Die Möwe

Eine Möwe habe ich gefunden,
Rotes Blut entquoll der bitter Wunden,
Ihren Flügel habe ich verbunden;
Armes Vögelein,
Mußt nun bei mir sein,
Niemals heilt dir mehr der Fittich ein.
Sah so lange keine Möwe fliegen,
Bis ich diese fand im Sande liegen,
Ihren Kopf ins Heidkraut niederschmiegen;
Dreißig Jahre lang
Hör' ich Kettenklang,
War ein Seefürst einst so frei und frank.
[232]
Dreimal Tausend sind wir ausgezogen,
Uns're Drachen durch die Fluten flogen
Und es duckten sich die grauen Wogen,
Als wir kamen an,
Dreimal tausend Mann,
Wie man besser sie nicht finden kann.
Uns're Schiffe flogen wie die Schwalben,
Unsern Feinden halfen keine Salben,
Uns're Pfeile waren allenthalben;
Vor uns ging der Tod,
Hinter uns die Not,
Uns're Hände waren immer rot.
Als die Kiele dann zu Strande rannten,
Alle Dörfer in den Marschen brannten,
Alle Bauern nach der Geest sich wandten;
Und wir hinterdrein,
Immer querlandein,
Denn die ganze Welt sollt' unser sein.
So sind wir ins Binnenland gezogen,
Ließen hinter uns die guten Wogen,
Die dem Wiking nie die Treue bogen;
Wer die Treue bricht,
Den der Treubruch sticht,
Über uns herein kam das Gericht.
Uns're Feinde heulten sich zusammen,
Uns're Drachen gingen auf in Flammen,
Durch die Deiche graue Wogen schwammen;
Wir verließen sie,
Und nun folgten die
Uns ins Land, wie dummes treues Vieh.
Dreimal Tausend sind wir ausgefahren,
Dreimal Hundert von uns übrig waren.
Dreimal Zehn vergingen mir an Jahren,
Daß ein Knecht ich bin,
Stumpf an Leib und Sinn,
Hinter mir da klirrt die Kette hin.
[233]
Einmal möcht' ich über See noch fliegen,
Einmal an das Drachenhaupt mich schmiegen,
Sehen, wie sich graue Wogen biegen;
Jede Nacht im Traum
Schmeck' ich Wellenschaum,
Hör' das Knarren ich vom Ruderbaum.
Weißer Vogel, wolltest dich nicht schämen,
Wolltest lieber dich zu Tode grämen,
Denn ein Fischlein aus der Hand mir nehmen;
Ja, du warest klug,
Wen die Schwinge trug,
Dem ist Landgang niemals gut genug.
Habe Dank, du liebes Seegeflügel,
Allzulange trug ich Zaum und Zügel,
Brechen will ich meiner Kette Bügel;
Fließe! rotes Blut,
Brause! graue Flut,
Bin ein Seefürst wieder hochgemut.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Mein blaues Buch. Die Möwe. Die Möwe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2079-E