Daphnens Engel, als sie schlief

1772.


Schlummre, Mädchen, schlummre süß!
Träume nur von Seligkeiten,
Die, in Gottes Paradies,
Meine Brüder dir bereiten!
Unter mancher guten That
Ist der Tag dir hingeflossen,
Und mit Gottgedanken hat
Sich dein Auge zugeschlossen.
Arme Brüder speistest du;
Mildertest des Waisen Leiden;
Sprachst dem Kranken Tröstung zu,
Und belebtest ihn mit Freuden;
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Warst, an stiller Sittsamkeit,
Allen Freundinnen Exempel,
Und ein Bild der Frömmigkeit
In der Gottheit stillem Tempel.
Jede deiner Stunden ist
Segen allen Erdensöhnen;
Nur Amyntens Auge fließt
Deinetwillen noch in Thränen.
Oft, mit Trauer angefüllt,
Sah ich seine Seele schmachten,
Und, in Wehmut eingehüllt,
Seinen Engel ihn betrachten.
Ach! der Engel ist mein Freund,
Und der Jüngling dir ergeben.
Welche Wonne! wenn vereint
Wir euch leiteten durchs Leben;
Wenn, am heiligen Altar,
Palmen euer Haar umschlängen,
Und von aller Engel Schar
Segenslieder euch erklängen!
Oft, im stillen, würdet ihr
Süße Freudenthränen weinen;
Oft, euch dankend, würden wir
In Gesichten euch erscheinen;
Freuden aus dem Himmelreich
In die fromme Seele strahlen,
Und der Zukunft Bilder euch
Aus dem Paradiese malen.
Wachend würdest du vom Traum
Ihm die Freuden alle nennen;
Staunend würd' in seinem Traum
Er den deinigen erkennen,
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Still des Bildes Deutung sich
In geheimer Brust entschließen,
Und, mit Ahnungsthränen, dich
Unaussprechlich zärtlich küssen.
Wenn dann dir zum zweitenmal
Seine bange Thräne flösse,
Und von Gottes Thron ein Strahl
Dir das Paradies entschlösse:
O, dann würd' ich noch als Freund
Tröstend um den Gatten weilen,
Und, wenn hier er ausgeweint,
Dir mit ihm entgegeneilen!

Notes
Entstanden 1772. Erstdruck 1774.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Daphnens Engel, als sie schlief. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-394E-B