »Gott segne es, liebe Mutter! –« Schwach antwortete die Frau:


»Ach! der Ewige segne dich, meine liebe Tochter! mit allem dem guten, was er einem tugendhaften Kind verheissen hat.«

Auf einer Bank lag etwas Weißzeug, und in einer andern Ecke der Stube lagen zwey Kinder in einem Bett. Ernst blieb wie eingewurzelt stehen, das gute Mädchen brachte die Lampe wieder auf den Tisch, und zog den armen Vorhang an dem Bette der Kranken zu, band ihre weisse Schürze ab, die sie nett zusammenlegte, und sich dann auf einen neben dem Bett liegenden Strohsack setzte, ihre [212] Hände faltete, und leiß betete. Eines der Kinder wurde unruhig, sie gieng zu ihm, besänftigte es auf das liebreichste, und bliebe lang bey ihm knieen. Die Kranke erwachte wieder, und sprach mit ihrer Tochter ängstlich über den wenigen Schlaf, den sie nun seit so vielen Tagen geniesse: »Du wirst unterliegen, meine Meline! du verzehrst dich – für mich und die Kinder.« Nun fieng das kleine Mädchen auch an zu reden, und Meline bat sie, ihre kleine Schwester nicht zu wecken, sondern stille zu schlafen, bis die Vögel wieder sängen, und sie dann von ihrer guten Mutter Milch und Blumen bekommen würde. Endlich wurden alle ruhig, und Meline selbst schlief auf ihrem elenden Lager ein. Ernst Meindorf gieng langsam, und so in seinen Gedanken vertieft nach Haus, daß er bey dem Auf- und Zumachen der Hausthüre gar nicht behutsam war. Sein Vater erwachte, und eilte mit Schrecken aus seinem Bett, um nachzusehen. Als er sein Zimmer öfnete, sah er bey dem Schein der Stiegenlampe seinen Sohn hinaufgehen. Es war zwey Uhr in der Nacht vorbey. Nie hatte er Ursach gehabt zu vermuthen, daß sein Ernst nächtliche Gänge machte, und diese unterscheidende Tugend seines Sohns war ein Glück für sein väterliches Herz, wie die Kenntnisse seines Ernst sein Stolz waren. Um [213] so mehr schmerzte ihn die Entdeckung, daß er sich betrogen hätte. – Er rief aus:


O mein Sohn! wo kommst du her?

Ernst kehrte um, lief seinem Vater zu, fiel an seinen Hals:

Vater! lieber Vater! was hab ich gesehen! Meindorf wurde nun äusserst betroffen. Er nahm ihn in seine Stube, und fragte freundlich nach der Ursache der ohngewohnten Bewegung, in der er ihn auch in einer so ohngewöhnlichen Stunde sehe. Der junge Mann erzählte nun ganz genau alles, was er so viele Nächte bemerkt, und wie er endlich zu dem Entschluß gekommen sey, an die arme Baurenhütte zu gehen, wo er dann diesen Auftritt von Armuth und der kindlichen Liebe gesehen und gehört habe. Er setzte die Bitte hinzu, daß sein Vater doch morgen Abend selbst mit ihm hingehen möge. Meindorf kannte das wahre offene Herz seines Sohns, der ihm niemals eine Unwahrheit gesagt, niemals Ränke oder List gebraucht hatte. Und da er den starken Eindruck bemerkte, den dieser Auftritt in der Seele seines Sohns gelassen hatte, so konnte er als ein weiser Mann auch denken, wie fruchtloß jede Vorstellung seiner kältern Vernunft und Sinne jetzo seyn würde. Er versprach seinem Ernst, mit ihm hinzugehen, und bat ihn nur, sich [214] zu beruhigen, und sicher zu seyn, daß er alles für die arme Mutter und die gute treue Tochter thun würde. Dieses machte den jungen Mann sehr glücklich. Er dankte seinem Vater, und gieng in sein Zimmer, aber nicht schlafen. Er sah nach der Hütte, und Melinens Bild war vor ihm. Auch den Tag über sah und dachte er nichts anders. Sein Vater blieb auch ohne weitern Schlaf, durch die Betrachtung munter, wie leicht es nun geschehen könnte, daß selbst die fortdaurende Liebe für jede Tugend, welche er in das Herz seines Ernst gegraben hatte, eine Grundlage von Kummer für ihn und seinen geliebten Sohn werden könnte. Denn die lebhafte und umständliche Beschreibung, welche Ernst von der Bildung, von der Anmuth jeder Bewegung des Mädchens, von ihrer sanften Stimme, ja selbst von ihrem Namen Meline gemacht hatte, war ihm Beweiß, daß die heimliche Liebe eben so viel Antheil an dem schönen Gemälde hatte, als die Bewunderung für Melinens kindliches Bezeugen gegen ihre Mutter. Vater und Sohn wünschten also beyde, daß der Tag bald vorübergehen möchte, um auch bald aus der Unruhe zu kommen, in welcher sie sich befanden. Endlich kam die gewünschte Nacht, und der kluge liebreiche Vater gieng an der zitternden Hand seines Ernsts an das Fenster des Hüttgens. [215] Die kranke Frau saß auf einem Stuhl, von Meline unterstützt, und lehnte ihren Kopf an den Busen ihrer treuen Tochter. Eine gut gekleidete Bürgersfrau machte das Bett zurecht, und half dann mit Meline die Kranke wieder hineinlegen, welche ihnen liebreich dankte, und nun zu ruhen verlangte. Meline und die Frau kamen miteinander an das Fenster, öfneten es leise, und knieten sich auf die Bank, um zum Fenster hinaus zu sprechen, damit sie die Kranke nicht störten. Meline fieng an:


