[355] I.
Von dem Wesen der Fabel
Jede Erdichtung, womit der Poet eine gewisse Absicht verbindet, heißt seine Fabel. So heißt die Erdichtung, welche er durch die Epopee, durch das Drama herrschen läßt, die Fabel seiner Epopee, die Fabel seines Drama.
Von diesen Fabeln ist hier die Rede nicht. Mein Gegenstand ist die sogenannte Äsopische Fabel. Auch diese ist eine Erdichtung; eine Erdichtung, die auf einen gewissen Zweck abzielet.
Man erlaube mir, gleich Anfangs einen Sprung in die Mitte meiner Materie zu tun, um eine Anmerkung daraus herzuholen, auf die sich eine gewisse Einteilung der Äsopischen Fabel gründet, deren ich in der Folge zu oft gedenken werde, und die mir so bekannt nicht scheinet, daß ich sie, auf gut Glück, bei meinen Lesern voraussetzen dürfte.
Aesopus machte die meisten seiner Fabeln bei wirklichen Vorfällen. Seine Nachfolger haben sich dergleichen Vorfälle meistens erdichtet, oder auch wohl an ganz und gar keinen Vorfall, sondern bloß an diese oder jene allgemeine Wahrheit, bei Verfertigung der ihrigen, gedacht. Diese begnügten sich folglich, die allgemeine Wahrheit, durch die erdichtete Geschichte ihrer Fabel, erläutert zu haben; wenn jener noch über dieses, die Ähnlichkeit seiner erdichteten Geschichte mit [355] dem gegenwärtigen wirklichen Vorfalle faßlich machen, und zeigen mußte, daß aus beiden, so wohl aus der erdichteten Geschichte als dem wirklichen Vorfalle, sich eben dieselbe Wahrheit bereits ergebe, oder gewiß ergeben werde.
Und hieraus entspringt die Einteilung in einfache und zusammengesetzte Fabeln.
Einfach ist die Fabel, wenn ich aus der erdichteten Begebenheit derselben, bloß irgend eine allgemeine Wahrheit folgern lasse. – »Man machte der Löwin den Vorwurf, daß sie nur ein Junges zur Welt brächte. Ja, sprach sie, nur eines; aber einen Löwen 1.« – Die Wahrheit, welche in dieser Fabel liegt, ότι το καλον ουκ εν πληϑει, αλλ' αρετη, leuchtet sogleich in die Augen; und die Fabel ist einfach, wenn ich es bei dem Ausdrucke dieses allgemeinen Satzes bewenden lasse.
Zusammengesetzt hingegen ist die Fabel, wenn die Wahrheit, die sie uns anschauend zu erkennen gibt, auf einen wirklich geschehenen, oder doch, als wirklich geschehen, angenommenen Fall, weiter angewendet wird. – »Ich mache, sprach ein höhnischer Reimer zu dem Dichter, in einem Jahre sieben Trauerspiele; aber du? In sieben Jahren eines! Recht; nur eines! versetzte der Dichter; aber eine Athalie! « – Man mache dieses zur Anwendung der vorigen Fabel, und die Fabel wird zusammengesetzt. Denn sie besteht nunmehr gleichsam aus zwei Fabeln, aus zwei einzeln Fällen, in welchen beiden ich die Wahrheit eben desselben Lehrsatzes bestätiget finde.
Diese Einteilung aber – kaum brauche ich es zu erinnern – beruhet nicht auf einer wesentlichen Verschiedenheit der Fabeln selbst; sondern bloß auf der verschiedenen Bearbeitung derselben. Und aus dem Exempel schon hat man es ersehen, daß eben dieselbe Fabel bald einfach, bald zusammengesetzt sein kann. Bei dem Phädrus ist die Fabel von dem kreißenden Berge, eine einfache Fabel.
– – – Hoc scriptum est tibi,
Qui magna cum minaris, extricas nihil.
[356] Ein jeder, ohne Unterschied, der große und fürchterliche Anstalten einer Nichtswürdigkeit wegen macht; der sehr weit ausholt, um einen sehr kleinen Sprung zu tun; jeder Prahler, jeder vielversprechende Tor, von allen möglichen Arten, siehet hier sein Bild! Bei unserm Hagedorn aber, wird eben die selbe Fabel zu einer zusammengesetzten Fabel, indem er einen gebärenden schlechten Poeten zu dem besondern Gegenbilde des kreißenden Berges macht.
Diese Einteilung also, von welcher die Lehrbücher der Dichtkunst ein tiefes Stillschweigen beobachten, ohngeachtet ihres mannichfaltigen Nutzens in der richtigern Bestimmung verschiedener Regeln: diese Einteilung, sage ich, vorausgesetzt, will ich mich auf den Weg machen. Es ist kein unbetretener Weg. Ich sehe eine Menge Fußtapfen vor mir, die ich zum Teil untersuchen muß, wenn ich überall sichere Tritte zu tun gedenke. Und in dieser Absicht will ich sogleich die vornehmsten Erklärungen prüfen, welche meine Vorgänger von der Fabel gegeben haben.
De la Motte
Dieser Mann, welcher nicht sowohl ein großes poetisches Genie, als ein guter, aufgeklärter Kopf war, der sich an mancherlei wagen, und überall erträglich zu bleiben hoffen [357] durfte, erklärt die Fabel durch eine unter die Allegorie einer Handlung versteckte Lehre. 2
Als sich der Sohn des stolzen Tarquinius bei den Gabiern nunmehr fest gesetzt hatte, schickte er heimlich einen Boten an seinen Vater, und ließ ihn fragen, was er weiter tun solle? Der König, als der Bote zu ihm kam, befand sich eben auf dem Felde, hub seinen Stab auf, schlug den höchsten Mahnstängeln die Häupter ab, und sprach zu dem Boten: Geh, und erzähle meinem Sohne, was ich itzt getan habe! Der Sohn verstand den stummen Befehl des Vaters, und ließ die Vornehmsten der Gabier hinrichten. 3 – Hier ist eine allegorische Handlung; – hier ist eine unter die Allegorie dieser Handlung versteckte Lehre aber ist hier eine Fabel? Kann man sagen, daß Tarquinius seine Meinung dem Sohne durch eine Fabel habe wissen lassen? Gewiß nicht!
Jener Vater, der seinen uneinigen Söhnen die Vorteile der Eintracht an einem Bündel Ruten zeigte, das sich nicht anders als stückweise zerbrechen lasse, machte der eine Fabel? 4
Aber wenn eben derselbe Vater seinen uneinigen Söhnen erzählt hätte, wie glücklich drei Stiere, so lange sie einig waren, den Löwen von sich abhielten, und wie bald sie des Löwen Raub wurden, als Zwietracht unter sie kam, und jeder sich seine eigene Weide suchtet: 5 alsdenn hätte doch der Vater seinen Söhnen ihr Bestes in einer Fabel gezeigt? Die Sache ist klar.
Folglich ist es eben so klar, daß die Fabel nicht bloß eine allegorische Handlung, sondern die Erzählung einer solchen Handlung sein kann. Und dieses ist das erste, was ich wider die Erklärung des de la Motte zu erinnern habe.
Aber was will er mit seiner Allegorie? – Ein so fremdes Wort, womit nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden, sollte überhaupt aus einer guten Erklärung verbannt sein. – Und wie, wenn es hier gar nicht einmal an seiner [358] Stelle stünde? Wenn es nicht wahr wäre, daß die Handlung der Fabel an sich selbst allegorisch sei? Und wenn sie es höchstens unter gewissen Umständen nur werden könnte?
Quintilian lehret: Αλληγορια, quam Inversionem interpretamur, aliud verbis, aliud sensu ostendit, ac etiam interim contrarium. 6 Die Allegorie sagt das nicht, was sie nach den Worten zu sagen scheinet, sondern etwas anders. Die neuern Lehrer der Rhetorik erinnern, daß dieses etwas andere auf etwas anderes ähnliches einzuschränken sei, weil sonst auch jedeIronie eine Allegorie sein würde. 7 Die letztern Worte des Quintilians, ac etiam interim contrarium, sind ihnen hierin zwar offenbar zuwider; aber es mag sein.
