Hymne an die Phantasie

An Klopstock.


Wie von Blüthe zu Blüthe die Biene fleugt,
Also schwebst du, o Phantasie,
Umflossen von des Aetherlichts goldenem Strom,
Durch des Himmels heilige Gefilde,
Wonnestralend von Welt zu Welt!
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Gleich des Nordscheins strömendem Purpur glänzt
Deines Fluges blendende Bahn!
Ahndung und Sehnen und Wehmuth,
Und Ruh' und Entzücken und Wonne
Umtanzen in holder
Geniusbildung, o Göttin, dich!
Heil! dir, Unsterbliche, Heil!
Du entschleierst der Erinnerung freundliches Gestirn,
Welchem Allvater über der Lebenszeit
Dämmerndem Grabe zu leuchten gebot!
Heil! dir, Unsterbliche, Heil!
Du bestralst mit Hofnungsmorgenröthe
Der Zukunft umnachteten Hain!
Heil! dir, Unsterbliche, Heil!
Auf des Mondes lieblichen Fluren
Weilst du im Schimmer des Erdenlichts,
Auf der Sonne flammenden Wogen
Wiegst du, Himmlische, jauchzend dich,
Wie auf der Waizensaat grünlichen Wallungen
Sanft sich wieget der Abendwind!
Schwingst dich höher hinan, wo der Altar,
Dem, der aus Welten ihn baute, flammt;
Wo im Kranze die Rose des Himmels
Opfergerüche zu ihm sendet empor
Der aus Lichtglanz webte ihrer Blätter
Stralende Herrlichkeit;
Wo sein Haupt der Adler majestätisch hebt,
Und der melodische Schwan
Horchet der Leier begeisterndem Silberklang!
Breitest die Fittige stürmender dann,
Und fleugst empor, empor, wo der Sterne Lied
Triumph und Jubel und Vollendung tönt;
Wo des unvergänglichen Seyns
Lebendige Vorempfindung, (ach! im Thal des Staubs
Nur leiser, kaumgehörter Laut!)
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Im reinsten Vollklang dich umströmt;
Wo der Wesen unendliche Leiter,
Umschlungen von den Banden der ewigen Harmonie,
Sich dir in unbewölktem Himmelsschein enthüllt,
Bis dahin, wo sie an des Urlichts Quell,
In eignem Glanze sich verliert,
Und wo der kühnste deiner Schwünge
Sie ewig und ewig nicht ermißt!

Notes
Erstdruck in: Deutsches Museum 1784, Stück 10.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Matthisson, Friedrich von. Hymne an die Phantasie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2CCA-9