[174] 64.
Aus einem Neujahrswunsch aus dem Stegereif

Aufs Jahr 1776.


In einer Gesellschaft guter Freunde vorgelesen.


Die Welt war immer gern betrogen,
Und niemand hat so schön gelogen
Als wer den Bart in Munde nahm,
Und in der Wahrheit Mantel kam.
Nur bitt ich, halte man Poeten
Nicht für Apostel und Propheten,
Und sagen sie, sie wären es,
So peitscht den falschen Sokrates.
Sie wollen reitzen und gefallen,
Sie suchen euer Herz vor allen;
Sie sagen was ihr gerne habt.
Ihr könnt es prüfen, tadeln, höhnen;
Nur, wollt ihr sie mit Dornen krönen,
Bedenkt, daß ihr den Zunder gabt.
Als euch, der Lust geheim zu dienen,
Verbotne Freuden süsser schienen,
Da machte noch ein Meisterstück
Der Schlüpfrigkeit bey euch sein Glück.
Jezt, da man andre Wollust kennet,
Sich theurgekaufte Freuden gönnet,
Ist für ein höher brausend Blut
Nur der Entzückung Taumel gut.
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Und ist die Schwärmerey zu tadeln?
Ist sie's nicht, die die Seele adeln
Und zu der Götter Nektarkuß
Mit Orpheus Tönen weyhen muß,
Dem kalte Felsen selbst sich lüpften,
Dem Ströme horchten, Wälder hüpften,
Zu dessen Füssen kriechend zahm
Der blut'ge Tyger lekend kam?
Der Liebe Traum, der Ehre Schattenbilder,
Sagt, machen sie die Seele wilder
Als thierischer Genuß? und dürfen Phantasey'n
Nicht ihnen auch Gewänder leyh'n?
Sagt, sind sie nichts? sind sie gefährlich?
Ach, oder sind sie nur beschwerlich?
Und ruft nicht die Natur euch immer heimlich zu:
Mensch, Mensch, du bist nicht für die Ruh!
Stürzt ein Betrogner von den Höhen,
Die er sich aufgethürmt, laßt uns ihn fallen sehen,
Und forschen nach, warum hart unter seinem Ziel
Der Märtyrer, vielleicht uns zum Exempel, fiel,
Den Busen voll von seinen Leiden.
Laßt uns den Trauerpfad vermeiden,
Auf den er sich verstieg, und suchen nebenan
Ob nicht ein beßrer uns zum Ziele führen kann!
Was sind wir denn, wenn zwischen Tod und Leben
Wir ohne Muth und Kraft gekrümmt am Boden kleben,
Was sind wir denn, wir Götter, wir,
Auf diesem Würmerneste hier?
Die sich durch Muskelnwitz, ha oft mit Mißvergnügen,
Um ihre Existenz betrügen,
Sich ein- und ausziehn, wie ein Wurm,
Und sterben dann beym ersten Sturm.
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Wir sterben – pocht mit euren Fäusten,
Ihr Freunde! auf die Brust, und schreyt: Wir sterben? Nie!
Mit dieser Flamm' im Herzen, dieser Harmonie,
Darf sich der Tod uns je zu nah'n erdreisten?
Geh'n wir ihm nicht entgegen? Flieht er nicht,
Seh'n wir ihm nur getrost ins Fratzenangesicht?
Verachtet ihn, und wie vor'm Alexander
Fällt seine Plunderrüstung auseinander.
Die Sense mäht den Feigen nur,
Und seiner Dratpupphand entreissen wir die Uhr.
Wir sterben? Götter sterben? – Nimmer –
Der Schöpfung Meisterstück und Ziel?
Wer will uns töden, zwingen? Trümmer
Sind nur für Menschenarbeit, nimmer
Für einer Gottheit hohes Spiel.
Es kann ein Obeliskus stürzen,
Um einem höhern Geist die Zeit zu kürzen;
Doch eh mag ein System von Sonnen stille stehn
Als dieser Götterhauch in unsrer Brust vergehn.
Wir, Weltbeherrscher, wir, die Erben
Von dem was da ist, sterben, sterben?
Und schmeichelte und lachte dann
Die Sonne uns vergeblich an,
Die das Gefühl von Wärm' und Leben,
Das unser Herz ihr schlagen macht,
Wahrhaftig nicht hineingebracht,
Der wir, was sie uns gab, gevierfacht wiedergeben.
Und traurte nicht verödet die Natur,
Wenn wir, um die sie buhlt, wenn wir sie nicht genössen?
Wenn wir sie nicht vergötterten? Vergessen,
Ach nicht gepriesen, nicht geliebt, gefressen
Von ihren eignen Kindern, wie Saturn,
So läge sie abscheulich, Babels Thurn,
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Der in die Wolken reicht, dicht unterm Ziel verfehlet,
Und seines Meisters Schmach entheelet.
Nein, leben, ewig leben wollen wir
Und müssen wir, der Welt zur Ehre,
Bis Welt und Zeit und Atmosphäre
An unsern Sohlen hängt, und glühende Begier
Den ungebändigt stolzen Geist
Von Welt zu Welt, von Sphär zu Sphäre reißt.
Ha immer unersättlich – leben,
Ja leben wollen wir, und beben
Soll unter unserm Tritt der Boden der uns scheut,
Die Luft sich auseinander pressen, Streit
Die Elemente führen, die uns dämpfen
Uns Götter dämpfen wollen, und wie Mäuse kämpfen 1.
Wir lachen ihrer todten Macht,
Wie einer Maus der Löwe lacht,
Und dringen brüllend fort zur Unausfüllbarkeit
Der Gränzenlosen Ewigkeit.
Das war ein Neujahrswunsch zu Pferde,
ἱππόρωμον wie es der Grieche nennt.
Doch wem mein Flügelroß zu hastig rennt,
Der steige mit mir auf die Erde.
Da wünsch ich ihm, frey von Gefahr,
Ein frölich stilles neues Jahr!

Fußnoten

1 Batrachomyomachiae.

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TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. Gedichte. Gedichte. 64. Aus einem Neujahrswunsch. 64. Aus einem Neujahrswunsch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E261-8