Die Allegorie sagt also nicht, was sie den Worten nach zu sagen scheinet, sondern etwas ähnliches. Und die Handlung der Fabel, wenn sie allegorisch sein soll, muß das auch nicht sagen, was sie zu sagen scheinet, sondern nur etwas ähnliches?
Wir wollen sehen! – »Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigern. « Das ist ein allgemeiner Satz, bei welchem ich mir eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer stärker ist als das andere; die sich also, nach der Folge ihrer verschiednen Stärke, unter einander aufreiben können. Eine Reihe von Dingen ! Wer wird lange und gern den öden Begriff eines Dinges denken, ohne auf dieses oder jenes besondere Ding zu fallen, dessen Eigenschaften ihm ein deutliches Bild gewähren? Ich will also auch hier, anstatt dieser Reihe von unbestimmten Dingen, eine Reihe bestimmter, wirklicher Dinge annehmen. Ich könnte mir in der Geschichte eine Reihe von Staaten oder Königen suchen; aber wie viele sind in der Geschichte so bewandert, daß sie, so bald ich meine Staaten oder Könige nur nennte, sich der Verhältnisse, in welchen sie gegen einander an Größe und Macht gestanden, erinnern könnten? Ich würde meinen Satz [359] nur wenigen faßlicher gemacht haben; und ich möchte ihn gern allen so faßlich, als möglich, machen. Ich falle auf die Tiere; und warum sollte ich nicht eine Reihe von Tieren wählen dürfen; besonders wenn es allgemein bekannte Tiere wären? Ein Auerhahn – ein Marder – ein Fuchs – ein Wolf – Wir kennen diese Tiere; wir dürfen sie nur nennen hören, um sogleich zu wissen, welches das stärkere oder das schwächere ist. Nunmehr heißt mein Satz: der Marder frißt den Auerhahn; der Fuchs den Marder; den Fuchs der Wolf. Er frißt? Er frißt vielleicht auch nicht. Das ist mir noch nicht gewiß genug. Ich sage also: er fraß. Und siehe, mein Satz ist zur Fabel geworden!
Was kann ich nun sagen, daß in dieser Fabel für eine Allegorie liege? Der Auerhahn, der Schwächste; der Marder, der Schwache; der Fuchs, der Starke; der Wolf der Stärkste. Was hat der Auerhahn mit dem Schwächsten, der Marder mit dem Schwachen, u.s.w. hier ähnliches? Ähnliches! Gleichet hier bloß der Fuchs dem Starken, und der Wolf dem Stärksten; oder ist jener hier der Starke, so wie dieser der Stärkste? Er ist es. – Kurz; es heißt die Worte auf eine kindische Art mißbrauchen, wenn man sagt, daß das Besondere mit seinem Allgemeinen, das Einzelne mit seiner Art, die Art mit ihrem Geschlechte eine Ähnlichkeit habe. Ist dieser Windhund, einem Windhunde überhaupt, und ein Windhund überhaupt, einem Hunde ähnlich? Eine lächerliche Frage! – Findet sich nun aber unter den bestimmten Subjekten der Fabel, und den allgemeinen Subjekten ihres Satzes keine Ähnlichkeit, so kann auch keine Allegorie unter ihnen Statt haben. Und das Nämliche läßt sich auf die nämliche Art von den beiderseitigen Prädikaten erweisen.
Vielleicht aber meinet jemand, daß die Allegorie hier nicht auf der Ähnlichkeit zwischen den bestimmten Subjekten oder [360] Prädikaten der Fabel und den allgemeinen Subjekten oder Prädikaten des Satzes, sondern auf der Ähnlichkeit der Arten, wie ich ebendieselbe Wahrheit, itzt durch die Bilder der Fabel, und itzt vermittelst der Worte des Satzes erkenne, beruhe. Doch das ist so viel, als nichts. Denn käme hier die Art der Erkenntnis in Betrachtung, und wollte man bloß wegen der anschauenden Erkenntnis, die ich vermittelst der Handlung der Fabel von dieser oder jener Wahrheit erhalte, die Handlung allegorisch nennen: so würde in allen Fabeln ebendieselbe Allegorie sein, welches doch niemand sagen will, der mit diesem Worte nur einigen Begriff verbindet.
Ich befürchte, daß ich von einer so klaren Sache viel zu viel Worte mache. Ich fasse daher alles zusammen und sage: die Fabel, als eine einfache Fabel, kann unmöglich allegorisch sein.
Man erinnere sich aber meiner obigen Anmerkung, nach welcher eine jede einfache Fabel auch eine zusammengesetzte werden kann. Wie wann sie alsdenn allegorisch würde? Und so ist es. Denn in der zusammengesetzten Fabel wird ein Besonderes gegen das andre gehalten; zwischen zwei oder mehr Besondern, die unter eben demselben Allgemeinen begriffen sind, ist die Ähnlichkeit unwidersprechlich, und die Allegorie kann folglich Statt finden. Nur muß man nicht sagen, daß die Allegorie zwischen der Fabel und dem moralischen Satze sich befinde. Sie befindet sich zwischen der Fabel und dem wirklichen Falle, der zu der Fabel Gelegenheit gegeben hat, in so fern sich aus beiden ebendieselbe Wahrheit ergibt. – Die bekannte Fabel vom Pferde, das sich von dem Manne den Zaum anlegen ließ, und ihn auf seinen Rücken nahm, damit er ihm nur in seiner Rache, die es an dem Hirsche nehmen wollte, behülflich wäre: diese Fabel sage ich, ist so fern nicht allegorisch, als ich mit dem Phädrus 9 bloß die allgemeine Wahrheit daraus ziehe:
Impune potius laedi, quam dedi alteri.
Bei der Gelegenheit nur, bei welcher sie ihr Erfinder Stesichorus erzählte, ward sie es. Er erzählte sie nämlich, als die [361] Himerenser den Phalaris zum obersten Befehlshaber ihrer Kriegsvölker gemacht hatten, und ihm noch dazu eine Leibwache geben wollten. »O ihr Himerenser«, rief er, »die ihr so fest entschlossen seid, euch an euren Feinden zu rächen; nehmet euch wohl in Acht, oder es wird euch wie diesem Pferde ergehen! Den Zaum habt ihr euch bereits anlegen lassen, indem ihr den Phalaris zu eurem Heerführer mit unumschränkter Gewalt, ernannt. Wollt ihr ihm nun gar eine Leibwache geben, wollt ihr ihn aufsitzen lassen, so ist es vollends um eure Freiheit getan.« 10– Alles wird hier allegorisch! Aber einzig und allein dadurch, daß das Pferd, hier nicht auf jeden Beleidigten, sondern auf die beleidigten Himerenser; der Hirsch nicht auf jeden Beleidiger, sondern auf die Feinde derHimerenser; der Mann nicht auf jeden listigen Unterdrücker, sondern auf den Phalaris; die Anlegung des Zaums nicht auf jeden ersten Eingriff in die Rechte der Freiheit, sondern auf die Ernennung des Phalaris zum unumschränkten Heerführer; und das Aufsitzen endlich, nicht auf jeden letzten tödlichen Stoß, welcher der Freiheit beigebracht wird, sondern auf die dem Phalaris zu bewilligende Leibwache, gezogen und angewandt wird.
Was folgt nun aus alle dem? Dieses: da die Fabel nur alsdenn allegorisch wird, wenn ich dem erdichteten einzeln Falle, den sie enthält, einen andern ähnlichen Fall, der sich wirklich zugetragen hat, entgegen stelle; da sie es nicht an und für sich selbst ist, in so fern sie eine allgemeine moralische Lehre enthält: so gehöret das Wort Allegorie gar nicht in die Erklärung derselben. – Dieses ist das zweite, was ich gegen die Erklärung des de la Motte zu erinnern habe.