»Nicht wahr, liebe Suße! meine gute Mutter ist heute viel schwächer, als alle vergangene Tage?«

Die Frau antwortete mit Seufzen:

»Es ist wahr, mein Engel! und ich darf nicht daran denken, wenn es nun so fort zu Ende geht, was –«

Hier weinte sie, und Meline faßte das Wort mit einer sanften und rührenden Gelassenheit: –


»Was soll aus Meline werden, willt du sagen, treue redliche Seele! das einzige, das uns von Reichthum und Freunden blieb! – Ach, Suße! alles was der Ewige will. – Er, der diesen Gestirnen ihren glänzenden Lauf vorschrieb, wird auch in Zukunft den Weg meines Lebens bezeichnen, und du wirst mich [216] nicht verlassen.«

Thränen erstickten ihre Stimme. Sie hieng an dem Hals der Frau. Beyde schwiegen einige Zeit. Endlich fieng Suße an:


»O so lang ich lebe, sollen Sie haben, was ich meinen Kindern gebe, und stirbt mein Mann vor mir, da müssen Sie einen Kindstheil von dem annehmen, was ich an dem erworbenen Vermögen bekomme. Aber, mein Gott! das ist doch wenig, und unsicher, denn ich kann früher sterben.«

Meline dankte ihr für ihr gutes Herz, und sprach fort:


»Daß sie schon oft in den durchwachten Nächten an dem Krankenbette ihrer Mutter nachgesonnen, was sie thun wolle, und sie dächte sich bürgerlich zu kleiden, und als Kinderwärterin in ein gutes Haus zu gehen. – Denn du weißt, liebe Suße! wie gerne ich deine Kinder um mich habe, und wie gerne sie bey mir sind. Ich habe mich freylich auch deswegen an sie geheftet, weil du meine Jugend gepflegt hast, und jetzo die Wohlthäterin meiner Mutter geworden bist. Aber ich finde es auch so süß, mit den unschuldigen Geschöpfen zu leben, und für sie zu sorgen. Denn seit ich erwachsene [217] Menschen kenne, weiß ich von nichts als Kummer und Unrecht, womit sie meine rechtschaffene Eltern bis in das Grab verfolgten, und sie waren beyde so gut, so fromm wie du.«

O mein Gott! sagte Suße: – »das kann ich nicht leiden. – Sie, eine Magd in Bürgerkleidern! – werden Sie lieber Kammerjungfer, so behalten Sie doch ihre rechtmäßige Tracht, und werden geehret. Wenn ich eine Dame wäre, ich freute mich, Sie bey mir zu haben.«


