[30] [34]4. Clorinda trachtet in ihrer Aengstigkeit dem Zorn Gottes zu entfliehen/ befindet aber/ daß Gott allenthalben gegenwärtig

Quò ibo à Spiritu tuo? & quò à facie tua fugiam.

Psal. 138. v. 7.


Wo soll ich hingehen vor deinem Geist/ und wohin soll ich vor deinem Angesicht fliehen?


1.
O ihr verborgne Ritzen
In hoher Felsen Spitzen/
Ihr auffgespaltne Stein/
Seyt mir in meinem Jammer
Doch eine Zufluchts-Kammer/
Ach laßt mich bey euch ein!
2.
Ach aber bey den Steinen
Darff ich gar nicht erscheinen
Ohn grossen Zanck/ und Streit/
Weil ich den Lebens-Felsen/ 1
Den niemand kan umbwälsen/
Von mir gestossen weit.
[34] 3.
Ihr aber hole Krufften/
Ihr unbewohnte Klufften
In zugeschloßner Erd'/
Laßt mich in euer Tieffen
Verborgenheit verschlieffen/
Daß ich unsichtbar werd'.
4.
Ach aber keine Gräber
Seind frey von dem Urheber/
Der alles hat gemacht. 2
Nichts kan in tieffer Erden
Vor ihm unsichtbar werden/
Er weißt von keiner Nacht. 3
5.
Möcht ich dann mit den Knaben
Von Hamel mich vergraben/
Und ewig sperren ein:
So wolt' ich eingeschlossen
Gar gern/ und unverdrossen
Des Tods Gefangner seyn.
6.
Doch nein/ dann auch was Dunckel 4
Scheint ihm/ gleich wie Carfunckel/
Die Nacht gläntzt/ wie der Tag/
Die Schatten ihme scheinen/ 5
Wie Gold/ in finstern heinen
Sich niemand bergen mag.
[35] 7.
Wann auch schon die Berg-Knappen
Die Aertz-vernarrte Lappen
Meil-tieff verstoßten mich/
So wurd' ich doch alldorten/
Gleich wie an allen Orten/
O Gott/ antreffen dich.
8.
Als Adam in den Hecken 6
Sich forchtsam wolt verstecken/
Wurd' er gefangen bald:
Gott siht scharff ohne Brüllen/
Niemand kan sich verhüllen/
Auch nicht im dicksten Wald.
9.
Cain nicht könnte fliehen/ 7
Obschon sich wolt' entziehen
Der blutige Bößwicht:
Gott wurd' es eilends innen/
Er konnte nicht entrinnen
Vor seinem Angesicht.
10.
Jonas nach Tharsis flüchtig 8
Hielt' alles schon für richtig
Holländisch durchzugehn.
Könnt' aber nicht entweichen/
Den Segel müßt er streichen/
Und Gott gehorsam stehn.
[36] 11.
Kein Ort ist also finster/
Und zu der Flucht gewünschter/
Als das Cimmerjer-Land/
Allwo die Sonn entfehret/
Die Nacht sechs Monat wehret
In unverwendtem Stand.
12.
Du aber Ursprungs-Bronnen 9
Der Morgen-Röht/ und Sonnen/
Du beyde hast gemacht:
Vor dir ist nichts verborgen/
Dein ist der Tag/ und Morgen/
Der Abend und die Nacht.
13.
Man sagt viel von dem weiten/
Grund-losen aller Seiten/
Mæotischen Morast/
Daß niemand dorten wohne/
Als etwann (Zweiffels ohne)
Ein Welt-verwies'ner Gast.
14.
Dort mitten in den Rohren
Wolt' Ich/ ich wär' verlohren/
Und nicht zu finden mehr/
Dort' wolt' ich mich betragen/
Mein Elend heimlich klagen
Dem wanckenden Geröhr.
[37] 15.
Ach! aber aller Enden
Bin ich in Gottes Händen/
Wo niemand ist/ ist Er:
Sein Liecht unumbekräntzet 10
Den Himmel übergräntzet/
Kein Ort ist seiner lähr.
16.
Vielleicht ist in dem nassen
Neptunus Reich gelassen
Zur Ausflucht noch ein Ort?
Wird dann/ wo Thetys 11 wohnet/
Den Flüchtigen verschonet/
Daß sie unsträfflich dort?
17.
Ach nein! vergebens bellen 12
Vor Gott die wilden Wellen/
Er herrschet über sie:
So klein ist kein Geschöpfflein/
(Auch nicht ein Wassertröpfflein)
So ihm verborgen je.
18.
Werd' ich mich schon aufschwingen/
Biß in den Himmel dringen/ 13
O Gott/ so bist du dort:
Erzeigest also mächtig/
So sichtbar/ und so prächtig
Dich auch an keinem Ort.
[38] 19.
Und werd' ich nach der Höllen
Mich auch begeben wöllen/ 14
O Gott/ so bist du da!
Du wirst da von den bösen
Ohn' einiges erlösen
Genug gefühlet ja.
20.
Nemm' ich früh meine Flügel/ 15
Und flieg' mit vollem Zügel
Biß an das End des Meers/
So wirst du mich berühren/
Mit deiner Rechten führen/ 16
Ich wöll' es/ oder wehrs.

Fußnoten

1 Christum den Heiland.

2 Ad Hebr. 4. v. 13.

3 Tenebræ non obscurabuntur à te. Psal. 138. v. 12.

4 Nox sicut dies illuminabitur. ibid.

5 Tenebræ ejus, ita & lumen ejus. Psal. 138. v. 12.

6 Gen. 3. v. 8.

7 Gen. 4. v. 14.

8 Ion. 1.

9 Psal. 73. v. 16. Tu fabricatus es auroram, & solem.

10 Iob. 37. v. 3.

11 Die Meer-Göttin/ das Meer.

12 Psal. 88. v. 10. Tu dominaris potestati maris.

13 Psal. 138. v. 8. Si ascendero in cælum, tu illic es.

14 Si descendero in infernum, ades.

15 Si sumpsero pennas meas disuculò, & habitavero in extremis maris.

16 Tenebit me dextra tua.

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TextGrid Repository (2012). Laurentius von Schnüffis. Gedichte. Mirantisches Flötlein. Der Clorinden erster Theil. [O ihr verborgne Ritzen]. [O ihr verborgne Ritzen]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DB58-A