Und man glaube ja nicht, daß ich es bloß als ein müßiges, überflüssiges Wort daraus verdrängen will. Es ist hier, wo es steht, ein höchst schädliches Wort, dem wir vielleicht eine Menge schlechter Fabeln zu danken haben. Man begnüge sich nur, die Fabel, in Ansehung des allgemeinen Lehrsatzes, bloß allegorisch zu machen; und man kann sicher glauben, eineschlechte Fabel gemacht zu haben. Ist aber eine schlechte [362] Fabel eine Fabel? – Ein Exempel wird die Sache in ihr völliges Licht setzen. Ich wähle ein altes, um ohne Mißgunst Recht haben zu können. Die Fabel nämlich von dem Mann und dem Satyr. »Der Mann bläset in seine kalte Hand, um seine Hand zu wärmen; und bläset in seinen heißen Brei, um seinen Brei zu kühlen. Was? sagt der Satyr; du bläsest aus einem Munde Warm und Kalt? Geh, mit dir mag ich nichts zu tun haben!« 11 – Diese Fabel soll lehren, ότι δει φευγειν ήμας τας φιλιας, ών αμφιβολος εσιν ή διαϑεσις; die Freundschaft aller Zweizüngler, aller Doppelleute, aller Falschen zu fliehen. Lehrt sie das? Ich bin nicht der erste der es leugnet, und die Fabel für schlecht ausgibt. Richer 12 sagt, sie sündige wider die Richtigkeit der Allegorie; ihre Moral sei weiter nichts als eine Anspielung, und gründe sich auf eine bloße Zweideutigkeit. Richer hat richtig empfunden, aber seine Empfindung falsch ausgedrückt. Der Fehler liegt nicht sowohl darin, daß die Allegorie nicht richtig genug ist, sondern darin, daß es weiter nichts als eine Allegorie ist. Anstatt daß die Handlung des Mannes, die dem Satyr so anstößig scheinet, unter dem allgemeinen Subjekte des Lehrsatzes wirklich begriffen sein sollte, ist sie ihm bloß ähnlich. Der Mann sollte sich eines wirklichen Widerspruchs schuldig machen; und der Widerspruch ist nur anscheinend. Die Lehre warnet uns vor Leuten, die von ebenderselben Sache ja und nein sagen, die ebendasselbe Ding loben und tadeln: und die Fabel zeiget uns einenMann, der seinen Atem gegen verschiedene Dingeverschieden braucht; der auf ganz etwas anders itzt seinen Atem warm haucht, und auf ganz etwas anders ihn itzt kalt bläset.
Endlich, was läßt sich nicht alles allegorisieren! Man nenne mir das abgeschmackte Märchen, in welches ich durch die Allegorie nicht einen moralischen Sinn sollte legen können! – »Die Mitknechte des Aesopus gelüstet nach den trefflichen Feigen ihres Herrn. Sie essen sie auf, und als es zur [363] Nachfrage kömmt, soll es der gute Äsop getan haben. Sich zu rechtfertigen, trinket Äsop in großer Menge laues Wasser; und seine Mitknechte müssen ein gleiches tun. Das laue Wasser hat seine Wirkung, und die Näscher sind entdeckt.« – – Was lehrt uns dieses Histörchen? Eigentlich wohl weiter nichts, als daß laues Wasser, in großer Menge getrunken, zu einem Brechmittel werde? Und doch machte jener persische Dichter 13 einen weit edlern Gebrauch davon. »Wenn man euch,« spricht er, »an jenem großen Tage des Gerichts, von diesem warmen und siedenden Wasser wird zu trinken geben: alsdenn wird alles an den Tag kommen, was ihr mit so vieler Sorgfalt vor den Augen der Welt verborgen gehalten; und der Heuchler, den hier seine Verstellung zu einem ehrwürdigen Manne gemacht hatte, wird mit Schande und Verwirrung überhäuft dastehen!« – Vortrefflich!
Ich habe nun noch eine Kleinigkeit an der Erklärung des de la Motte auszusetzen. Das Wort Lehre (instruction) ist zu unbestimmt und allgemein. Ist jeder Zug aus der Mythologie, der auf eine physische Wahrheit anspielet, oder in den ein tiefsinniger Baco wohl gar eine transzendentalische Lehre zu legen weiß, eine Fabel? Oder wenn der seltsame Holberg erzählet: »Die Mutter des Teufels übergab ihm einsmals vier Ziegen, um sie in ihrer Abwesenheit zu bewachen. Aber diese machten ihm so viel zu tun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in der Zucht halten konnte. Diesfalls sagte er zu seiner Mutter nach ihrer Zurückkunft: Liebe Mutter, hier sind Eure Ziegen! Ich will lieber eine ganze Compagnie Reuter bewachen, als eine einzige Ziege.« – Hat Holberg eine Fabel erzählet? Wenigstens ist eine Lehre in diesem Dinge. Denn er setzet selbst mit ausdrücklichen Worten dazu: »Diese Fabel zeiget, daß keine Kreatur weniger in der [364] Zucht zu halten ist, als eine Ziege.« 14 – Eine wichtige Wahrheit! Niemand hat die Fabel schändlicher gemißhandelt, als dieser Holberg! – Und es mißhandelt sie jeder, der eine andere als moralische Lehre darin vorzutragen, sich einfallen läßt.
Richer
Richer ist ein andrer französischer Fabulist, der ein wenig besser erzählet als de la Motte, in Ansehung der Erfindung aber, weit unter ihm stehet. Auch dieser hat uns seine Gedanken über diese Dichtungsart nicht vorenthalten wollen, und erklärt die Fabel durch einkleines Gedicht, das irgend eine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthalte 15.
Richer hat die Erklärung des de la Motte offenbar vor Augen gehabt. Und vielleicht hat er sie gar verbessern wollen. Aber das ist ihm sehr schlecht gelungen.
Ein kleines Gedicht? (Poeme) – Wenn Richer das Wesen eines Gedichts in die bloße Fiktion setzet: so bin ich es zufrieden, daß er die Fabel ein Gedicht nennet. Wenn er aber auch die poetische Sprache und ein gewisses Sylbenmaß, als notwendige Eigenschaften eines Gedichtes betrachtet: so kann ich seiner Meinung nicht sein. – Ich werde mich weiter unten hierüber ausführlicher erklären.
Eine Regel? (Precepte) – Dieses Wort ist nichts bestimmter, als das Wort Lehre des de la Motte. Alle Künste, alle Wissenschaften haben Regeln, haben Vorschriften. Die Fabel aber stehet einzig und allein der Moral zu. Von einer andern Seite hingegen betrachtet, ist Regel oder Vorschrift hier so gar noch schlechter als Lehre; weil man unter Regel und Vorschrift eigentlich nur solche Sätze verstehet, die unmittelbar auf die Bestimmung unsers Tuns und Lassens gehen. [365] Von dieser Art aber sind nicht alle moralische Lehrsätze der Fabel. Ein großer Teil derselben sind Erfahrungssätze, die uns nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als vielmehr von dem, was wirklich geschiehet, unterrichten. Ist die Sentenz:
eine Regel, eine Vorschrift? Und gleichwohl ist sie das Resultat einer von den schönsten Fabeln des Phädrus. 16 Es ist zwar wahr, aus jedem solchen Erfahrungssatze können leicht eigentliche Vorschriften und Regeln gezogen werden. Aber was in dem fruchtbaren Satze liegt, das liegt nicht darum auch in der Fabel. Und was müßte das für eine Fabel sein, in welcher ich den Satz mit allen seinen Folgerungen auf einmal, anschauend erkennen sollte?
