[144] Der Schwan

Des Mondes Strahlen flimmern
Magisch über den Teich,
Die Nixenblumen schimmern
Romantisch geisterbleich;
Es klingt der Nachtigall Weise
Voll tiefer Liebesglut,
Der weiße Schwan zieht leise
Über die schwarze Flut.
So wie der Mond durchziehet
Er langsam den dunklen Teich,
Das weiße Gefieder blühet
Wie Weiberbrüste weich;
Des Halses gefällige Krümmung
Vollendet den Zauberbann,
Nur eins trübt mir die Stimmung,
Daß er nicht fliegen kann.
Ich sah am Ostseestrande
Die wilden Schwäne ziehn,
Sah nach dem Tropenlande
Die Weithinklaft'rer fliehn,
Ich sah ihre Schwingen sich dehnen
Im Abendsonnenlicht –
Dir schnitt man Band und Sehnen,
Flugfreiheit kennst du nicht.
Und wenn dich treibt nach andern
Gewässern wilder Drang,
Das wird ein trauriges Wandern,
Ein trauriger Humpelgang;
Das stolze Bild entweichet
Armselig auf dem Land,
Manch Dichter dir darin gleichet,
Von Vorurteil gebannt.
Wen einmal gefesselt haben
Rücksicht und Strebertum,
Die Sucht nach Ehrengaben,
Nach hohlem Tagesruhm,
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Niemehr wird der gesunden –
Nur wer die Fessel flieht,
Flugfrei und ungebunden –
Der singt ein großes Lied.

Mai 1890

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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Der Schwan. Der Schwan. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2345-A