Helena

In Menelaos' goldnem Saale
Saß Nestor's Sohn und Telemach.
Sie freuten sich mit ihm beim Mahle,
Doch als er von Odysseus sprach,
Barg in des Mantels Purpurhülle
Der Jüngling rasch sein Angesicht
Und seiner Tränen dunkle Fülle –
Nur Helenen entging es nicht.
Sie kam gleich Artemis geschritten
Vom duftenden Gemach hervor,
Ihr stellte an der Tafel Mitten
Den Stuhl der Dienerinnen Chor,
Den Teppich brachten sie, den weichen,
Und eilten, ihrer Königin
Den Korb von Silber darzureichen,
Die Spindel und das Garn darin.
Und so zu Menelaos wandte
Die Gattin sich von ihrem Thron:
Wenn ich den Gast dort recht erkannte,
So ist er des Odysseus Sohn.
Er sieht – ich mußt' ihn längst betrachten –
Sprach Menelaos, ganz ihm gleich,
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Und als des Helden wir gedachten,
Ward auch sein Herz von Tränen weich.
Es ist so! rief der Nestoride.
Dem bei der Herzenssaite Ton
Die Träne bebt' am Augenlide,
Er ist es, des Odysseus Sohn,
Des vielerfahrnen, reich an Ehren,
Dem ach, noch fern in wilder Flut
Der Heimkehr Tag die Götter wehren,
Der schon vielleicht im Meere ruht!
O welche Stunde, reich gesegnet,
Rief Menelaos, bringst du mit,
Da mir des Mannes Sohn begegnet,
Der viel für mich erlitt und stritt!
Wie wär' er selbst erst mir willkommen!
Ich räumte eine Stadt ihm ein,
So sollt' er bei mir aufgenommen
Bis an sein Lebensende sein.
Er sprach es, und in Aller Herzen
Drang Kümmernis und tiefer Gram,
Daß ein Erinnern aller Schmerzen
Die großen Seelen überkam.
Doch Helena stand auf und mischte
Ein Zaubermittel in den Wein,
Das vom Gedächtnis weg verwischte
Jedweden Kummer, jede Pein.
Und alle Haß- und Zorngedanken,
Des Unglücks Macht, der Feinde Hohn
Vergaßen, die den Zauber tranken,
Nur Helena trank nicht davon.
Ihr Blick sah nach des Tores Schwelle,
Sie starrte traumhaft vor sich aus;
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Ihr war, als leuchte Fackelhelle,
Ein schöner Jüngling trat ins Haus.
Er war's, der zärtliche Verbrecher,
Er schwebte lächelnd auf sie zu,
Doch Menelaos hob den Becher:
Trink, Helena, vergiß auch du!
Sieh, schmerzlich winkend schwand der Schatten
Und wies auf ein noch blutig Erz.
Es traf ihr Blick den Blick des Gatten,
Und Todesfrost durchfror ihr Herz.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lingg, Hermann von. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. 8. Hellas und Rom. Helena. Helena. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-F09E-4