»Gute Suße! ja wenn du der Dame, zu der du mich bringen willt, dein Herz geben kanst. Aber ich will nicht Kammerjungfer werden, meine Gestalt würde mir tausend böse Stunden geben, und ich müßte munter seyn, das kann ich nicht mehr. Laß mich noch eine Zeitlang bey deinen Kindern, und dann hilf mir in den Dienst einer guten Mutter, wie du bist. Die wird mich lieben, wenn sie sehen wird, wie zärtlich und treu ich für ihre Kinder sorgen werde. Es däuchte mich so etwas tröstliches zu seyn, wenn mein gutes tugendhaftes Herz nun die Aufsicht über die Unschuld und den anwachsenden Geist der kleinen Engel hätte. Bürgerliche Kleider hast du mir ehrwürdig gemacht, was für ein Herz trägst [218] du unter diesem einfachen Wämschen. Das erste, was ich anziehen werde, muß von dir seyn, das ich mir zurecht machen will.«

Suße erhob ihre Hände betend:


»Gott im Himmel! du siehst, du hörst das alles! o schaffe Rath. Oder nimm Mutter und Tochter zugleich aus der bösen Welt!«

Unser Ernst Meindorf, der von dieser Unterredung ganz hingerissen, ganz für Meline eingenommen war, konnte sich in diesem Augenblick nicht mehr zurückhalten, und rief:


O nein – nein!

Beyde Personen erschracken, schrien auch, und machten eilig das Fenster zu. Die zwey Meindorfe machten sich zurück. Ernst war sehr traurig über den Schrecken, den er Melinen verursacht hatte, und daß er sich dadurch auch des Vergnügens beraubte, sie noch öfter zu beobachten, und reden zu hören. Sein Vater schwieg auch, Meline hatte ihn gerührt. Er konnte sich keine bessere Schwiegertochter wählen. Das dachte er, als ihm die Bewegung der Hand seines Sohns, die eine von seinen Händen hielt, die Gesinnung von Ernsts Herzen zeigte, denn diese Hand, welche ihn oft sanft drückte, dann jeden Finger allein auflegte, und ein andermal sich stark zusammenballte, sagte ihm alles, [219] was in der Seele seines Sohns vorgieng. Es waren lauter Bitten für Meline und um Meline. Als sie aber in Meindorfs Stube waren, und sich anblickten, wurden beyde bewegt, und Ernst, der seinen Vater umfaßte, fieng an: –


»Theurer, gütiger Vater! mein Herz war nie vor Ihnen verschlossen. Lesen Sie auch jetzt darinn. Ich liebe Meline – mehr, viel mehr als ich Ihnen sagen kann. O lassen Sie mich das edle Mädchen und ihre Mutter aus dem Elend reissen! machen Sie mein Glück vollkommen – werden Sie Melinens Vater! Sie haben für mich mein ganzes Leben gethan, was nie kein Vater that. Ach thun Sie auch dieses. – Geben Sie die tugendhafte Meline mir zur Gattin –«

Er war von dem Hals seines Vaters bey dieser Bitte zu seinen Füßen gesunken, die er umarmte. Sein Vater hob ihn auf, und drückte ihn an seine Brust: –


»Ja, mein Ernst! wenn Meline dein Herz und dein Glück lieben wird, wie du ihre Seele und ihr Wohl liebst, so soll sie meine geliebte Tochter werden. – Morgen will ich Gelegenheit suchen, mit der guten Suße bekannt zu werden. Melinens kindliche Treue und ihre [220] Ergebung in den göttlichen Willen hat mich gerührt. – Ich bin Vater, und es soll mich freuen, wenn das Glück meines guten Sohns die Belohnung der Tugend einer guten Tochter wird.«