Unter einem allegorischen Bilde? – Über das Allegorische habe ich mich bereits erkläret. Aber Bild! (Image) Unmöglich kann Richer dieses Wort mit Bedacht gewählt haben. Hat er es vielleicht nur ergriffen, um von de la Motte lieber auf Geratewohl abzugehen, als nach ihm Recht zu haben? – Ein Bild heißt überhaupt jede sinnliche Vorstellung eines Dinges nach einer einzigen ihm zukommenden Veränderung. Es zeigt mir nicht mehrere, oder gar alle mögliche Veränderungen, deren das Ding fähig ist, sondern allein die, in der es sich in einem und ebendemselben Augenblicke befindet. In einem Bilde kann ich zwar also wohl eine moralische Wahrheit erkennen, aber es ist darum noch keine Fabel. Der mitten im Wasser dürstende Tantalus ist ein Bild, und ein Bild, das mir die Möglichkeit zeiget, man könne auch bei dem größten Überflusse darben. Aber ist dieses Bild deswegen eine Fabel? So auch folgendes kleine Gedicht:
Wer wird diese Zeilen für eine Fabel erkennen, ob sie schon Phädrus als eine solche unter seinen Fabeln mit unterlaufen läßt? 17 Ein jedes Gleichnis, ein jedesEmblema würde eine Fabel sein, wenn sie nicht eine Mannigfaltigkeit von Bildern, und zwar zu Einem Zwecke übereinstimmenden Bildern; wenn sie, mit einem Worte, nicht das notwendig erforderte, was wir durch das Wort Handlung ausdrücken.
Eine Handlung nenne ich, eine Folge von Veränderungen, die zusammen Ein Ganzes ausmachen.
Diese Einheit des Ganzen beruhet auf der Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke.
Der Endzweck der Fabel, das, wofür die Fabel erfunden wird, ist der moralische Lehrsatz.
Folglich hat die Fabel eine Handlung, wenn das, was sie erzählt, eine Folge von Veränderungen ist, und jede dieser Veränderungen etwas dazu beiträgt, die einzeln Begriffe, aus welchen der moralische Lehrsatz bestehet, anschauend erkennen zu lassen.
Was die Fabel erzählt, muß eine Folge von Veränderungen sein. Eine Veränderung, oder auch mehrere Veränderungen, die nur neben einander bestehen, und nicht auf einander folgen, wollen zur Fabel nicht zureichen. Und ich kann es für eine untriegliche Probe ausgeben, daß eine Fabel schlecht ist, daß sie den Namen der Fabel gar nicht verdienet, wenn ihre vermeinte Handlung sich ganz malen läßt. Sie enthält alsdenn ein bloßes Bild, und der Maler hat keine Fabel, sondern ein Emblema gemalt. – »Ein Fischer, indem er sein Netz aus dem Meere zog, blieb der größern Fische, die sich darin gefangen hatten, zwar habhaft, die kleinsten aber schlupften durch das Netz durch, und gelangten glücklich wieder ins Wasser.« – Diese Erzählung befindet sich unter den Äsopischen Fabeln, 18 aber sie ist keine Fabel; wenigstens eine sehr [367] mittelmäßige. Sie hat keine Handlung, sie enthält ein bloßes einzelnes Faktum, das sich ganz malen läßt; und wenn ich dieses einzelne Faktum, dieses Zurückbleiben der größern und dieses Durchschlupfen der kleinen Fische, auch mit noch so viel andern Umständen erweiterte, so würde doch in ihm allein, und nicht in den andern Umständen zugleich mit, der moralische Lehrsatz liegen.
Doch nicht genug, daß das, was die Fabel erzählt, eine Folge von Veränderungen ist; alle diese Veränderungen müssen zusammen nur einen einzigen anschauenden Begriff in mir erwecken. Erwecken sie deren mehrere, liegt mehr als ein moralischer Lehrsatz in der vermeinten Fabel, so fehlt der Handlung ihre Einheit, so fehlt ihr das, was sie eigentlich zur Handlung macht, und kann, richtig zu sprechen, keineHandlung, sondern muß eine Begebenheit heißen. – Ein Exempel:
Was hat man hier gelesen? Ein Histörchen; aber keine Fabel. Ein Histörchen trägt sich zu; eine Fabel wird erdichtet. Von der Fabel also muß sich ein Grund an geben lassen, warum sie erdichtet worden; da ich den Grund, warum sich jenes zugetragen, weder zu wissen noch anzugeben gehalten bin. Was wäre nun der Grund, warum diese Fabel erdichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre? Recht billig zu urteilen, könnte es kein andrer als dieser sein: der Dichter habe [368] einen wahrscheinlichen Anlaß zu dem doppelten Verbote, weder von dem heiligen Feuer ein gemeines Licht, noch von einem gemeinen Lichte das heilige Feuer anzuzünden, erzählen wollen. Aber wäre das eine moralische Absicht, dergleichen der Fabulist doch notwendig haben soll? Zur Not könnte zwar dieses einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen Verbots dienen, daß das Heilige mit dem Unheiligen, das Gute mit dem Bösen in keiner Gemeinschaft stehen soll. Aber was tragen alsdenn die übrigen Teile der Erzählung zu diesem Bilde bei? Zu diesem gar nichts; sondern ein jeder ist vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es selbst empfunden, und hat sich aus der Verlegenheit, welche Lehre er allein daraus ziehen solle, nicht besser zu reißen gewußt, als wenn er deren so viele daraus zöge, als sich nur immer ziehen ließen. Denn er schließt:
Eine elende Fabel, wenn niemand anders als ihr Erfinder es erklären kann, wie viel nützliche Dinge sie enthalte! Wir hätten an einem genug! – Kaum sollte man es glauben, daß einer von den Alten, einer von diesen großen Meistern in der Einfalt ihrer Plane, uns dieses Histörchen für eine Fabel 19 verkaufen können.
Breitinger
Ich würde von diesem großen Kunstrichter nur wenig gelernt haben, wenn er in meinen Gedanken noch überall Recht [369] hätte. – Er gibt uns aber eine doppelte Erklärung von der Fabel. 20 Die eine hat er von dem de la Motte entlehnet; und die andere ist ihm ganz eigen.
Nach jener versteht er unter der Fabel eine unter der wohlgeratenen Allegorie einer ähnlichen Handlung verkleidete Lehre und Unterweisung. – Der klare, übersetzte de la Motte! Und der ein wenig gewässerte: könnte man noch dazusetzen. Denn was sollen die Beiwörter: wohlgeratene Allegorie; ähnliche Handlung? Sie sind höchst überflüssig.
Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung auf ihn versparet. Richer sagt: die Lehre solle unter dem allegorischen Bilde versteckt (caché) sein. Versteckt! welch ein unschickliches Wort! In manchemRätsel sind Wahrheiten, in den Pythagorischen Denksprüchen sind moralische Lehren versteckt; aber in keiner Fabel. Die Klarheit, die Lebhaftigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Teilen einer guten Fabel auf einmal hervor strahlet, hätte durch ein ander Wort, als durch das ganz widersprechende versteckt, ausgedrückt zu werden verdienet. Sein Vorgänger de la Motte hatte sich um ein gut Teil feiner erklärt; er sagt doch nur, verkleidet (deguisé). Aber auch verkleidet ist noch viel zu unrichtig, weil auch verkleidet den Nebenbegriff einer mühsamen Erkennung mit sich führet. Und es muß gar keine Mühe kosten, die Lehre in der Fabel zu erkennen; es müßte vielmehr, wenn ich so reden darf, Mühe und Zwang kosten, sie darin nicht zu erkennen. Aufs höchste würde sich diesesverkleidet nur in Ansehung der zusammengesetzten Fabel entschuldigen lassen. In Ansehung der einfachen ist es durchaus nicht zu dulden. Von zwei ähnlichen einzeln Fällen kann zwar einer durch den andern ausgedrückt, einer in den andern verkleidet werden; aber wie man das Allgemeine in das Besondere verkleiden könne, das begreife ich ganz und gar nicht. Wollte man mit aller Gewalt ein ähnliches Wort hier brauchen, so müßte es anstatt verkleiden wenigstenseinkleiden heißen.
