Mai

Zum Teufel mit der Wintertrauer,
Der grüne Mai zog heut ins Land,
Ein brünstig warmer Liebesschauer
Hält alle Wesen jetzt umbannt,
Jetzt auf den Hut ein Sträußchen Flieder,
An deinen Busen einen Strauß,
Und Hand auf Schulter, Arm ums Mieder
Und dann zum grünen Wald hinaus.
Im goldnen Eichenwipfel flötet
Laut der Pirol, der uns begrüßt,
Die Anemone froh errötet,
Weil Trauermantel sie geküßt,
Im Buchenlaub ein hörbar Blühen,
Geschäft'ger Bienen laut Gesumm –
Marie, wie deine Backen glühen,
Warum bist du so rot und stumm?
Bist rot du, weil dort auf der Eiche
Der Fink sich mit dem Weibchen paart,
Das, meine lustige und bleiche
Marie, war sonst nicht deine Art,
Ist's, weil kein Menschenwort uns störet,
Daß stumm du blickst in deinen Schoß,
Daß nur der Fink mein Kosen höret
Und daß so warm und weich das Moos?
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Marie, ich hör's an deinem schnellen
Herzschlag, daß dich dein Kleid bedrängt,
Entdämme deines Busens Wellen,
Die du so grausam eingezwängt,
Und sei nicht spröde, blick nicht düster,
Ich will dich ganz, auch deinen Leib,
Der König Mai ist unser Priester,
Er traut dich jetzt zu meinem Weib.

Frühling 1889


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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Mai. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2343-E