[90] Seifenblasen

Ich ging durch schwere Mitternacht;
Ins Gestern sank verloren
Die ewig-alte Menschenschlacht,
Eh neu der Tag geboren.
Der Dämmer rang, die Wolke wich,
Die Aussicht wurde heller.
Schon pflügt, der letzte Stern verblich,
Der erste Flurbesteller.
Ich sah ein lang Gemäuer stehn
Nicht weit von meinem Gange
Und eilte mich, es anzusehn,
In neugierigem Drange.
Das Tor klafft auf, ich trete ein:
Acht Särge, Leere, Stille,
Senkrecht, in Richtung, scharf zu zwein,
Wie ein versteinter Wille.
Ein neunter nur stand vorn allein,
Ein Särglein, schmal, für Kinder;
Der wollte wohl der Herold sein
Der Todesüberwinder.
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Die Särge waren ohne Gruß,
Bar aller Liebesgabe.
Blos auf dem neunten steht am Fuß
Ein kleiner nackter Knabe.
Aus Marmor. Zart hält seine Hand
Ein Kalkrohr unterm Näschen;
Darauf, aus dünnstem Glas gebrannt,
Wölbt sich ein Seifenbläschen.
Im Bläschen spiegelte sich klar
Die junge Morgenröte.
Ein täuschend Bild, das sonderbar
Mein Schauern noch erhöhte.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Seifenblasen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EE01-F