Von einem deutschen Kunstrichter hätte ich überhaupt [370] dergleichen figürliche Wörter in einer Erklärung nicht erwartet. Ein Breitinger hätte es den schön vernünftelnden Franzosen überlassen sollen, sich damit aus dem Handel zu wickeln; und ihm würde es sehr wohl angestanden haben, wenn er uns mit den trocknen Worten der Schule belehrt hätte, daß die moralische Lehre in die Handlung weder versteckt nochverkleidet, sondern durch sie der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht werde. Ihm würde es erlaubt gewesen sein, uns von der Natur dieser auch der rohesten Seele zukommenden Erkenntnis, von der mit ihr verknüpften schnellen Überzeugung, von ihrem daraus entspringenden mächtigen Einflusse auf den Willen, das Nötige zu lehren. Eine Materie, die durch den ganzen spekulativischen Teil der Dichtkunst von dem größten Nutzen ist, und von unserm Weltweisen schon gnugsam erläutert war! 21 – Was Breitinger aber damals unterlassen, das ist mir, itzt nachzuholen, nicht mehr erlaubt. Die philosophische Sprache ist seit dem unter uns so bekannt geworden, daß ich mich der Wörter anschauen, anschauender Erkenntnis, gleich von Anfange als solcher Wörter ohne Bedenken habe bedienen dürfen, mit welchen nur wenige nicht einerlei Begriff verbinden.
Ich käme zu der zweiten Erklärung, die uns Breitinger von der Fabel gibt. Doch ich bedenke, daß ich diese bequemer an einem andern Orte werde untersuchen können. – Ich verlasse ihn also.
Batteux
Batteux erkläret die Fabel kurz weg durch die Erzählung einer allegorischen Handlung. 22 Weil er es zum Wesen der [371] Allegorie macht, daß sie eine Lehre oder Wahrheit verberge, so hat er ohne Zweifel geglaubt, des moralischen Satzes, der in der Fabel zum Grunde liegt, in ihrer Erklärung gar nicht erwähnen zu dürfen. Man siehet sogleich, was von meinen bisherigen Anmerkungen, auch wider diese Erklärung anzuwenden ist. Ich will mich daher nicht wiederholen, sondern bloß die fernere Erklärung, welche Batteux von der Handlung gibt, untersuchen.
»Eine Handlung, sagt Batteux, ist eine Unternehmung, die mit Wahl und Absicht geschiehet. – Die Handlung setzet, außer dem Leben und der Wirksamkeit, auch Wahl und Endzweck voraus, und kömmt nur vernünftigen Wesen zu.«
Wenn diese Erklärung ihre Richtigkeit hat, so mögen wir nur neun Zehnteile von allen existierenden Fabeln ausstreichen. Aesopus selbst wird alsdann, deren kaum zwei oder drei gemacht haben, welche die Probe halten. – »Zwei Hähne kämpfen mit einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf das Dach, schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler auf den Sieger herab, und zerfleischt ihn.« 23 – Ich habe das allezeit für eine sehr glückliche Fabel gehalten; und doch fehlt ihr, nach dem Batteux, die Handlung. Denn wo ist hier eine Unternehmung, die mit Wahl und Absicht geschähe? – »Der Hirsch betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle; er schämt sich seiner dürren Läufte; und freuet sich seines stolzen Geweihes. Aber nicht lange! Hinter ihm ertönet die Jagd; seine dürren Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze; da verstrickt ihn sein stolzes Geweih; er wird erreicht.« 24 – Auch hier sehe ich keine Unternehmung, keine Absicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und der fliehende Hirsch hat die Absicht sich zu retten; aber beide Umstände gehören eigentlich nicht zur Fabel, weil man sie, ohne Nachteil derselben, weglassen und verändern kann. Und dennoch fehlt es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung liegt in dem falsch befundenen Urteile des Hirsches. Der Hirsch urteilet falsch; und lernet [372] gleich darauf aus der Erfahrung, daß er falsch geurteilet habe. Hier ist also eine Folge von Veränderungen, die einen einzigen anschauenden Begriff in mir erwecken. – Und das ist meine obige Erklärung der Handlung, von der ich glaube, daß sie auf alle gute Fabeln passen wird.
Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche einen noch engern, und zwar so materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Handlung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine gewisse Veränderung des Raumes erfordern. Sie finden in keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden sich balgen; und in keiner Fabel, als wo der Fuchs springt, der Wolf zerreißet, und der Frosch die Maus sich an das Bein bindet. Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken und fühlen, als daß sie sich irgend einer Tätigkeit dabei bewußt wären. – Ernsthafter sie zu widerlegen, würde eine unnütze Mühe sein. Es ist aber nur Schade, daß sie sich einigermaßen mit dem Batteux schützen, wenigstens behaupten können, ihre Erklärung mit ihm aus einerlei Fabeln abstrahiert zu haben. Denn wirklich, auf welche Fabel die Erklärung des Batteux passet, passet auch ihre, so abgeschmackt sie immer ist.
Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte, hat bei seiner Erklärung nur die erste Fabel des Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als einmal, une des plus belles et des plus celebres de l'antiquité nennet. Es ist wahr, in dieser ist die Handlung ein Unternehmen, das mit Wahl und Absicht geschiehet. Der Wolf nimmt sich vor, das Schaf zu zerreißen, fauce improba incitatus; er will es aber nicht so plump zu, er will es mit einem Scheine des Rechts tun, und also jurgii causam intulit. – Ich spreche dieser Fabel ihr Lob nicht ab; sie ist so vollkommen, als sie nur sein kann. Allein sie ist nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung ein Unternehmen ist, das mit Wahl und Absicht geschiehet; sondern weil sie ihrer Moral, die von einem solchen Unternehmen [373] spricht, ein völliges Genüge tut. Die Moral ist: 25 όις προϑεσις αδικειν, παρ' αυτοις ου δικαιολογια ισχυει. Wer den Vorsatz hat, einen Unschuldigen zu unterdrücken, der wird es zwar μετ' ευλογου αιτιας zu tun suchen; er wird einen scheinbaren Vorwand wählen; aber sich im geringsten nicht von sei nem einmal gefaßten Entschlusse abbringen lassen, wenn sein Vorwand gleich völlig zu Schanden gemacht wird. Diese Moral redet von einem Vorsatze (dessein); sie redet von gewissen, vor andern vorzüglich gewählten Mitteln, diesen Vorsatz zu vollführen (choix): und folglich muß auch in der Fabel etwas sein, was diesem Vorsatze, diesen gewählten Mitteln entspricht; es muß in der Fabel sich ein Unternehmen finden, das mit Wahl und Absicht geschiehet. Bloß dadurch wird sie zu einer vollkommenen Fabel; welches sie nicht sein würde, wenn sie den geringsten Zug mehr oder weniger ent hielte, als den Lehrsatz anschauend zu machen nötig ist. Bat teux bemerkt alle ihre kleinen Schönheiten des Ausdrucks und stellet sie von dieser Seite in ein sehr vorteilhaftes Licht; nur ihre wesentliche Vortrefflichkeit läßt er unerörtert, und verleitet seine Leser sogar, sie zu verkennen. Er sagt nämlich, die Moral die aus dieser Fabel fließe, sei: que le plus foible est souvent opprimé par le plus fort. Wie seicht! Wie falsch! Wenn sie weiter nichts als dieses lehren sollte, so hätte wahrlich der Dichter die fictae causae des Wolfs sehr vergebens, sehr für die lange Weile erfunden; seine Fabel sagte mehr, als er da mit hätte sagen wollen, und wäre, mit einem Worte, schlecht.
