[21] An Klaus Groth

(Das Lesezeichen.)


In Krieg und Frieden, viele Jahre schon,
Trag' ich, wo immer auch mein Aufenthalt,
Am Herzen deinen Quickborn, und im Herzen
Die goldne Fülle seiner Heimatlieder.
Im harten Winter Siebzig-Einundsiebzig
Stand vor Peronne ich zur Umzingelung.
Einst, als drei Tage und drei Nächte wir
Im Schnee gelegen ohne Schutz und Feuer,
Erhielt ich endlich als Quartier ein Häuschen.
Nur eine Stube gab's: Ein Mütterchen
Saß hüstelnd, stier und stumpfsinnig im Bett.
Ihr hübsches sechzehnjähriges Enkelkind
– Zigeuner waren's – machte die Honneurs.
Rasch schob mein flinker Bursche am Kamin
Das Stroh zusammen, daß ich ruhen konnte,
Und wie der ganz erstarrte Frosch, so taute
Allmählig ich zu warmem Leben auf.
Behaglich nahm ich deinen Quickborn her
[22]
Und las, den Kopf in meine Hände stützend,
Gestreckten Leibes, laut die lieben Verse.
Mir gegenüber, zaghaft erst, dann dreister,
Haupt gegen Haupt, dieselbe Stellung findend,
Das Kinn auf die geballten Fäustchen lastend,
Nahm Platz das Mädchen und – ich las ihr vor:
Von »Unruh Hans« ... Noch seh' ich ihre Augen,
Die dunkelbraunen, staunend mich betrachten;
Seh' auf der broncefarbnen Stirn ein Löckchen,
So schwarz als wär' es aus der Nacht gesprungen.
Dann fing sie an zu lachen und so köstlich
Durchschimmerte der Zahn die roten Lippen,
Daß ich wahrhaftig in Versuchung kam,
Ihr einen Finger in den Mund zu tauchen.
Und als ich weiter vortrug, das Gedicht:
– »Ik sprung noch in de Kinnerbüx, da wär
Ik all en« – kam ein Zischen, Heulen, Wuchten,
Ein Donnerschlag ... und eine Stille dann.
Das ganze Hüttchen zittert, schüttert, bebt,
Und an den Wänden rieselt es hinunter.
Wir aus dem Stroh. Das Mädchen, toterschrocken,
Liegt, wie das Lamm dem Hirten, mir im Arm.
Bald fanden wir die unliebsame Störung
Erklärt: Es hatte in den Hof sich eine
Granate, Grüße bringend, eingewühlt.
Als wieder zum Kamin zurück wir kehrten
Und ich mich niederbog zu deinem Buch,
Entdeckt' ich auf dem Worte »Daugenix,«
Fatale Deutung, Stückchen grauen Kalkes,
Die von der Zimmerdecke abgebröckelt,
Als neben uns der Eisenengel einschlug.
Ich ließ sie dort und heute findest du
Das Lesezeichen noch an alter Stelle.
[23]
In Krieg und Frieden, viele Jahre schon,
Trag' ich, wo immer auch mein Aufenthalt,
Am Herzen deinen Quickborn und im Herzen
Die goldne Fülle seiner Heimatlieder.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Gedichte. Haidegänger. An Klaus Groth. An Klaus Groth. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-ED49-A