5.

Ein Chans Sohn verliebte sich in ein Mädchen voll Schönheit und Tugend und Geist, das zwei Meilen weit von ihm wohnte, und sagte: »Du bist meine Gemahlin!« Das hielt er aber noch heimlich, denn das Mädchen war nur die Tochter eines gemeinen Hausvaters.

Der Chanssohn starb, ohne daß das Mädchen davon erfuhr. In einer Nacht, da eben der Mond war aufgegangen, hörte es an der Thüre klopfen und der Chanssohn trat herein. Da ging es ihm freudig entgegen und bewirthete ihn mit Arack und Kuchen.

»Gemahlin, sprach des Chans Sohn, komm mit mir.« Sie folgte ihm und Beide gelangten zur chanischen Wohnung, aus welcher ein Schall von Klangbecken und Pauken hervordrang.

»Chan, was ist das?« fragte die Gemahlin. »Weißest du das nicht? antwortete dieser; es wird mein Leichendienst gehalten.«

»Dein Leichendienst? sagte sie betroffen; was ist denn dem Sohne des Chans widerfahren?« – »Er ist verschieden, war die Antwort, und wird dich in jeder Vollmondsnacht besuchen.«

[357] »Wie aber, fragte sie, wirst du mich können besuchen, wenn du verschieden bist?«

»Weißest du nicht? versetzte der Verschiedene, daß treue Liebe nimmer verscheidet, sondern dauert bis über das Grab!« Damit verschwand er. Sie aber jammerte ihm laut nach und rief: »Chan! Chan! kehre wieder. Ach warum bist du verschieden!«

Als im nächsten Vollmond der Verschiedene wieder zu ihr kam, sagte sie mit Thränen: »Es ist schön, daß du in jeder Vollmondsnacht zu mir kommst, allein viel schöner wär es, du könntest alle Nacht zu mir kommen!« Darauf erwiederte der Chans Sohn: »Wenn du Muth hättest, dann könnt ich wohl kommen; aber du bist noch zu jung und wirsts nicht vollbringen!« – Darauf sprach sie: »Treue Liebe wagt Alles, und selbst das Leben; ich will es vollbringen!«

Der Chans Sohn sprach hierauf: »So begib dich denn in der nächsten Vollmondsnacht eine Meile von hier zu dem Eisenalten und reiche ihm Arack. Hierauf gelangst du zu zwei großen Widdern; ihnen gib diesen würzigen Kuchen. Weiter triffst du auf einen Haufen Bewaffneter mit Panzern und Rüstungen, diesen gib Fleisch und Kuchen. Von dort gelangst du zu einem großen schwarzen Gebäude mit Blute bedeckt und statt der Fahne ist eine Menschenhaut aufgestellt. An der Thüre des Hauses stehen zwei Höllendiener, welchen du Ehrenopfer von Blut reichen mußt. Jetzt gelangst du ins Haus und triffst neun schreckliche Beschwörer und neun Herzen, die stehen um einen Chansthron und eins darunter ist noch frisch und blutend, die andern achte sind alt. Das sind aber die Herzen von Chanen und ihren Söhnen. Die acht Alten aber werden rufen: ›Nimm mich! Nimm mich!‹ Das frische aber wird rufen: ›Nimm mich nicht!‹ Das aber sollst du nehmen, denn es ist mein Herz, damit [358] lauf eilends zurück, aber du darfst dich nicht umsehen. – Hast du dieß Alles vollbracht, dann darf ich allnächtlich zu dir kommen.«

Zwar das Mädchen fürchtete sich sehr, aber die Liebe besiegte die Furcht, und es ging in nächster Vollmondsnacht, theilte die Opfer aus und gelangte in das Gebäude. »Nimm mich nicht,« rief das frische Herz, aber das Mädchen nahm es dennoch und eilte mit demselben davon.

Die neun Beschwörer liefen nach und riefen: »Haltet! haltet, den Dieb des Herzens!« aber die beiden Höllendiener sagten: »Wir haben Blut zum Ehrenopfer bekommen; wir halten nicht!« Die Beschwörer riefen den Bewaffneten zu; die aber sagten: »Wir haben Kuchen und Fleisch bekommen; wir halten nicht.« – Jene riefen den Widdern zu, die aber sprachen: »Wir haben würzigen Kuchen bekommen, wir halten nicht.« Da riefen sie dem Eisenalten zu, der aber sagte: »Ich habe Arack bekommen und halte sie nicht!«

Jetzt ging das Mädchen nach Hause ohne Furcht, und als es hineintrat, stand der Chanssohn im Feierkleide da und umschlang den Nacken des Mädchens und sprach: »Nun hab ich mein Herz wieder und bin wieder durch treue Liebe lebendig.«

Sie gingen hierauf zu den Aeltern des Jünglings, welche heftig erschracken. Aber des Jüngling erzählte, was sich hatte begeben, und wie ihn das treue Mädchen wieder lebendig gemacht hätte. Da wurde es seine Gemahlin.

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TextGrid Repository (2012). Löhr, Johann Andreas Christian. Märchen. Das Buch der Mährchen. Zweiter Band. Das Buch der Mährchen. 28. Kalmückische Mährchen. 5. [Ein Chans Sohn verliebte sich in ein Mädchen voll Schönheit und]. 5. [Ein Chans Sohn verliebte sich in ein Mädchen voll Schönheit und]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1EC5-B