Ich will mich nicht in mehrere Exempel zerstreuen. Man untersuche es nur selbst, und man wird durchgängig finden, daß es bloß von der Beschaffenheit des Lehrsatzes abhängt, ob die Fabel eine solche Handlung, wie sie Batteux ohne Ausnahme fodert, haben muß oder entbehren kann. Der Lehrsatz der itzt erwähnten Fabel des Phädrus, machte sie, wie wir gesehen, notwendig; aber tun es deswegen alle Lehrsätze? Sind alle Lehrsätze von dieser Art? Oder haben allein die, welche es sind, das Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werdern? Ist z.E. der Erfahrungssatz:
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nicht wert, in einem einzeln Falle, welcher die Stelle einer Demonstration vertreten kann, erkannt zu werden? Und wenn er es ist, was für ein Unternehmen, was für eine Absicht, was für eine Wahl liegt darin, welche der Dichter auch in der Fabel auszudrücken gehalten wäre?
So viel ist wahr: wenn aus einem Erfahrungssatzeunmittelbar eine Pflicht, etwas zu tun oder zu lassen, folget; so tut der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz in seiner Fabel ausdrückt. – »Groß sein, ist nicht immer ein Glück« – Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen, möchte kaum möglich sein. Die obige Fabel von dem Fischer, welcher nur der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleinern glücklich durch das Netz durchschlupfen, ist, in mehr als einer Betrachtung, ein sehr mißlungener Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter, die Wahrheit von dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück; und wehe dem, der wider seinen Willen groß ward, den das Glück ohne sein Zutun erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen! Die großen Fische mußten groß werden; es stand nicht bei ihnen, klein zu bleiben. Ich danke dem Dichter für kein Bild, in welchem eben so viele ihr Unglück, als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen Umständen unzufrieden machen; und hier macht er doch, daß es die Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Groß Sein, sondern die eitele Begierde groß zu werden (κενοδοξιαν), sollte er uns als eine Quelle des Unglücks zeigen. Und das tat jener Alte, 26 der die Fabel von den Mäusen und Wieseln erzählte. »Die Mäuse glaubten, daß sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln so unglücklich wären, weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen dergleichen zu wählen. Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln banden sich Hörner auf,
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und diese Hörner, als ihr Heer dennoch wieder geschlagen ward, hinderten sie, sich in ihre engen Löcher zu retten,
Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders geworden, als dadurch, daß der Dichter die Moral bestimmter und fruchtbarer angenommen hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu seinem Gegenstande gewählet; und nur durch dieses Bestreben, durch diese eitle Größe, ist natürlicher Weise auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so sehr in ihr gefällt.
Überhaupt hat Batteux die Handlung der Äsopischen Fabel, mit der Handlung der Epopee und des Drama viel zu sehr verwirrt. Die Handlung der beiden letztern muß außer der Absicht, welche der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr selbst zukommende Absicht haben. Die Handlung der erstern braucht diese innere Absicht nicht, und sie ist vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine Absicht damit erreichet. Der heroische und dramatische Dichter machen die Erregung der Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke. Er kann sie aber nicht anders erregen, als durch nachgeahmte Leidenschaften; und nachahmen kann er die Leidenschaften nicht anders, als wenn er ihnen gewisse Ziele setzet, welchen sie sich zu nähern, oder von welchen sie sich zu entfernen streben. Er muß also in die Handlung selbst Absichten legen, und diese Absichten unter eine Hauptabsicht so zu bringen wissen, daß verschiedene Leidenschaften neben einander bestehen können. Der Fabuliste hingegen hat mit unsern Leidenschaften nichts zu tun, sondern allein mit unserer Erkenntnis. Er will uns von irgend einer einzeln moralischen Wahrheit lebendig überzeugen. Das ist seine Absicht, und diese sucht er, nach Maßgebung der Wahrheit,[376] durch die sinnliche Vorstellung einer Handlung bald mit, bald ohne Absichten, zu erhalten. So bald er sie erhalten hat, ist es ihm gleich viel, ob die von ihm erdichtete Handlung ihre innere Endschaft erreicht hat, oder nicht. Er läßt seine Personen oft mitten auf dem Wege stehen, und denket im geringsten nicht daran, unserer Neugierde ihretwegen ein Genüge zu tun. »Der Wolf beschuldiget den Fuchs eines Diebstahls. Der Fuchs leugnet die Tat. Der Affe soll Richter sein. Kläger und Beklagter bringen ihre Gründe und Gegengründe vor. Endlich schreitet der Affe zum Urteil: 27
Die Fabel ist aus; denn in dem Urteil des Affen liegt die Moral, die der Fabulist zum Augenmerke gehabt hat. Ist aber das Unternehmen aus, das uns der Anfang derselben verspricht? Man bringe diese Geschichte in Gedanken auf die komische Bühne, und man wird sogleich sehen, daß sie durch einen sinnreichen Einfall abgeschnitten, aber nicht geendigt ist. Der Zuschauer ist nicht zufrieden, wenn er voraus siehet, daß die Streitigkeit hinter der Szene wieder von vorne angehen muß. – »Ein armer geplagter Greis ward unwillig, warf seine Last von dem Rücken, und rief den Tod. Der Tod erscheinet. Der Greis erschrickt und fühlt betroffen, daß elend leben doch besser als gar nicht leben ist. Nun, was soll ich? fragt der Tod. Ach, lieber Tod, mir meine Last wieder aufhelfen.« 28 – Der Fabulist ist glücklich, und zu unserm Vergnügen an seinem Ziele. Aber auch die Geschichte? Wie ging es dem Greise? Ließ ihn der Tod leben, oder nahm er ihn mit? Um alle solche Fragen bekümmert sich der Fabulist nicht; der dramatische Dichter aber muß ihnen vorbauen.
Und so wird man hundert Beispiele finden, daß wir uns zu einer Handlung für die Fabel mit weit wenigerm begnügen, als zu einer Handlung für das Heldengedichte oder das Drama. Will man daher eine allgemeine Erklärung von der Handlung geben, so kann man unmöglich die Erklärung [377] des Batteux dafür brauchen, sondern muß sie notwendig so weitläufig machen, als ich es oben getan habe. – Aber der Sprachgebrauch? wird man einwerfen. Ich gestehe es; dem Sprachgebrauche nach, heißt gemeiniglich das eine Handlung, was einem gewissen Vorsatze zu Folge unternommen wird; dem Sprachgebrauche nach, muß dieser Vorsatz ganz erreicht sein, wenn man soll sagen können, daß die Handlung zu Ende sei. Allein was folgt hieraus? Dieses: wem der Sprachgebrauch so gar heilig ist, daß er ihn auf keine Weise zu verletzen wagt, der enthalte sich des Wortes Handlung, insofern es eine wesentliche Eigenschaft der Fabel ausdrücken soll, ganz und gar. –
Und, alles wohl überlegt, dem Rate werde ich selbst folgen. Ich will nicht sagen, die moralische Lehre werde in der Fabel durch eine Handlung ausgedrückt; sondern ich will lieber ein Wort von einem weitern Umfange suchen und sagen, der allgemeine Satz werde durch die Fabel auf einen einzeln Fall zurückgeführet. Dieser einzelne Fall wird allezeit das sein, was ich oben unter dem Worte Handlung verstanden habe; das aber, was Batteux darunter verstehet, wird er nur dann und wann sein. Er wird allezeit eine Folge von Veränderungen sein, die durch die Absicht, die der Fabulist damit verbindet, zu einem Ganzen werden. Sind sie es auch außer dieser Absicht; desto besser! Eine Folge von Veränderungen – daß es aber Veränderungen freier, moralischer Wesen sein müssen, verstehet sich von selbst. Denn sie sollen einen Fall ausmachen, der unter einem Allgemeinen, das sich nur von moralischen Wesen sagen läßt, mit begriffen ist. Und darin hat Batteux freilich Recht, daß das, was er die Handlung der Fabel nennet, bloß vernünftigen Wesen zukomme. Nur kömmt es ihnen nicht deswegen zu, weil es ein Unternehmen mit Absicht ist, sondern weil es Freiheit voraussetzt. Denn die Freiheit handelt zwar allezeit aus Gründen, aber nicht allezeit aus Absichten. – –
Sind es meine Leser nun bald müde, mich nichts als widerlegen zu hören? Ich wenigstens bin es. De la Motte, Richer, Breitinger, Batteux, sind Kunstrichter von allerlei Art; mittelmäßige, gute, vortreffliche. Man ist in Gefahr sich auf dem [378] Wege zur Wahrheit zu verirren, wenn man sich um gar keine Vorgänger bekümmert; und man versäumet sich ohne Not, wenn man sich um alle bekümmern will.