Mit Entzücken küßte Ernst die Hände seines gütigen Vaters, dankte und segnete ihn. Beyde giengen mit Entwürfen auf den folgenden Tag schlafen – der alte Meindorf mit allem, was er die Frau Suße und den Pfarrer von Ruhberg fragen wolle, und der junge mit dem, daß er bey Tag an dem Gärtgen der Hütte sich zeigen wolle, damit Meline ihn einmal sehen möge, und er ihr vielleicht gefalle, ehe man noch von ihm spreche. Denn er besorgte, die unglückliche Umstände der Mutter würden zu einem Beweggrund der Ueberredung gebraucht werden, und das theure Mädchen ihm ihre Hand geben, ohne daß ihr Herz die geringste Neigung hätte. Er gieng einfach und artig gekleidet, mit einem Schmetterlingsnetz an seinem Stock in das Feld, eilte von Ferne hin und her, gleich als ob er Schmetterlinge haschen wollte, und näherte sich auf diese Art mit klopfendem Herzen der Hütte, und lehnte sich an einen etwa dreysig Schritte entfernten Baum, der auf einem etwas erhöhten Acker stand. Ein kleiner Junge des Dorfs kam ganz erwünscht [221] mit einigen Schafen auf diesen Stoppelacker, und stimmte auf seiner Schwebelpfeife ein Liedchen an. Ernst winkte ihn zu sich, und bat den Jungen noch einige Stückchen zu blasen. Meline öfnete das Fenster, und kam bald darauf mit den zwey kleinen Mädchen in den Garten, horchte dem Liedchen zu, und hob bald das eine, bald das andere von den Kindern liebreich in die Höhe, um ihnen die Schafe zu zeigen, und den Jungen, der die Liedchen spielte. Sie blickte auch nach Ernst hin, aber bey der mindesten Bewegung, die er machte, wandte sie sich ab, gieng öfter an das Fenster, um nach ihrer Mutter zu sehen, untersuchte aber auch aufmerksam die Fusstapfen, die sie dort erblickte, und folgte ihnen bis an die Hecke, über die sie noch in den Acker nachsah, auch nach Ernst schaute, nachdenkend eine Bewegung mit dem Kopf machte, und sorgfältig alle Zweige und gebogene Aeste der Hecke aufrichtete, welche durch das Uebersteigen der zwey Meindorfe zerknickt waren. Indessen hatten sich die Schafe zu weit entfernt, und waren an ein gesäetes Feld gekommen. Der Junge sahe den Feldschützen von Ferne, und wurde sehr ängstlich vor der Strafe. Ernst lief mit ihm, die Schafe wieder zusammen zu treiben, und hielt den Dorfschützen ab, als dieser den Knaben abstrafen wollte, redete ihm zu, und [222] schenkte ihm etwas. Meline war durch das Schreyen des Jungen, und das Laufen des guten Meindorf von ihren Betrachtungen über die Fusstapfen abgekommen, und bis in die Spitze des Gärtchens geeilt, um zu sehen, was es gebe. Sie jammerte um den armen Knaben, als sie den Knittelstock des Schützen gegen ihn erhoben sah. Denn seine ländliche Liedchen voll Einfalt hatten sie gefreut, und sie konnte sich nicht enthalten, dem guten Meindorf einen Dank zuzunicken, als sie sah, daß er ihn von den Schlägen rettete. Ernst flog gegen sie halb ausser sich vor Freude, daß ihr diese Handlung gefallen hatte. Aber Meline gieng erschrocken und erröthend zurück. Ernst blieb auch einige Schritte von dem Gärtchen plötzlich stehen, und rief seine Hände auf die Brust legend:


»O fürchten Sie mich nicht, Meline! scheuen Sie mich nicht!«

Sie staunte. Der Ton dieser Stimme war ihr bekannt. Sie gieng weiter gegen das Haus zurück, mit den Mädchen an der Hand, sah noch auf Ernst, und der Ton des Nein, o nein! schallte wieder neu in ihr Gehör. Noch einmal blickte sie auf den Jüngling, und eilte in die Hütte. Ernst trat eben so schnell an die Hecke, und rief:


»Meline! ein Wort, hören Sie mich an!

[223] Aber sie blieb weg, und er lehnte sich mit Sorge an die Hecke, weil er fürchtete, ihr mißfallen zu haben. Einige Zeit nachher sah er seinen Vater, der ihm winkte. Er eilte ihm zu:


