Stimmen am Genfersee

1. Der Genfersee

1790.


Ihr, die zur Wonne der Götter und Menschen mein Alter verherrlicht,
Zinnen des Ufers! o gönnt mir ein erheiterndes Wort.
Lange schon raubt mir die Geissel der grollenden Bise den Schlummer,
Auch hat mich Frankreichs Kourier ganz hypochondrisch gemacht.

2. Genf

Horch! Millionen untadlicher Uhren, vom Strande Torneos
Bis zu den Palmen des Kaps picken der Meisterin Lob.
[190]
Nur mein politischer Seiger geht immer, seit Frankreich ihn stellte,
Heute zwölf Stunden zu früh, morgen zwölf Stunden zu spät.

3. Genthod

Dörflich erschein' ich dem Auge des Wanderers: aber seit Bonnet
Hier ein Sabinum bewohnt, hab' ich mit London den Rang.
Nah' dich dem Greise voll Andacht, o Fremdling! der göttlich zu leben
Und was die Vorsicht verhängt, still zu erwarten dich lehrt.

4. Versoy

Choiseul baute mir Straßen, doch wurden die Häuser nicht fertig
Und an den Rissen zum Port nagt schon seit Jahren der Wurm.
Hätt' ich nicht noch die Fabrik der berühmten Argandischen Lampen,
Sicherlich spräche von mir unter der Sonne kein Mensch.

5. Kopet

Selten erfreut' ich mich lange des Eigners im zierlichen Schlosse.
Mancher Geweihte Merkurs wurde durch mich zum Baron.
Jetzt bin ich Neckers: doch der hat Frankreichs Gebrechen zu heilen,
Darum bescheid' ich mich gern, wenn er die meinen vergißt.

[191] 6. Nyon

Sieben Konditorn gewähr' ich seit Jahren den blühendsten Wohlstand,
Aber beim Bücherverkehr sänk' ich in Armuth und Schmach.
Jetzo regiert mich, als Bernischer Landvogt, ein Liebling der Musen;
So wird nun auf dem Parnaß endlich auch meiner gedacht.

7. Rolle

Chandler erkohr mich zum Wohnsitz, der Britte, den Griechenlands Himmel
Von der Akropolis einst bis nach Miletus umglänzt.
Gibbon besuchte mich oft, auch jubelt im Roguinschen Saale,
Eben ein deutscher Poet faunisch beim Blindekuhspiel.

8. Aubonne

Daß ich Taverniers Palme verdiente, durch Landschaft und Umsicht,
Hat auf dem Bougy-Signal mancher Ulysses bezeugt.
Aber ich selbst präsentire dem Reisenden einzig mit Vortheil
Mich in der Ferne, wie Maynz, Konstantinopel und Kölln.

9. Lausanne

Seit auch ein Modenkalender die Wunder der Traubenkur feiert,
Welche doch Tissot, mein Sohn, längst als Apostel verhieß,
Bin ich ein Mekka geworden für preßhafte Standespersonen;
Eng' in Gemächern des Dachs hausen die Meinen mit Noth.

[192] 10. Vevey

Zärtliche Seelen die lange nach Frieden vergebens geschmachtet,
Finden den Talisman hier oder im Dunkel der Gruft.
Stille des Herzens und süßes Vergessen erduldeter Qualen
Hab' ich schon manchem St. Preux freundlich nach Stürmen gewährt.

11. Schloß Hauteville

Kennst du Paris und Lyon, so bist du hier völlig zu Hause,
Galliens Urbanität ward mein beneidetes Loos.
Sieh! meine Damen sind geistvoll und schön und mein edler Gebieter,
Aehnlich dem Ritter Bayard, ist ohne Tadel und Furcht.

12. Clarens

»Wo war des Kusses Bosket? Elysiums Rosenhain? Wolmars
Feenschloß? Ach! und wo ruht Juliens heiliger Staub?«
Jüngling! o forsche nicht weiter. Du siehst, wie die Fackel der Wahrheit
Hier auch dem Sylfen des Wahns grausam die Flügel versengt.

13. Villeneuve

Grafen und Lords und Marquis gehn vornehm und kalt mir vorüber,
Und nur im Nothfall gedenkt meiner ein Reiseroman.
Still, um des Himmels Vergeltung, gewähr' ich der pilgernden Armuth
Wirthlich in meinem Spital, Obdach, Erquickung und Rast.

[193] 14. Roche

Haller der Große hier weiht' er den Musen sechs glückliche Jahre.
Siehst du das Laubkabinet unter den Linden am Teich?
Dort hat, beim Schimmer des Mondes, Alpina die göttliche Nymphe,
Dankbar dem Liebling die Stirn mit Immortellen bekränzt.

15. Meillerie

Trotz meiner Hungerbaracken, bewohnt nur von Söhnen der Hoffnung
Welche das täuschende Netz täuschenden Fluthen vertraun,
Weicht mir an Glorie selbst Vauklüsas unsterblicher Name
Seit mich des Genius Hand weihend im Fluge berührt.

16. Evian

Nichts hätt' ich Aermste vor dieser erlauchten Versammlung zu sagen,
Strömte nicht segnend ein Born hier mineralisches Heil.
Meinen durchlöcherten Leibrock, umflattert vom cynischen Mantel,
Hält man, als Landeskostum, mir Savoyardin zu gut.

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TextGrid Repository (2012). Matthisson, Friedrich von. Stimmen am Genfersee. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2BAB-8