Nachtfahrt im Gebirg

Dunkle Felswände die Berghöh'n entlang,
Taleinwärts fuhren wir, es zogen
Die Nebel mit uns in hellen Wogen,
Ein wildes Heer, das sich auf und nieder schwang,
Ein Meer, das mit den Lüften rang.
Doch reingezackte Gipfel hoben
Im Licht des Mondes sich hervor,
Vom herrlichsten Blau der Nacht umwoben,
Und darüber flog im Schleierflor
Sein silbern Antlitz. Es tauchten
Zuweilen auch Wolken auf, glührot,
Als ob brennende Städte rauchten
Hinter den Bergen, als wär entloht
Ein Lavastrom und wälzte sich her; doch eilte
Darüber hin im Flug
Das leuchtende Gestirn und teilte
In der Wolken raschem Vorüberzug
Den nächtlichen Irrpfad, wo tief im Dunkeln
Umwaldeter Schluchten Licht an Licht
Aus fernen Häusern begann zu funkeln,
Bald einzeln und bald wieder dicht,
Wie Sterne des Himmels, – und die darin hausten,
Die hörten, vielleicht schon halb im Schlummer,
Wie wir vorüberbrausten,
Wenn sie nicht wach hielt nagender Kummer.
Denn auch in diese Hütten ein,
In die weltverborgensten Täler
Schleicht ja die Sorge sich, dringt die Pein,
Der Menschen nie müde Quäler.
[260]
Aber was wäre, frug ich, das Dasein hienieden,
Wäre dem Herzen nicht Kampf beschieden,
Der Kampf mit Schmerz und Qual?
Dieser blutrote Höllenstrahl
Erleuchtet die Tiefen der Menschenbrust,
Und Seelengröße wäre nicht
Und nicht des Sieges stolze Lust,
Wär nicht der Schmerz, der weiht, wenn er zerbricht.
Ach, schon erschauert mir tief
Das eigne Herz, und ich fühle mich zagen.
Wie? wenn zum Kampfe das Unglück mich rief',
Würd' ich's ertragen?
Müßt' ich aller Errungenschaft,
Jedem edleren Tun entsagen,
Und sähe mich weggerafft
Vor allem Erhabnen auf Erden,
Zur Fron des Tags mich gezwungen werden!
Und müßt' ich wieder wie vor Jahren
Das Furchtbare bestehn
Und das bitterste Leid erfahren,
In Geliebter brechendes Auge sehn?
In Zagnis fühl' ich vergehn
Den trotzigen Mut, der noch eben
Mit dem Verderben gespielt,
Der des Schicksals furchtbarem Weben
Kühn den Gedanken entgegenhielt.
Nie dünke sich der Mensch so groß,
Als könnt' er allem entsagen
Und über das allgemeine Los
In seinem Stolze sich wagen;
Denn, ist er gestorben – ein Jahr
Und mehr – dahin ist dann Alles, was er war,
Und selbst von seiner letzten Stunde
Lebt bei den Menschen kaum noch eine Kunde.
[261]
Schwerer ballten die Nebel sich und hatten
Undurchdringliche Dunkelheit
Über die letzten Lichter weit und breit
Emporgetürmt, gespenstige Schatten. –
Ja, da bist du, Vergessenheit!
Die jedes Glück du, Lust und Klage
Mit Nacht umhüllst, so wie dort über längst
In die Versteinerung gesunkene Tage
Du die Felsenstirnen mit Nacht umhängst. – –
Vergessenheit! Ende von Allem! Grenzenloses
Und traumloses Schlafen! Aufgenommen,
Erlöst zu sein und heimgekommen
Zur Ruhe des mütterlichen Erdenschoßes!
Ja, das wär' Alles, Aller letztes Wort
Und letzter Trost, wenn nicht dort
Aus jenen Sternen von der Größe,
Von der Unendlichkeit des Alls ein Schimmer,
Ein Flammenwink sich herniedergöße
Und unsers Daseins Ziel noch immer
Über all unser Fürchten und Hoffen weit,
Viel weiter noch hinauserstreckte,
Als es je die Vergessenheit
Und der ungeheure Tod bedeckte.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lingg, Hermann von. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. 14. Freie Rhythmen. Nachtfahrt im Gebirg. Nachtfahrt im Gebirg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-F1B5-A