»Lieber Sohn! was machst du hier?«


»Ich sah nach Meline.«


»Sey gedultig. Ich hoffe, daß wir sie beyde bald auf immer sehen werden. Ich war bey dem Pfarrer, und erkundigte mich nach Meline und Suße. Diese ist die Frau des Wirths, und eine treue Freundin, die selten in der Welt erscheint. Sie war ehemals Magd bey Melinens Eltern, deren Name, und durch zwey fremde Bankerotte verursachtes Unglück mir vor unserer Reise bekannt war. Aber sie wohnten damals so weit von uns, daß ich nicht alles von den Folgen erfahren konnte, die um so trauriger waren, weil ein Bruder von der guten Frau Grube sie noch alle dessen beraubte, was ihr nach dem Tod ihres Mannes geblieben war, da sie schon vorher auf alles mögliche Verzicht gethan hatte, um die Gläubiger zu befriedigen. Sie verkaufte nun das letzte, was noch einigen Werth hatte, und zog hieher zu der Wirthin, welche sie in ihren glücklichen Tagen ausgestattet hatte. Diese [224] gab ihr mit Liebe und herzlichem Theilnehmen das Hüttchen, so ihrem Mann an einer Schuld zugefallen war, und besorgte und pflegte sie seit dem Herbst. Ich gieng zu der treuen Seele, und sagte ihr alles, was seit vorgestern mit dir und mir in Ansehung der vortreflichen Meline geschehen sey, und wie innig du mich um die Hand des tugendhaften Mädchen gebetten hast, daß ich mit dem Herrn Pfarrer gesprochen, und ganz zufrieden seyn würde, Meline mit meinem einzigen guten Sohn verbunden zu sehen, wenn sie dich lieben, und auch mit dir glücklich seyn könnte. Nie, mein Sohn! nie werde ich die schluchzende Stimme, und den abgebrochenen Segen vergessen, der aus der wahren Seele dieser Frau strömte. Sie fiel auf ihre Knie, und dankte dem allmächtigen Beschützer der Witwen und Waisen herzlich, und ergoß sich dann in Erzählung des Lobes ihrer alten Herrschaft, die keinen andern Fehler hatte, als daß sie zu gut waren. Nun kam der Arzt, nach dem ich in die Stadt schickte, um Melinens Mutter beyzustehen, und dieses war bey der guten Suße das Siegel meiner Aufrichtigkeit. Sie wird kommen, diesen Nachmittag dich zu sehen, [225] und von des Doktors Urtheil über die Kranke Nachricht zu geben. Der Zufall wollte, daß der Wirth mit dem Arzt aus der Stadt ritte, und beyde miteinander abstiegen. Die rothgeweinte Augen der redlichen Suße machten ihrem Manne Nachdenken. Er zupfte sie, und deutete auf die Hütte: – Was giebt's, Suße! steht es so schlecht? Sie ergrief seine Hand: – O nein, lieber Mann! es ist gut, über alles gut. Da – der Herr Meindorf will Vaterstelle an Melinen vertretten. Denke nur – freue dich – das gute Werk haben wir angefangen – da, danke ihm – sage, Gott vergelte es für meiner Suße ihre gute Frau – Herr Meindorf! mein Mann ist brav und wohlthätig wie Sie. Er ist wohl werth, daß Sie ihm die Hand reichen. – Ich that es, und sie nahm den Doktor, um ihn zu der Kranken zu führen. Der Wirth, ein sehr vernünftiger Mann, erzählte mir nun alles, was er von den Umständen der Frau Grube und ihrer Tochter wußte, seit sie in seinem Hause sind. Alles ist traurig, und alles ist löblich.«

Oft war Ernst währendem Heimgehen stillegestanden, hatte seines Vaters Hände gedrückt, gen Himmel und gegen Melinens Wohnung gesehen, und mit [226] Ungeduld erwartete er den Anblick der Wirthin. Er aß stehend am Fenster gegen die Landstrasse zu. Sein Vater tadelte ihn nicht, und lächelte nur, als Ernst den Muth nicht hatte, der Frau entgegen zu gehen, die mit seinem Schmetterlingsnetz in der Hand ganz eilfertig und munter gegangen kam. Sie betrachtete den jungen Meindorf von Kopf bis zu Füßen, und schien in ihrem Herzen vergnügt über ihn. Der Vater fragte sie:


»Liebe Frau Suße! hat Sie gute Nachricht?« Ja, Gottlob! der Doktor sagt, meine Frau werde wieder gesund, wenn sie keinen Kummer mehr habe. O Herr Meindorf! Sie halten doch Wort!

sagte sie mit Darreichung ihrer Hand. – Meindorf sagte:


»An uns fehlt es nicht, aber an Meline kann es fehlen, und dannoch werde ich der Frau alle Dienste leisten, die ich kann.«

Ernst wurde hier blaß und roth. Die Wirthin ließ nun die Hand des Vaters gehen, und trat mit erhobenen Händen zum Sohn:


O junger Herr! Gott lohne Sie ewig! Sie haben Mutter und Tochter vom Tod errettet. Es wird Sie nie reuen. – Meline ist von dem ersten Tag ihres Lebens ein Engel gewesen. [227] Ich war dabey, als sie zur Welt kam, und ich habe sie bis zum eilften Jahr erziehen helfen. – O Sie werden glücklich, gewiß recht glücklich.

