62.
Ueber die deutsche Dichtkunst

Hasch ihn, Muse, den erhabenen Gedanken –
Es sind ihrer nicht mehr,
Ihre Schwestern haben die Griechen und Römer
Und die Hetrurier weggehascht,
Und die meisten ergriffen die kühnen Britten,
Und Shakespeare an ihrer Spitze,
Und trugen sie alle fort wie der Sabiner sein Mädchen.
Mancher brauchte sie zum andernmal,
Aber sie waren nicht mehr Jungfraun.
O traure, traure Deutschland,
Unglücklich Land! zu lange brach gelegen!
Deine Nachbarinnen blühen um dich her voll Früchte
Wie goldbeladne Hügel um einen Morast,
Wie junge kinderreiche Weiber
Um ihre älteste Schwester,
Die alte Jungfer blieb.
[163]
O Homer, o Ossian, o Shakespeare,
O Dante, o Ariosto, o Petrarcha,
O Sophokles, o Milton, o ihr untern Geister –
O ihr Pope, ihr Horaz, ihr Polizian, ihr Prior, ihr Waller!
Gebt mir tausend Zungen für die tausend Namen,
Und jeder Name ist ein kühner Gedanke –
Ein Gedanke – tausend Gedanken
Unsrer heutigen Dichter werth.
Deutschland, armes Deutschland,
Die Kunst trieb kranke Stengel aus deinem Boden,
Höchstens matte Blüthen,
Die an den Aehren hingen vom Winde zerstreut,
Und in der Hülse, wenns hoch kam,
Zwei Körner Genie:
Wenn ich dichte und – –
O ich schmeichelte mir viel,
Als nur dunkles Morgenroth
Von dem braunen Himmel um mich lachte.
Junge Blume, so dacht' ich,
O was fühlst du für Säfte emporsteigen,
Welche Blume wirst du blühen am Tage,
Deutschlands Freude und Lieflands Stolz.
Als es aber Tag um mich ward,
Kroch meine Blüthe voll Schaam zurück,
Denn ich sah neben mir auf meinen Beeten Schwestern
Mit wohlriechenden Busen düften,
Mit bescheidener Röthe lächeln.
Aber als der Mittag nieder auf mich sah,
Und ich auf benachbarten Beeten
Fremder Blumen himmlische Zier
[164]
Mit englischem Aushauch verbunden erblickte,
Wunder den Augen, der Nase, den Sinnen,
Süßes Wunder selbst dem stolzen kalten Verstande.
O da fühlt ich auf einem Sandkorn
Stehn eine Wurzel, ein Regentropfe
Seyn alle meine Säfte, ein Schmetterlingsflügelstäubchen
Aller meiner Schönheit Zier! –
Nehmt sie an meine Zither
Eichen von Deutschland und laßt von Petrarchen
Einen Ton ihre schnarrenden Sayten berühren,
Daß er mir ein Grablied singe –!
Unberühmt will ich sterben,
Will in ödester Wüste im schwarzen Thale mein Haupt hin
Legen in Nacht, – kein Chor der Jünglinge soll um das Grab des Jünglings
Tanzen, keine Mädchen Blumen darauf gießen,
Kein Mensch soll drauf weinen Tränen voll Nachruhm,
Weil ich so verwegen, – so tollkühn gewesen
Weil auch ich es gewagt, zu dichten!
Und du, mein Genius, wenn Gott mich würdig hielt
Einen mir zum Geleit zu geben,
Schütze, treuer Gefährte des Lebens,
Schütze mein einsames Grab,
Daß kein Blick aus dem Reiche der Seeligen
Von Shakespeares brennendem Auge,
Oder dem düsterleuchtenden Auge Ossians,
Oder dem rothblitzenden Auge Homers,
Sich auf dasselbe verirre,
Damit sich meine Asche im Grabe nicht empöre
Für Schaam, daß auch ich einst wagte zu dichten!

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TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. Gedichte. Gedichte. 62. Ueber die deutsche Dichtkunst. 62. Ueber die deutsche Dichtkunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E24D-7