Wie weit bin ich? Hui, daß mir meine Leser alles, was ich mir so mühsam erstritten habe, von selbst geschenkt hätten! – In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemeiner moralischer Satz,nicht unter die Allegorie einer Handlung, sondern auf einen einzeln Fall, nicht versteckt oder verkleidet, sondern so zurückgeführet, daß ich, nicht bloß einige Ähnlichkeiten mit dem moralischen Satze in ihm entdecke, sondern diesen ganz anschauend darin erkenne.
Und das ist das Wesen der Fabel? Das ist es, ganz erschöpft? – Ich wollte es gern meine Leser bereden, wenn ich es nur erst selbst glaubte. – Ich lese bei dem Aristoteles: 29 »Eine obrigkeitliche Person durch das Los ernennen, ist eben als wenn ein Schiffsherr, der einen Steuermann braucht, es auf das Los ankommen ließe, welcher von seinen Matrosen es sein sollte, anstatt daß er den allergeschicktesten dazu unter ihnen mit Fleiß aussuchte.« – Hier sind zwei besondere Fälle, die unter eine allgemeine moralische Wahrheit gehören. Der eine ist der sich eben itzt äußernde; der andere ist der erdichtete. Ist dieser erdichtete, eine Fabel? Niemand wird ihn dafür gelten lassen. – Aber wenn es bei dem Aristoteles so hieße: »Ihr wollt euren Magistrat durch das Los ernennen? Ich sorge, es wird euch gehen wie jenem Schiffsherrn, der, als es ihm an einem Steuermanne fehlte etc.« Das verspricht doch eine Fabel? Und warum? Welche Veränderung ist damit vorgegangen? Man betrachte alles genau, und man wird keine finden als diese: Dort ward der Schiffsherr durch ein als wenn eingeführt, er ward bloß als möglich betrachtet; und hier hat er die Wirklichkeit erhalten; es ist hier ein gewisser, es ist jener Schiffsherr.
Das trifft den Punkt! Der einzelne Fall, aus welchem die: Fabel bestehet, muß als wirklich vorgestellet werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel. – Es verlohnt sich der Mühe diesen wichtigen [379] Unterschied, aus welchem man allein so viel zweideutigen Fabeln das Urteil sprechen muß, an einigen Exempeln zu zeigen. – Unter den Äsopischen Fabeln des Planudes lieset man auch folgendes: »Der Biber ist ein vierfüßiges Tier, das meistens im Wasser wohnet, und dessen Geilen in der Medizin von großem Nutzen sind. Wenn nun dieses Tier von den Menschen verfolgt wird, und ihnen nicht mehr entkommen kann; was tut es? Es beißt sich selbst die Geilen ab, und wirft sie seinen Verfolgern zu. Denn es weiß gar wohl, daß man ihm nur dieserwegen nachstellet, und es sein Leben und seine Freiheit wohlfeiler nicht erkaufen kann.« 30 – Ist das eine Fabel? Es liegt wenigstens eine vortreffliche Moral darin. Und dennoch wird sich niemand bedenken, ihr den Namen einer Fabel abzusprechen. Nur über die Ursache, warum er ihr abzusprechen sei, werden sich vielleicht die meisten bedenken, und uns doch endlich eine falsche angeben. Es ist nichts als eine Naturgeschichte: würde man vielleicht mit dem Verfasser der »Kritischen Briefe« 31 sagen. Aber gleichwohl, würde ich mit eben diesem Verfasser antworten, handelt hier der Biber nicht aus bloßem Instinkt, er handelt aus freier Wahl und nach reifer Überlegung; denn er weiß es, warum er verfolgt wird (γινωσκων όυ χαριν διωκεται) Diese Erhebung des Instinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben soll, macht es ja eben, daß eine Begegnis aus dem Reiche der Tiere zu einer Fabel wird. Warum wird sie es denn hier nicht? Ich sage: sie wird es deswegen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Individuo zu; und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was also hier von dem ganzen Geschlechte der Biber gesagt wird, hätte müssen nur von einem einzigen Biber gesagt werden; und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. – Ein ander Exempel: »Die Affen, sagt man, bringen zwei Junge zur Welt, wovon sie das eine sehr heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pflegen, das andere hingegen hassen und versäumen. Durch ein sonderbares Geschick aber geschieht es, daß die Mutter das Geliebte unter häufigen Liebkosungen [380] erdrückt, indem das Verachtete glücklich aufwächset.« 32 Auch dieses ist aus eben der Ursache, weil das, was nur von einem Individuo gesagt werden sollte, von einer ganzen Art gesagt wird, keine Fabel. Als daher Lestrange eine Fabel daraus machen wollte, mußte er ihm diese Allgemeinheit nehmen, und die Individualität dafür erteilen. 33 »Eine Äffin, erzählt er, hatte zwei Junge; in das eine war sie närrisch verliebt, an dem andern aber war ihr sehr wenig gelegen. Einsmals überfiel sie ein plötzlicher Schrecken. Geschwind rafft sie ihren Liebling auf, nimmt ihn in die Arme, eilt davon, stürzt aber, und schlägt mit ihm gegen einen Stein, daß ihm das Gehirn aus dem zerschmetterten Schädel springt. Das andere Junge, um das sie sich im geringsten nicht bekümmert hatte, war ihr von selbst auf den Rücken gesprungen, hatte sich an ihre Schultern angeklammert, und kam glücklich davon.« – Hier ist alles bestimmt; und war dort nur eine Parabel war, ist hier zur Fabel geworden. – Das schon mehr als einmal angeführte Beispiel von dem Fischer, hat den nämlichen Fehler; denn selten hat eine schlechte Fabel einen Fehler allein. Der Fall ereignet sich allezeit, so oft das Netz gezogen wird, daß die Fische welche kleiner sind, als die Gitter des Netzes, durchschlupfen und die größern hangen bleiben. Vor sich selbst ist dieser Fall also kein individueller Fall, sondern hätte es durch andere mit ihm verbundene Nebenumstände erst werden müssen.
Die Sache hat also ihre Richtigkeit: der besondere Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als wirklich vorgestellt werden; er muß das sein, was wir in dem strengsten Verstande einen einzeln Fall nennen. Aber warum? Wie steht es um die philosophische Ursache? Warum begnügt sich das Exempel der praktischen Sittenlehre, wie man die Fabel nennen kann, nicht mit der bloßen Möglichkeit, mit der sich die Exempel andrer Wissenschaften begnügen? – Wie viel ließe sich hiervon plaudern, wenn ich bei meinen Lesern gar keine richtige psychologische Begriffe voraussetzen wollte. Ich habe mich [381] oben schon geweigert, die Lehre von der anschauenden Erkenntnis aus unserm Weltweisen abzuschreiben. Und ich will auch hier nicht mehr davon beibringen, als unumgänglich nötig ist, die Folge meiner Gedanken zu zeigen.
Die anschauende Erkenntnis ist vor sich selbst klar. Die symbolische entlehnet ihre Klarheit von der anschauenden.
Das Allgemeine existieret nur in dem Besondern, und kann nur in dem Besondern anschauend erkannt werden.