Nun betrachtete sie ihn wieder, lächelte vor sich hin, und zum Vater.


O! ich muß es nur sagen: Es freut mich, daß er so schön ist. Meline hat mir es auch gesagt –
Hier redete Ernst das erste Wort, aber eifrig:

Ist es wahr? – hat Meline dieß gesagt?

Nun erzälte die Wirthin, daß wie der Doktor mit der Kranken zu ihrer Ermunterung gesprochen habe, so hätte Meline sie auf die Seite gezogen, und gesagt: »Suße! ich habe den Menschen gesehen, der uns gestern Abend so erschreckte. Es ist ein hübscher artiger Mensch, und recht gut denn er hat einem Baurenbuben helfen die Schafe suchen, und hat ihn von Schlägen gerettet. Er kam an das Gärtchen, und rief mich bey meinem Namen. Da habe ich die Stimme deutlich erkannt, die gestern – Nein, o nein! sagte. Er habe sie gejammert, als er nach ihr rufte, aber es wäre ihr ohnmöglich gewesen, im Garten zu bleiben: Er sehe gut aus, und seine Stirne sey aufrichtig: Er habe sein Netzgen an der Hecke stehen lassen, da hätte sie es geholt: – Sie solle doch suchen, zu erfahren, wer er sey.« – Ich drückte ihre Hand, und sagte; – »Ich weiß, ich [228] weiß es schon. Lassen Sie nur erst den Doktor gehen. Der Himmel ist offen über uns alle. O wie viel Gold ist mir die Hütte werth! – und da das Fenster. – Da, sehen Sie, das Dach von dem schönen Haus dort! Meline! das ist Ihre, der liebe Gott herrscht darinn, und Sie werden die Frau davon. – Ich habe mich nicht halten können, fuhr sie fort, ich mußte ihr das gute bald sagen, sie hat so viele Jahre nichts als Jammer gehört, und kein Glück gehoft. Die gute Meline zitterte, setzte sich, sah auf den Boden. Ach! dachte ich, das Zittern vor Freude schadet nicht, und die Freudenthränen beissen einen nicht in den Augen. Der Doktor gieng, und sagte, er wolle Arzneyen schicken, man solle nur die Kranke zu ermuntern suchen. Da sagte ich leiß zu Melinen: das will ich und Herr Meindorf, geh du nur – und flugs war ich an dem Bette meiner guten Frau. Ich fragte sie: liebe Frau! Sie haben so viel Kreuz getragen. Ich hoffe, das gute Glück, so ich weiß, solle Sie aufrichten. Sie schaute mich ganz wundersam an, und da habe ich ihr alles erzält, was Sie mir sagten, und wir dankten Gott alle drey, und beteten um einen glücklichen Ausgang. Ich lief zum Herr Pfarrer, und holte ihn zu meiner Frau, daß er ihr alles recht gescheid erzäle, wer Sie sind, und von Ihrem Sohn auch. [229] Meline hat kein Wort verlohren, und guckte recht oft nach dem Dach von Ihrem Haus, da bin ich nun fort, ihnen alles zu sagen. Aber lieber, guter Herr Meindorf! ich habe gesagt, Sie kämen heute noch selbst. – O Sie müssen es thun, denn sonst fürchtet die alte Frau heut Nacht, es sey alles verschwunden.«

Ernst blickte mit Sehnsucht auf seinen Vater. Dieser nahm seinen Stock und Hut: –


»Komm, Ernst! komm, wir wollen nicht auf den Trost warten lassen, den wir geben können.«

Was ein Gang! was für Empfindungen in diesen drey Redlichen! Meline sah sie kommen, und warf sich an dem Bett ihrer Mutter neben dem Pfarrer auf die Knie. Die Wirthin lief voraus, aber sie konnte nichts sagen, als: – Herr Meindorf kommt. Alle sahen sich an, keines konnte sprechen als Ernst, der sich neben Meline hinkniete, und ihre Hand nahm –


»Meline! theure Meline! sehen Sie meinen Vater! –«

Sie erhob ihren Kopf, blickte erröthend auf Ernst, und dann unverwandt den alten Meindorf an. Dieser näherte sich dem Bette:


