[255] Sechster Gesang: Religion

O Menschenherz! Des Gottesglaubens fähig!
Die mehr als groß bist Du! Doch sollst Du nie
In Deiner Größe Dich erkennen. Blicke,
Nur schnelle Blick' auf Dich sind Dir vergönnet!
Dir ward die Wunderkraft, ein Höchstes, Beßtes
Persönlich Dir, Dir als ein Du zu denken,
Mit diesem Du Dich kindlich zu vereinen,
Dem hohen Du zu sagen: »Schöpfer, Vater,
Du bist und bist in mir! Bist, wo ein Seyn ist!
Du Leben, lebst in jedem Leben! Liebe,
Du liebst in jeder Ich-entstorbnen Liebe!
Du sprichst mit mir von jedes Weisen Lippen!
Du stralst mich an im reinen Sonnenstrale!
Du leuchtest mir im mildern Mondesglanze!
Die Sterne sind von Deiner Herrlichkeit
Entsunkne Funken nur! Die Erd' ein Stäubchen!
Ein Tropfen ist vor Dir der Ozean!
Und Ein Gedanke nur ein Weltsystem!
Du bist ein Licht, ohn' alle Finsternisse!
Des Lebens Quell und alles Daseyns Wurzel!
Der Kräfte Kraft! Der Mittelpunkt der Sphären!
Ein ewig Eins, das Allen Alles ist,
Dasselbe jedem ist und jedem anders«.
Religion! Du Ahnung unsichtbarer
Erhabner Geistigkeiten! Vollgefühl
Von immer mehr gereifter Gotteskraft
In uns und außer uns! Du Sinn für's Eine
In Allem dem, was ist und war und seyn wird!
Du immer reger Trieb nach Ewigem!
Du stiller Durst, der stets und nie sich sättigt
Nach Unermeßlichkeit, die Eins nur ist!
Nach Unermeßlichkeit, die menschlich ist!
Wer sandte Dich, o göttlichster der Triebe
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In uns're Brust, gebaut aus Erd und Wasser?
Wer gab dem Herzen Dich, das in uns schlaget?
Bedürfniß, Dich, nach unbegränztem Eins,
Das nicht zu fassen ist und doch umfaßt wird?
Religion! Du höchste Zauberkraft!
Du Schöpferinn des ungeschaffnen Wesens!
Gebährerinn unsterblicher Naturen,
Die nichts für's Auge sind, und dennoch wahrer
Als Sonnenlicht dem Aug' am Mittag ist!
Kein Daseyn gleicht dem Daseyn, das des Glaubens
Magie erschafft – nicht Du, o Täuscherinn,
O Bilderschöpferinn, der Träume Mutter –,
Der ächte Glaube schafft für inn're Sinnen.
Ja, Menschenherz! Du übertriffst Dich selber,
Verstummest ehrfurchtsvoll und voll von Dehmuth
Vor Deiner Größe, Deiner Einzigkeit,
Im seligsten Moment des Kinderglaubens
An Einen, Einen nur. Ihm schlägt mit Beben
Mein unrein Herz mit Wonne doch entgegen!
Sein Namen ist wie Siegesruf den Herzen!
O Du, Du Einer! Zürne nicht, daß Deinen
Von allen Himmeln millionenmal,
Doch würdig nie genannten Namen bebend,
Vertrauend doch der Sünder Sündigster
Zu nennen wagt! O Du, Du Einzigster,
Den nicht gezeugt ein Sohn der Sündererde,
Den doch gebahr der Sarah frömmste Tochter,
Der reiner ist als jede Sonnenreinheit,
Als jede Lichtnatur, die Gottes Himmel
Erzeugt und zeugen kann, und der doch menschlich
Und im Gewand der Todeserben minder
Geworden als der Boten Gottes Letzter,
Ihr König doch und ihrer Fürsten Fürst
Im Thale der Verwesung duldend wallte,
Zu Dir, zu Dir kann sich ein Menschenherz
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Erheben, Dich sich gegenwärtig machen!
Nicht gegenwärtig nur, gewisser als
Gewiß und Deiner froh und froher Dein
Als aller Erdenfreuden, aller Wonnen
Der Menschenfreundlichkeit und des Vertrauens,
Der Weisheit Freuden all' und aller Freuden
Der Vaterzärtlichkeit und Mutterliebe!
Religion! Den ewig hohen Werth
Von Dir, Vertrauteste der Auserwählten,
Besiegelte der Herr der Herrlichkeit,
Der sich für Dich in Todesnächte stürzte,
Dich aus dem Grab unsterblich, neu und göttlich
Zurück gebracht und Menschenherzen schenkte!
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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lavater, Johann Kaspar. Gedichte. Vermischte Gedichte. Das menschliche Herz. Sechster Gesang: Religion. Sechster Gesang: Religion. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DC1D-A