Einem allgemeinen symbolischen Schlusse folglich alle die Klarheit zu geben, deren er fähig ist, das ist, ihn so viel als möglich zu erläutern; müssen wir ihn auf das Besondere reduzieren, um ihn in diesem anschauend zu erkennen.
Ein Besonderes, in so fern wir das Allgemeine in ihm anschauend erkennen, heißt ein Exempel.
Die allgemeinen symbolischen Schlüsse werden also durch Exempel erläutert. Alle Wissenschaften bestehen aus dergleichen symbolischen Schlüssen; alle Wissenschaften bedürfen daher der Exempel.
Doch die Sittenlehre muß mehr tun, als ihre allgemeinen Schlüsse bloß erläutern; und die Klarheit ist nicht der einzige Vorzug der anschauenden Erkenntnis.
Weil wir durch diese einen Satz geschwinder übersehen, und so in einer kürzern Zeit mehr Bewegungsgründe in ihm entdecken können, als wenn er symbolisch ausgedrückt ist: so hat die anschauende Erkenntnis auch einen weit größern; Einfluß in den Willen, als die symbolische.
Die Grade dieses Einflusses richten sich nach den Graden ihrer Lebhaftigkeit; und die Grade ihrer Lebhaftigkeit, nach den Graden der nähern und mehrern Bestimmungen, in die das Besondere gesetzt wird. Je näher das Besondere bestimmt wird, je mehr sich darin unterscheiden läßt, desto größer ist die Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis.
Die Möglichkeit ist eine Art des Allgemeinen; denn alles was möglich ist, ist auf verschiedene Art möglich.
Ein Besonderes also, bloß als möglich betrachtet, ist gewissermaßen noch etwas Allgemeines, und hindert, als dieses, die Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis.
[382] Folglich muß es als wirklich betrachtet werden und die Individualität erhalten, unter der es allein wirklich sein kann, wenn die anschauende Erkenntnis den höchsten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen, und so mächtig, als möglich, auf den Willen wirken soll.
Das Mehrere aber, das die Sittenlehre, außer der Erläuterung, ihren allgemeinen Schlüssen schuldig ist, bestehet eben in dieser ihnen zu erteilenden Fähigkeit auf den Willen zu wirken, die sie durch die anschauende Erkenntnis in dem Wirklichen erhalten, da andere Wissenschaften, denen es um die bloße Erläuterung zu tun ist, sich mit einer geringern Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis, deren das Besondere, als bloß möglich betrachtet, fähig ist, begnügen.
Hier bin ich also! Die Fabel erfordert deswegen einen wirklichen Fall, weil man in einem wirklichen Falle mehr Bewegungsgründe und deutlicher unterscheiden kann, als in einem möglichen; weil das Wirkliche eine lebhaftere Überzeugung mit sich führet, als das bloß Mögliche.
Aristoteles scheinet diese Kraft des Wirklichen zwar gekannt zu haben; weil er sie aber aus einer unrechten Quelle herleitet, so konnte es nicht fehlen, er mußte eine falsche Anwendung davon machen. Es wird nicht undienlich sein, seine ganze Lehre von dem Exempel (περι παραδειγματοσ) hier zu übersehen. 34 Erst von seiner Einteilung des Exempels: Παραδειγματων δ' ειδη δυο εσιν, sagt er, έν μεν γαρ εσι παραδειγματος ειδος, το λεγειν πραγματα προγεγενημενα, έν δε, το αυτα ποιειν. Τουτου δ' έν μεν παραβολη: έν δε λογοι: όιον όι αισωπειοι και λιβυκοι. Die Einteilung überhaupt ist richtig; von einem Kommentator aber würde ich verlangen, daß er uns den Grund von der Unterabteilung der erdichteten Exempel beibrächte, und uns lehrte, warum es deren nur zweierlei Arten gäbe, und mehrere nicht geben könne. Er würde diesen Grund, wie ich es oben getan habe, leicht aus den Beispielen selbst abstrahieren können, die Aristoteles davon gibt. Die Parabel nämlich führt er durch ein ώσπερ ει τις ein; und die Fabeln erzählt er als etwas wirklich Geschehenes. Der Kommentator müßte also[383] diese Stelle so umschreiben: Die Exempel werden entweder aus der Geschichte genommen, oder in Ermangelung derselben erdichtet. Bei jedem geschehenen Dinge läßt sich die innere Möglichkeit von seiner Wirklichkeit unterscheiden, obgleich nicht trennen, wenn es ein geschehenes Ding bleiben soll. Die Kraft, die es als ein Exempel haben soll, liegt also entweder in seiner bloßen Möglichkeit, oder zugleich in seiner Wirklichkeit. Soll sie bloß in jener liegen, so brauchen wir, in seiner Ermangelung, auch nur ein bloß mögliches Ding zu erdichten; soll sie aber in dieser liegen, so müssen wir auch unsere Erdichtung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit erheben. In dem ersten Falle erdichten wir eine Parabel, und in dem andern eine Fabel. – (Was für eine weitere Einteilung derFabel hieraus folge, wird sich in der dritten Abhandlung zeigen).
Und so weit ist wider die Lehre des Griechen eigentlich nichts zu erinnern. Aber nunmehr kömmt er auf den Wert dieser verschiedenen Arten von Exempeln, und sagt: Εισι δ' όι λογοι δημηγορικοι: και εχουσιν αγαϑον τουτο, ότι πραγματα μεν εύρειν όμοια γεγενημενα, χαλεπον, λογους δε ράον. Ποιησαι γαρ δει ώσπερ και παραβολας, αν τις δυνηται το όμοιον όραν, όπερ ράον εσιν εκ φιλοσοφιας. Ραω μεν ουν πορισασϑαι τα δια των λογων: χρησιμωτερα δε προς το βουλευσασϑαι, τα δια των πραγματων: όμοια γαρ, ώς επι το πολυ, τα μελλοντα τοις γεγονοσι. Ich will mich itzt nur an den letzten Ausspruch dieser Stelle halten. Aristoteles sagt, die historischen Exempel hätten deswegen eine größere Kraft zu überzeugen, als die Fabeln, weil das Vergangene gemeiniglich dem Zukünftigen ähnlich sei. Und hierin, glaube ich, hat sich Aristoteles geirret. Von der Wirklichkeit eines Falles, den ich nicht selbst erfahren habe, kann ich nicht anders als aus Gründen der Wahrscheinlichkeit überzeugt werden. Ich glaube bloß deswegen, daß ein Ding geschehen, und daß es so und so geschehen ist, weil es höchst wahrscheinlich ist, und höchst unwahrscheinlich sein würde, wenn es nicht, oder wenn es anders geschehen wäre. Da also einzig und allein die innere Wahrscheinlichkeit mich die ehemalige Wirklichkeit eines Falles glauben macht, und diese innere Wahrscheinlichkeit sich eben so wohl in einem erdichteten [384] Falle finden kann: was kann die Wirklichkeit des erstern für eine größere Kraft auf meine Überzeugung haben, als die Wirklichkeit des andern? Ja noch mehr. Da das historische Wahre nicht immer auch wahrscheinlich ist; da Aristoteles selbst die Sentenz des Agatho billiget:
da er hier selbst sagt, daß das Vergangene nur gemeiniglich (επι το πολυ) dem Zukünftigen ähnlich sei; der Dichter aber die freie Gewalt hat, hierin von der Natur abzugehen, und alles, was er für wahr ausgibt, auch wahrscheinlich zu machen: so sollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den Fabeln, überhaupt zu reden, in Ansehung der Überzeugungskraft, der Vorzug vor den historischen Exempeln gebühre etc.
Und nunmehr glaube ich meine Meinung von dem Wesen der Fabel genugsam verbreitet zu haben. Ich fasse daher alles zusammen und sage: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit: erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.
Das ist meine Erklärung, und ich hoffe, daß man sie, bei der Anwendung, eben so richtig als fruchtbar finden wird.