»Ehrwürdige Frau! Sie wissen von dem [230] Herrn Pfarrer, und von der treuen Frau Suße, warum ich Sie besuche, – wollen Sie meinem Sohn erlauben, mit Ihrer Meline in dem Gärtchen zu sprechen, denn Ihre Tochter soll frey seyn? – Schätzbares Kind! wollen Sie meinem Sohn das Glück gönnen, Ihnen sein Herz zu öfnen? Er ist tugendhaft, wie Sie es sind.«

Meline sah auf ihre Mutter. Diese sagte:


»Geh, mein Kind! in Gottes Namen, und zeige auch Herrn Meindorf deine Gesinnungen. Er wird dich lieben, wenn er dich kennt, wie ich dich kenne.«

Meline küßte die Hand ihrer Mutter. Ernst that es auch, hob Melinen auf, umarmte seinen Vater, und gieng mit dem zitternden Mädchen an der Hand in das Gärtchen. Er führte sie an den Hollunderbaum, nah an dem Fenster.


»Hier, Meline! sah ich Sie das erstemal. – Kommen Sie, ich will Ihnen mein ganzes Leben erzälen.«

Sie setzten sich, Ernsts Herz ergoß sich in Ausdrücken der Liebe und Verehrung seines Vaters, je nachdem er etwas Wichtiges von seiner Jugend, und der Bildung seines Herzens erzälte – seine Reisen, seine Zurückkunft, und auf die Altane seines [231] Hauses zeigend, seine entstandene Neugierde und Liebe. –


»Wenn Sie aber, theure Meline! nicht glauben können, daß in so kurzer Zeit eine so wahre und innige Zärtlichkeit entstehen konnte – o so sagen Sie mir, wie ich sie Ihnen beweisen kann –«

Und er faßte eine ihrer Hände, sah zärtlich und traurig auf die tief schweigende Meline:


»Ach! wenn Ihr Herz einen schätzbaren glücklichen Jüngling liebt, o so sagen Sie es auch. Mein Herz soll schweigen, soll keine Wünsche haben, die gegen Ihr Glück, gegen Ihr Vergnügen arbeiteten. – Ihre ehrwürdige Mutter, Sie und Ihr Geliebter sollen doch an meinem Vater und mir Freunde haben, wie Ihre Suße ist.«

Meline drückte seine Hand mit ihren beyden Händen, blickte äusserst gerührt ihn an, konnte aber nicht gleich die Worte finden, mit denen sie ihre Gesinnungen ausdrücken wollte. Ernst glaubte nun, er habe die Gemüthsverfassung von Meline errathen, und stotternd wiederholte er seine Versicherung von Beystand für ihre Mutter, und für den Mann, der ihn elend mache. Meline sagte dann:


»O geben Sie meinem Schweigen und meiner [232] Unruh keine andere Auslegung, als die Unmöglichkeit, mich zu fassen. – Denken Sie, was das ist! – diesen Morgen steh ich noch arm, und mit dem Gedanken des größten Unglücks vor mir auf, und jetzo zeigt sich eine Zukunft, die ich nicht glauben kann. – Ich weiß wohl, daß ein göttlicher Fingerzeig alles verändern, alles bessern kann. – Aber, mein Gott! verdiene ich dann, daß Wunder für mich geschehen!«


»Liebenswürdige Meline! Ach, wenn Ihr Herz mit keinen andern Empfindungen zu streiten hat, als mit dem Staunen über die jähe Aenderung, so bin ich glücklich. – Sagen Sie nur, meine Beste! daß, wenn Sie denken, Gott wolle durch mich Ihre Mutter unterstützen, daß es Ihnen nicht unangenehm ist, daß er mich dazu ausersah. – Ich will nichts, Meline! nichts als diese Versicherung. Ich bin hier fremd, meine Liebe! niemand kennt mich, als Gott, und mein Vater. Man weiß nur, daß ich Vermögen habe. Von meinem Herzen und für mich kann niemand sprechen, wie für Sie von allen gesprochen wird.«

Meline sah mit freudiger Zärtlichkeit ihn an:


»Beruhigen Sie sich, vortreflicher, edler Jüngling! [233] ich versichere Sie, daß ich noch nie keinen Mann sah, der mir so gefallen hätte, wie Sie mir gefallen, und ich danke Gott, daß ich Ihr Herz und Ihr Leben so kennen lernte, wie jetzt. Denn ich hätte Sie geliebt, wenn Sie der Mann eines andern Mädchens gewesen, oder wenn ich ihre Geschichte nur in einem Buch gefunden hätte.«

Ernst schloß sie mit all seinem Feuer in seine Arme, und mit Entzücken rief er aus:


»O mein Vater! wie froh bin ich, nie keinen Freund gehabt zu haben, als dich, und nie keine Geliebte, als Meline! – Kommen Sie, kommen Sie zu unsern geliebten Eltern!«

Sie giengen einander am Arm in die Stube. Ernst fiel seinem Vater um den Hals:


»Meline ist mein – gerne mein!«
rief er mit Entzücken. Meline hatte sich über ihre Mutter hingebogen, und sagte ihr:

»O meine Mutter! wie glücklich bin ich! Meindorf hat das Herz eines Engels.«

Ernst rief Meline! sie sah auf, ihr Geliebter hielt einen Arm seines Vaters umschlungen, und beyde giengen ihr zu. Der alte Meindorf umfaßte sie –


»Wollen Sie meine Tochter seyn? –«

[234] Sie schmiegte sich weinend an seine Brust, und ihre Mutter erhob ihre Hände –


»O Gott! stärke mich, dieses Glück zu tragen! segne! segne meine Kinder, ihren Vater, und meine Suße. –«

Sie stammelte. Suße hielt ihr Salz vor, Ernst und Meline unterstützten sie. Suße schluchzte ein Gottlob. – Der Pfarrer dankte der Vorsehung, und sagte:


»O Erde! wenn du auch allerwegen Dornen und Disteln trügest, so würde unter dem Fustritt dieser Tugendhaften ein neues Paradieß entstehen.«

Sie wurden den andern Tag in der Hütte an dem Bett der Mutter getraut, weil Meindorf die Kranke aus dem niedern Stübchen weghaben wollte. – Ernst sagte seiner Meline, als er ihre Hand noch nach dem priesterlichen Segen hielt:


»Wenn ich einst krank bin, so reiche mir auch die Hülfsmittel mit dieser Hand. Laß auch eine Thräne der Liebe um deinen Ernst hineinträufeln, wie ich vorgestern hundert aus deinen schönen Augen in den Löffel fallen sah, als du die Arzneytropfen für deine Mutter zältest. – Denn ich will es als Gatte verdienen, wie unsere Mutter es als Mutter verdiente.«

[235] Wie selig war Meline! Ernst liebte die Tugend in ihr, und wie hätte sie dem edlen jungen Mann ihre Zärtlichkeit versagt, der ihr nichts als ihr Bild und ihr Glück in seiner Seele zeigte? Die Mutter wurde Abends in das Haus ihrer Kinder getragen, wo sie wieder auflebte, glücklich wie Vater Meindorf. Erst nach langen Jahren grau und lebenssatt, da Ernst und seine Meline ihnen eine ohnunterbrochene Liebe und Ehrfurcht bezeugt hatten, starben sie. Meindorf hatte von dem Wirth das Hüttchen gekauft, schafte noch Güter dazu, und schenkte es der Wirthin. Zum ewigen Andenken aber solle es den Namen, der Hof treue Magd tragen. Meline erzog Sußens Mädchen wie ihre Kinder, und oft saß sie in dem Arbeitshaus bey den Knaben und Mädchen, und ermunterte sie zur kindlichen Treue und Liebe, und erzälte, wie Gott sie gesegnet habe. – Ernst sagte dann seinen Töchtern von der Liebenswürdigkeit, die ihre Mutter in der größten Armut durch die Tugend erhalten habe. – Suße blieb immer die vertraute Freundin, und den Arbeitsmädchen zum Beyspiel des schätzbaren Verdiensts einer treugesinnten Magd, welche der Trost und das Glück ihrer Herrschaft geworden sey.

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Notes
Die Erzählungen erschienen zuerst in der von Sophie von La Roche herausgegebenen Zeitschrift »Pomona für Teutschlands Töcher«. Erstdruck der Buchausgabe: Speyer (Enderes) 1783–1784. Die Vorrede zum 1. Band von Johann Georg Hutten wurde nicht übernommen.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). La Roche, Sophie von. Moralische Erzählungen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DACB-0